Essen ist Macht

Liebe, Stellenwert, Zugehörigkeit – hinter dem, was wir zu uns nehmen, stecken jede Menge geheime Botschaften. Denn: Die Psyche sitzt immer mit am Tisch … (mein Text aus BRIGITTE LEBEN, Frühjahr 2021)

Stellen Sie sich für einen Moment vor, Essen wäre nichts als Treibstoff und Überlebensnotwendigkeit, und wir würden uns einfach ab und zu einen Löffel geschmacklose, hochkonzentrierte Astronautennahrung reinziehen. In dieser Welt gäbe es weder Foodblogs noch komplizierte Bestellungen („bitte den Salat ohne Essig, und die Gurken auf einem Extrateller“), weder Kohlrabiprobierzwang in der Kita noch diplomatische Krisen am Partybüffet. Wir würden eine Menge Zeit, Geld und Nerven sparen. Aber, ganz ehrlich: Würde uns das schmecken?

Lebensmittel sind Transportmittel für Gefühle, Werte und Hierarchien. Im Guten kennen wir das alle. Essen als Alltags-Versüßer, zur Belohnung und als Geselligkeits-Kitt – wahrscheinlich sind Rohkost-Dipps auch deshalb so beliebt, weil man sich mit ihnen gut durch eine langweile Abendeinladung knabbern kann. Und Liebe geht sowieso durch den Magen. Doch beim Essen wird auch sichtbar, wer das Sagen hat. Oder, so drückt es der Kassler Ernährungssoziologe Daniel Kofahl aus: „Ernährung dient dem Verhandeln von Machtfragen wie kaum ein anderes Thema.“ Weil wir damit buchstäblich am eigenen Leib erfahren, wo wir in der Rangordnung stehen. Wenn Oma beim Familientreffen dem Sohn statt der Tochter die Geflügelschere in die Hand drückt, damit er den Gänsebraten  zerteilt, dann sagt das etwas über ihr Verständnis innerfamiliärer Wichtigkeit aus.

Wenn uns verweigert wird, was wir gern hätten, gilt das genauso. Das kann durchaus aus den besten Absichten heraus geschehen, etwa, wenn die Eltern dem kleinen Finn-Luca die Gummibärchen wegnehmen, weil er sonst Bauchweh bekommt. Oder, als die Grünen vor einigen Jahren einen Shitstorm ernteten wegen ihrer „Veggie-Day“-Initiative für einen fleischlosen Kantinentag. Dabei wollten sie ja nicht das Fleischessen verbieten, nicht mal an einem Tag der Woche. Sondern damit Alternativen schmackhaft machen. Aber Menschen lassen sich ungern bevormunden bei der Frage, was sie sich in den Mund stecken. Auch nicht von gewählten Volksvertretern.

Manchmal steckt auch Ignoranz dahinter. Etwa, wenn der Chef beim Sommerfest Schweinshaxen für alle serviert und damit ein Signal setzt, gewollt oder auch ungewollt: Die Bedürfnisse seiner muslimischen Mitarbeiter*innen spielen für ihn keine Rolle.

Wo Diskussionen ums Essen zum Machtkampf werden, wehrt sich die Gegenseite mit Verweigerung. Auch damit kann man mächtig Druck ausüben: Vom Kleinkind, das konsequent das Gemüse ausspuckt, bis zum Häftling im Hungerstreik. Denselben Mechanismus, nur sehr viel subtiler, hat eine Freundin von mir erlebt, die ihren Schwarm beim ersten Hausbesuch bei ihr mit Champagner und Spargel beglücken wollte. Sein uncharmanter Kommentar: „Von Champagner muss ich aufstoßen, und Spargel mag ich nicht.“ Vielleicht sachlich richtig, aber diese Zurückweisung klang auch nach: Nicht nur dein Menü schmeckt mir nicht, auch unsere angehende Romanze. Ein deutliches Machtgefälle also. Es wurde dann auch nichts aus den beiden.

Und schließlich kann Essen auch ein Mittel der Selbstermächtigung sein. Das gilt für ein gutgemachtes Dinner for One nach einer Trennung genauso wie für Heranwachsende, die ihren Platz im Leben suchen: Den Beginn der Pubertät hört man heute nicht mehr an lauter Musik aus dem Kinderzimmer, man sieht ihn eher am Esstisch. Plötzlich wollen größer werdende Kinder nicht mehr beim ehemaligen Lieblingsgericht zulangen, sondern werden von heute auf morgen Veganer, um sich von den Eltern abzugrenzen. Oder krümeln lieber das eigene Bett mit Chips voll, als länger als zehn Minuten mit Mama und Papa Eintopf zu löffeln. Zumindest für eine Weile.

Doch Essen als Machtfaktor ist keine moderne Erfindung, sagt Wissenschaftler Kofahl. Und zählt auf: keine Weltreligion ohne Speisevorschriften, keine geschichtliche Epoche ohne Konflikte um Anbaugebiete, Vorräte oder die Frage, wie viel der Bauer von seiner Ernte an die Obrigkeit abzugeben hat. Die mittelalterliche Ständegesellschaft wurde auch durch strenge Essensregeln aufrecht erhalten – das weiße Fleisch, die guten Vögel standen dem Adel zu; und im 19. Jahrhundert wurde das neu entstandene Bürgertum am heimischen Herd gefestigt. Mit ihrem „praktischen Kochbuch“ half die Autorin Henriette Davidis (1801-1876) jungen Ehefrauen, ihren Mann ans Haus zu binden, auf dass er seine Fleischeslust nicht außerhalb stillen möge. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Kein kleiner Machtfaktor in einer Beziehung, in der Frauen enorm abhängig waren. Und „ohne Essen ins Bett“ war noch vor einer Generation eine allgemein angesehene Erziehungsmethode, verewigt etwa im Kinderbuchklassiker „Wo die Wilden Kerle wohnen“ von 1963.

Seitdem ist allerdings etwas Neues dazugekommen und macht der Macht die Pole Position streitig, sagt Daniel Kofahl: Der Drang nach Individualität. „Wir grenzen uns auf allen Ebenen voneinander ab und betonen unsere Eigenheiten, sei es in der Mode, im persönlichen Geschmack und Lebensstil – warum sollte es beim Essen anders sein?“ Weiß jeder, der schon einmal bei einer Einladung versucht hat, es allen seinen Freund*innen recht zu machen – auf einmal hat jede und jeder seinen eigenen Stil, inklusive realer oder gefühlter Unverträglichkeiten.

So kann das Thema uns spalten, aber es kann uns auch zusammenbringen, sagt Kofahl: „Essen ist bestenfalls ein Angebot, dazuzugehören, ein Signal, das jeder einzelne ernst genommen wird, auch in seiner Unterschiedlichkeit.“ Klar: Würden wir morgens und abends hochkonzentrierte Astronautennahrung zu uns nehmen, dann könnten wir uns den ganzen Zauber auch sparen. Aber will man das wirklich? Na, eben.

Mein schönster Fehler

Irrtümer, Versäumnisse und Scheitern machen uns menschlicher, lebendiger und mitfühlender. Und nicht nur das: Sie sind auch Hinweisschilder auf dem Weg zu uns selbst. Eine Ehrenrettung für unperfekte Entscheidungen und krumme Pfade (aus: Brigitte WOMAN, 2020)

Sie war 17, fast 18, eine Klassenstufe über mir, und sie wusste, wo es lang ging. Bei den Männern, im Nachtleben unserer Heimatstadt, in punkto Bands und Zigarettenmarken. Eines Tages, nach einem Streit mit ihrem Vater, packte Susanne ihren Rucksack und beschloss, in die WG einer Freundin zu ziehen. Bei Cappuccino mit Sahne in unserem Stammcafé fielen jene Worte, die für mich damals der Inbegriff von Lebensweisheit waren: „Ich bin alt genug, meine eigenen Fehler zu machen.“

Das war 1988, und heute nehme ich an, Susanne hatte den Satz im Kino aufgeschnappt. Teenager-Pathos, mehr Binse als Weisheit – aber dennoch mit einem wahren Kern. Denn je mehr Lebensjahre wir im Schleppnetz hinter uns herziehen, desto mehr zweifelhafter Beifang ist dabei. Fehlerfreie, bruchlose Biographien gibt es nicht. Jedenfalls, wenn wir das Leben wörtlich nehmen, uns bewegen, etwas wagen, in das ein oder andere kalte Wasser springen, statt uns dauerhaft in der eigenen Komfortzone einzuigeln.

Im Kleinen hilft uns eine Art psychisches Immunsystem, damit die blauen Flecken weniger schmerzen. So sagt es der Harvard-Psychologe und Entscheidungsforscher Daniel Gilbert. Manche Wahl reden wir uns später schön (der verregnete Wohnmobilurlaub hat uns als Familie enger zusammengebracht), manches Scheitern adeln wir, in dem wir ihm rückblickend einen Sinn verleihen. Etwa: Erst nach einer kräftezehrenden On-an-off-Affäre weiß ich, was mir emotional wirklich guttut. Manche Menschen brauchen für die Einordnung länger, andere sind schneller damit bei der Hand – reine Typfrage, sagt ein Forscher*innenteam der Uni Erlangen. Aber generell können wir kleinere Fehlentscheidungen ganz gut abpuffern.

Weniger gepolstert ist unsere Seele, wenn es ans Eingemachte geht, an wichtige Entscheidungen wie die für eine dauerhafte Beziehung, einen Beruf, einen 40 Jahre laufenden Immobilienkredit. Denn das unperfekte Leben passt nur schwer zum Zeitgeist, sagt die Münchner Philosophin, Rednerin und Autorin Rebekka Reinhard: „Wir erwarten von uns und unserem Leben die gleiche Funktionalität wie von unseren elektronischen Geräten, wir haben das binäre System verinnerlicht.“ Also: Schalter ein, Schalter aus, Erfolg oder Misserfolg, richtig oder falsch. Und nehmen in unserer Ungeduld viel zu kurze Abschnitte unter die Lupe: das erste Jahr in einem neuen Job, die ersten Monate einer neuen Liebe. „Das macht uns kurzsichtig“, warnt Reinhard.

Sie setzt ein Konzept dagegen, das zweieinhalbtausend Jahre auf dem Buckel hat, aber uns auch heute die Augen öffnen kann: Aristoteles’ Vorstellung vom „gelungenen Leben.“

Inspiriert von dem antiken Vordenker können wir festhalten: Der Mensch ist von Geburt an ein Mängelwesen, und ein gelungenes Leben schließt Fehler mit ein. Nicht nur, weil sich manche davon erst viel später als Segen erweisen. Etwa der jobbedingte Umzug an einen Ort, der überhaupt nicht zu uns passt, aber an dem wir wichtige berufliche Kontakte knüpfen. Nicht nur, weil sie uns motivieren, zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Sondern auch weil sie uns menschlicher und empathischer werden lassen. Denn wenn wir genau so fehlbar sind wie unsere Mitmenschen, dann können wir auch uns selbst und anderen Trost spenden, einander helfen und aufrichten.

Diese Weitsicht fällt uns aber oft schwer, weil in unsere geistige DNA verschiedene Denktraditionen eingeschrieben sind –und zwar unabhängig von unseren bewussten Überzeugungen. Die älteste davon stammt aus dem Christentum: Wir sind als Sünder geboren, nur göttliche Gnade kann uns retten. Diese Vorstellung steckt selbst dem härtesten Atheisten in den Knochen, die göttliche Nachsicht weniger. Folge: Wir urteilen oft unbarmherzig über uns und andere. Die Kollegin wird ernsthaft krank? Dann hat sie wohl ihre Work-Life-Balance vernachlässigt. Ihr Fehler. Wir sind bei der Beförderung leer ausgegangen? Haben wir uns eben zu wenig reingehängt. Verstärkt wird dieser Gedanke noch durch die Ideale der Aufklärung: Philosophen wie Kant und Co erklärten im achtzehnten Jahrhundert den Menschen zum Herren seines eigenen Schicksals. Das ist ermutigend. Aber die Kombination von beidem ist auch ein fatales Vierer-Pack: Sünde minus Gnade plus Selbstwirksamkeit minus Demut.

Kommt dann noch unser modernes Leistungsethos dazu, setzen wir uns ganz schön unter Druck. Dabei führt der Weg zu einem zufriedenen Leben durch den Abgrund, glaubt Reinhard: „Erst durch Straucheln und Irren können wir das Glück schätzen und unsere Werte definieren.“ Denn neben dem Lerneffekt – etwa: eine gesundheitliche Krise lehrt uns ein neues Verhältnis zu unserem Körper – stellen uns Fehler auch noch vor eine wichtige, grundsätzliche Frage: Was für ein Mensch will ich sein?

An dieser Stelle zitiert Reinhard gerne die chinesisch-amerikanische Philosophin Ruth Chang. Die sagt: schwere Entscheidungen, etwa die für oder gegen Lebenspartner*innen, Babys, Immobilienkredite, treffen wir nicht durch mathematisches Abwägen. Sondern am besten, in dem wir eine Antwort auf genau diese Frage suchen. Denn wenn wir im Nachhinein den Eindruck haben, falsch abgebogen zu sein, dann liegt das häufig daran, dass wir uns selbst nicht gut genug kennen. Und so gegen unsere fundamentalen „inneren Gründe“ handeln: gegen unseren Freiheitsdrang oder unser Sicherheitsbedürfnis, unsere Spontaneität oder unser Bedürfnis nach Bindung. Eine spätere Kurskorrektur ist dann vor allem eines: ein Schritt mehr zu unserem wahren Ich. „Fehler helfen, eines unserer wichtigsten Lebensziele zu erreichen: Uns besser kennen lernen, mit uns selbst befreundet sein“, sagt Rebekka Reinhard.

Und deshalb sind wir selbst auch die einzige Instanz, die darüber entscheidet, was eigentlich ein Fehler ist – und was genau richtig. Auch wenn das nicht dem Mainstream entspricht. Es ist zum Beispiel wirtschaftlich nicht schlau, eine lange Babypause zu machen und dem Partner das Geldverdienen zu überlassen. Vor allem wenn die Ehe später scheitert. Trotzdem kann es die beste Entscheidung sein – wenn uns die gemeinsame Zeit mit unseren Kindern mehr wert ist als jeder Rentenpunkt. Es ist auch nicht vernünftig, für eine überteuerte Großstadtwohnung Miete zu zahlen statt ein Reihenendhaus im Speckgürtel abzubezahlen. Aber das einzig richtige, wenn wir nicht der Typ sind für Grillfeste mit den Nachbarn und Sonntagsspaziergänge. Selbst wenn wir dann im Alter ein Zimmer untervermieten müssen, um den Mietzins zu stemmen. An jeder Entscheidung klebt ein Preis, finanziell oder ideell. Es liegt an uns, ob wir bereit sind, ihn zu zahlen.

„Egal, wie wir uns im Leben entschieden haben – wichtig ist, Verantwortung dafür zu übernehmen, statt sie auf unsere Familie, unsere Herkunft, unser Umfeld abzuschieben“, so drückt es Ursula Ohse aus. Ohse arbeitet als Coach in Pforzheim und ist spezialisiert auf Biographiearbeit. Die meisten ihrer Klient*innen kommen in Krisen- und Entscheidungssituationen zu ihr, und sie kennt deren innere Kämpfe – nicht nur, wenn Menschen mit dem hadern, was sie getan haben, vor allem, wenn sie mit dem hadern was sie versäumt haben.

Auch Ohse stellt die Wertefrage, wenn ihr Gegenüber meint, sich verrannt zu haben. Etwa der Schmerz, wenn ein Kinderwunsch unerfüllt geblieben ist. „Was steckt hinter dem Gefühl des Bedauerns? Und wie kann ich heute verwirklichen, was damals zu kurz gekommen ist?“ Vielleicht gab es mit 35 gute Gründe, eine Beziehung zu beenden, statt mit dem falschen Partner Kinder zu bekommen. Aber auch wer nie ein Baby zur Welt gebracht hat, kann seine fürsorgliche Seite leben: ob bei den eigenen Neffen und Nichten, in einem Beruf, der das fördert, oder als Vorlesepatin in der Kita nebenan. Ohne diese ganz tiefe Bindung, dafür auch ohne Schmerz und Ängste, die auch zum Elternsein gehören. Klar: Nicht jede vermeintliche Fehlentscheidung lässt sich einfach schmerzfrei entsorgen. Aber auch das ist ja ein Wert an sich: der Trauer über verpasste Chancen einen Platz im Leben zu geben. Liebevoll sein mit dem eigenen, jüngeren Ich, das gute Gründe hatte, so zu handeln.

Susanne, übrigens, ist 1988 schon nach drei Tagen wieder nach Hause zurückgekehrt. Und nicht nur, weil der Kühlschrank dort besser gefüllt war als in der WG ihrer Freundin. Was seither aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Letztes Jahr muss sie ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert haben. Ich hoffe, sie hat in all den Jahren noch eine Menge Fehler gemacht. Und wünsche ihr, es waren genau die richtigen.