Wenn sich das eigene Kind als queer outet, ist das heute keine große Sache mehr. Oder? Das dachte auch ich, ehe ich selbst als Mutter erlebte: Ganz so einfach ist es nicht. Das liegt an der eigenen Prägung – und an einer aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte. Mein Beitrag für die BRIGITTE, August 2023
Als meine beiden Kinder klein waren, vor zehn, fünfzehn Jahren, hatte ich einen Plan. Ich wollte sie zu maximal offenen und toleranten Menschen erziehen. Frauen, die Frauen liebten, Männer, die Männer liebten, all das sollte für sie so selbstverständlich sein wie die Tatsache, dass Menschen einen anderen Hautton haben als sie oder Rollstuhl fahren, statt zu Fuß zu gehen. Ich erwähnte auch, dass es Menschen gab, deren Geschlechtsempfinden nicht zu ihren körperlichen Merkmalen passte. Damit fühlte ich mich ganz weit vorn. Als ich selbst Kind war, habe ich kein Wort zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gehört. Ich war geschockt, als ich mit zehn oder elf zum ersten Mal von schwulen Männern erfuhr. So etwas gibt es?
Ich dichtete also in Vorlesebüchern manchmal ein Vater-Mutter-Kind-Trio zu einer Regenbogenfamilie um, feierte einen kleinen Jungen, der als Prinzessin zum Kita-Fasching kam und klopfte mir innerlich auf die Schulter. Super, Mama, alles richtig gemacht. Nur eine Möglichkeit hatte ich nicht bedacht: Dass queere Menschen nicht „die anderen“ sein könnten. Sondern ein Teil unserer Familie, von Anfang an. Auch wenn ich es lange übersah. Vielleicht übersehen wollte, aus Unsicherheit, Berührungsangst, Konformitätsdruck. Bis es nicht mehr anders ging.
Meine Tochter war acht, als sie sämtliche mädchenhafte Kleidung aus ihrem Schrank verbannte und bei Schulhof-Rollenspielen am liebsten die Jungsrolle übernahm. Zwölf, als sie sich die Haare raspelkurz schneiden ließ. Mit 13 verliebte sie sich – wenngleich unerwidert – in ein Mädchen und outete sich: Mama, Papa, ich bin bi. Mit 14 gab sie auf Instagram ihre Pronomen mit sie/er/they an. In allen Geschlechtern zu Hause. Wir bestärkten sie: Du weißt selbst am besten, wer und was du bist.
Meinem Mann fiel das erstaunlich leicht, seine Liebe zu seinem Kind kam mir bedingungsloser vor als meine eigene. Ich tat mich schwerer, auch wenn ich es vor ihr zu verbergen versuchte. Ich erkannte mein kleines Mädchen nicht wieder, das ging tiefer als pubertäre Entfremdung. Aber Moment mal: War sie das überhaupt jemals gewesen, mein kleines Mädchen? „Ich bin genderfluid“, erklärte sie schließlich, „ich fühle mich manchmal weiblich, manchmal männlich, manchmal weder noch.“ Jedenfalls völlig anders als ich, und auch ganz anders, als ich mir eine heranwachsende Tochter vorgestellt hatte. Das musste ich erst einmal schlucken.
Mit diesen Wachstumsschmerzen bin ich nicht allein. In der Generation der Millennials finden sich deutlich mehr Menschen unter dem LGBTQI+-Label als in der Generation X. Laut dem „Global Survey“ des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos von 2021 mit 20.000 Befragten definieren sich weltweit 18 Prozent der heute 18- bis 25jährigen als homo- oder bisexuell, das sind doppelt so viele wie unter den heute 50jährigen. Und vier Prozent der Jüngeren ordnen sich nicht dem binären Männlein-oder-Weiblein-Schema zu, oder nicht dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurden. Vier Mal mehr als in der Elterngeneration.
Andere Studien kommen zu anderen Zahlen, teils etwas niedrigeren, aber die Tendenz ist dieselbe: Sowohl die sexuelle Orientierung, also die Richtung von Lust und Liebe, also auch die geschlechtliche Identität werden heute stärker hinterfragt, Varianten offener gelebt. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass es mehr junge Schwule, Lesben oder trans Menschen gibt als früher. Nur, dass zumindest in der westlichen Welt heute vielerorts leichter möglich ist, dazu zu stehen. Gerade dann, wenn sich Menschen – wie meine Tochter – irgendwo in der Mitte verorten: Nicht lesbisch, nicht hetero, weder trans Mann noch „ganz Frau“.
Diese Uneindeutigkeit zu akzeptieren, war eine Herausforderung. Nicht nur für mein Kind, auch für mich. Lange dachte ich, dass dieses Pendel irgendwann zum Stillstand kommen würde. Dass es sich um eine „Phase“ handeln würde, so wie das Thema in den Teeniezeitschriften meiner Achtziger-Jahre-Jugend abgehandelt wurde. Aber so wie es aussieht, gehört das zu ihr. Genauso wie der kleine Leberfleck neben ihrer Nase oder ihre Füße mit den knubbeligen Zehen, die genau so aussehen wie meine. Ich musste mich von einer Vorstellung lösen, die wohl tiefer saß als erahnt: Hier wir, die „Normalen“, dort „die anderen.“ Erst 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Homosexualität aus der Liste psychischer Krankheiten entfernt, erst 2018 Transidentität als normale Variante der geschlechtlichen Entwicklung anerkannt.
Ich habe sie einmal gefragt, wie sie sich wohl definiert hätte vor 30, 40 Jahren, als ein Begriff wie „genderfluid“ noch nicht im Umlauf war. „Wahrscheinlich hätte ich als Frau gelebt und auch heterosexuelle Beziehungen gehabt“, hat sie überlegt, „aber immer das Gefühl gehabt, das etwas nicht ganz stimmt.“ Das hat mich berührt. „Sei du selbst, finde deinen Platz in der Welt“ – ist es nicht das, was man seinen Kindern mit auf den Weg gibt? Oder will man Konformität um jeden Preis? So wie die kleine Mehrjungfrau im Märchen, die ihre Stimme opfert, um Teil der Menschenwelt zu werden?
Irgendwann habe ich auch überlegt, ob meine frühen Toleranz-Lektionen meine Tochter zu der Person gemacht haben, die sie ist. Und gleichzeitig geahnt, dass der Gedanke absurd ist. So wichtig, so mächtig sind Eltern nicht. Woher genau sexuelle Orientierung und Geschlechtsempfinden kommen, das kann die Wissenschaft Stand heute noch nicht eindeutig sagen. Vielleicht wird sie es nie können, es ist ein komplexes Puzzle aus Genetik und Prägung. Sicher ist nur: Man kann weder das eine noch das andere anerziehen. Aberziehen auch nicht – nur unterdrücken. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ergab: 28 Prozent aller trans Jugendlichen wussten „schon immer“ über ihre geschlechtliche Besonderheit Bescheid, bei weiteren 33 Prozent war die Findung mit dem 16. Geburtstag abgeschlossen. Darunter Personen, die eine hormonelle und operative Geschlechtsangleichung wünschten, aber auch Menschen wie meine Tochter, die sich jenseits der gängigen Geschlechtszuschreibungen eingerichtet hat. Bei homo- und bisexuellen Jugendlichen kommt die Selbsterkenntnis oft etwas später, aber auch unter ihnen wissen zwei Drittel gegen Ende der Pubertät, wo die Reise hingeht.
Einfach zu sich selbst stehen, offen und frei, das ist aber nicht für jede*n möglich. Leider. Denn noch etwas habe ich als Heterofrau gelernt: Es ist längst nicht alles so bunt und gut, wie ich dachte. Nur weil Konzerne ausgeklügelte Diversity-Strategien vorlegen und die Fußball-Nationalmannschaft in Katar beinahe so etwas wie eine „One-love“-Armbinde getragen hätte, ist Akzeptanz keinesfalls selbstverständlich. Auch nicht in unserem vermeintlich aufgeklärten Land. Jede*r zweite der Jugendlichen erlebt während seiner oder ihrer Schulzeit Mobbing und Diskriminierung.
Claudia Krell, die früher am DJI geforscht hat und heute bei der Münchner Beratungsstelle LeTra arbeitet, sagt: „Ich höre immer wieder, dass Hetero-Menschen den Eindruck haben: Das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Damit wird aber suggeriert, Menschen dürften kein Problem mehr damit haben, wenn sie queer sind. Die Unsicherheit, der Stress wird ihnen abgesprochen.“ Und der kann riesig sein. Das Bundesinnenministerium registrierte 2021 zum ersten Mal mehr als 1000 queerfeindliche Straftaten. Hass und Gewalt. Und wenn die AfD ausgerechnet im Juni, dem traditionellen „Pride Month“ für queere Sichtbarkeit, einen „Stolzmonat“ ausruft, dann ist das eine verbale Kampfansage, kombiniert mit dem Slogan „schwarz rot gold ist bunt genug.“ Wenn ich so etwas lese und an meine Tochter und ihre Freund*innen denke, wird mir himmelangst. In ihrer Schule, der Verwandtschaft, unserem Großstadtviertel ist sie – bisher! – sicher. Aber es gibt Gegenden, auch in Deutschland, da sollte sie mit ihrer bunten Clique besser nicht zum Zelten fahren.
Und weil Teile der Gesellschaft das Gegenteil von empowernd sind, ist es umso wichtiger, dass Eltern queeren Kindern den Rücken stärken. Manchmal sogar lebenswichtig, sagt Claudia Krell: „Eltern müssen nicht immer alles richtig machen. Sie dürfen sich ihre Zeit nehmen, mit der unerwarteten sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ihres heranwachsenden Kindes klarzukommen. Aber wenn sie sagen: Ich stehe zu dir, wir schaffen das, geben sie einen unschätzbaren Rückhalt. Wir wissen aus Studien über Resilienz: Wenn es wenigstens eine Person gibt, an die sich Jugendliche vertrauensvoll wenden können, ist das Risiko für Suizid deutlich verringert.“ Das gilt ebenso für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen.
Klar, es gibt es auch Kinder und Jugendliche, die in einer Selbstfindungsphase ihre Sexualität oder ihr Geschlecht hinterfragen, als Erwachsene aber fühlen und lieben wie die Mehrheit. Aber Empathie, Zuhören, vielleicht professionelle Beratung suchen – das schadet nie. Nicht ernst nehmen, ignorieren, eigene Vorstellungen in das Kind projizieren – das schadet immer.
Nächstes Jahr macht meine Tochter Abitur und wird volljährig. Oder sollte ich lieber sagen: Tochter*, mit Gendersternchen? Menschen wie sie bringen nicht nur die Verhältnisse zum Tanzen, auch die Sprache. Sie ist ein schillernder Mensch, trägt mal Herrenhemd, mal Kleid, und ich bin sehr stolz auf sie. Auf ihre Klarheit, ihr oft hart erkämpftes Selbstbewusstsein. Ihren Weg, der so anders ist als der meines jüngeren Kindes, männlich, hetero, auf einer straighten Linie vom Jungen zum Mann.
Einen Plan? Den habe ich schon lang nicht mehr. Nur einen Wunsch. Dass sie mich beide noch ein Stück mitnehmen auf ihren Wegen. Dass es ihnen gut ergehen möge. Und dass ich weiter an ihnen wachsen kann.