Sei kein Held

Bis zum 24. Februar 22 habe ich in einer Welt gelebt, in der Jungen weinen dürfen und pinke Tüllröcke tragen. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist das militärische Denken zurück, und als Mutter eines Sohnes frage ich mich: Kann Feigheit uns retten? Darüber habe ich für das Sinn-Ressort der ZEIT einen Text geschrieben, der in leichter redaktioneller Bearbeitung erschienen ist wie unten

Nun überschlagen sich die Ereignisse, dort wie hier. Wie ein Schneeball, der auf dem Weg den Hang hinab Fahrt aufnimmt, Volumen gewinnt und schließlich alles überrollt. In Kiew und Charkiw sind es die Menschen, ihr Leben, ihre Freiheitsrechte, die davon erstickt werden. In Berlin und Hamburg ersticken wir nur die Zweifel, das Unbehagen, die Widerrede. Von einem Tag auf den anderen befürworten wir mehrheitlich Milliardenpakete für die Bundeswehr, Waffenlieferungen, Unterstützung. Wir fühlen uns auf der richtigen, der gerechten Seite, und die Angst legt mir ihre kalten Finger in den Nacken. Was wird das für meinen Sohn bedeuten, nicht heute, aber vielleicht eines Tages, wenn das nur der Anfang einer neuen, unkontrollierbaren Kriegszeit ist? Was wäre schlimmer, demokratische Werte zu verlieren, Freiheit, Wohlstand – oder ein Kind? Was ist ein Leben wert? 

Darüber denke ich nach, eine Woche nach Putins Überfall, und schäme mich dafür. Ukrainische Eltern würde mit Handkuss meine theoretischen Überlegungen gegen ihre konkrete Angst tauschen. In Deutschland sitzen wir warm und trocken. Keiner, der uns auffordert, Molotowcocktails zu bauen und Schützengräben auszuheben. Dort kämpft nicht nur die Armee, auch männliche Zivilisten zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht mehr das Land verlassen, weil sie zur Verteidigung gebraucht werden. Ich kann verstehen, was sie treibt, ich bewundere ihren Mut. Und frage mich gleichzeitig: Hätte ich ein Sohn in Kiew oder Charkiw, würde ich ihm raten, sich einem übermächtigen Angreifer entgegenzustellen? Oder sagen: Renn weg, versteck dich, rette dich? Ich kann auf alles verzichten, Wohlstand, Freiheit, aber nicht auf dich? 

Mein Junge ist bald 14. Drei Jahre nach seiner Geburt hat Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr zur reinen Berufsarmee umgestaltet. Das war für mich ein Signal: Ob jemand bereit ist, den Kopf hinzuhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben, auch bereit sein, zu töten, das ist von nun an eine kühle Entscheidung. Keine staatsbürgerliche Pflicht mehr, der man sich nur aus Gründen der individuellen Moral entziehen kann. Doch nach dem Angriff auf die Ukraine hat es nur etwas mehr als 48 Stunden gedauert, bis die ersten Forderungen kamen, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Jedenfalls in Form einer allgemeinen Dienstpflicht, die auch zivile Bereiche umfasst. Fürsprecher sitzen nicht nur im Reservistenverband, auch der niedersächsische CDU-Chef Bernd Althusmann gehört dazu und der SPD-Sicherheitsexperte Wolfgang Hellmich. Drei Tage nach Kriegsbeginn fragte sich gar der Historiker Karl Schlögel im Talk bei Anne Will, warum junge Europäer nicht freiwillig an der Seite der Ukraine in den Kampf ziehen wie einst Hemingway in den Spanischen Bürgerkrieg. 

Wenn ich das höre, denke ich an meinen Sohn, wie er einen Volleyballaufschlag macht, Eintopf aus seinem „Herr der Ringe“-Kochbuch zubereitet, seinen Fischen im Aquarium Namen gibt, und mir wird schlecht. Er gehört zu einer Generation, die von der Krippe an gelernt hat, dass man Streit mit Worten regelt, nicht schlägt, nicht beißt, nicht haut. In der Jungen weinen dürfen, zärtlich sein und sogar pinke Tüllröcke anziehen. Gegner existieren nur auf dem Sportplatz, nach dem Match gibt man sich High Five. Sollen wir sie nun mit den Kindheitsidealen ihrer Großväter anfüttern, der Todesverachtung, der Tapferkeit, nur, weil es einer gerechten Sache dient? Ist nicht es nicht gerade dieses Männerbild, das in seiner extremen Form Wladimir Putin verkörpert, hart, herzlos, homophob? Wenn wir wieder militärisch denken, verlieren wir dann nicht zu viel von dem, was uns ausmacht – und geben damit denen recht, die alte Heldenbilder nicht vom Sockel stoßen, sondern als neue Rollenvorbilder aufstellen wollen?

In meiner Familie ist oft die Geschichte erzählt worden, wie meine Großmutter ihren Sohn davon abgehalten hat, den Helden zu spielen. Im Frühjahr 45 kam er eines Tages von der Schule nach Hause und erzählte, sie hätten mit der Panzerfaust geübt. Sie verließ mit ihm Hals über Kopf den Ort, damit er nicht aus dem Klassenzimmer heraus rekrutiert wurde. Sie stand auf der richtigen Seite der Geschichte, und sie wusste es. Der 15jährige, mein späterer Onkel, hätte für ein mörderisches Regime sterben können, das schon verloren hatte, dabei andere verletzen oder töten. Die Definition von Sinnlosigkeit. Der innere Widerspruch ist mir klar: Für ihn hat sie sich stark gemacht, für die Schwächeren nicht. Keine jüdische Familie versteckt, sich und ihre Nächsten nicht für andere in Gefahr gebracht. Warum sie nicht im Widerstand war, habe ich sie einmal gefragt. Was glaubst denn du?, hat sie gesagt, ich hatte drei Kinder. Das war vielleicht nur die halbe Wahrheit, aber wer wäre ich, ihr das vorzuwerfen? 

Alternativloser Pazifismus ist schön, bequem, aber auch denkfaul. An diesem Widerspruch arbeite ich mich ab. Ich will, dass meine Kinder frei wählen, frei lieben, frei denken dürfen, und ertrage gleichzeitig den Gedanken nicht, eines von beiden könnte sich dafür opfern. Dann wieder überlege ich: Was, wenn wir alle empfindsame Weicheier wären, weltweit? Wäre das nicht auf Dauer hilfreicher als eine neue Spirale von Verteidigungsbereitschaft, Gewalt, Eskalation? Es berührt mich, wenn russische Bekannte sich beschämt äußern über ihre autokratische Regierung. Wenn ich vom Komitee der Soldatenmütter in Moskau lese, einer Menschenrechtsorganisation, die sich bereits seit dem Afghanistan-Krieg vor 40 Jahren um Missstände in der russischen Armee kümmert. Eltern wenden sich an sie, die ihre Söhne vor der Einberufung schützen wollen. Die Vorsitzende Valentina Melnikowa hat am sechsten Tag des Ukrainekrieges eine Feuerpause gefordert, damit es zumindest einen Austausch von Toten und Gefangenen geben kann. „We share the same biology, regardless of ideology“, sang Sting 1984, in seinem Song „Russians“ – biologisch sind wir gleich, auch wenn wir unterschiedlich denken. Das war im Kalten Krieg, zu meiner eigenen Teenagerzeit. Wir sind alle auf gleiche Weise verletzlich und hängen an unserem kurzen und unbedeutenden Leben. Das zu wissen, könnte ein Anfang sein.

Entgiftet euch!

Von der missglückten Kurzliebe bis zum Nicht-ganz-so-Traumjob: vieles, was früher „blöd gelaufen“ hieß, heißt heute „toxisch“. In der BRIGITTE-Rubrik „Geht das nur mir so“ habe ich mich Anfang Februar 2022 über den steilen Aufstieg eines giftigen Wörtchens gewundert, das nur selten wirklich passt

Es gibt Begriffe, die kommen aus der Nische und machen innerhalb kürzester Zeit Karriere. Zum Beispiel vom Teenagersprech zum Business-Slang. Da schmettert dann ein Vertriebler dem anderen bei der Präsentation der Quartalszahlen ein launiges „Läuft bei dir!“ entgegen. Das finden Teenager natürlich voll cringe und canceln den Ausdruck, sprich: Sie sagen das dann nie wieder. Es geht aber auch anders herum. Auch wenn Jugendliche mit Wörtern um sich schmeißen, die man bislang eher aus dem Psycho- und Therapiekontext kannte, weiß man, dass sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Etwa, wenn ich mich bei meiner Tochter, 16, nach dem Beziehungsstatus ihrer besten Freundin erkundige und erfahre, dass es schon wieder aus ist mit der Flamme von neulich: „Das war nix, der war toxisch.“

Das ist auf den ersten Blick ganz lustig, weil es eine Drei-Wochen-Romanze verbal zu einem Lars-von-Trier-Trauerstück hochjazzt. Wahrscheinlich konnten sich die beiden Lovebirds einfach nicht auf die richtige Playlist einigen, eine*r hat siebzehn Minuten lang nicht auf eine WhatsApp des anderen reagiert oder sein neues TikTok nicht genügend geliked. Aber als ich meine Tochter so lässig dieses Wort benutzen hörte, das ich bisher eher aus Gesprächen über langjährige Ehen kannte, dachte ich auch: Irgendwas läuft hier falsch, vong Sprache her. Kurzzeitliebe, missglückt? Toxisch! Der neue Job, der sich als unerwartet stressig, unbefriedigend, schlecht bezahlt entpuppt? Toxisch! Genau so wie die anstrengende Freundin, die zu leicht ein Wort in den falschen Hals bekommt, der stoffelige Chef, die übergriffige Schwiegermutter.

Ich will gar nicht bestreiten, dass es Umstände und Beziehungen gibt, die im wahrsten Sinn des trendigen Wortes das Leben vergiften können, lähmen, Magenschmerzen bereiten. Spätestens, wenn seelische Grausamkeit im Spiel ist oder gar körperliche Gewalt. Wenn der Begriff irgendwo passt, dann da. Ich habe auch nichts gegen Anglizismen. Dem Wörtchen toxisch hört man seine schleichende Übernahme aus dem amerikanischen Englisch ja nicht einmal an, weil’s im Deutschen dasselbe Fremdwort gibt. Ich fände es nur besser, wenn man es nicht so inflationär gebrauchen würde. 

Denn zum einen tut ein wenig Detox immer auch der Sprache gut. Zum anderen ist es, wenn man’s genau nimmt, ein ganz schön harter Vorwurf, der da so nebenbei formuliert wird: Du Täter, ich Opfer. Du Giftspritze, ich hilflos vergiftet. Dabei gibt es in den allermeisten Beziehungen mehr Grautöne als Schwarzweiß, egal ob privat oder nicht. Wenn eine Liebe scheitert (ich meine nicht die Drei-Wochen-Teenagerknutscherei), liegt das möglicherweise eher an fehlender Kommunikation, ungestillten Sehnsüchten, unterschiedlichen Lebensvorstellungen, als daran, dass eine Seite der anderen über Jahre heimtückisch den Giftzahn in den Hals gerammt hat. Und beim Streit mit Kollegen vorschnell die Karte „toxische Männlichkeit“ zu ziehen, ist ungefähr so differenziert, wie wenn die Kollegen Konflikte mit weiblichen Team-Mitgliedern reflexhaft auf deren Menstruationszyklus schieben („Die hat doch bloß PMS.“) Außerdem ist es unfair denen gegenüber, die tatsächlich in einem Arbeitsumfeld tätig sind, in dem es zugeht wie bei Mad Men 1965. Oder in der „Bild“-Redaktion 2021 unter Julian Reichelt. Die haben nämlich wirklich Grund, sich über eine toxische Atmosphäre zu beklagen.

Alle anderen, die ihrem Gegenüber vorschnell das Label „toxisch“ auf die Stirn kleben, machen es sich also ganz schön einfach, und ziehen sich gleichzeitig aus der Verantwortung: „Ich bin nur das Opfer der Umstände!“ Uncooler Move. Oder, wie mein Dreizehnjähriger neuerdings ständig sagt: echt ranzig. Bleibt nur eine Hoffnung: dass die steile Karriere des Wortes „toxisch“ nicht allzu lange währt. Schließlich sagt auch niemand mehr oberaffentittengeil, etwa seit 1987. Besser ist das.

„Vergeben bedeutet, dass ich aufhöre, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“

Selten mussten wir mehr einstecken als im letzten Jahr. Das Virus hat Familien, Freunde und Paare vor riesige Herausforderungen gestellt und Gräben aufgerissen. Wenn wir die wieder zuschütten wollen, müssen wir verzeihen. Aber das passiert nicht einfach, sondern es ist eine Entscheidung – ein Essay aus der BRIGITTE, Heft 1/22

Als ich sie das letzte Mal zusammen sah, vor etwas über einem Jahr, da wirkten sie ziemlich zufrieden und erstaunlich aufgekratzt. Dabei hatte ich sie insgeheim immer ein wenig spießig gefunden: früh geheiratet, nie weggezogen vom eigenen Geburtsort, jung Eltern geworden. Jetzt waren sie Mitte 40, und es sah aus, als würden sie im demnächst leeren Nest nochmal so richtig aufdrehen. Reisepläne für die Zeit nach Corona standen im Raum, sogar ein Umzug. Aber während meine frühere Kollegin Katja sich auf den neuen Lebensabschnitt freute, hatte ihr Mann Philipp schon mit einem befreundeten Anwalt durchkalkuliert, ob er sich eine Trennung leisten konnte. Nicht, dass er ihr davon erzählt hätte – die säuberlich gefaltete Kostenaufstellung fand sie zufällig in seiner Hosentasche, ehe sie seine Jeans in die Wäschetrommel steckte. 

Kürzlich traf ich Katja wieder. Philipp lebte jetzt mit einer anderen Frau zusammen, und seinen Wunsch, man könnte doch trotzdem gelegentlich mal telefonieren oder ins Kino gehen, lehnte Katja ab. Trotzdem wirkte sie nicht voller Groll. „Ich kann und will nicht mit einem Mann befreundet sein, mit dem ich fast 20 Jahre verheiratet war“, sagte sie. „Das heißt aber nicht, dass ich ihm nicht verzeihen kann.“

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“ – das lässig hingeworfene Bonmot unseres Ex-Gesundheitsministers von 2020 ist aktueller denn je, in vielerlei Hinsicht. Auch wenn die Scheidungs-Statistiken noch kein klares Bild ergeben, erleben viele im Privaten, wie das Dauerkrisengefühl Beziehungen brüchig macht, gnadenlos Schwachstellen aufzeigt. Und auch sonst sind krasse Fronten entstanden, teils quer durch Freundeskreise, Familien, Arbeitsteams. Wo Shitstorms sich im Stundentakt abwechseln und die verbalen Waffen gefährlich locker sitzen, stehen viele vor der Frage: Wie machen wir Frieden, mit Einzelnen, die uns enttäuscht haben, mit der Politik, mit Andersdenkenden in der Impf-Frage? Und natürlich können uns auch ganz ohne Pandemie alter Groll und unverheilte Wunden zusetzen.

Die Kunst, Verletzungen zu verarbeiten und hinter sich zu lassen, lernt man nicht von selbst. Aber sie wächst mit der Lebenserfahrung, glaubt die „Spiegel“-Journalistin und Autorin Susanne Beyer. In ihrem aktuellen Buch* über eine neue, selbstbewusste Frauengeneration ab Anfang 40 hat sie ein ganzes Kapitel der „Kunst der Vergebung“ gewidmet. Und das Thema liegt wie eine Hintergrundmusik unter vielen ihrer Frauenporträts. „Es war für mich ein Aha-Erlebnis, zu sehen: Verzeihen können, verzeihen wollen, das verbindet viele Menschen, die sich als glücklich bezeichnen. Es geht um eine Lebenshaltung: Ein zufriedenes Leben zu führen, ist nicht nur ein Geschenk, auch eine bewusste Entscheidung“, sagt Susanne Beyer. Das klingt philosophisch, aber schon in Alltagsgesprächen merkt man meist schnell, zu welchem Team jemand gehört, Team „Verzeihung“ oder Team „Rache“: Ist er oder sie einer von denen, die nie zufrieden sind und immer sofort einen Schuldigen dafür benennen können? Die narzisstische Mutter oder den toxischen Ex fürs mangelnde Selbstbewusstsein, den Turbokapitalismus oder die fiese Chefin für die stockende Karriere? Oder kann er oder sie schlechte Erfahrungen ohne Bitterkeit hinter sich lassen, Tiefschläge als Lektion sehen und sich eher als Gestalter*in denn als Opfer betrachten – auch, wenn die Welt es nicht immer gut meint?

Beim Verzeihen geht es nicht um übermenschliche Milde oder gar Konfliktscheu. Sondern um einen souveränen Akt der Großzügigkeit. Ein Geschenk, das wir uns selbst machen können. „Verzeihen erweitert die Selbstbehauptung“, sagt Susanne Beyer, „es bedeutet: Der andere hat keine Macht mehr über mich.“ Eine Längsschnittstudie der Virginia Commonwealth und der Harvard Universität von 2020 belegt eindrucksvoll die wohltuende Wirkung auf Körper und Seele. Dabei wurden Antworten auf Fragen nach dem psychischen Befinden und Gesundheitsdaten von über 50.000 Befragten über 30 Jahre darauf hin untersucht, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Groll und Gesundheitsproblemen. Die Studie ergab eindeutig, dass Menschen mit höherer Bereitschaft zu Verzeihen seltener unter Depressionen und Angststörungen litten und sich insgesamt besser fühlten. Und ein anderer Datenabgleich, durchgeführt von einem südkoreanisch-amerikanischen Forschungsteam, legt sogar einen Zusammenhang nah zwischen unverarbeiteten Kränkungen und Autoimmunkrankheiten, Bluthochdruck und anderen weit verbreiteten Diagnosen. Dem folgt ein Therapieansatz, der vor einigen Jahren in den USA aufkam. In der „forgiveness therapy“ – also der „Vergebungs-Therapie“- lernen Opfer traumatischer Erfahrungen, anders mit ihrer Geschichte umzugehen. 

Klingt nach einer Lektion, die es sich zu lernen lohnt – auch wenn es nicht leicht fällt. Denn es geht ja nicht um ein lässiges „Schwamm drüber“, nicht um vergessen und verdrängen. Im Gegenteil, sagt Melanie Wolfers, Autorin, Theologin und Philosophin, die in den letzten Jahren bereits mehrere Bücher zum Thema geschrieben hat*: Wer wirklich verzeihen lernen möchte, gerade da, wo’s ans Eingemachte geht, muss erstmal zurück auf Los, dahin, wo es wehtut. „Im Schlamassel ankommen, die eigenen Gefühle erkennen und benennen: Scham, Angst, Ohnmacht, Wut. Eine Sprache dafür finden, etwa, indem man die Empfindungen aufschreibt oder mit Unbeteiligten darüber spricht“, das ist für Wolfers der erste Schritt. Der zweite ergibt sich daraus: Durch die Selbstreflexion einen Schritt von der eigenen Betroffenheit zurücktreten, Gefühle anders einordnen, schließlich der Perspektivwechsel. Warum hat die Gegenseite sich so verhalten, was war vielleicht mein eigener Anteil daran, etwa beim Ende einer Liebesbeziehung? Am Ende der bewusste Entschluss: Ich möchte die Sache hinter mir lassen. „Vergeben bedeutet, dass ich aufhöre, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“, bringt Melanie Wolfers das paradoxe Wesen der Unversöhnlichkeit auf den Punkt. „Denn wer nachträgt, trägt schwer.“ Stattdessen geht es darum, die eigene Geschichte anders weiterzuschreiben. Und dadurch inneren Frieden zu finden. 

Klar, das klappt nicht immer mit derselben Geschwindigkeit – eine verletzende Bemerkung im Netz lässt sich vielleicht in ein paar Stunden verarbeiten, um über den Vertrauensbruch eines langjährigen Lebenspartners hinweg zu kommen, kann es Monate oder sogar Jahre brauchen. Aber im Prinzip gilt die heilsame Reiseroute für alle Konflikte. Sogar, wenn die Vorwürfe nicht anderen gelten, sondern wir uns selbst mit Schuldgefühlen martern. Uns übelnehmen, dass wir unsere Kinder in Homeschoolingzeiten zu oft angeschrien haben, zu wenig Zivilcourage gezeigt, uns zum Horst gemacht haben vor anderen. „Viele Menschen sind emotional wohlwollender mit anderen als mit sich selbst“, hat Melanie Wolfers festgestellt. „Wenn ich mir selbst verzeihe, akzeptiere ich mich damit als unperfekten Menschen.“

Sich selbst und anderen zu vergeben, ist eine Sache – Versöhnung eine ganz andere. Und das eine zieht das andere nicht automatisch nach sich, als wären wir in einer Ausgabe der Neunziger-Spielshow „Verzeih mir!“ Manchmal, weil es gar nicht möglich ist – etwa, weil die alte Wut einem bereits verstorbenen Elternteil gilt – , manchmal, weil sich äußere Wege längst getrennt haben, etwa nach einer gescheiterten Liebe. „Es kann auch stimmig sein, den Kontakt zu einer Person abzubrechen, von der ich mich verletzt fühle“, sagt Melanie Wolfers. „Entscheidend ist, dass ich mich innerlich nicht im Groll gegen sie verbeiße.“ Verzeihung ohne Versöhnung ist also durchaus möglich – nicht aber Versöhnung ohne die grundsätzliche Bereitschaft, zu verzeihen. Unabhängig davon, ob der oder die Schuldige sich mit einem schlechten Gewissen quält oder im Gegenteil findet, er habe sich gar nichts vorzuwerfen. Etwa die Freundin, die gar nicht verstehen kann, warum ich übel nehme, wenn sie im Kollegenkreis privates von mir weitererzählt  – Kündigungspläne, ein Erbschaftsstreit. So stehen lassen oder ansprechen? Mut gehört in jedem Fall dazu: Erst, sich dem eigenen Schmerz, der eigenen Enttäuschung zu stellen, erst recht aber, das Gespräch zu suchen. Tun oder lassen? Da hilft nur, die Risiken gegeneinander abzuwägen: Was ist besser zu ertragen, der ungeklärte Konflikt, oder dass es möglicherweise nochmal laut wird zwischen uns? Und bin ich bereit, die Perspektive zu wechseln und die andere Seite zu sehen?

Allerdings hat beides Grenzen, das Verzeihenkönnen ebenso wie die Versöhnung. Was für die eine gut abzuhaken ist, ist für die andere eine bittere Pille, die sich beim besten Willen nicht schlucken lässt – vom „like“ meiner Freundin für einen Beitrag aus einer politischen Richtung, die ich für gefährlich halte, bis zu dem nagenden Gefühl, dass die eigenen Eltern immer die Schwester, den Bruder vorgezogen haben. Oder wenn der Partner mit einer anderen schläft, obwohl man sich doch Treue versprochen hatte. Wo die Grenze des Verzeihbaren liegt, ist individuell, schließlich haben wir alle ein unterschiedlich dickes Fell. „Sicher ist: Wir werden alle mit Kränkungen sterben, die nicht verheilt sind“, sagt Melanie Wolfers. „Entscheidend ist, sich immer wieder auf den Weg zu machen. Nicht steckenzubleiben in der Opferrolle.“ 

Auch meine Bekannte Katja hat das so gemacht. Sie ist nicht mehr die Alte, nicht die Frau mit dem unerschütterlichen Vertrauen ins Leben, die sich unbeschwert auf die nächste Etappe freute. Aber auch das gehört zum Älterwerden, zum Wachstum, so sieht sie das heute: „Wir haben alle unsere Päckchen, die sich nicht einfach ablegen lassen. Dafür muss man innerlich Platz schaffen. Das ist jetzt ein Teil von mir, ich kann damit leben, ohne dass es mich beherrscht.“ Sie hat getrauert, weil der Mann, den sie geliebt hat, nicht mehr da ist. Es wohl schon lange nicht mehr war, ohne dass sie es wahrhaben wollte. Der Schmerz ist nicht völlig weg, aber sie hat dabei jemanden kennen gelernt. Eine neue Katja, die keine Lust mehr hat, einem anderen die Hosen zu waschen. Oder am Mittelmeer Urlaub zu machen, obwohl sie’s lieber kühler mag. Für diese neue Bekanntschaft nimmt sie sich jetzt viel Zeit.

Zum Weiterlesen: 

Susanne Beyer, „Die Glücklichen – warum Frauen in der Lebensmitte so großartig sind“, Blessing, 22 € – 18 Porträts von Frauen zwischen Anfang 40 und Anfang 70, aus Kunst und Kultur, Mode und Sport, aber auch in bodenständigen Jobs und mit ungewöhnlichen Lebensentwürfen. Ein Blick auf das selbstbewusste Lebensgefühl einer neuen Frauengeneration

Melanie Wolfers, „Die Kraft des Vergebens“, Herder, Taschenbuch 14 € und „Freunde fürs Leben – die Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein“, adeo, 16,99 €: Von einem zum anderen Buch spinnt die Bestsellerautorin ihre Gedanken zu Selbstliebe und der positiven Wirkung von Großherzigkeit gegenüber unseren Mitmenschen. Auch in ihrem Podcast „ganz schön mutig“ widmet sie sich immer wieder dem Thema Verzeihenkönnen (abzurufen unter melaniewolfers.de)

„Jede Mutter hält ihr Kind für ein unschuldiges Lamm – keine fragt sich, ob es der Wolf ist“

Was ist schlimmer für Eltern: Wenn das eigene Kind zum Opfer wird oder zum Täter? Und macht Liebe blind für die Schattenseiten derer, die uns nahe stehen? Die israelische Psychotherapeutin und Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen stellt unbequeme Fragenich durfte sie für ZEIT online interviewen

Alle Eltern kennen die Angst, jemand könnte ihrem Kind etwas antun – von Ausgrenzung in der Schule bis zu Gewaltverbrechen. Für die Hauptfigur Ihres neuen Romans, eine israelische Mutter in Kalifornien, kippt diese Angst ins Gegenteil, als sie sich fragen muss, ob ihr Teenagersohn einen Mitschüler getötet hat. Was hat Sie an diesem Setting gereizt?

Als Autorin und Psychologin habe ich die Möglichkeit, Abgründe auszuloten, vor denen meine Figuren zurückscheuen. Aber auch persönliche Schlüsselmomente haben mich auf das Thema gebracht. Am ersten Kindergartentag meiner kleinen Tochter habe ich mich nervös gefragt: Was tun die anderen Kinder ihr möglicherweise an, wenn ich sie nicht mehr den ganzen Tag beschützen kann? Bis mir klar wurde: Mit mir stehen hier noch 20 andere Mütter, besorgt und mit Herzklopfen, in der Überzeugung, dass ihre eigenen Kinder unschuldige Lämmer sind, die in einen Wald voller Wölfe geschickt werden. Und keine fragt sich: Moment – könnte es sein, dass mein Kind selbst der Wolf ist? 

Aber brauchen Kinder nicht auch diesen verklärten Blick, das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden?

Klar. Als Eltern sehen wir unsere Kinder im besten Licht, das ist unser Job. Wir nehmen an, dass niemand sie so lieben kann wie wir, mit Recht. Aber das bedeutet auch, dass wir blind sind für manche ihrer Seiten. Auch, weil es unser Selbstbild stört.

Das Kind als kostbarer Besitz, als Objekt elterlicher Allmachtsphantasien?

Manche präsentieren ihre Kinder wir einen Leistungsnachweis: das Beste, das mir je gelungen ist! Mich macht das misstrauisch. Wenn eine Mutter sagt: „Mein Kind würde nie etwas Böses tun“, dann ist das wichtigste Wort in diesem Satz das Possessivpronomen: „mein“. Etwas, das aus mir entstanden ist, ist über jeden Zweifel erhaben. Dieser Narzissmus bringt ein bestimmtes Selbstverständnis mit sich: ich mache mich zur Anwältin meines Kindes in seiner Auseinandersetzung mit der Welt, unabhängig davon, wer im Recht ist, egal, ob es um Schulnoten geht oder um Konflikte mit anderen Kindern.

Als die Mutter in Ihrem Roman herausfindet, dass ihr Sohn ein Verbrechen begangen haben könnte, will sie es nicht wahrhaben, verdrängt es, hat Angst, ihn zu konfrontieren. Mord ist natürlich ein extremes Beispiel, aber vielleicht verhalten sich die eigenen Kinder aggressiv, verbal oder körperlich. Was wäre Ihr Rat als Psychotherapeutin: Wie können wir mit unseren Kindern ins Gespräch kommen, damit sie lernen, besser mit solchen Impulsen umzugehen?

Mein Rat wäre: Nicht wegsehen, nicht kleinreden, sondern versuchen, die Motivation des Kindes zu verstehen. Verstehen heißt aber nicht akzeptieren. Wir müssen ganz klar machen, dass sein Verhalten falsch war, dass es bessere Wege der Konfliktlösung gibt, sollten aber Kinder nicht für ihr Verhalten bestrafen. Denn Strafe führt nur zu Groll und Wut, und wir möchten ja ein zarteres Gefühl auslösen – Bedauern. Deshalb sollten wir dem Kind vor allem vermitteln: Ich glaube, dass du es beim nächsten Mal besser machen kannst. Du bist nicht böse, du hast etwas Böses getan, und du kannst es ändern.

Wahrscheinlich kommen viele Eltern gar nicht an diesen Punkt, weil sie so mit ihrer Angst beschäftigt sind, ihr Kind könnte selbst unter anderen leiden. Sie sagen, bei der Recherche für Ihren Roman haben ihnen einige erzählt: Wenn ich mich entscheiden müsste, ob mein Kind gemobbt wird oder andere mobbt, dann lieber zweiteres. Können Sie das nachvollziehen?

Ich hatte diese Diskussion sogar mit meinem eigenen Partner. Wie viele andere Eltern hat er gesagt: Natürlich möchte ich weder das eine noch das andere, aber im Zweifelsfall wünsche ich mir vor allem, dass mein Kind möglichst wenige Narben davonträgt, psychisch wie körperlich. Wenn es aggressiv ist gegen andere, kann ich es dazu bringen, sein Verhalten zu ändern, und es kann bereuen, was es getan hat – aber Opfer bleibt man ein Leben lang.

Ist das vielleicht eine spezifisch israelisch-jüdischen Erfahrung, eine Urangst: Alles, nur nie wieder Opfer sein?

Das dachte ich auch, als ich mich zuerst mit dem Thema beschäftigte. Der Holocaust ist unser kollektives Trauma, die Angst, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt zu werden. Ich kann mich gut erinnern, als ich ein kleines Mädchen war und wir im ersten Golfkrieg einen Angriff aus dem Irak befürchteten, dass mein Großvater verbittert sagte: Ich hätte niemals gedacht, dass ich noch einmal erlebe, wie jüdische Kinder Angst haben müssen vor Gas. Er wäre lieber in den Krieg gezogen und sogar gestorben, als passiv in einem Schutzraum zu sitzen und nichts tun zu können. Aus diesem unerträglichen Gefühl von Hilflosigkeit erwächst eine Art israelische Macho-Mentalität: Lieber jetzt Stärke zeigen und es später bereuen als umgekehrt. Aber auch in anderen Ländern reagierten Eltern ähnlich auf meine Frage nach ihren Kindern, etwa in Deutschland oder der Schweiz. Ich glaube, es hat mit wachsendem Individualismus zu tun. Mit der globalen Feelgood-Diktatur.

Was meinen Sie damit?

Zufriedenheit und Selbstwertgefühl des Einzelnen stehen ganz oben auf der Agenda, über allem anderen, in weiten Teilen der Welt. Googeln Sie mal Artikel zum Thema „Wie stärke ich das Selbstbewusstsein meines Kindes“ und zum Thema „Wie erziehe ich mein Kind zu einem guten Menschen“ – jede Wette, dass sie beim ersten Begriff deutlich mehr finden?

Dabei spricht ja erstmal nicht dagegen, zu sagen: Hauptsache, meinem Kind geht es gut und es ist glücklich.

Vor zwei, drei Generationen noch ging es Eltern weniger um Wohlbefinden als um Moral, um Sinn, ständig beurteilten sie das Benehmen ihres Kindes: Wird aus ihm ein guter Christ, ein guter Kibuzznik, ein guter Kommunist? Natürlich ist es ein Segen, dass diese starren Systeme heute nicht mehr in der Form existieren, dass gesellschaftliche Zwänge und Schuldgefühle uns nicht mehr die Luft abschnüren. Aber manchmal scheint mir, wir haben das Konzept von Schuld komplett über Bord geworfen, und das besorgt mich. Als Konsequenz daraus biegen wir als Eltern die Welt so zurecht, dass unser Kind sich nicht wehtun kann, und übersehen dabei andere.

Macht es das Leben nicht auch aus, dass es nicht immer diese klaren Fronten gibt, hier Täter, da Opfer?

Genau da wird es interessant. Denn wenn wir uns ein neugeborenes Kind anschauen, und zu welcher Grausamkeit Menschen später im Leben fähig sind, dann fragen wir uns doch: Was ist schiefgelaufen auf dem Weg dahin? Niemand wird als Mörder geboren, als Nazi, als Faschist. Wenn wir uns nicht nur fragen, was unserem Kind geschehen könnte, sondern auch, wozu es fähig sein könnte, dass es Potenzial in sich trägt zu Gutem wie zu Bösen, wäre das ein großer erster Schritt, um Gewalt zu verhindern. Persönlich, zwischen Kindern, in der Schule, aber auch Gewalt zwischen Gruppen oder Nationen. Ich weiß noch, wie ich nach der Geburt meiner Tochter ihre winzigen Fingerchen betrachtete, und plötzlich so einen Gedanken hatte: Was wird sie damit alles tun, vielleicht schreiben, vielleicht Klavier spielen – oder den Abzug einer Waffe betätigen? 

Aber warum ist es so schwer, sich den eigenen Abgründen zu stellen, und denen unserer Nächsten?

Weil uns die Vorstellung Sicherheit gibt: Das Böse ist irgendwo da draußen, hier drin, von mir und meiner Familie habe ich nichts zu befürchten. Wenn das Böse uns aber von außen bedroht, können wir es auch gemeinsam bekämpfen, können uns dabei auf der richtigen Seite fühlen, stark, wie in einem Thriller auf Netflix. Wenn wir merken, dass diese Sicherheit trügerisch ist, dann wird es dagegen unheimlich. Aber es wäre hilfreich, anzuerkennen: Das Monster ist nicht draußen, jenseits der Burgmauern, nicht hinter der Staatsgrenze, es ist nicht einmal in unserem Gegenüber, sondern in uns selbst. Deshalb ist es auch so wichtig, schon Kindern beizubringen, sich bei Konflikten in den anderen hineinzuversetzen: Wie würdest du dich fühlen, wenn das andere Kind dich ausgelacht oder gehauen hätte?

Heißt es auch, Verantwortung für unsere aggressiven Impulse zu übernehmen? 

Verantwortung ist ein wichtiges Stichwort. In der Psychologie neigen wir manchmal dazu, vor lauter Verständnis für den Aggressor seine Taten zu rechtfertigen. Auf einer persönlichen Ebene, aber auch auf einer gesellschaftlichen. Nehmen wir den ersten Mord der biblischen Geschichte: Kain tötet seinen Bruder Abel, weil er so eifersüchtig ist, dass Gottvater dessen Opfergabe seiner vorgezogen hat…

…und deshalb ist Gott der wahre Schuldige in der Geschichte?

Eben nicht, das wäre zu einfach. Als Therapeutin würde ich zu Kain sagen: Ja, du hast ein Recht dazu, traurig und wütend zu sein, dich zu beklagen, weil Gott deinen Bruder vorzieht – aber das gibt dir noch nicht das Recht, ihn umzubringen. Und die Schuld dafür auf deinen Vater abzuwälzen. Das gilt genau so, wenn argumentiert wird: Oh, Hitler war so eine charismatische Persönlichkeit, klar, dass die Deutschen ihm gefolgt sind, sie konnten nicht anders. Diese Sichtweise ist fatalistisch, dann können wir auch gleich sagen: C’est la vie, das kulturelle Klima ist an allem Übel Schuld, das Bildungssystem, die Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir uns mit unseren eigenen negativen Gefühlen, Wut und Kränkungen auseinandersetzen, verstehen, woher sie kommen. Aber am Ende müssen wir uns an unseren Taten messen lassen.

Als israelische Mutter betrifft Sie unser Gesprächsthema auch ganz existenziell: Auch Ihr Sohn könnte eines Tages vor der Entscheidung stehen, entweder selbst zu töten oder getötet zu werden, in der Armee. Wie gehen Sie damit um?

Mein Sohn ist fünf, mit 18 wird er eingezogen, mir bleiben also nur noch 13 Jahre, in denen ich dazu beitragen kann, dass die Situation in Israel friedlicher wird. Damit sich keiner mehr entscheiden muss, Opfer oder Täter zu sein. Ich war immer sehr politisch engagiert, und Muttersein hat das noch verstärkt. Genauso hat mich meine Tochter noch mehr zur Feministin gemacht, weil ich alles durch diese Brille sehe: In was für eine Welt habe ich mein Mädchen gesetzt? Sie ist jetzt sieben, was kann ich tun, damit sie nicht später an der Uni oder im Arbeitsleben sexuell belästigt wird? Dass wir unsere Kinder als Erweiterung von uns selbst sehen, ist eben nicht nur narzisstisch, es hat auch eine positive Kraft. Man denkt intensiver über den Zustand der Welt nach und gibt sich nicht einfach mit dem Status Quo zufrieden. Im besten Fall dient das nicht nur den eigenen Kindern, sondern allen.

ZUR PERSON: Ayelet Gundar-Goshen, Jahrgang 1982, gehört zu den profiliertesten Stimmen in der jungen israelischen Literatur und gewann zahlreiche Preise. Sie lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv, und arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Drehbuchautorin als Psychotherapeutin in einer Klinik. Ihr aktueller Roman „Wo der Wolf lauert“ erscheint in deutscher Übersetzung im Verlag Kein & Aber

Jetzt hängen sie wieder an der Nadel

Häkeln, Nähen und Co gelten nicht mehr nur als Hobby, sondern auch als Instrument der Selbstfürsorge. Und der Selbstdarstellung. Warum funktioniert die Masche bei mir nicht – und was für ein Frauenbild basteln wir uns da eigentlich? Das habe ich mich schon für mein aktuelles Sachbuch gefragt, das ich gerade mit Anne Otto veröffentlicht habe – und nochmal im Oktober 2021 für das „Sinnsuche“-Ressort auf ZEIT online

Auch in einer bis zum Anschlag polarisierten Welt gibt es immer mal wieder was, auf das sich alle einigen können. Na gut, vielleicht nicht alle, aber auch Menschen jenseits der eigenen Filterblase. So war das, als es plötzlich in größeren Städten mehr Yogastudios gab als Klempner, so ging es mir, als Leute anfingen, ihre Betonbalkons in grüne Wellnessoasen zu verwandeln (oder gleich aufs Land zu ziehen), und auch, als auf einmal ein Thema trendete, das zuletzt in meiner Kindheit populär war: stricken, häkeln, nähen. Meine Reaktion ist immer dieselbe: Erst Unglauben (Zopfmuster? Euer Ernst?), dann Trotz (Ihr habt doch einen an der Waffel!), gepaart mit Zerknirschung: Du bist ganz schön spät zur Party, meine Liebe. Schließlich Kapitulation: Probier’s halt wenigstens mal aus. 

Jahre, ach was, jahrzehntelang waren die Frauen in meiner Umgebung clean, jetzt hängen sie wieder an der Nadel. Doch nun geht es nicht mehr wie in den Siebzigern und Achtzigern nur um eine nette Freizeitbeschäftigung, nein, es geht um alles: Etwas mit den Händen zu machen, so heißt es, steigere das Gefühl der Selbstwirksamkeit, gebe Bodenhaftung in einer entgrenzten, digitalisierten Welt. Erleuchtung, selbstgestrickt, gewissermaßen Yoga für die Finger. 

Dass ich mir irgendwann einen Ruck gab, hatte mit der Suche nach Selbstfürsorge genauso zu tun wie mit Angst vor sozialer Ächtung. Natürlich kann man Jacken und Mützen auch weiterhin im gut sortierten Einzelhandel kaufen. Aber man fühlt sich dabei wie Cindy aus Marzahn, wenn sie beim veganen Schlemmerbüffet in Friedrichshain mit einer eingeschweißten Jägerwurst vom Discounter aufläuft. Irgendwie billig. Zum anderen ist das wollige Wohlgefühl mittlerweile gut erforscht, jenseits von Marketingumfragen à la „DIY-Verband: Stricken steigert Lebensglück um 27 Prozent!“ gibt es auch ernsthafte Studien zum Thema. So konnte die Psychologin Ann Futterman Collier von der Northern Arizona University vor einigen Jahren in einer Studie mit 435 Teilnehmerinnen nachweisen, dass Handarbeit langfristig und nachhaltig entspannt und erfrischt. Das Gewerkel soll den Stresspegel senken (messbar zum Beispiel über den Cortisolspiegel im Blut oder die Herzrate). Auch Patient:innen in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken häkeln und stricken zu therapeutischen Zwecken. Die Wirkung ist ebenfalls evaluiert. Psychiatrieprofessorin Rebecca Jane Park von der Universität Oxford befragte Patient:innen mit Magersucht, die von der stimmungsaufhellenden Wirkung berichten und außerdem angaben, dass sie durchs Handarbeiten weniger grübelten und weniger sorgenvoll aufs Thema Essen fixiert waren. Carrie Barron, Professorin der Dell Medical School (University of Austin, Texas), vergleicht die Effekte der repetitiven Bewegungen gar mit denen der Meditation. Passend dazu hat sie an einem Buch mit dem Titel „The Creative Cure – how to build happiness with your own two hands“ geschrieben. Das Streben nach Glück, ein simples Strickmuster. Wer will sich das schon entgehen lassen. 

Ich kaufte also Wolle, ein handschmeichelndes Bambus-Rundstrickset, und lud mir eine Anfänger-Anleitung für eine Beanie-Mütze aus dem Netz. Meine ersten Maschen seit 1978. Da war ich bei einem Strickversuch in der dritten Klasse krachend gescheitert. Ich habe heute noch das Geräusch im Ohr, mit dem die Lehrerin im Fach „Textiles Werken“ das Ding, das ein Schal werden wollte, bis auf die Grundfesten vernichtete. Nur, weil ich hier und da mal eine Masche hatte fallen lassen. Ein unbarmherziges „Rapp-rapp-rapp“, das sich mir bis heute ins Hirn gebrannt hat, als Gleichnis für die Vergeblichkeit menschlichen Strebens: Ihr, die ihr eintretet in den Werkraum der Grundschule Freiburg-Littenweiler, lasset alle Hoffnung fahren! Nun ließ ich mir per Youtube-Tutorial von einer schwäbelnden Frauenstimme Nachhilfe geben, wie ich den Faden zu führen hatte, und wartete auf das Wohlgefühl.

Um es vorwegzunehmen: Ich bin wieder gescheitert. Nicht etwa besser gescheitert, sondern abgrundtief. Diesmal nicht an einer unbarmherzigen Grundschullehrerin, sondern an meinen eigenen Minimalansprüchen. Vielleicht auch am inneren Widerstand. Schon beim Versuch, den Faden richtig zwischen den Fingern meiner linken Hand durchzufädeln, spürte ich, wie sich meine Stresshormone in gefährliche Höhen schraubten. Ganz ohne Labormessung. Ein Zustand zwischen renitenter Raserei, Selbstzweifeln, Trotz. Es wurde einfach nichts: mal zu fest, mal zu lose, und am Ende war ich hemmungslos verknäult im Hier und Jetzt. Nach Schulterstand und Balkonbepflanzung schon die dritte Challenge, bei der ich nicht mithalten kann. Bin ich wirklich zu blöd – oder habe ich mich selbst sabotiert?

Natürlich hat das eine ganz praktische Ebene. Die richtige Spannung zwischen Das-kann-ich-gut und Da-geht-noch-was, die zum Flow-Gefühl führt, setzt immer eine gewisse Grundfertigkeit voraus. Deshalb sucht man sich seine Herausforderungen auch passend zu seinen Begabungen. Geschicklichkeit ist jedenfalls nicht in meinen Top Three. Knopf annähen geht noch, jenseits wird es düster. Mit Handwerken habe ich es genau so wenig wie mit Handarbeiten, da bin ich ganz geschlechtergerecht. Mit 20 habe ich mal ein Jahr lang mit einem Kleiderschrank zusammengelebt, den ich selbst aufgebaut hatte. Weil ich die Bodenplatte falsch herum montiert hatte, war die Schiene für die Schiebetüren auf der falschen Seite, so dass ich die Türen nur lose in den Rahmen stellen und jedesmal per Hand herausnehmen musste, wenn ich mich umziehen wollte. Also etwa acht Mal am Tag (wie gesagt, ich war 20). Bis ein Freund sich erbarmte, das Ding auseinandernahm und neu zusammenbaute. Bye-bye, Self-Empowerment.

Aber ich glaube, es gibt noch tieferliegende Gründe, warum ich dem DIY-Trend so wenig abgewinnen kann wie diesem ganzen Neo-Biedermeier, wie Malbüchern und Marmeladekochen. Zum einen ist Muße auf eine verquere Art und Weise zu einem Statussymbol geworden, und Selbstgemachtes ist ihr sichtbarer Beweis, so wie früher die Ganzjahres-Gesichtsbräune. Nimm hin die selbstgestrickten Socken, liebe Schwester, beiß hinein ins krokodilförmig geschnitzte Gurkenstück, mein Kind, für dich habe ich stets genügend Zeit. Runterkommen, ja bitte, aber es soll auch etwas dabei rumkommen. Da möchte man allein aus Protest lieber völlig unproduktiv zwei Stunden lang Containerschiffe auf der Elbe anstarren. Oder den Inhalt des eigenen Weinglases.

Zum anderen hat das private Gestricke, Gebastel und Gewerke auch noch eine ungute politische Dimension. Wer die Hände beschäftigt hält und sich dazu noch komplexe Zopfmuster merken muss, kann nicht gleichzeitig lesen, denken, gar auf revolutionäre Ideen kommen. Nicht zufällig werden Stricknadeln in der Serie „The Handmaids‘ Tale“ (nach einem feministischen Roman aus den Achtzigern) immer wieder wie Waffen in Szene gesetzt. Das Gegenteil von entspannt, sondern eher ein Bild für die gedeckelte Wut von Frauen, die in einer dystopischen Zukunftswelt nicht mehr lesen, denken, arbeiten sollen. Sondern nur noch kochen, pflanzen und gebären. Reale Strickfreundinnen posten derweil auf Instagram und Pinterest Anleitungen für den roten Wollschal, den die fiktive Hauptfigur in der kalten Jahreszeit trägt. Sieht ja so cozy aus! 

Und, a propos „Freundinnen“: Es gibt wenige Tätigkeiten, bei denen mir der Gender Gap so tief erscheint. Eher gehen Frauen in den Baumarkt als Männer in den Bastelladen. Vielleicht ist es das milde Licht der Erinnerung, aber waren wir nicht schon einmal weiter? Auf frühen „Grünen“-Parteitagen stricken wenigstens auch die Männer ihre eigenen Norwegerpullis, die Fotos kennt jeder. Und im Bekanntenkreis meiner Mutter gab es damals einen Psychotherapeuten, der Motive aus den Träumen seiner Patient:innen zu textilen Kunstwerken verarbeitete. An seinem Auto-Innenspiegel soll deshalb ein prächtiger Häkelpenis gehangen haben. Ziemlich gaga, völlig nutzlos und garantiert untauglich für DIY-Podcasts. So gesehen: Ganz nach meiner Mütze.

„Nur in scharf geschnittener Kleidung kann man scharf denken“

Finden wir nach der Pandemie wieder aus Jogginghose und Schlabbershirt heraus? Sicher, sagt Modetheoretikerin Barbara Vinken, und hat mir für die BRIGITTE im Oktober 2021 ein Interview gegeben. Aber unser Styling wird ein anderes sein. Das sieht man jetzt schon (auch an meiner Herbstgarderobe oben)

BRIGITTE: Optisch war Corona, insbesondere im Lockdown, die Epoche der Jogginghose, des Hoodies und des Ganztagspyjamas. Auch für Sie?

BARBARA VINKEN: Nein, denn ich bin überzeugt: Nur in scharf geschnittener Kleidung kann man auch scharf denken.Damit meine ich nicht einengend, es gibt wunderbare Alternativen – mein Schrank enthält viel Kaschmir, weite, Marlene-Dietrich-artige Writers‘ Pants, und schwingende Röcke und Kleider im Lagenlook. 

Diese Wechselwirkung zwischen Outfit und Output haben im Homeoffice viele bemerkt. „Zieh dich richtig an, auch wenn dich keiner sieht“, habe ich selbst als Ratschlag verinnerlicht.

Unsere Geisteshaltung wird immer von unserer äußeren Haltung beeinflusst. Kleidung ist, linguistisch ausgedrückt, ein Sprechakt: Wir signalisieren damit, wer wir sind, selbst ohne dass jemand zusieht. Eine Jogginghose kann natürlich auch heißen: Pass auf, ich tue hier etwas so Ernsthaftes, ich habe keine Zeit für Oberflächlichkeiten. Auch das ist eine Form von Eitelkeit, ein Fetisch des Authentischen.

Sie glauben aber, man bringt darin trotzdem nichts Gutes zustande?

Jedenfalls ist man gleichzeitig sehr beschäftigt damit, nach außen zu signalisieren, wie unwichtig einem das Äußere ist. 

Als Romanistin haben Sie den Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich: Hier das Land der Funktionsjacke, dort das Land des unangestrengten Alltags-Schick – hat sich das auch in der Pandemie modisch ausgewirkt?

Meinem Eindruck nach fühlten sich Menschen in Frankreich stärker eingesperrt und wahrten eher die Form, gerade wenn sonst alles Baden ging. Zogen sich zu Essen um, auch wenn sie nur zu zweit waren. Eigentlich ganz clever, es heißt ja nicht ohne Grund „There is always lipstick on a rainy day“. Lebensschönheit und Glück lassen sich manchmal auch über die äußere Form herstellen. 

Manche prophezeien, dass wir uns auch nach Corona weiter leger kleiden werden. Die New York Times zeigte kürzlich Fotos von der Wall Street: Vor zwei Jahren sah man hier fast nur dunkle Anzüge und edle Lederschuhe. Jetzt sind auffallend viele Banker*innen in Sneakers, Jeans und bunten Sommerkleidern unterwegs.  

Wie in vielen Lebensbereichen ist das Virus auch hier eher Beschleuniger, Katalysator, als Auslöser. Den Trend zu Streetwear, zur Abkehr von formellen Dresscodes, sehen wir seit mindestens zehn Jahren. Interessant ist, wie sich Frauen- und Männermode aufeinander zubewegt haben. Und die Frage, ob Corona die Richtung ändert.

Das müssen Sie erklären.

Die Frauenmode hat schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine gradlinige Entwicklung hinter sich, von der rein weiblich markierten Mode zur männlichen. Das Korsett fiel, der Bubikopf kam, die Hose setzte sich durch. Seit den 80er-Jahren schwankt Frauenmode zwischen zwei Polen. Mal eine fast aggressive Weiblichkeit mit Highheels und engen Röcken, die signalisiert: Jungs, passt mal auf, hier kommt eine Frau. Und mal einem Unisex-Stil, der eher signalisiert: Jungs, ich bin wie ihr. Die Männermode hat sich viel weniger geändert, doch in den letzten Jahren vor der Pandemie hat sich die Einbahnstraße zum ersten Mal umgekehrt. Auf den Laufstegen gab es auch Männer-Looks, die mit Durchsichtigkeit spielten, Ausschnitten, Rüschen, Codes für Weiblichkeit. Corona hat dieser zaghaften Fluidität fürs Erste ein Ende gemacht. Vielleicht, weil alle das Gefühl haben: Wir leben in ernsten Zeiten, da sind seriöse, kühle Macher gefragt.

Zumindest für Frauen sind die aktuellen Herbst- und Wintertrends wieder exaltiert und sexy – teilweise aber auch das Gegenteil: Minis, Lack und Metallic neben gefütterten Overalls, die fast wirken wie Labor-Schutzanzüge. Hat das auch noch mit der Pandemie zu tun?

Mode hat immer auch eine schützende Funktion, fast wie eine Rüstung. Nicht nur vor der Kälte, auch vor den Blicken der anderen. Ich denke, dieses Cocooning-Gefühl aus der Corona-Zeit wird bleiben, der Rückzug in warme, weiche Kleider, in die wir uns tröstlich einkuscheln könnten. Die andere Seite ist kein Widerspruch, das gehört dazu: Der Wunsch, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, die Straßen, die Restaurants, und das Leben zu feiern, mit festlichen Stoffen und lauten Farben. So war es historisch gesehen fast immer nach Phasen von Seuchen, Kriegen, Katastrophen. Nach der Spanischen Grippe kamen in den 1920-ern Kleider mit Federn, Pailletten und Fransen, auf den Zweiten Weltkrieg folgte der „New Look“ mit schwingenden Röcken.

Das freut sicher die Modeindustrie, die hohe Verluste gemacht hat – laut einer McKinsey-Studie brachen die Umsätze 2020 um 15 bis 30 Prozent ein. Die höchsten Rückgänge gab es im Niedrigpreisbereich, stärker als in den gehobenen Segmenten. Geht der Trend auch langfristig weg von noch schneller, noch billiger?

Ja, und ich habe den Eindruck, viele in der Branche begrüßen das. Nach allem was ich höre, haben manche Modemacher das als Atempause gesehen, und sich gefragt: Brauchen wir ernsthaft sieben Kollektionen im Jahr, wollen wir wirklich weitermachen mit der massiven Ausbeutung von Umwelt und Arbeitskräften, mit Fast Fashion? Ich bin optimistisch, dass Corona unser Verhältnis zur Mode bewusster und nachhaltiger macht. Das aktuelle It-Piece ist auf jeden Fall ein Lieblingsstück, das vielleicht etwas teurer ist, aber gemeinsam mit uns älter wird, wie ein wertvoller Kunstgegenstand. Ich habe im Sommer ein Seidenkleid wiederentdeckt, sicher schon zehn Jahre alt, aber mit seinem Lagenlook wieder völlig passend zur Saison. Voilà!

Barbara Vinken, 61, ist Professorin für Romanistik an der Münchner LMU und macht immer wieder mit klugen Kommentaren zu ganz unterschiedlichen Themen von sich reden – sei es zur Mode, zum deutschen Mutterbild oder als Literaturkritikerin im Fernsehen.

„Wut ist eine Einladung, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen“

Schlechte Gefühle haben ein schlechtes Image – also versuchen wir sie wegzuatmen, wegzumeditieren, und suchen nach Harmonie um jeden Preis. Großer Fehler, findet Coach und Autorin Friederike von Aderkas: Wenn wir uns ärgern, steckt darin eine wichtige Botschaft und jede Menge Energie. Wir müssen nur lernen, sie klug umzusetzen (mein Interview stammt aus einem Brigitte-Dossier unter dem Motto „Los-Lassen“, veröffentlicht im Spätsommer 2021)

Was haben Greta Thunberg, Seenotretterin Carola Rackete und Schauspielerin und MeToo-Initiatorin Alyssa Milano gemeinsam? So unterschiedlich ihre Anliegen sind – den Klimawandel bekämpfen, unmenschliche Migrationspolitik oder toxische Männlichkeit – , ihr Treibstoff ist derselbe. Drei Wutbürgerinnen im allerbesten Sinne, die zu Role Models geworden sind. Weibliche Wut ist Talkshowthema, Bestsellertitel, Trendthema. Aber tut Wut wirklich gut? „Klar, sie kann auch zerstörerisch, gewalttätig und verletzend sein, aber das ist nur ihre Schattenseite. Wenn ich sie spüre, steckt darin zuerst eine Information: Hier stimmt etwas nicht für mich. Und diese Lebensenergie lädt mich ein, für meine Bedürfnisse einzustehen“, sagt Friederike von Aderkas, Pädagogin und systemischer Coach, die auch Seminare zum Thema gibt. Ihr aktuelles Buch* ist eine Ehrenrettung für jene Emotion, die wir häufig verdrängen, abspalten, die uns unheimlich ist. Mit schwerwiegenden Folgen, sagt von Aderkas: Sie ist überzeugt, dass sowohl körperliche Symptome wie Verspannungen, Kopfschmerzen und Auto-Immunkrankheiten als auch Depressionen häufig mit unterdrückter Wut zu tun haben. „Sie gibt uns eine Richtung vor. Wenn ich mich stattdessen wie mit angezogener Handbremse durchs Leben bewege, werde ich gedämpft und lethargisch.“ Aber wie geht das, die Handbremse lösen? Fünf Situationen, fünf Tipps von der Expertin.

Im Job: Kurz vor Feierabend knallt Ihnen die Kollegin einen Stapel Vorgänge auf den Schreibtisch: „Sorry, die Kita schließt in einer halben Stunde und das muss heute noch raus. Könntest du so lieb sein?“ Kein einmaliger Notfall, so geht das schon seit Monaten.

Was meistens passiert: Fast in jedem Team gibt es die eine, die für alle die Kohlen aus dem Feuer holt. Vielleicht, weil sie als Kinderlose vermeintlich weniger private Aufgaben hat, oder weil sie als besonders effizient gilt. Sie sind das? Dann wissen Sie ja, wie sich das anfühlt. Sie ballen die Faust in der Tasche und schweigen. Vielleicht laden Sie Ihren Frust beim Partner ab, aber wehren sich nicht, schließlich brauchen Sie den Job noch. Vielleicht gefallen Sie sich auch in der Rolle als „verantwortungsvolles Opfer“, als stille Heldin. Schlimmstenfalls bis zum Burnout.

Was besser wäre: Beim nächsten Mal Stellung beziehen und sich abgrenzen: „Ich sehe deine Not, aber mir wird es gerade auch zu viel. Lass uns das ins nächste Teammeeting einbringen, ich unterstütze dich gern.“ Das ist solidarisch und gibt den Druck dorthin zurück, wo er entsteht – nach oben. Aber bitte nicht gleich voller Aktionismus voranmarschieren („Ich formuliere schon mal eine Mail an die Chefin!“), denn auch die permanente Retter-Rolle tut nicht gut. 

Im Alltag: Der neue Drucker steht, hat Papier, den richtigen Treiber, und ist ans W-LAN angeschlossen. Er blinkt freundlich. Was er nicht tut: drucken. Und das, obwohl wir in zwei Stunden ein Papierdokument brauchen.

Was wir häufig tun: Wenn Technik unsere Pläne durchkreuzt, macht uns das hilflos – und wütend. Typische Reaktionen: meckern (laut oder leise), jammern (bis jemand aufmerksam wird, der Partner, die Kollegin), aggressive Selbstbefragung: Wer spinnt, der neue Drucker/Staubsauger/das Internet, oder ich? Bei etwas robusteren Geräten auch: Draufhauen. Bringt in den seltensten Fällen eine Lösung, klar.

Was wir lieber tun sollten: Uns fragen, woher die Wut kommt (zweifle ich an mir und meinen Fähigkeiten?) und gegen wen sie sich richtet: den Hersteller, die Verkäuferin im Elektronikmarkt, mich selbst? Verstehen, was uns so aufregt, überlegen, wer uns helfen kann, unser Nachbar, der Kundendienst, das Handbuch. So bringt Ärger uns in Aktion, ohne dass etwas zu Bruch geht.

In der Liebe: „Wollen wir nicht am Sonntag in diese neue Fotokunstausstellung?“, hat sie gefragt, und er hat irgendwie zustimmend gebrummelt. Am Sonntag sieht sie ihm fassungslos zu, wie er sein Rennrad aus der Garage holt: Und ihr schöner Vorschlag?

Plan A, leider typisch: Weil wir in der Liebe besonders verletzlich sind, sprechen wir häufig in verschlüsselten Botschaften. Ein Verhalten, das wir oft schon als Kinder eingeübt haben, um Konflikte mit den Eltern zu vermeiden. Kommt die Message nicht so an, wie wir es gerne hätten, nörgeln wir danach oft anlasslos an unserem Partner herum, oder schmollen („Ob was los ist mit mir? Nein, wieso?“)

Plan B, leider selten: Klare Kommunikation macht den Kanal zwischen den Beteiligten frei – vorausgesetzt, es handelt sich wirklich um einen Vorschlag und nicht um eine Forderung (die eigentlich lauten müsste: „Ich will ins Museum, und wehe, du sagst nein!“). Wer Verantwortung übernimmt für das, was er oder sie in der Partnerschaft will, ob beim Sonntagsausflug, in der Lebensplanung oder im Bett, legt die Karten auf den Tisch und bereitet den Weg: zu Einigkeit, zu einem Kompromiss, oder auch zu getrennten Wegen hier und da. Das kann auch mal wehtun, ist aber ehrlich.

In Freundschaften: Wenn Sie die Nummer Ihrer Freundin auf dem Display sehen, ist fast immer Not am Mann. Beziehungsprobleme, die schwierige Mutter, Der Job. Allmählich fühlen Sie sich wie Alexa, nur aus Fleisch und Blut: Egal, was Sie sagen oder wie es Ihnen geht, Ihre Freundin redet, Sie hören zu und versuchen zu helfen. Nervt.

Beim nächsten Mal: Vielleicht werden Sie irgendwann laut: „Merkst du eigentlich, dass ich nur dein Seelenmüllplatz bin?“ Vielleicht gefallen Sie sich in der Rolle der Heiligen: Die Arme, sie hat es ja auch schwer. Oder Sie greifen zu Zynismus. „Oh, hallo, da ist ja das Traumpaar!“, wenn Sie sie innig mit dem Typen im Straßencafé sehen, über den sie sich gestern noch bitter beklagt hat.

Beim übernächsten Mal: Klartext reden: Ich fühle mich nicht gesehen, ich wünsche mir unsere Freundschaft anders, fällt dir eigentlich auf, wie sich die Gespräche im Kreis drehen? Gut möglich, dass die Aussprache die Freundschaft entgiftet, sie hat ja kaum aus Berechnung so gehandelt. Übrigens: Kann es sein, dass auch sie ein verkorkstes Verhältnis zu Wut hat, wenn sie lieber mit Ihnen über ihren Partner, ihre Mutter oder ihren Chef lästert, als denen gleich reinen Wein einzuschenken?

In der Politik: Sie sind der Souverän, schließlich leben wir in einer Demokratie. Praktisch fühlen Sie sich aber nicht so: ob Kohleausstieg, Maskenpflicht oder Vermögenssteuer, ständig werden Entscheidungen getroffen, die Sie sauer machen.

Wohin mit der Wut? Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sich Luft zu machen: eine Fülle von Social Networks, Freund*innen, Kolleg*innen. Problem: Wir fühlen uns danach häufig nicht besser. Wut mobilisiert Energie, sie kommt aber nirgends an.

Wohin mit der Wut – aber richtig? Erstmal schauen, woher das Gefühl kommt: Habe ich generell ein Problem mit Autorität, oder geht es wirklich um Sachfragen? Dann weitersehen: Inwieweit betrifft mich das Problem, und was beendet das Gefühl der Ohnmacht? Ich kann mich einer Initiative anschließen, Unterschriften sammeln, mich an meine*n Abgeordnete*n wenden. Aber auch beschließen: Nicht mein Zirkus, das sind nicht meine Affen, ich bleibe lieber als Beobachterin im Energiesparmodus. Keine Feigheit, sondern auch mal gesunder Selbstschutz. 

*“Wutkraft – Energie gewinnen, Beziehungen beleben, Grenzen setzen“, Beltz, 17,95 €

Mittlere Reife

Sind wir nicht alle unvergleichlich – und deshalb auch unvergleichlich schön? Ich musste ganz schön alt werden, um das zu kapieren. Dann habe ich mir vor lauter Freude darüber erst einen Bikini gekauft, dann für die BARBARA darüber geschrieben (Oktoberheft 2021)

Vor Jahren hatte ich einmal beinahe ein Schlüsselerlebnis. Da war ich innerhalb einer Woche erst bei einer Modedesignerin und ihrem Team zu Gast, eines Interviews wegen, und dann mit einer Freundin in einem Schwimmbad in Süddeutschland. Eben im Pariser Atelier noch Rhinozeros unter Elfen, jetzt Poolnudel unter Bojen. Ein Jojo-Effekt ohne jede Gewichtsschwankung. Mit einem After-Two-Babys-Body in Größe 42 bei knapp Einssiebzig hängt das Selbstbild eben stark davon ab, wer noch mit im Bild ist.

In dem Moment hätte eigentlich der Groschen fallen sollen: Wenn Schönheit so relativ ist, kann ich mich dann nicht einfach gut finden, und alle anderen auch, egal ob XL oder Size Zero? Die ganze Fülle des Lebens? Aber statt meinen inneren Kritiker gefesselt und geknebelt über Bord zu werfen, fand ich weiterhin, ich könnte meinen Anblick in einem Bikini jetzt echt niemandem mehr zumuten. Nicht mal meinem eigenen Spiegel. Ich trug damals jahrelang brav Badeanzug in gedeckten Farben, oberarmverhüllende Shirts, zeltartige Mäntel. Schluss mit lustig. Ich Dummerle dachte, das muss so. Aber ich war auch erst Ende 30, also praktisch ein halbes Kind.

Und dann kam der Tag im Sommer 2021, als ich feststellte: Ich bin 51, also endlich alt genug, mir wieder einen Zweiteiler zu kaufen. Einfach, weil ich Lust darauf habe. Obwohl ich in Zwischenzeit weder schöner noch dünner geworden bin, und außerhalb jeder Konkurrenz um die Miss Beachbody laufe. Oder vielleicht gerade deswegen? Unter Umkleidekabinenoberlicht, mit FFP2-Maske im Gesicht und Coronaspeck auf den Schenkeln, entdeckte ich die Leichtigkeit des Loslassens. Und das lang vermisste Gefühl von Freiheit, wenn Luft an den Bauchnabel kommt. Mit über zehn Jahren Verspätung fiel der Groschen. Sofort buchte ich einen Slot im Freibad. Erst nach dem Schwimmen fiel mir auf, was fehlte. Ich hatte nicht ein Mal kritisch meine Silhouette beäugt, wenn ich an spiegelnden Glasscheiben vorbeilief. So wie mit 15, 25, 35. Ob sonst jemand geguckt hat, und wie? Egal. Vielleicht waren Blicke einmal eine gültige Währung. Aber das waren auch Lire, Gulden und Peseten. Was heute mehr Wert hat: Wohlfühlen mit mir selbst.

Der Sommer war groß und ist vorbei, der neue Bikini noch da, die Freude am Älterwerden auch. Klar pushen auch Buzzwords wie „Body Positivity“ mein neues Selbstbewusstsein – wenn auf Instagram auch Körperformen Applaus bekommen, die nicht nach Diätmargarinewerbung aus den Neunzigern aussehen, fühle ich mich sichtbar in besserer Gesellschaft. Aber das gute Gefühl geht tiefer als der kurvenfreundliche Zeitgeist. Ein Teil davon ist pandemiebedingt: Wenn ein Virus Gesundheit und Leben bedroht, wird erst klar, wie dankbar man sein kann für einen Körper, der treu seinen Dienst tut. Der atmet und stoffwechselt und dabei seinen wichtigsten Teil spazieren trägt, den eigenen Kopf mit den eigenen Gedanken. Auch wenn er dabei nicht immer bella figura macht. Ein anderer Teil ist corona-unabhängig: Ich achte besser auf meine Energiebilanz. Denn Energie verschwendet, das habe ich in den letzten Jahrzehnten mehr als genug. Mit erfolglosen Versuchen, mich in eine Form zu zwängen, die mir nicht entspricht. Oder damit, mich darüber zu grämen. Stattdessen gehe ich mit 70 Kilo Leichtigkeit durchs Leben. Und nicht mehr mit untertänigem Gefühl shoppen („Ist mein armseliger Körper gut genug für diesen und jenen Schnitt, diese oder jene Länge?“), sondern mit einer königlichen Attitüde: „Na, ihr Wichte, seid ihr schön genug für mich?“ Manchmal guckt jemand, und ich habe eine Ahnung, was Leute in mir sehen. Eine Frau, die in sich selbst zu Hause ist und mit ihrem unperfekten Aussehen im Reinen. Was wir alle sein sollten, jederzeit, nicht erst mit 51. Das wäre ein Glück.

Endlich wieder Schule. Endlich wieder Schule?

Am ersten Tag im Schuljahr 21/22 kommt vieles in die Tüte, für alle: eine Portion Vorfreude auf den Alltag, eine Prise Nervosität. Wie normal wird das neue Normal? Wie gehen wir, unsere Kinder und ihre Lehrer mit dem Aufholdruck um? Und wer sollte jetzt eigentlich nachsitzen – die Politik, die Schüler, das Schulsystem? Das habe ich für die September-Ausgabe von ELTERN FAMILY recherchiert und aufgeschrieben

Das schönste Ferienerlebnis meiner Kinder fiel auf einen Freitag, den Dreizehnten. Das war im März 2020, wir saßen im Auto auf der Urlaubsrückfahrt und verfolgten im Radio die News aus den Nord-Bundesländern: Schulschließungen reihum, wegen dieses neuartigen Virus, Covid irgendwas. Kurz vor den Hamburger Elbbrücken war es offiziell, als letzter hatte auch unser Stadtstaat beschlossen, die Frühjahrsferien zu verlängern. Jubel auf der Rückbank, als wäre in Minute 119 ein entscheidendes Tor gefallen. 

Denn keiner konnte ahnen, was elf Millionen Erst- bis Zwölftklässlern landesweit noch blühen würde: Bis Mai 2021, so sagt der Deutsche Lehrerverband, sind pro Kind 350 bis 800 Stunden Präsenzunterricht ersatzlos ausgefallen. Den Negativrekord mit 900 halten Hamburger Mittelstufenschüler, darunter die beiden auf meiner Autorückbank. Auch sämtliche Highlights waren gestrichen: Praktika, Klassenreisen, Tischtennisrunden. Was blieb, waren Homeschooling, W-LAN-Krisen, hilflose Hilfslehrerversuche. Jetzt, im Spätsommer 21, sind hoffentlich die letzten Kilometer des Marathons erreicht. Schule bleibt uns als AHA-Erlebnis am Küchentisch in Erinnerung.

Und jetzt beim Schulanfang ist die Vorfreude bei allen fast so groß wie die Begeisterung über die Dauerferien im Frühjahr 20. Doch Wut und Ängste sind es auch: Wie tief sind Wissenslücken, wie groß soziale Verwerfungen? Wie schaffen die Kleinen das Rein- und die Großen das Weiterkommen? Was müssen, was können wir nachholen – und wie? 

Schule und Bildungspolitik: Klassenziel verfehlt

Die Schule hat in der Krise ihr Bestes gegeben – leider war das nicht genug. Und das liegt weniger an den Lehrern oder Schulleitungen, sondern vielmehr am Gesamtsystem, das ungefähr so agil ist wie ein schwerer Hochseetanker. „Soziale Systeme haben hohe Beharrungskräfte, zu lange setzt man auf Althergebrachtes. So ist leider auch gerade wenig Wirkungsvolles von der Politik zu erwarten, um die Folgen der Corona-Schuljahre abzumildern. Die Bundesländer verkörpern nicht einen Wettbewerb der Ideen, sondern agieren auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.“: Kein gutes Zeugnis, das der Sozialforscher Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ausstellt. Seine Erkenntnis: Die größten Rückstände haben oft diejenigen, die ohnehin schon den schwersten Rucksack tragen. Auf dem Land, wo es kein schnelles W-LAN fürs Homeschooling gibt; in sozialen Brennpunkten, in denen mehr Kinder aus prekären Verhältnissen stammen, die zu Hause kein Deutsch sprechen oder beides; in Grundschulen, wo die Neugier der Schulanfänger oft in einem Haufen kopierter Arbeitsblätter erstickt wurde. „Aber die einzige Lösung, die uns einfällt, ist: Ferienkurse für die aus dem Boden stampfen, die ohnehin besonders belastet sind. Statt einen großen Wurf zu wagen und allen Akteuren, also Schülern, Eltern und Lehrkräften, mehr Zeit zu geben“, ärgert sich Helbig. Dabei gibt es genügend Vorschläge aus verschiedenen Richtungen, etwa, den Stoff für die nächsten zwei Schuljahre auf drei zu strecken.

Zu einem ähnlichen Urteil kommt Ali El-Mafaalani, Soziologe an der Universität Osnabrück. Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie hat er das Buch „Mythos Bildung“ (Kiwi, 20 Euro) veröffentlicht, und auch er sagt: Die letzten anderthalb Schuljahre haben die soziale Spaltung noch vertieft, den Leistungsabstand zwischen dem Gymnasium im Villenviertel und einer Gesamtschule in der Hochhaussiedlung noch größer gemacht. Er schätzt, dass etwa die Hälfte aller Schüler mit gravierenden Wissenslücken ins neue Schuljahr startet. Andere Experten sehen die Lage nicht ganz so pessimistisch. Aber dass es zu viele sind, daran zweifelt niemand. 

Mit Schuld daran, sagt El-Mafaalani, hat auch die oft überbordende Bürokratie. Stichwort „Digitalpakt“: Schon vor dem Corona-Ausbruch hatte Vater Staat einen milliardenschweren Topf für eine bessere digitale Ausstattung der Schulen bereitgestellt, doch abgerufen wurde, Stand Frühjahr 21, nur etwa ein Viertel der Gelder. Obwohl das Thema plötzlich noch an Dringlichkeit gewann  – so hätten zum Beispiel, Tablets das Homeschooling gerade für solche Kinder erleichtert, die zu Hause weder Laptop noch Drucker besitzen. Aber um an die Gelder zu kommen, braucht es einen Antrag und ein detailliertes Digital-Konzept. Das kostet Zeit – Zeit, die viele Schulen angesichts der neuen Herausforderungen nicht hatten. Vor allem die ohnehin belasteten. Und nach dem einmaligen Segen bleibt die dauerhafte Finanzierung aus Landesmitteln oft ungewiss. 

Ein engagierter Lehrer (oder eine Lehrerin) allein kann solche strukturellen Probleme nicht lösen, sagt El-Mafaalani, der selbst lange Jahre in Nordrhein-Westfalen unterrichtet hat: „Der Lehrberuf belohnt Innovation nicht.“ Wenn sie sich trotzdem durchsetzt (siehe Interview Seite x), ist das die Ausnahme.

Also alles verloren? Das nun auch nicht, es gibt ja Ideen fürs Krisenmanagement. El-Mafaalani schlägt vor: Wenn schon keine Schuljahresverlängerung, dann wenigstens die ersten vier Wochen nach den Ferien zur Wiederholung von Vorjahresstoff nutzen, wie es Mecklenburg-Vorpommern angekündigt hat. Den Lehrplan reduzieren – aber nach verbindlichen Kriterien. Und nicht so wie im letzten Schuljahr, als Lehrkräfte nach Gutdünken wegließen, was ihnen nicht machbar erschien. Mehr Fortbildung für Lehrer, mehr Präsenzzeit für Schüler – aber nicht Mathe-Nachhilfe und Extra-Vokabeltests, sondern Sportangebote, Musikkurse, Projekte für das soziale Miteinander: „Seien wir doch ehrlich: Es fehlt den Kindern im Moment an allem!“

Kinder und Jugendliche: Gemeinschaft, wie ging das noch?

Eines immerhin hatten Schülerinnen und Schüler reichlich, nämlich Freizeit. Verbrachten sie nach einer Erhebung des Münchner Ifo-Institutes vor der Pandemie an jedem Werktag durchschnittlich 7,4 Stunden mit Schule und Hausaufgaben, waren es im Frühjahrs-Lockdown nur 4,3 Stunden. Etwa ein Viertel hat sogar nur rund zwei Stunden am Tag gelernt, darunter besonders Leistungsschwächere und Nicht-Akademikerkinder. Stattdessen: mehr Fernsehen, Computerspiele, Handy. „In der Pandemie hat so gut wie kein Kind begonnen, ein Instrument zu lernen, oder ist einem Sportverein beigetreten“, sagt El-Mafaalani. „Und wenn zu Hause nicht auf gesunde Ernährung geachtet wird, auf Bewegung, auf geistige Anregung, fehlt die Schule, um einen Ausgleich zu schaffen.“ Ein Kind, das täglich ein frisch gekochtes Mittagessen in der Schulmensa bekommt, fragt vielleicht auch zu Hause mal nach Gemüse. Oder nimmt ein Buch in die Hand, das die Lieblingslehrerin empfohlen hat. 

Kinder am oberen Ende der Bildungs- und Einkommensskala sind da meist von Haus aus besser dran. Geschlossene Schulen sind verringerte Lebenschancen.

Vor allem die jüngeren Kinder haben oft nicht nur kaum etwas dazugelernt, sondern sogar Entscheidendes verlernt. Das gilt nicht nur für anderssprachige, denen das Deutschtraining beim Spielen auf dem Schulhof fehlt, sondern für alle: die motorische Entwicklung ist bei vielen auf der Strecke geblieben, das soziale Miteinander auch. Heutige Zehntklässler haben über Jahre eingeübt, wie man gemeinsam Referate erarbeitet. Oder sich einigt, wer wann aufs Fußballfeld darf. Die Erstklässler haben dagegen echte Erfahrungslücken – denn auch die Kita fiel ja flächendeckend aus.

Wir Eltern: Druck machen, aber den Richtigen 

Wir Mütter und Väter haben dagegen tatsächlich einiges (wieder) gelernt: schriftlich teilen, Passivformen erklären, Hauptstädte aufsagen. Manchen war der Hilfslehrerjob unangenehm vertraut, anderen weniger. Eine Ost-West-Lücke sieht Bildungsforscher Marcel Helbig, selbst gebürtiger Thüringer: „Im Süden sind die Familienstrukturen und weiblichen Erwerbsmuster meist anders als in den Neuen Bundesländern.“ Das heißt: Während leidgeprüfte Münchner Mütter neben Halbtagsjobs und Hausaufgabencoaching jetzt eben den vollen Schulstoff mitschulterten, fanden sich Erfurter Eltern oft zum ersten Mal in der Situation. Denn in Thüringen arbeitet die Mehrheit der Eltern doppelt Vollzeit, 95 Prozent der Kinder werden im Grundschulhort betreut. Ein Grund, glaubt Helbig, warum das Bundesland die gesetzliche Corona-Notbremse deutlich weniger streng durchzog als Bayern – Homeschooling, made by Mama, war dort einfach keine Option. 

Bei allen Unterschieden ähnelt sich unsere Gefühlslage aber landesweit. Wir sind halb ausgelaugt, halb hoffnungsvoll, und latent besorgt: Müssen wir jetzt auch noch versäumten Stoff mit unseren Kindern nachpauken, am Wochenende, in den Ferien? Helbig hat dazu eine klare Meinung: „Eltern sollten Druck machen – aber nicht etwa ihren Kindern, sondern der Politik.“ 

Also: lieber eine Mail an den Bundestagsabgeordneten oder das Kultusministerium schreiben, als den eigenen Nachwuchs mit Extralektionen triezen. Das findet auch Aladin El-Mafaalani: „Ansprüche anmelden, durchdachte Konzepte fordern, und zwar jetzt. Denn viele andere Gruppen fordern auch Unterstützung, völlig zurecht, von Altenpflegern bis zu Kulturschaffenden. Bleiben Eltern zu still, werden ihre Belange und die ihrer Kinder übersehen.“ 

Zweite, vielleicht noch wichtigere Hausaufgabe für uns: den Blick weniger auf Schulnoten fixieren als auf Gesundheit, körperlich und seelisch. Der aktuellen Copsy-Studie am Hamburger UKE zufolge leidet ein Jahr nach Pandemiebeginn fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten, etwa depressiven Verstimmungen, Ängsten oder körperlichen Symptomen, die Wartezeiten auf Therapieplätze lassen sich eher in Jahren als in Monaten messen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, ist es wichtig, zuzuhören, gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen. Basteln, Paddeltour, Party mit Freunden. Unsere Kinder entlasten statt belasten. Und uns auch.

Fazit, oder: Was jetzt auf dem Lehrplan steht

Ein düsteres Bild, leider. Aber nicht ohne Hoffnungsschimmer. Stichwort „Aufholpaket“: Zwei Milliarden Euro nimmt der Bund in die Hand, nicht nur für klassische Nachhilfe, sondern auch etwa für Sportkurse, Sozial- und Kreativangebote. Das ist zwar nur ein Viertel von dem, was beispielsweise unser kleiner Nachbar Niederlande ausgibt, aber auch nicht nichts, findet El-Mafaalani: „Immerhin gibt es eine gewisse Aufbruchstimmung, die Schulpolitik ist nicht mehr ganz so veränderungsresistent.“ Engagierte Lehrerinnen und Lehrer nutzen die Gunst der Stunde und stellen Forderungen, etwa Susanne Lin-Klitzing für den Deutschen Philologenverband: eine bessere Gesprächskultur, die alle einbezieht, Eltern, Schüler und Lehrer, und feste Stellen für psychologische Fachkräften; klare Richtlinien für digitale Plattformen und Datenschutz; bessere Räumlichkeiten. Schon jetzt setzen sich dafür einige private Initiativen ein, auch finanziell. Etwa Bielefelder und Dortmunder Geschäftsleute, die in der Krise erschrocken festgestellt haben, wie marode viele Schulgebäude sind.

Und: Bei allem Leid haben Kinder aus der Krise auch gelernt. Auch meine beiden gehören zu den 56 Prozent, die laut einer Ifo-Studie an Eigenständigkeit gewonnen haben. Und zu den 66 Prozent, die heute deutlich besser mit digitalen Techniken umgehen können als vor der Pandemie. Improvisieren, sich durchwursteln und trotzdem ankommen: Manches, das man im Leben wirklich braucht, steht eben auf keinem Lehrplan. Und diese Lektion macht Hoffnung. Trotz alledem.

Interview:

„Es geht nicht so sehr darum, wer ein Lehrer ist, sondern, was er tut“

Ob Kinder und Jugendliche (wieder) gern zur Schule gehen, steht und fällt oft damit, wer ihnen im Klassenzimmer gegenübersteht. Aber was macht einen guten Lehrer, eine gute Lehrerin aus? Vier Fragen an Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, und Beate Heraeus, Vorstandsvorsitzende der Heraeus-Bildungsstiftung. Sie vergeben jährlich den „Deutschen Lehrerpreis – Unterricht innovativ“

ELTERN Family: In der Coronazeit hat sich wieder einmal gezeigt, was der neuseeländische Pädagoge John Hattie schon vor gut zehn Jahren nachgewiesen hat: Wie gut Schule ist, hängt in erster Linie vom Lehrer, von der Lehrerin ab. Aber was genau ist es, das Ausnahmepädagogen drauf haben?

Susanne Lin-Klitzing: Natürlich kommt es darauf an, wie die Lehrkraft als Person ist, aber genauso wichtig ist, was sie tut. Drei Bereiche machen den Unterschied, für alle Altersgruppen und Schulformen: klare Klassenführung, also sowohl den Einzelnen als auch die Gruppe mit einer klaren Regelorientierung im Blick zu haben; ein Gespür dafür, wer was in der Gruppe braucht; kognitive Aktivierung, sprich: die Schüler mit anspruchsvollem, innovativem Unterricht zu fordern und zu fördern. 

Zum Stichwort Innovation gibt es beim „Deutschen Lehrerpreis“ sogar eine eigene Kategorie. Wie kann das aussehen?

Beate Heraeus: Ich denke spontan an eine Preisträgerin, die im Chemieunterricht die Aufgabe gestellt hat, aus natürlichen Stoffen wie Kartoffelstärke Folien herzustellen. Das hat nicht nur einen Bezug zum wichtigen Thema Ökologie, es fördert auch die Fehlerkultur: Scheitern war ausdrücklich erlaubt! Solche Projekte fördern nicht nur das Verständnis, sondern erzeugen eine Bindung zwischen allen Beteiligten.

Susanne Lin-Klitzing: Mir fällt die Fremdsprachenlehrerin ein, die sich einen Kooperationspartner aus der Wirtschaft gesucht hat, der einen Klassensatz Tablets zur Verfügung stellte. Jedes Kind bekam einen Tandempartner von einer Partnerschule, mit dem es sprechen sollte, per Skype. Ein gutes Beispiel, wie man Digitalisierung sinnvoll einsetzt und nicht um ihrer selbst willen. Und dabei absolut lebensnah.

Beeindruckend, aber trotzdem: „Schule“ und „Innovation“, passt das wirklich zusammen, nicht nur in Einzelfällen? 

Beate Heraeus: Es gibt sicherlich einen Unterschied im Denken, etwa zur freien Wirtschaft, und mehr Vorschriften. Aber im Interesse der Schülerinnen und Schüler stehen Schulleitungen häufig vor der Notwendigkeit, dagegen zu verstoßen. Etwa, wenn es um den Einsatz digitaler Plattformen im Homeschooling ging. Gerade von engagierten, pflichtbewussten Lehrerinnen und Lehrern habe ich in der Pandemie gehört: Erreichen wir die Kinder nicht, verlieren wir den Kontakt, verlieren wir sie!

Susanne Lin-Klitzing: Wir brauchen Rechtssicherheit, Standards, damit die Kollegen eben nicht den Datenschutzbeauftragten fürchten müssen. Wir brauchen digitale Endgeräte für Lehrer wie für Schüler, zumindest in der weiterführenden Schule. Und wir brauchen Entlastung. Wir wissen, dass zwei Drittel aller Lehrpersonen überdurchschnittlich motiviert und engagiert sind, und das wird zu wenig gesehen. Etwa, wenn der Mathe-Kollege gerade mal zwei Wochenstunden Ermäßigung bekommt, um die Digitalisierung für eine ganze Schule zu wuppen.

Was wäre denn Ihre Vision für die Schule der Zukunft: digital, analog, beides?

Susanne Lin-Klitzing: Ein digital unterstützter Präsenzunterricht. Der Schulalltag der Zukunft wird mehr online-Elemente haben können, idealerweise werden Lehrer so fortgebildet, dass sie diese Tools je nach Fach und Lerngruppe optimal einsetzen können. Aber den Präsenzunterricht ersetzt das nicht: Nur wenn Kinder und Jugendliche lernen, vor andern zu sprechen und zu argumentieren, üben sie ihre geistigen und sozialen Fähigkeiten gleichzeitig. Und damit die Fähigkeit, demokratisch zu handeln.

In meinem Element

Wo sich Storch und Fischotter gute Nacht sagen: Der Spreewald, diese einzigartige Flusslandschaft in Brandenburg ist im Trend und bietet dennoch genügend lauschige Rückzugsorte – per Boot, per Fahrrad oder zu Fuß. Eine Liebeserklärung an einen besonderen Landstrich, erschienen in BRIGITTE, Juni 2021

Manchmal, wenn Martin Fix an einem Sommermorgen auf sein Standup-Paddleboard steigt, dann träumt er vom Herbst. Von einem Tag, an dem die Wiesen am Ufer Raureif tragen, die Rehe ruhig am Waldrand stehen, und nichts zu hören ist als das regelmäßige Eintauchen des Ruderblatts. Da ist er ganz in seinem Element, so viel meditative Einkehr ist in der warmen Jahreszeit selten an seinem Boots- und Boardverleih in Burg. Schlechter Zeitpunkt für unsere Landpartie? Nicht doch, beruhigt er uns: Bei rund 1500 Kilometer Wasserwegen sollten wir wohl ein stilles Plätzchen finden. 

Mit einer laminierten Karte und seinen Insider-Tipps machen wir uns auf den Weg. Am Ufer ziehen Schwarzerlen, Buchen und Brombeerranken vorbei, blau schimmernde Riesenlibellen kreisen über der Wasseroberfläche, und aus den Baumkronen dringt das Tschilpen des Eisvogels. Silbrige Schwärme vom Göbeln begleiten uns unter Wasser, und einmal zuckt ein metallischer Blitz von einem Ufer zum anderen: eine Ringelnatter. Amazonas-Feeling, keine Stunde Zugfahrt südöstlich von Berlin. 

Erst nach einer guten halben Stunde, an einer Gabelung, kreuzt einer der Kähne, auf denen sich Reisegruppen durchs Nasse Element staken lassen. Gern etwas feuchtfröhlich. „Sind Sie die Zeitungsfrau?“, schallt es mir entgegen. Alles klar: Der Kahnführer hat gerade von der Zustellerin erzählt, die an entlegenen Orten auf dem Wasserweg Post und Zeitungen ausliefert. Im Vorbeifahren höre ich noch die nächste Frage („Sagense mal, wie tief isses hier eigentlich?“), die Antwort kenne ich schon: „Wer im Spreewald ertrinkt, ist nur zu faul zum Aufstehen.“ 

Gebaut wurden die Kähne ursprünglich als Transportvehikel für Gemüse, doch findige Einheimische boten schon vor über 100 Jahre Fahrten für Sommerfrischler an. Gewandet in Festtagstracht, was ein bisschen geschummelt war, aber das urlaubende Berliner Bürgertum fand’s knorke. Die langen, flachen Boote prägen das Bild bis heute, genau wie eingelegte Gurken, Pellkartoffeln mit Leinöl und Storchennester. Wem das Gruppenschippern zu trubelig ist, schnappt sich Kanu, Kajak oder SUP-Board und sieht zu, dass er Land gewinnt. 

Holländische Gurken, preußische Migranten

Entstanden ist die Brandenburger Naturschönheit in der letzten Eiszeit. Auf ihrem Weg vom Lausitzer Bergland nach Berlin bildet die Spree ein bewaldetes Binnendelta, das über Jahrhunderte zu einer einzigartigen Natur- und Kulturlandschaft geformt wurde, durch Abholzung, Trockenlegung, Umleitung von Wasserwegen. Das hat auch seinen Niederschlag in der Sprache gefunden: „Fließe“ heißen die naturbelassenen Läufe, „Kanäle“ die menschengemachten. Zu Zeiten der Völkerwanderung kamen slawische Siedler, ihre Nachfahren, „Sorben“ oder „Wenden“ genannt, prägen den Spreewald bis heute mit eigener Kultur, sorbischsprachigen Radiosendern und Ortsnamen in zwei Idiomen. Im 16. Jahrhundert folgten holländische Zuwanderer und mit ihnen der Gurkenanbau, im 18. Jahrhundert siedelte der „Alte Fritz“ frühere preußische Soldaten an, um die Sumpflandschaft weiter zu kultivieren. Nach dem Mauerfall wurde die Region zum Biosphärenreservat, in dessen Kernzone auch Paddler und Spaziergänger nichts verloren haben. Letzte Zuwanderungswelle: Nutrias, die wilden Nachfahren von Zuchttieren aus einem aufgegebenen DDR-Betrieb. Die niedlichen Nager graben sich ihre Höhlen an den Ufern, meist zum Entzücken der Besucher und oft zum Ärger der Einheimischen, weil sie so gern die Deiche anknabbern.

Menschengemacht und doch verwunschen

Die wechselvolle Geschichte lässt sich auch an den Dörfern ablesen. In Lübbenau erinnern Kopfsteinpflaster und Alleen an Omas Kindheitsalbum, in Burg hat ein kunstsinniges Gastgeberpaar ein Ferienheim aus DDR-Zeiten in das 5-Sterne-Wellnesshotel „Bleiche“ verwandelt, am Ortseingang von Straupitz hat sich der Berliner Sakral-Baumeister Karl-Friedrich Schinkel mit einer überdimensionierte Kirche selbst ein Denkmal gesetzt. Und dann ist da noch das allgegenwärtige Emblem auf den Giebeln der Gebäude: Zwei gekreuzte Schlangenköpfe mit Krönchen, die auf eine Volkslegende zurückgehen. Denn die Schlange ist im Spreewald kein Angst-, sondern ein Glücksbringer: Dort, wo sie sich niederlässt, baute man in früheren Jahrhunderten bevorzugt das eigene Haus. Mehr als Aberglaube, denn die Schlange liebt es trocken und ist damit ein zuverlässiger Bio-Indikator. So fließt alles zusammen: Mittelalter und Biedermeier, Sozialismus und Moderne, Tradition und Trend. 

Das Menschengemachte tut dem Zauber dieser Landschaft keinen Abbruch. Schon deshalb, weil man Zeit und Muße braucht, um sie zu erkunden. Wer nur mit dem Auto über die Bundesstraße braust, bleibt buchstäblich außen vor. Für das echte Erlebnis muss man mitten rein. Aufs Wasser, auf die gut beschilderten Fahrradrouten über Wald- und Feldwege. Die eignen sich sogar für Sportmuffel prima, weil sie allesamt flach sind wie ein Teenie-Bauch. Zu Fuß geht auch. Uns begleitet Carolin von Prodzinsky, Rangerin und Naturschützerin. Wenn sie in ihren khakifarbenen Shorts am frühen Morgen im Wald unterwegs ist und nach dem Rechten sieht, dann merkt man: Auch hier ist eine in ihrem Element. Als Studentin hat sie in Australien Beuteltiere mit Peilsendern ausgestattet, in den letzten Jahren ihre Leidenschaft für das Naheliegende entdeckt: Biber und Fischotter, Schwarzstorch und Kibitz. Unser Spaziergang führt zum Gasthaus Wotschofska, mitten im Wald auf einer Erleninsel gelegen. Eine Mischung aus altdeutscher Wirtschaft, mit Holzvertäfelung bis zur Decke und grün gerahmten Fensterläden, und Beachclub mit Liegestühlen. Was liebt die Rangerin in ihrem Revier besonders? „Diese magischen Momente. Wenn du morgens auf einer Wiese am Waldrand stehst, der Dunst liegt noch über dem Gras, und in der Ferne steht ein einzelner Kranich und ruft.“ Was ihr Sorgen macht? „Der Klimawandel. Das letzte Hochwasser war 2013, seitdem sehen wir zu, wie der Wasserstand sinkt.“ Das schadet dem einzigartigen Ökosystem.

Junge Wilde, hippe Fashion

Im Zentrum von Lübbenau, ein paar Stunden später, treffen wir in ihrem Laden Sarah Gwiszcz. Ein Schneewittchen-Typ, mit Sommersprossen, Husky-Augen und schwarzen Haaren, und mit einem Blick, der zu allem entschlossen ist. Die Modemacherin ist nach dem Studium in Berlin in ihre Heimat zurückgekehrt, um dort ihr eigenes Label zu gründen: „Wurlawy“, ein Wort aus der sorbischen Sagengestalt, das übersetzt „Wilde Spreewaldfrauen“ bedeutet. Das passt zu ihren Entwürfen, die bereits auf der Berliner Fashion Week Furore machten: farbenfrohe Maßanfertigungen mit Spitze und Blümchenmuster oder im traditionellen Blaudruck, so verspielt und so cool zugleich, dass sich Einheimische wie Besucher Outfits für besondere Gelegenheiten maßschneidern lassen. Oder ein besonderes Mitbringsel erwerben: Zum Beispiel die „Spreewald-Beanie“, eine Kreuzung zwischen Kopftuch und Mütze, zu der sich Gwisczc von der Lübbenauer Brautjungfernhaube hat inspirieren lassen. Tradition mit einer Prise Punk und einem Hauch von Fantasy. Wovon sie träumt? Endlich fließend sorbisch sprechen lernen, die Sprache ihrer Vorfahren. Und von ihrer bevorstehenden Hochzeit, natürlich im selbstgeschneiderten Kleid: „Das wird so ein Sissi-Ding, richtig haudruff!“

Altes Handwerk mit Zukunft – auch andere Kreative verbinden hier die beiden Pole. Wie Bastian Heuser, Typ Tattoo-Hipster, der mit zwei Geschäftspartnern vor einiger Zeit eine Destillerie übernommen und sie zeitgemäß in „Spreewood Distillers“ umgetauft hat. In Schlepzig, am nördlichen Ende des Spreewaldes gelegen, 600 Einwohner. Und mitten im Dorf eine Infotafel, die über die aktuelle Geburtenrate der Storchenpaare informiert. Hier, am vielleicht schönsten Hintern der Welt oder zumindest Brandenburgs, brauen sie einen preisgekrönten Roggen-Whisky. Bei einem Schluck „Stork Club“ auf der Kahnterrasse ihres Hofcafés versteht man, was daran besonders ist: der charakteristische Vollkorn-Geschmack, die feinen Aromen. „Wer Whisky macht, muss warten können“, sagt Heuser. Drei Jahre und einen Tag, so lange beträgt die Lagerzeit im Eichenfass. Als Stadtmensch hat Heuser seinen Wohnsitz in Berlin, aber im Spreewald den Charme der Langsamkeit entdeckt: Fahrradfahrern, Angeln, Wasserwandern. Seine Kinder, neun und elf, bessern derweil ihr Taschengeld auf, in dem sie Kanufahrern an der Schleuse zur Hand gehen.

Verrückter Graf auf weißem Hirsch

Letzte Station: Cottbus. Liegt streng genommen nicht im Spreewald, sondern ein paar Kilometer jenseits, und klingt, zugegeben, nicht nach Traumstadt. Eher nach postsozialistischer Tristesse. Doch das ist nur ein Farbton in einem bunteren Bild. In den aufgelassenen Tagebauten wird im Lauf der nächsten Jahre eine einzigartige Seenlandschaft entstehen, in der Innenstadt eröffnen coole Cocktailbars, und dann ist da noch die reiche Kunst- und Kulturszene. Ein Jugendstiltheater mit Mut zur modernen Inszenierung, ein Museum in einem ehemaligen Dieselkraftwerk, das eine einzigartige Sammlung von Kunstwerken von der klassischen Moderne über den Spätexpressionismus bis zu Fotokunst aus der DDR beherbergt. Auch wenn Museumsdirektorin Ulrike Kremeier den Begriff „DDR-Kunst“ nicht leiden kann: „In dieser Zeit wurden so viele interessante Traditionslinien weitergeführt, da hilft es gar nichts, ständig einen Bezug zum politischen System herzustellen.“ 

Last but not least liegt in Cottbus der Schlosspark Branitz, Vermächtnis des Fürsten Hermann zu Pückler-Muskau, den sie hier auch den „verrückten Pückler“ nennen. Ein Dandy des 19. Jahrhunderts, Autor, Weltenbummler, der davon träumte, die Quellen des Nil zu erkunden, aus einer unwirtlichen Sandgrube einen oasengleichen Garten machte, und sich schließlich höchstselbst unter einer Erdpyramide im Schlosspark begraben ließ. Vor der Cottbuser Stadtmauer erinnert ein modernes Standbild an den Weitgereisten, es zeigt den Fürsten auf einem weißen Hirschen. Denn er soll bei Besuchen gern mit einer Kutsche, gezogen von Wildtieren, vorgefahren sein. Sinn für spektakuläre Auftritte, lang vor Erfindung des Selfies.

Abends, im Biergarten vom „Spreewaldhof“ in Leipe, sitzen wir auf Holzbänken und studieren die Karte. Räucherfisch, Wein, oder mutig ein „Gurkenradler“ bestellen? Vom Wasser her erklingt das Geräusch eines Paddels, Mücken fliegen tief, letzte Tagesausflügler schließen ihre Fahrräder an. Klick-Klack. Stille. Frieden. Es gibt Momente, in denen muss man sich nirgends hinträumen. Alles ist schon da.

INFOTEIL

Hinkommen und Rumkommen

Mit dem Auto: etwa 100 Kilometer südöstlich von Berlin bzw. nordöstlich von Dresden, Anfahrt von beiden Städten aus etwa anderthalb Stunden, von Hamburg aus etwa viereinhalb Stunden. Alternative: Der Regionalexpress (RE) Richtung Cottbus verkehrt im Stundentakt ab Berlin mit Halt z.B. in Lübben, Lübbenau und Vetschau, Rad- und Sportgerätemitnahme möglich. Mit dem Fahrrad lässt sich die Region optimal erkunden (gut ausgeschildertes Wegenetz jenseits der Autostraßen, etwa der 260 km umfassende „Gurkenradweg“), Verleihstationen z.B. in Burg-Dorf (Radler-Scheune, www.radler-scheune.de/Spreewald/,  Tel. 03 56 03/133 61) und Lübbenau (Fahrrad Metzdorf, www.fahrradverleih-spreewald.de, Tel. 035 42/466 47); Tagespreise für ein Tourenrad ab etwa 12 Euro, auch E-Bikes, Anhänger, Kinderfahrräder etc.; Noch authentischer: Entdeckungstouren auf den Wasserstraßen. Überblick über Bootsverleihe (Kajaks, Canadier etc.): www.spreewald.de/bootsverleih/; der Tagespreis für ein Kajak liegt etwa bei 20 Euro. SUP-Board-Verleih in Burg-Kolonie: www.sup-spree.de, Tel. 03 56 03/838, Stundenpreis 10 Euro. Info vor Ort: Tourismusverband Spreewald, Tel. 03 54 33/58 10, www.spreewald.de

Übernachten

Bleiche. Ein Hotel wie ein opulentes Gemälde: Zwischen Fließ und einem weitläufigen Gelände mit altem Baumbestand liegt das Spa-Resort mit Fünf-Sterne-Küche und Kultur-Ambiente, von der echten Kunst in Lobby und den großzügigen Aufenthaltsräumen bis zur hauseigenen Bibliothek und regelmäßigen Lesungen teils bekannter Autor*innen, zu denen das kunstsinnige Gastgeberpaares Clausing einlädt. Wer hier eincheckt, darf sich nach Strich und Faden verwöhnen lassen: Das Arrangement ist zwar mit einem Mindestpreis von etwa 250 Euro pro Person und Nacht kein Schnäppchen, es sind aber auch alle Mahlzeiten und die Nutzung der „Landtherme“ darin enthalten (Burg, Bleichestr. 16, Tel. 03 56 03/620, www.bleiche.de).

Spreewaldresort Seinerzeit. Malerisch zwischen Kopfsteinpflasterdorfstraße, Spreewiesen mit alten Obstbäumen und Fließ gelegen, möchte man sich in diesem eleganten, 2017 neu renovierten Landhotel mit seinem Stilmix aus Sixties-Deko und Landlust glatt zu romantischen Gesten hinreißen lassen. Manche tun es auch: Am Ufer, unter den Kronen einer uralten Weide, kann man sich ganz offiziell das Jawort geben. Einfach nur den Urlaub genießen geht auch: Das Hotelrestaurant „Feine Küche“ wechselt alle sechs Wochen die Karte und überrascht mit saisonalen Spezialitäten, im Sommer auf der Kastanienterrasse (DZ mit Frühstück ab 112 Euro. Dorfstr. 53, 15910 Schlepzig, Tel. 03 54 72/66 20, www.seinerzeit.de)

Hotelanlage Starick. Zünftig und ungekünstelt: Hier wohnen Sie bei echten Spreewald-Insidern. Der Seniorchef hat auf dem weitläufigen, von einem Wasserlauf durchzogenen Hotelgelände sogar ein kleines Museum zu Ehren der Spreewaldgurke eingerichtet, serviert im Hotelrestaurant Wildspezialitäten aus eigener Jagd oder Fisch aus den umliegenden Gewässern. Besonders heimelig sind die kleinen Doppelzimmer mit Dachschräge: Ein bisschen wie Urlaub bei Oma in den Siebzigern, sogar der orangefarbene Teppich stimmt (Kleines DZ mit Frühstück ab 95 Euro. An der Dolzke 6, 03222 Lehde, Tel. 035 42/899 90, www.spreewald-starick.de)

Spreewaldhof Leipe. Am Wasser gebaut: Mitten in der Natur am Rand eines verschlafenen Dorfes, wo sich Kanu- und Radrouten kreuzen, ist aus einem Bauernhof eine gemütliche Pension mit Biergarten geworden. Der Spreewaldhof ist ganz auf die Bedürfnisse von Aktivurlaubern eingestellt, mit Anleger für Kanus, Kajaks und Co. Die Zimmer sind schick-rustikal, mit Fachwerkelementen und modern möbliert. Im Biergarten am Wasser gibt’s frischen Räucherfisch, Hefeplinse (Pfannkuchen) und süffiges Gurkenradler (DZ mit Frühstück ab 106 Euro, auch günstige Campingunterkünfte (simple Holzhütten ab 34 Euro/Nacht) und Ferienwohnungen. Leiper Dorfstr. 2, 03222 Lübbenau, Tel. 03542/2805, www.spreewaldhof-leipe.de)

Bio-Hotel Kolonieschänke. Burg-Kolonie hat seinen Namen aus der Zeit, in der der „Alte Fritz“ seine Veteranen im Spreewald ansiedelte. Das Hotel in einem alten Fachwerkhaus zwischen weitläufigem Obstgarten, Spielscheune für Kinder und Outdoor-Bar, ist ein Treffpunkt für alle, die es grün, gemütlich und ökobewusst mögen: Vom Baumaterial übers Heizsystem bis zur Restaurantküche mit vegetarischem Schwerpunkt achten die Betreiber in jeder Hinsicht auf Nachhaltigkeit. TV und W-LAN? Fehlanzeige! Einen eigenen Bootsverleih gibt’s auch (DZ mit Frühstück ab 85 Euro, außerdem verschiedene Zimmerkategorien, z.B. behindertengerecht und mit eigener Sauna. Ringchaussee 136, 03096 Burg/Spreewald, 03 56 03/68 50, www.kolonieschaenke.de)

Zur Alten Schule. Backsteinwände, Holzbalken, Kaminöfen, Veranden mit Blick ins Grüne und Obstbäume zur Selbstbedienung: Wo früher Schulkinder das ABC lernten, auf einem Waldgrundstück am Ortsrand von Burg-Kauper, liegt eine der schönsten Ferienhausanlagen der Gegend. Absolut ruhig, liebevoll ausgestattet, ländlich-modern. Verschiedene Wohnungsgrößen für Selbstversorger, aber auch mit Frühstück buchbar (FeWo für 2 Personen eine Nacht 110, jede weitere Nacht 85 Euro, Landfrühstück 12,50 Euro pro Person. Weidenweg 8, 03096 Burg/Spreewald, Kontaktaufnahme bevorzugt per Mail: kontakt@zur-alten-schule-spreewald.de, www.zur-alten-schule-spreewald.de

Genießen

Hotel-Gasthof Stern. Hier dreht sich alles um das Thema Kräuter: Keiner kennt sich so gut aus mit den grünen Wundern der Region wie Koch und Gastgeber Peter Franke, der auch Touren und Workshops anbietet. Klar, dass neben Rustikal-Klassikern wie Kartoffeln mit Quark und Leinöl oder Rouladen auch Gerichte wie der „gemischte Wildkräutersalat“ (etwa 10 Euro) auf der Karte stehen (Burger Straße 1, 03096 Werben, Tel. 03 56 03/660, www.hotel-stern-werben.de)

Gasthaus Wotschofska. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf dem Wasserweg: Nur so erreicht man das rustikale Gasthaus mit Biergarten. Dabei ist es eine TV-Berühmtheit: Um die „Wotschofska“ wurden einige Szenen der ZDF-„Spreewaldkrimis“ gedreht. Kulinarische Schwerpunkte sind Fisch- und Wildgerichte aus der Region, z.B. Spreewälder Fischsuppe (große Portion 8 Euro); (Wotschofskaweg 1, 03222 Lübbenau, Tel. 045 36/76 01, www.gasthaus-wotschofska.de)

Hofrestaurant Schlangenkönig. Eine der schönsten Wasser-Terrassen im Spreewald hat die – übrigens sehr empfehlenswerte! – Pension Schlangenkönig in Burg-Kauper: Wind in den Weiden, gründelnde Enten und auf dem Teller je nach Geschmack italienisch (Pasta, Fleisch- und Fischgerichte) oder regional. Empfehlenswert: Die herzhafte Variante der Hefepfannkuchen („Plinsen“) mit Lachs und saurer Sahne, etwa 10 Euro (Waldschlößchenstraße 14, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/759 30, www.zum-schlangenkoenig.de)

Spreewälder Privatbrauerei 1788. Beliebtes und belebtes Brauhaus plus Biergarten mit eigenen Craftbeerspezialitäten und deftiger Küche (z.B. Brauhaus-Rippchen, 18,50 Euro) auf dem malerischen Gelände des „Spreewaldresort Seinerzeit“ in Schlepzig (Adresse und weitere Infos siehe „Übernachten“). 

Cavalierhaus Branitz. Top-Adresse für den Tagesausflug nach Cottbus: In seinem kleinen, feinen Restaurant im Schlosspark Branitz (siehe auch „Erleben“) kocht der kulinarische Aufsteiger Tim Sillack regionales auf Sterne-Niveau, mittags zu Schnupperpreisen (z.B. Bärlauchbratwurst vom Cottbuser Metzger auf Sauerkraut für 16,50 Euro), und serviert auch Highend-Klassiker wie Austern (Zum Cavalierhaus 9, 03042 Cottbus, Tel. 03 55/49 39 70 30, www.cavalierhaus-branitz.de)

Einkaufen

Wurlawy. Sarah Gwisczc nimmt Elemente aus der sorbischen Tracht und macht coole, folkloristische Mode daraus, die sie in ihrem Ladengeschäft auch von der Stange verkauft (Ehm-Welk-Str. 27, 03222 Lübbenau, Di bis Fr 12 bis 18 h, Sa 11 bis 16 h, wurlawy.de)

Spreewood Distillers. Laden und Hofcafé gehören zur Roggen-Whisky-Destillerie, im Shop gibt es neben reinen „Stork Club“-Whiskys auch Mixgetränke wie den „Rosé Rye“ zu 18 Euro pro Flasche (Dorfstr. 56, 15910 Schlepzig, Mo bis So 10 bis 17 h, www.spreewood-distillers.de)

Töpferei Piezonka. Merke: Eine Wanderung auf dem „Fontaneweg“ (ab Burg-Kauper) sollte nie ohne geräumigen Rucksack starten – schließlich führt die Route an einer Kunsttöpferei vorbei. Mindestens eine Müslischale im verspielt-märchenhaften Dekor sollte ins Gepäck passen (Weidenweg 15, 03096 Burg, Mo bis So 9 bis 18 h)

Erleben

Wellness:  Beste Adressen fürs Wohlbefinden liegen in Burg. Die „Spreewald-Therme“ bietet in modernem Ambiente neben Bade- und Solebecken auch Anwendungen mit regionalen Produkten wie Spreewald-Algen und Leinöl an (Eintritt 2 Stunden 15 Euro, Ringchaussee 152, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/188 50, www.spreewald-therme.de). Die „Landtherme“ des 5-Sterne-Hotels „Bleiche“ besticht dazu durch ungemein opulente Optik: Offene Kamine, viel Holz, cremefarbene XL-Polsterliegen – als würde man in ein Barockgemälde eintauchen (siehe Punkt Hotels)

Folkloristisches: Ein besonders hübsches Freilichtmuseum liegt im „Storchendorf“ Dissen, abseits der touristischen Hotspots: Beim Bummel zwischen nachgebauten Grubenhäusern wird die slawische Geschichte des Spreewaldes greifbar. Unbedingt hier nach dem Schlüssel für die entzückende Dorfkirche nebenan fragen, falls sie geschlossen sein sollte: Die Holzdecke ist mit Hunderten Bildern von Pflanzen und Tieren bedeckt (Hauptstr.  32, 03096 Dissen-Striesow, Öffnungszeiten unter www.heimatmuseum-dissen-spreewald.de)

Kunst in Cottbus: Unbedingt lohnt sich ein Abstecher ins Pückler-Museum und den Schlosspark Branitz. Der Eintritt in den Landschaftspark nach englischem Vorbild ist gratis, das Schloss-Ticket kostet 8 Euro, ist aber jeden Cent wert: In der Altersresidenz des exzentrischen Fürsten aus dem 19. Jahrhundert fühlt man sich wie bei Lawrence von Arabien zu Besuch (Robinienweg 3, 03042 Cottbus. Öffnungszeiten und Preise: www.pueckler-museum.de). Toller Kontrast: Die wechselnden Ausstellungen im ehemaligen Dieselkraftwerk mit moderner Kunst von Foto bis Textil. Aktuell im Sommer 21: Die Sammlung „Chagas Freitas“ mit Kunst aus der DDR jenseits des offiziellen Kulturbetriebes (Am Amtsteich 15, 03042 Cottbus, Öffnungszeiten und Preise: www.blmk.de)

Wenn ich das gewusst hätte

Kahnfahren im Spreewald – das lernen die meisten auf ein- bis mehrstündigen Rundfahrten ab Burg-Dorf, Lübbenau oder Lehde kennen. Die Touren starten im Stundentakt, Vorausbuchung ist nicht notwendig, aber die Massengaudi hat mich eher abgeschreckt. Erst später erfuhr ich von Varianten für Individualist*innen: Einige Anbieter haben sich auf Themenfahrten spezialisiert, von der Kahnfahrt mit Krimilesung über die Mondscheintour bis zur privaten „Kahnfahrt der Sinne“ für zwei Personen rücklings auf dem Sitzsack (80 Euro pro Stunde, buchbar über Pension Schlangenkönig, s.o.). Besonders urig: Touren in Hagen Conrads Holzkähnen, die selbst in der Hochsaison in die abgeschiedensten Ecken führen (www.hagens-insel.de, ab 6 Euro pro Stunde)

Unbedingt mitnehmen

Wo Sumpf und Wasser sind, bleiben auch Mücken nicht aus – und den Spreewald lieben sie besonders! Deshalb bei Touren auf dem Wasser Insektenschutzmittel und lindernde Salbe nicht vergessen und lieber im langärmligen Shirt losziehen.