Gene oder Umwelt – diese Frage ist überholt, sagt die Bremer Neurobiologin, Psychologin und Autorin Nicole Strüber. In ihrem aktuellen Buch erklärt sie, wie ererbte Persönlichkeit und Beziehung zwischen Eltern und Kind sich ergänzen – und wie Mütter und Väter ausgleichen können, wenn der Start ins Leben nicht optimal war. Mein Interview mit ihr erschien in ELTERN 2/20
Alle Mütter und Väter wünschen sich, dass ihre Kinder später zu selbstbewussten, stabilen Menschen werden. Aber haben wir das als Eltern wirklich in der Hand – oder entscheiden darüber die Gene?
Nicole Strüber: Es gibt kein Entweder-Oder – das ist eine der wichtigsten, neueren Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. Früher hat man versucht, in Zwillingsstudien herauszufinden, was mehr zählt, Umwelt oder Erbgut. Das Ergebnis war mal unentschieden, mal ergab sich ein knapper Vorsprung für die Gene. Heute wissen wir: Beide Seiten stehen in einer Wechselwirkung.
Wie muss ich mir das vorstellen?
Unser Erbgut bestimmt nicht nur offensichtliche Merkmale wie Haar- oder Augenfarbe, sondern auch, wie Hormone und Botenstoffe in unserem Körper wirken, etwa Serotonin und Oxytocin. Also jene Stoffe, die dafür zuständig sind, ob wir freudig, traurig, ängstlich sind. Wie die Moleküle transportiert werden, wie sie abgebaut werden, das hat einen Einfluss darauf, ob ein Mensch zum Beispiel zu Depressionen oder Ängsten neigt, schnell überfordert ist, oder ob er eher die Ruhe weg hat. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
Und die andere ist das Umfeld – in den ersten Jahren wir Eltern?
Genau. Wenn ein Kind behütet und in einer sicheren Bindung aufwächst, einen feinfühligen Umgang erlebt, dann können Eltern ungünstige Voraussetzungen ausgleichen. Es gibt nun mal Babys und Kleinkinder, die mehr Trost, Nähe, Hilfe bei der Stressregulation brauchen als andere. Wenn sie die bekommen, spielt sich auch ihr Hormonhaushalt auf einem guten Level ein. Ist ein Kind dagegen genetisch vorbelastet und wächst zusätzlich mit unsicheren Bindungen und wenig Zuwendung auf, hat das einen negativen Einfluss auf sein Stresssystem.
Was heißt das, Stresssystem?
Immer, wenn wir mit hohen Anforderungen konfrontiert sind, werden im menschlichen Körper Hormone ausgeschüttet, die uns leistungsbereit machen, etwa Cortisol und Noradrenalin. Das ist ganz normal, das passiert jeden Tag – eine höhere Cortisolausschüttung am Morgen hilft uns zum Beispiel, wach zu werden und aufmerksam zu sein. Aber wie sich dieses Stresssystem einspielt, ob es für inneres Gleichgewicht sorgt oder ständig auf Hochtouren fährt wie ein kaputter Thermostat, das ist individuell ganz unterschiedlich.
Und dafür ist schon die Babyzeit entscheidend?
Nein, diese Prägung beginnt sogar noch früher, schon ab dem zweiten Drittel der Schwangerschaft, im Zusammenspiel mit dem Hormonsystem der Mutter. Ist sie ausgeglichen und nicht chronisch gestresst, ist das von Vorteil – hat sie dagegen schwere Belastungen zu ertragen, wirkt sich das meist ungünstig auf das Kind aus.
Da fragen sich jetzt alle Schwangeren: Schade ich meinem Kind, wenn ich in der 20. Woche mit der Chefin streite?
Nein, keine Sorge! Bei normalem Alltagsstress oder beispielsweise Leistungssport verhindert ein Enzym, dass das Cortisol der Mutter den kindlichen Kreislauf erreicht. Wobei es immer hilfreich ist, auf genügend Ruhepausen zu achten und das eigene Wohlbefinden. Problematisch wird es bei anhaltenden, schwerwiegenden Ereignissen – etwa dramatische Partnerschaftskonflikte, Trauer um nahe Angehörige, oder auch wenn die Mutter unter Angststörungen leidet. Dann wird dieses Enzym quasi abgeschaltet und das kindliche Gehirn mit Hormonen überflutet. Körpereigene Regelkreise können dann außer Kontrolle geraten.
Das wären schon zwei Einflussfaktoren auf das Gefühlsleben eines Kindes – Gene und Schwangerschaft. Spielt auch die Geburt eine Rolle?
Definitiv. Bei einer spontanen, natürlichen Geburt ohne Komplikationen werden die Botenstoffe von Mutter und Kind, also etwa Oxytocin und Opioide, so aufeinander eingestellt, dass das Kennenlernen für beide Seiten glücklich verläuft – die erste Bindung, der Stillstart. Wird die Geburt eingeleitet oder kommt es zu einem Kaiserschnitt – was ja medizinisch manchmal nicht vermeidbar ist! – , sind diese Prozesse unter Umständen noch nicht abgeschlossen. Eine von vielen möglichen Folgen: das Neugeborene kommt sehr unruhig auf die Welt, weil sein Oxytocin-System nicht optimal funktioniert. Denn das braucht es, um Stress abzubauen.
Aber wie eine Geburt verläuft oder ob wir in der Schwangerschaft schwere Sorgen haben, das haben wir ja nur bedingt in der Hand. Heißt das, solche Kinder werden auch später zwangsläufig seelisch instabiler?
Nein! Zum einen bringen sie wie gesagt ihre eigenen Anlagen mit, die sie unterschiedlich empfindlich machen. Zum anderen ist für Eltern wichtig, zu verstehen: Wenn ein Kind reizbarer auf die Welt kommt als andere, dann ist das nicht ihre Schuld, sondern ein Ergebnis von Prägungen und bisherigen Erfahrungen. Aber frühe Verletzungen können heilen, auch wenn es manchmal viel Geduld erfordert. Dazu braucht es nicht viel: Körperkontakt, Nähe, Verständnis, all das hat Einfluss auf das Cortisol- und Oxytocin-System. Bloß nicht ein Baby schreien lassen aus Angst, es zu verwöhnen!
Weil dann im Hirn was passiert?
Eins vorweg: Kinder brauchen keine perfekte Umgebung. Keine Mutter, kein Vater kann immerzu feinfühlig und geduldig sein, manchmal ist der Alltag belastend, das können Kinder gut verdauen, wenn die Basis stimmt. Gefährlich wird es für Kinder, die konstant zu wenig Fürsorge bekommen. Der biologische Hintergrund ist kompliziert – Gene, die für Oxytocin- oder Cortisol-Bindungsstellen im Körper zuständig sind, werden quasi abgeschaltet. Das sichtbare Ergebnis ist traurig: Die Kinder zeigen ähnliche Symptome wie nach einem Trauma und sind später oft emotional wie taub. Je älter ein Kind ist, desto schwieriger lässt sich das noch ändern. Deshalb ist es in den ersten Monaten und Jahren auch so wichtig, dass wir die Gefühle unserer Kinder wahrnehmen und mit unserem Gesichtsausdruck spiegeln. In Worte fassen, wenn sie wütend, traurig, fröhlich sind, damit sie verstehen, was mit ihnen los ist.
Bei der Lektüre Ihres neuen Buches fällt auf: Sie schreiben sehr viel mehr über die Mutter- als über die Vaterbeziehung. Ist das nicht etwas rückwärtsgewandt?
Nein, selbstverständlich können Väter sich nicht minder gut auf Kinder einlassen – auch wenn sie oft anders mit ihnen umgehen. Die Vaterbeziehung ist allerdings nicht so gut erforscht. Im besten Fall bekommt ein Kind durch mehrere nahestehende Menschen eine Bandbreite von guten Einflüssen mit. Wichtig ist aber, dass es eine primäre Bezugsperson gibt, bei der es sich vollkommen sicher fühlt – wenn es dazu noch weitere nahestehende Menschen gibt, Großeltern, Eltern, in einer klassischen Familie oder einer homosexuellen Partnerschaft, umso besser.
Und Erzieher in der Kita? Es wird ja noch wie vor gestritten, was Fremdbetreuung mit Kleinkindern macht.
Schwierige Frage. Man hat bei Kindern in Krippenbetreuung oder Tageseltern mit vielen zu betreuenden Kindern einen untypischen Verlauf der Cortisol-Kurve gefunden: Statt im Lauf des Tages abzufallen, stieg der Level des Stresshormons an. Dieser Effekt war stärker, je jünger die Kinder waren und je schlechter der Betreuungsschlüssel, außerdem abhängig vom Temperament des Kindes. Wie stark das langfristig prägt, das ist jedoch umstritten. Man kann nicht sagen: Krippenbetreuung führt zu Depressionen oder Aufmerksamkeitsproblemen, das wäre zu einfach. Aber man sollte im Auge behalten, wie das Leben sonst aussieht: Wenn ein Kleinkind nach fünf Stunden von gut gelaunten Eltern abgeholt wird, die sich mit ihm auf den Spielplatz setzen, ist das sicherlich vorteilhafter für sein Stresssystem, als wenn es nach acht Stunden auf überlastete Eltern trifft, die nach einem harten Arbeitstag noch den Haushalt wuppen müssen.
Was sich ja manchmal auch nicht vermeiden lässt…
Ja, ich sehe da nicht nur bei den Einzelnen eine Verantwortung, auch bei der Gesellschaft. Wir sollten endlich die Grabenkämpfe, die Schuldzuweisungen zwischen Raben- und Gluckeneltern hinter uns lassen und uns fragen: Wenn das Kitasystem so schlecht ausgestattet ist wie derzeit, wäre es dann nicht besser, den Familien den Vortritt zu lassen, die wirtschaftlich dringend auf frühe Betreuung angewiesen sind? Es gibt sicherlich viele, die es finanziell möglich machen könnten, ein Kind auch zwei, drei Jahre zu Hause zu betreuen. Und die es nicht tun, weil sie fürchten, dass sie ihm etwas vorenthalten oder als Helikoptermütter diffamiert werden.
Wir haben jetzt viel über die Wichtigkeit stabiler Bindungen geredet. Aber was ist mit Eltern, die fürchten, sie könnten keine gute Mutter, kein guter Vater sein? Weil sie selbst unter schwierigen Umständen aufgewachsen sind?
Kommt darauf an, wie schwierig genau! Für manche Eltern mit ungünstigen Erfahrungen reicht es völlig, wenn sie in einer Gruppe lernen, die Signale ihres Babys besser zu deuten. Nehmen Sie etwa Babymassage: Wenn man sich jeden Tag 20, 30 Minuten intensiv mit dem Kind beschäftigst, wird auch bei Vater oder Mutter Oxytocin freigesetzt. Das wiederum hilft, das Schreien eines unruhigen Kindes besser auszuhalten, nicht so schnell selbst nervös zu werden, wenn es länger dauert, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. So entstehen Engels- statt Teufelskreise. Der nächste Schritt wäre, sich Hilfe zu holen: durch die Hebamme, bei Erziehungsberatungsstellen. Solche Angebote anzunehmen, darf kein Stigma sein sondern eher ein Signal: Was du für dich tust, für deine eigene Kompetenz als Mutter oder Vater, das tust du für dein Kind! Und wenn auch das nicht reicht, hilft auch eine Psychotherapie, die eigenen emotionalen Kompetenzen zu stärken und dadurch einen neuen Zugang zu den eigenen Kindern zu bekommen.
Wenn wir also unseren Kindern einen guten Start geben und bei schwierigen Veranlagungen gegensteuern – was haben sie dann später davon?
Menschen, die einen guten Zugang zu ihren eigenen Emotionen haben, schaffen es später im Leben auch besser, mit schwierigen Situationen umzugehen, sich Hilfe zu holen, sich auf andere zu verlassen und Belastendes zu überwinden. Weil sie als Kinder gelernt haben: Ich darf traurig sein, ich kann mir Hilfe holen. Nicht nur bei gewöhnlichen Alltagsärgernissen, auch in traumatischen Situationen sind die körperlichen Systeme optimal aufeinander eingestellt, Hormone, Regelkreise, Hirnstrukturen.
Und das ist mit dem Modewort „Resilienz“ gemeint?
Ja, als resilient bezeichnen wir Menschen, die Krisen stabil überwinden, die es schaffen, Schicksalsschläge in ihrem Leben zu integrieren und nach vorne zu schauen. Wir können unsere Kinder ja nicht auf Dauer vor Frustration und Unglück bewahren – aber wir können sie stark machen, damit sie besser mit Widrigkeiten klarkommen. Und das ist eines der wertvollsten Geschenke, die wir ihnen mitgeben können.
Buchtipp: „Risiko Kindheit – die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern“ (Klett Cotta, 22 €) lautet der Titel von Nicole Strübers umfangreichem Wissenschafts-Schmöker – darin erläutert sie ausführlich und gut lesbar, wie das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt den Charakter formt und erklärt dabei ganz nebenbei nicht nur, was schief gehen kann, sondern genauso, was weiterhilft
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