Ältere Semester – das Spätstudiumsblog, Teil 5

Einmal Rundumblick, bitte: Warum mein berufsbegleitendes Studium auch ein Studium Generale in Sachen Perspektivwechsel ist. Und warum ich selbst nicht nur Lernende bin, auch Lehrende

Stellt euch ein Bürogebäude vor. Oder, sollten wir etwas förmlichere Umgangsformen pflegen: Stellen SIE sich eins vor. 

Am besten so eines wie das alte Gruner + Jahr-Gebäude in Hamburg, mit Elb- und Elphi-Blick: verschachtelt, vielstöckig, architektonisch ambitioniert (okay, in Hamburg sehen viele architektonische Landmarks aus wie Schiffe, Wellen et al, aber das nur am Rande). 

Und nun stellt euch mal Arbeitsalltag vor, wenigstens so, wie es bis vor fünf oder zehn Jahren üblich war, in der Old-Work-Welt: Jeder hat seinen eigenen Schreibtisch, die höheren Ränge auch ihr eigenes Büro. Man durchquert das Gebäude immer auf die selbe Weise und begegnet in den Arbeitsstunden hauptsächlich den eigenen Kolleg:innen, blickt im selben Winkel hinaus auf die Welt, hat beruflich ähnliche Themen, eine ähnliche Wahrnehmung, eine ähnliche Wahrheit.

Vielleicht steht man in der Kantinenschlange mal hinter jemandem aus einer ganz anderen Abteilung, aber auch da kommt man selten ins Gespräch. 

Eines Tages hat man eine spektakuläre Idee. Man nimmt mal einen anderen Weg durchs Gebäude. Hört auf den Fluren und am Kopierer, über was sich die Leute auf anderen Etagen so unterhalten (surprise: über ganz andere Dinge!)

Geht einmal um das ganze Gebäude herum, und hat plötzlich einen anderen Blick auf das Große Ganze, vielleicht die schäbige Rückseite der schönen Fassade. Und merkt, dass die eigene Wahrheit nur ein kleines Puzzleteil ist. 

Ungefähr so fühlt sich gerade mein Studium an der HMS an, gegen Ende des ersten von vier Semestern.

Ich dachte, ich weiß Bescheid über meine Branche (auch wenn mir klar war, dass ich von einigen Bereichen deutlich weniger weiß als von anderen). Sitze immer wieder mit Menschen zusammen, die aus einem ähnlichen Blickwinkel schauen: zum Beispiel weil sie ähnlich alt sind wie ich, ähnlich mit Printmedien sozialisiert, mit ähnlichen Perspektiven in den Job gestartet sind. 

Und deshalb ziemlich betroffen, wenn große Verlage nicht nur ihre Gebäude verkleinern, sondern die Abrissbirne auf bisherige Geschäftsfelder loslassen (das Bild oben stammt vom Februar 2023, als sich Teile der Belegschaft und einige Freie (including me) versuchten, gegen die radikale Schrumpfkur beim Verlag mit dem schiffsförmigen Gebäude zur Wehr setzten, selbstredend erfolglos).

Jetzt sitze ich ein bis zwei Mal monatlich mit Kolleg:innen zusammen, die, um im Bild zu bleiben, einen ganz anderen Platz in dem großen Gebäude namens „die Medienlandschaft“ haben. 

  • Weil sie beim Fernsehen, beim Rundfunk, in einer Agentur, bei einem Zeitungskonzern, als Social-Media-Redakteur:innen arbeiten.
  • Weil sie jünger sind, andere persönliche und professionelle Hintergründe haben, zum Teil andere Muttersprachen sprechen. 
  • Weil sie zum Teil Jobs haben, die es noch vor fünf Jahren nicht gab, ganz zu schweigen von den Neunzigern, als ich gestartet bin: zum Beispiel als „Conversion-Redakteur“, der bei einem Zeitungskonzern dafür zuständig ist, dass aus einer Berührung mit Gratis-Inhalten oder Social-Media-Content einer Zeitungsmarke am Ende ein bezahltes Digitalabo wird (der Kontakt also also „konvertiert“).
  • Weil sie das Abenteuer einer Gründung gewagt haben. Etwa die Kolleginnen, die Kohero machen, ein Online- und Printmagazin, in dem Geflüchtete und migrantische Menschen zu Wort kommen. 

Es ist eine einzigartige Kombination, die mich dazu bringt, nochmal einen neuen und frischen Blick auf das zu werfen, das ich seit Jahrzehnten mache: die Studieninhalte (die ich ständig mit meinem eigenen Wissen und meinen Erfahrungen abgleiche und ergänze) plus diese Begegnungen, die mir ständig neue Perspektiven eröffnen. 

20 Jahre jüngere, die mit anderen Erwartungen, anderen Vorstellungen in ihr Berufsleben starten als ich damals. Und so wie ich jeden Tag selbstverständlich Geglaubtes hinterfrage, so sehr öffnen sich für mich Denkräume:

Wenn ich mich nochmal anders aufstellen will im Journalismus, wo und wie könnte das sein? 

Wo genau das hinführt, weiß ich noch nicht, aber: Trust the process – das wird sich finden.

Umgekehrt bin ich in diesem Spiel ja nicht nur einseitige Beobachterin. Sondern eine Einladung für andere, die eigene Perspektive überdenken.

Beispiel gefällig?

Gestern, nach der Seminar-Mittagspause, kam ich mit einem Studenten einer anderen Fachrichtung ins Gespräch.

Ein angehender Master of Business Administration, der ebenfalls im Medienbereich arbeitet, und mit dem handelt, was man neudeutsch Content nennt. Inhalten also.

Netter Typ im Hoodie, der den Wert eines Textes naturgemäß in einer ganz anderen Währung misst als ich. 

Um im Bürogebäude-Bild zu bleiben: Er sitzt nicht auf meinem und nicht mal auf einem anderen der Redaktionsflure, sondern in der Geschäftsführung – zwei Welten, die in einigen Verlagen tatsächlich auch räumlich getrennt sind.

Beim alten Jahreszeiten-Verlag in Winterhude waren die Teile durch eine potthässliche Straßenbrücke verbunden, die wir intern „die Seufzerbrücke“ nannten.

Und was studierst du so?

Der Student also (der wie ich seine Zusatzausbildung mit Berufstätigkeit kombiniert) hörte sich interessiert an, was ich zu sagen hatte: Weniger Printmagazine auf dem Markt, noch dazu welche, die bereit sind, zu fairen Preisen Texte zu beauftragen, und mein Problem, dass damit meine wichtigste Cash Cow bedroht ist. 

Darüber wunderte er sich und fragte, warum es denn Print sein müsse.

Text sei schließlich Text, und es gäbe doch genügend Bedarf für Text im Web. 

It’s the economy, stupid!

Bill Clinton, 1992

Er war nahezu bestürzt, als ich ihm erzählte, dass auch bei großen Medienkonzernen nur ein Bruchteil der Honorare für reine online-Texte gezahlt wird im Gegensatz zu Magazintexten.

Dass ich also folglich doppelt bis dreimal so viel arbeiten müsste für dasselbe Geld.

Und ich sah ihn meinerseits mit großen Augen an: Wie bitte, du arbeitest in der Medienbranche und weißt das nicht?

Aber genau das ist der Punkt: Wir alle haben in Wirklichkeit viel zu wenig Ahnung von den Herausforderungen, den persönlichen Zielen, den Antreibern all derer, die mit uns im selben Arbeitsumfeld unterwegs sind, nur an anderen Stellen. 

Wir müssen uns beileibe nicht in allem einig sein in unseren Einschätzungen, Werten, Zielvorstellungen. Aber wir sollten sie wenigstens kennen.

Sicher ist das in anderen Berufsfeldern ähnlich. Und nein, ein Studium ist sicher nicht der einzige Weg, daran etwas zu ändern.

Aber ich glaube, er ist ziemlich zielsicher.

Gut, dass wir gesprochen haben! Und es weiter tun.

Veröffentlicht in Blog