Ungefähr anderthalb Jahre hat es gedauert von der ersten Idee über die Recherche und die Zusammenarbeit mit meiner Mit-Autorin Christiane Kolb und dem Beltz Verlag, bis unser neuestes Buch erschienen ist: Report, Ratgeber, persönliche Reise aus verschiedenen Blickwinkeln zu der Frage, warum Jugendliche und junge Erwachsene heute anders mit dem Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt umgehen als wir, die „Generation X“. Und was Eltern wie ich (mittelalt, hetero, cisgeschlechtlich) am besten tun, wenn eines ihrer Kinder sich als queer outet, früher oder später, vehementer oder auch spielerischer. Das Buch soll aufklären und Empathie wecken, soll Verständnis für Jugendliche ebenso wie latent überforderte Eltern wecken, soll den Stand der Wissenschaft abbilden und ganz viel von den Menschen erzählen, die am besten wissen, wie sich Queersein anfühlt, nämlich Mitgliedern dieser Community. Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Eingangskapitel, in dem ich meine persönlichen Beweggründe schildere, dieses Buch zu machen.
Als meine Tochter etwa acht, neun Jahre alt war, hatten sie und ich einen gemeinsamen Lieblingsfilm. „Yentl“, eine Tragikomödie aus den Achtziger Jahren, erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem jüdischen „Schtetl“ in ländlichen Osteuropa lebt und davon träumt, auf die Thoraschule zu gehen und zu lernen. Das Hausfrauen- und Mutterdasein, das ihr vorherbestimmt ist, erscheint ihr eng, dumpf und geistlos. Schließlich gibt sie sich in ihrer Verzweiflung als Mann aus und wird als Student aufgenommen, was erwartungsgemäß zu einer Reihe von Irrungen und Wirrungen führt.
Heute weiß ich: Obwohl wir die DVD unzählige Male gemeinsam sahen, an denselben Stellen lachten und diskutierten, haben wir zwei verschiedene Filme gesehen. Ich sah die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die alles haben will, sowohl ein geistiges, intellektuelles Leben als auch eines als sinnliche Frau. Mein Kind sah die Geschichte eines Menschen, der relativ mühelos zwischen den Geschlechtern hin- und herwechselte, sich in einen Mann verliebte, aber auch erotische Spannung zu einer Frau spürte (auch wenn das nur sehr subtil angedeutet wird). Man kann den ganzen Film auch als Parabel lesen auf uneingestandene homosexuelle Liebe und Coming out.
Möglicherweise hätte ich da schon merken müssen, welche Saite (und Seite) das in ihr zum Klingen brachte. Stattdessen klopfte ich mir innerlich auf die Schulter, dass ich so cool mit diesem Thema umging und so selbstverständlich mit meinem Grundschulkind darüber sprach, dass Frauen alles erreichen können, und dass es neben Vater-Mutter-Kind-Modell viele Wege des Liebens gab: Männer, die Männer liebten, Frauen, die Frauen liebten, sogar Menschen, die sich keinem der mir bekannten Geschlechter zugehörig fühlten. Hätte man mich damals gefragt, ob es ein Problem für mich wäre, wenn eines meiner Kinder selbst zu einer dieser Gruppen gehören würde, ich hätte empört verneint. Aber die ganze Wahrheit ist: Als sich ebendiese Tochter einige Jahre später die die Haare abschnitt, nur noch Jungskleidung trug, sich erst als bisexuell outete und wenig später erklärte, dass sie sich zwischen den Geschlechtern fühlte, war ich doch nicht ganz so mit vollem Herzen dabei, wie ich es von mir erwartet hätte.
Ehe ich im nächsten Kapitel näher darauf eingehen werde, was es mit diesen Outings auf sich hatte (und wie und warum so viele Familien gerade ähnliche Erfahrungen machen), will ich einmal kurz erzählen, wo ich innerlich herkomme. Nicht, weil mein Leben so originell wäre, sondern im Gegenteil gerade deshalb, weil ich denke, dass viele Eltern aus der Generation der heute 40-, 50jährigen in derselben Gedankenwelt aufgewachsen sind. Denn das macht auch verständlich, warum es uns trotz äußerlich behaupteter Liberalität manchmal schwerfällt, aus unserer Haut zu kommen.
Eine kurze Zeitreise: Als ich so alt war wie meine Tochter heute, also 17, war es Mitte der Achtziger Jahre. Im Strafgesetzbuch der BRD stand noch immer der Paragraf 175, auch wenn schwuler Sex nicht mehr grundsätzlich strafbar war, sondern nur, wenn einer der Beteiligten unter 18 Jahre alt war. Und erst wenige Jahre danach, 1990, sollte Homosexualität aus dem Diagnosekatalog psychischer Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation WHO gestrichen werden. Es scheint aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, aber ich selbst hatte erst durch die homophoben Schlagzeilen über Aids („Die Schwulenseuche!“) wenige Jahre zuvor überhaupt realisiert, dass manche Menschen anders liebten, Männer wie Frauen.
In meiner Kindheit war das schlicht kein Thema gewesen, obwohl ich nicht in einem besonders konservativen oder verklemmten Haushalt groß geworden bin. Später, im Sexualkundeunterricht, war es, wenn überhaupt, Anlass für geschmacklose Witze und angeekelte Gesichter, bei Lehrer*innen genau so wie bei uns Schüler*innen. Dass auch unter uns jemand hätte sein können, der auf diese Weise begehrte, darauf kam ich gar nicht (und schäme mich heute, weil ich später auf diversen Abiturstreffen herausfand, dass es genau so war). Wenn das Thema in den Medien stattfand, die wir als Teenager im Prä-Tiktok-Zeitalter konsumierten, dann immer mit dem Dreh: Macht euch keine Sorgen, wenn ihr so fühlt, das geht vorbei. Egal, ob „Bravo“ oder „Mädchen“, homosexuelles Begehren war etwas, das auf keinen Fall mehr zu sein hatte als eine „Phase“. Meine Freundinnen und ich versicherten einander: Bei uns ist das nicht so, wir kennen auch niemanden, dem es so geht, aber falls wir je so jemanden treffen, werden wir tolerant sein. Sind ja auch nur Menschen.
Natürlich kannte ich damals Personen, die anders liebten, ich wusste nur nichts davon, weil viele damals ihre Neigung verheimlichten, oft sogar vor sich selbst. Einen von ihnen kannte ich sogar gut, und mehr als das. Denn es war der Junge, mit dem ich als Teenager jahrelang eine feste Beziehung führte. Als ich 20 war, 1990, outete er sich, etwa ein dreiviertel Jahr, nachdem ich zum Studium fast 500 Kilometer weit weggezogen war, damals hatten wir einvernehmlich Schluss gemacht. Ich war eine der ersten, der er sich endlich offenbarte. Er reiste dazu sogar eigens an, um sich mir nach vielen hektisch gerauchten Zigaretten und Rotwein an meinem WG-Küchentisch anzuvertrauen. Er hatte Angst, ich würde ihn anschreien oder weinend zusammenbrechen; stattdessen umarmte ich ihn spontan, weil ich so erleichtert war. Denn das erklärte im Nachhinein vieles.
In den Neunzigern wurde schwullesbisches Leben – das war damals noch die übliche Sammelbezeichnung – für mich wahrnehmbarer und selbstverständlicher. Auf den WG-Klos lagen Ralf-König-Comics, egal, wer da wohnte. Der erste Männer-Filmkuss im Vorabendprogramm, 1991 in der „Lindenstraße“, mochte die Nation noch in Wallung bringen, im Münchner Glockenbachviertel sah man Menschen gleichen Geschlechts schon recht unbekümmert Händchen halten, jedenfalls im Nachtleben. Ein einziges Mal habe ich eine Frau geküsst, nachts angeschickert auf einem Balkon, merkte, dass mir das nichts gab und beließ es dabei.
In den Nuller Jahren lernte ich meinen späteren Mann kennen, der als Hetero in Hamburg mitten im regenbogenbunten St. Georg wohnte, ein paar Jahre später wurden wir Eltern. Erst eine Tochter, zweieinhalb Jahre später ein Sohn. Aus meiner Mainstream-Perspektive hatte ich damals den Eindruck: alle gesellschaftlichen Probleme sind mehr oder weniger gelöst, jede*r kann lieben und leben, wie er oder sie möchte. Ich fand es gut, dass zur Faschingszeit ein Junge in der Kita unserer Kinder ein pinkfarbenes Prinzessinnenkleid als Kostüm wählte. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich ganz froh war, dass es nicht mein Junge war, unser zweites Kind. Das ging genderkonform als Pirat und fiel damit natürlich weniger auf. Dafür fand er Glitzernagellack genau so toll wie seine große Schwester und ihre Freundinnen, und so verpasste ich der ganzen Bande immer wieder einen frischen Anstrich, den sie danach gemeinschaftlich auf dem Spielplatz ruinierten.
Als meine Tochter mit acht schüchtern gestand, dass sie für ihren älteren Cousin schwärmte, war da ein Moment der Rührung und des Wiedererkennens. Ältere, weit entfernt lebende Cousins sind ideal als erste Objekte platonischer Verliebtheitsgefühle, ich hatte gleich zwei davon. Ich muss zugeben, ich war auch ein bisschen beruhigt. Denn an anderer Stelle war sie deutlich weniger mädchenhaft, trug nur noch blau, grau und schwarz, wollte die Haare am liebsten kurz (wir einigten uns auf eine Art Longbob) und Kleider wenn, dann nur zu hohen Feiertagen.
Ein paar Jahre später, als sie immer mehr zu dem stand, was sie war und ist, als sie ihre Role Models fand und die richtigen Worte für sich selbst, musste ich mir eingestehen: Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte vielleicht nicht von einem Mini-Me geträumt, das mich kopierte vom Kleidungsstil bis zum Gefühlshaushalt, aber ich hatte mit mehr Nähe gerechnet, mehr Momenten des Wiedererkennens. Stattdessen stand hier ein Mensch, der sagte: Bei mir ist das alles ganz, ganz anders. Und nein, das ist keine Phase, keine pubertäre Rebellion. Ich meine das ernst.
Gleichzeitig merkte ich, dass ich mit meiner Mischung aus Bewunderung, Irritation und Sorge um mein Kind – wird sie in ihrem Leben anecken, sich um Chancen bringen, oder sogar Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden? – sowie Stolz auf ihr Selbstbewusstsein nicht allein war. Denn fast egal, wem ich davon erzählte – die Leute waren weit weniger verwundert, als ich angenommen hatte. Viele Eltern hatten ähnliches zu berichten, mal von den eigenen Kindern, mal aus der Familie oder dem Freundeskreis: von Teenagern und jungen Erwachsenen, die gleichgeschlechtlich liebten (oder auch nur mit der Idee flirteten), die nicht oder nicht immer mit ihrem Geburtsgeschlecht konform gingen. Mal wirkte es eher spielerisch, wie ein Kostümball mit verschiedenen Identitätsangeboten. Manchmal war auch viel Leidensdruck dabei, vor allem bei Jugendlichen, die sich dauerhaft mit einem anderen als ihrem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht identifizieren.
Gleichzeitig wird immer sichtbarer, wie breit das Spektrum ist, sowohl für sexuelle Orientierung als auch für Geschlechtsidentität: trans Personen sind gefragte Teilnehmende von Castingshows, von Plakatwänden lachen Menschen fluider Identität, werben für E-Zigaretten, Kaufhausketten, und als ich vor drei Jahren nach der Feier zum 30jährigen Abi-Jubiläum mit ein paar ehemaligen Mitschüler:innen in der letzten geöffneten Bar versackte, war auch eine frisch von ihrem Mann geschiedene Frau dabei, die hingebungsvoll ihre neue Partnerin küsste. Also alles bunt und gut? Jein. Denn die Eltern, mit denen ich sprach, waren sehr unterschiedlich in ihrer Einordnung. Manche richtiggehend begeistert von der neuen Freiheit jenseits rigider Zuschreibungen bei den Themen Sexualität und Geschlecht, andere ablehnend. „Die spinnen, aber sie kriegen sich schon wieder ein!“ Wieder andere waren voller Zweifel, wie sie richtig reagieren sollen. Also haben Christiane und ich uns aufgemacht, ein wenig aufzuräumen im Dickicht von Halbwissen, Vorurteilen, Befürchtungen und Ideologie.
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