Eine Staatsanwältin steigt aus

Anne Brorhilker ist das prägende Gesicht des Cum-Ex-Skandals, als Staatsanwältin in Köln kämpfte sie engagiert gegen Finanzkriminalität mit vermeintlich weißer Weste. Dann warf sie hin und ging zu einer kleinen NGO – sie findet, dort kann sie mehr bewirken. Eines ihrer ersten Interviews nach dem Wechsel gab sie mir für die BRIGITTE, es erschien im Juli 24

Als Anne Brorhilker 20 war, spielte sie Klavier und Querflöte und wollte Musikerin werden. Oder Musiklehrerin. Aber alle rieten ihr vom Lehramtstudium ab, zu viele Bewerber*innen, zu wenige Jobs. Gut, dann eben Jura, das analytische Denken lag ihr, besonders Strafrecht begeisterte sie. Mit einer Ausnahme: „Ich dachte: Bloß nichts mit Zahlen, mit Wirtschaft.“ Ein frühes Herzensprojekt, das sie prägte, war ihre Arbeit für die „Gnadenstelle“ in Köln. Fälle von Drogenkranken, die wiederholt gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen hatten, und sie konnte entscheiden: Musste der Staat dort wirklich mit voller Härte durchgreifen, Haftstrafen vollziehen? „Ich habe das gesammelte Elend der Stadt gesehen“, erinnert sie sich. 

Aber dann landete sie als Staatsanwältin ausgerechnet im Steuerrecht, Anweisung von oben. Also fuchste sie sich hinein. Und merkte: Da ist ganz eine Art von Täter*innen unterwegs, die ohne Not und kühl kalkuliert den Staat betrügen. „Das hat mein Verfolgungsinteresse erheblich getriggert“, sagt Anne Brorhilker. Sie sitzt auf einem grauen Ecksofa in ihrem Büro, die Ellenbogen lässig auf den Oberschenkeln abgestützt, die Augen wach hinter der schwarz gerahmten Brille. Gerade hat ein neues Kapitel in ihrem Leben begonnen.

Was Anne Brorhilker macht, das macht sie ganz. Von 2011 bis 2023 leitete sie die Ermittlungen im wohl größten Steuerskandal der bundesdeutschen Geschichte, Stichwort: Cum Ex. Banken, Finanzberater*innen und Einzelpersonen hatten sich über Jahre vom Finanzamt Steuern auf Aktiendeals doppelt wiedererstatten lassen, die sie nur einmal gezahlt hatten, verschleiert durch Kreisgeschäfte. 1700 Anklagen erhob die Staatsanwaltschaft, viele Prozesse laufen bis heute, um rund zehn Milliarden Euro soll der Staat so zwischen 2000 und 2020 betrogen worden sein. Der Schaden aus den damit verwandten Cum Cum-Geschäften war mutmaßlich sogar drei Mal so hoch.

Eine Mammutaufgabe – und dass die Chefermittlerin eine Frau war, machte sie nicht kleiner. Noch dazu in der traditionell geprägten Finanzbranche. „Ich bin eher klein, ich bin blond, da wird man umso schneller in eine Schublade gesteckt.“ Bei der Ermittlung in einer Bank schüttelte ein Geschäftsführer allen ihren vier männlichen Kollegen die Hand. Sie, die Vorgesetzte, ignorierte er. „Er hielt mich wahrscheinlich für die Assistentin. Dabei wäre es ja schon ein Gebot der Höflichkeit, auch die zu begrüßen.“ Bald lernte sie, solche Macho-Momente als Hebel zu nutzen. „Wenn Männer merken, dass eine Frau Macht hat, bringt das viele aus dem Konzept.“ Und während die Gegenseite noch mit ihrem Weltbild haderte, konnte Brorhilker schon Anweisungen zur Durchsuchung geben.

Sie ließ sich nicht einschüchtern. Aber da war auch etwas, das zunehmend an ihr nagte. „Mir wurde immer klarer, wie sehr ich in meiner Position auf politische Rückendeckung angewiesen bin. Und die kann keiner garantieren.“ Weil Landesregierungen und Wirtschaftsminister*innen wechseln. Und damit auch die Frage, welche Ressourcen Justiz, Polizei und Steuerfahndung haben. Immer wieder fühlte sie sich ausgebremst. Und so kam es zu einer radikalen Entscheidung: Vor ein paar Monaten hängte sie ihre Robe an den Nagel und ging als Co-Geschäftsführerin zum Berliner Verein „Finanzwende“, rund 30 Mitarbeitende, gegründet 2018 vom ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick. Er und seine Mitstreiter*innen wollen Aufklärung zu Finanzkriminalität leisten, die Justiz gegen die Finanzlobby stärken, politisch Druck machen. 

Der Wechsel von Goliath zu David, von der großen Justizbehörde zur kleinen NGO, schlug enorme Wellen. Alle großen Medien berichteten, und die Frau, die immer sehr im Hintergrund geblieben war, auch aufgrund ihrer dienstlichen Verschwiegenheitspflicht, konnte sich freier in der Öffentlichkeit äußern. 

Inhaltlich heißt der neue Job für Anne Brorhilker: agieren statt reagieren, nicht mehr hinter Straftätern aufräumen, sondern vor die Welle kommen. Persönlich heißt es: Verzicht auf den Beamtenstatus, Versorgungsansprüche, Altersbezüge. Weniger Gehalt. Warum diese krasse Kehrtwende? „Klar hätte ich auch als Rechtsanwältin zu einer Großkanzlei gehen können und deutlich mehr verdienen“, sagt sie. „Aber das würde meinen Werten widersprechen.“ Die wurden nicht zuletzt vom Elternhaus geprägt, der Vater Wirtschaftswissenschaftler, die Mutter Politikwissenschaftlerin: „Diskussionskultur und ein Gespür für soziale Gerechtigkeit, das habe ich zu Hause am Küchentisch gelernt.“

Ihr neues Arbeitsumfeld: Altbauräume mit knarzenden Dielen statt Behördenflure, im Regal mehr kapitalismuskritische Essays als Aktenordner. Am Tag unseres Gesprächs treffen sich 13 Leute zur Besprechung im Erdgeschoss, hinter dem Schaufenster eines ehemaligen Ladengeschäfts in Schöneberg. Top eins, eine Top-Secret-Recherche, Top zwei, eine geplante Kampagne. Die neuen Kolleg*innen sind eher der Typ: bunter Hoodie, Sneakers, violetter Nagellack. Geschlechtsunabhängig. Anne Brorhilker kommt in marineblauem Blazer und Stiefeletten. Es ist ihr vierter Arbeitstag, der Willkommensstrauß auf dem Schreibtisch noch frisch. Ein Kulturschock? „Nein, viele Arbeitsprozesse sind ähnlich, und auch in der Justizbehörde war ich mit den meisten per Du. Der größte Unterschied: In Behörden arbeiten auch Menschen, die dort einfach eingesetzt werden. Hier sind alle aus Überzeugung, das spürt man.“

Viele Erwartungen sind auf die Neue gerichtet, die Strahlkraft ihres Namens, die Expertise als Juristin. „Anne Brorhilkers berufliche Entscheidung verdient höchsten Respekt und ist eine Kampfansage an Finanzkriminelle und ihre Unterstützer“, so hat es Gründer Gerhard Schick formuliert. Dennoch wirkt es nicht, als wäre sie der Star der Runde. Konzentriert sitzt sie auf einem Eckplatz, wirbelt einen Kugelschreiber zwischen den schmalen Fingern, schreibt in ein blassgrünes Notizbuch. Hört viel zu, stellt präzise Fragen. Sie braucht keine Show, um zu wirken. Auch wenn sie von Teilen der Presse so gelabelt wurde: die egomane Oberstaatsanwältin, die Prozesse auf ihre Person zuschneidet. Was möglicherweise mehr über das Frauenbild der Kritiker*innen sagt als über sie selbst: „Wer führen will, muss auch Führung zeigen. Bei einem Mann wäre dasselbe Verhalten vermutlich als Durchsetzungsstärke gelobt worden“, sagt sie. 

Sie glaubt an den Rechtsstaat, trotz allem. Umso mehr ärgert es sie, wenn dieser Staat mit zweierlei Maß misst. „Bei Organisierter Kriminalität greift die Justiz selbstverständlich durch, etwa bei Clankriminalität oder Drogenhandel im großen Stil. Finanzkriminalität gehört in dieselbe Kategorie, und muss auch so behandelt werden.“ Die entgangenen Steuereinnahmen fehlen ja überall, von Kindergrundsicherung bis Klimaschutz. „Das ist sozialschädlich und demokratieschädlich.“ Doch bei der Verfolgung trifft eine zeitlich und personell überlastete Justiz auf smarte und finanzkräftige Gegner. „Bei einer Ermittlung gegen eine Bank standen wir zu fünft etwa 200 Anwält*innen gegenüber, mit Maßanzügen, Doktortitel, goldenen Visitenkarten. So etwas schüchtert ein, das soll es auch“, erzählt Anne Brorhilker.

Doch wenn das so ist, warum blieb der ganz große öffentliche Aufschrei dennoch aus? Sie hat zwei Erklärungen: Zum einen gelte Steuerbetrug vielen als Kavaliersdelikt, die Dimension werde unterschätzt. Zum anderen treibe die Finanzbranche geschickte PR: „Sie hat das Thema erfolgreich mit einer Aura der Komplexität umgeben: Du kleiner Nobody wirst das nie verstehen, überlass das den Expert*innen. Das verhindert unangenehme Fragen.“ Dabei könnte man Cum Ex und Co auch einfacher erklären. Man müsste nur wollen. 

Auch bei dieser Art von Aufklärung wird Anne Brorhilker wieder hundert Prozent geben. Der Finanzlobby und der Politik unangenehme Fragen stellen, mit Sachverstand aufmerksam machen, wenn Staat und Behörden bei Sozialbetrug hart durchgreifen und bei Finanzkriminalität bequeme Deals anbieten. Gut für die soziale Gerechtigkeit, für ihre Work-Life-Balance eher nicht. Klavier spielt sie immer noch gern, aber es steht noch in Köln, wo sie mit ihrem Mann lebtDerzeit pendelt sie. Aber immerhin: Nach Konzertterminen in Berlin, da hat sie schon mal Ausschau gehalten.

„Sei du selbst. Und sei es kompromisslos.“

Es kostete die TV-Journalistin Georgine Kellermann über 60 Jahre und viel Kraft, bis sie öffentlich zu sich selbst stehen konnte, als trans Frau. Was macht es mit Menschen, wenn sie einen so wichtigen Teil ihrer Identität unterdrücken? Und kann man ein sinnvolles, erfülltes Leben führen, solange man nicht bei sich selbst angekommen ist? Dazu durfte ich sie im Sommer 24 für die ZEIT interviewen

Groß ist sie, das fällt als erstes ins Auge, wenn man ihr gegenübersteht. Unübersehbar, herausragend, eine Frau von fast eins neunzig. Dresscode: sommerlich-lässig, Streifenbluse, Riemchensandalen zum Jeansrock, korallenroter Lippenstift. Georgine Kellermann, Journalistin im Ruhestand und Debüt-Autorin, empfängt in einer lauschigen Remise, im zweiten Hinterhof eines Verlagsgebäudes in Berlin Mitte. 

Im Leben hat sie über 60 Jahre lang eine Rolle gespielt, als Mann, der sie nie war. Auch wenn sie in einem äußerlich männlichen Körper zur Welt kam: „Ich sage im Scherz: Der liebe Gott hat leider die falsche Verpackung für mich gewählt.“ Nun will sie davon erzählen, wie sie sich daraus befreit hat. Und was es in einem Menschen entfachen kann, wenn er endlich ganz bei sich ist. 

Frau Kellermann, in Ihrem Einleitungskapitel schreiben Sie sinngemäß: Dieses Buch ist für Menschen, die so sind wie ich, deren Geschlecht nicht mit ihren Körpermerkmalen übereinstimmt, und Menschen, die sich für sie interessieren. Aber auch für andere, die auf der Suche sind, einfach, weil ihr Lebensentwurf nicht den üblichen gesellschaftlichen Vorgaben entspricht. Kann man das wirklich vergleichen? 

Es ist dieselbe Haltung dahinter: „Sei du selbst. Und sei es kompromisslos“. Solange wir damit nicht andere in irgendeiner Form einschränken, sollten wir uns nicht gesellschaftlichen Vorgaben beugen, sondern der persönlichen Idee von uns selbst folgen. Wenn zum Beispiel ein Manager sagt: Ich hab die Nase voll von meiner Tätigkeit und werde jetzt Ranger im Naturpark, dann kommt das aus einem ähnlichen Druck: Irgend etwas ist nicht richtig in meinem Leben, es passt nicht zu dem, was ich im Inneren bin.

Aber die Not und die Angst vor gesellschaftlicher Ablehnung ist vermutlich größer, wenn ich als kleines Mädchen in einem männlich gelesenen Körper in den Spiegel schaue und sage: Das bin ich nicht, als wenn ich mich nur über bestimmte Rollenerwartungen hinwegsetze?

Heute ist das heute glücklicherweise einfacher, aber in meiner Sechziger-Jahre-Kindheit kannte niemand den Begriff trans. Mir war zwar klar, etwas ist anders bei mir, und die Klarheit wurde auch immer mehr, aber ich hatte keine Worte dafür. Und auch sonst niemand in meiner Familie. Wie hätten die es denn auch lernen sollen? Außerdem galt das ungeschriebene Gesetz: Was hier am Tisch besprochen wird, bleibt am Tisch. Mein Vater hätte sich ja nie einem Freund offenbart und gesagt: Ich glaube, eines meiner Kinder wird falsch gelesen, das ist kein Junge. 

Und Ihre Mutter?

Bei ihr war es anders, sie hat mein So-Sein nicht verstanden, aber auch nicht abgelehnt. Das hat einfach mit der Liebe zu ihren Kindern zu tun. Als sie mich als Kind einmal in Mädchenkleidern gesehen hat, war sie noch schockiert, später, als ich selbständiger war, hat es ihr nichts mehr ausgemacht, mich so zu nehmen, wie ich war. Sie hat mich immer um meine schönen Beine beneidet! Ich würde heute wirklich alles dafür geben, wenn meine Mutter das Buch lesen könnte. Dann würde sie viel besser verstehen, wie es mir ging.

Georgine Kellermann kann kontrolliert und sachlich über die Einsamkeiten ihrer Kindheit sprechen, die Verletzungen, das Unverstandensein. Geht es um ihre lang verstorbene Mutter, spürt man ihre Emotion, sie blickt zur Decke, braucht einen kurzen Moment. Es ist spürbar, wie sehr sie sich die Unterstützung, den Segen ihrer Eltern gewünscht hätte. Doch als die Mutter ihren vermeintlichen Sohn mit Mädchenkleidung erwischte, reagiert sie drastisch, aus Hilflosigkeit. „Sie verbrannte die Sachen, die ich getragen hatte, im Kohlenherd in der Küche. Ich stand daneben und sah zu, wie sie diese mit dem Stocheisen immer weiter ins Feuer drückte.“ Mit knapp 30, bei einem Restaurantbesuch, versuchte Kellermann sich ihrem Vater zu erklären, sagte ihm rundheraus: Ich bin eine Frau. Er tat es mit einer kurzen Bemerkung ab – dachte ich mir, deine Mutter macht immer solche Andeutungen –, ließ sich aber auf kein Gespräch ein. „Er aß einfach weiter und stellte keine Fragen.“

Man könnte sagen: Es ist Aufgabe von Eltern, ihre Kinder in ihrer Selbstfindung zu unterstützen, auch wenn diese nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wie konnten Sie Ihren Eltern diese Härte verzeihen, diese Verleugnung?

Ich blicke nicht im Groll zurück, mache niemandem Vorwürfe, ich glaube, ich hatte einfach zu hohe Erwartungen. Wenn ich heute in eine Schule gehe und sehe, wie offen junge Menschen mit dem Thema trans umgehen, denke ich schon: Das wäre ja schön gewesen, wenn ich das auch gehabt hätte. Aber dieses Hadern bringt nichts, ich möchte dieses Leidensspiel nicht spielen, nicht immer die Diskriminierung betonen. Jetzt, wo ich mich gefunden habe, möchte ich mindestens 90 werden, da liegt also hoffentlich noch viel Leben vor mir.

Hatten Sie denn überhaupt Menschen, bei denen Sie als junger Mensch Sie selbst sein konnten? Allys, wie man heute sagt?

Da gab es einige, meine Cousine Ute, zum Beispiel. Sie war bereit, mich so zu nehmen, wie ich bin, auch in weiblicher Kleidung. Ich besuchte sie oft im damals noch geteilten Berlin, die Stadt war ja schon immer so ein Ort, an dem man jenseits gesellschaftlicher Erwartungen sein und leben konnte. Und vielleicht gab es zwischen ihr und mir auch eine Art Solidarität zwischen Outlaws. Sie trug selbst ein schweres Geheimnis mit sich herum, ihr Vater war ein katholischer Priester, was aber niemand wissen durfte. Das verband uns.

Georgine Kellermann wurde erwachsen, steuerte mit Anfang 20 in einem Ferienjob mächtige Trucks in den USA, machte beim WDR Karriere, mit klangvollen Stationen: Paris, Washington. Ein Männerleben, mit männlichen Attributen, Pronomen, einem männlichen Namen, Georg. Äußerlich Traumjob, innerlich Schwerstarbeit. „Ich bin jeden Tag in diese Männerrolle geschlüpft, habe mir den Georg angezogen wie ein Arbeiter seinen Blaumann, als Arbeitskleidung.“ Es gab immer wieder kleine Inseln: Hier ein Fest, auf das sie in Frauenkleidung ging, da ein Urlaub. Trotzdem stieg der Druck immer mehr.

Der Psychologe Michael Slepian von der US-amerikanischen Columbia University hat einmal ein Experiment gemacht, in dem er die Teilnehmenden aufforderte, sich an ein belastendes, persönliches Geheimnis zu erinnern und danach die Steigung eines Hügels einschätzen. Je schwerer die Menschen subjektiv an ihren Geheimnissen trugen, desto höher war die Zahl. War Ihr Leben ein gefühlter Himalaja, obwohl Sie irgendwann wieder im sanften Rheinland lebten?
Ich glaube sogar, die Steigung nahm immer mehr zu. Es wurde immer schwerer, so zu tun, als wäre ich, wer ich nicht bin. Als ich mich zu Beginn meiner Karriere einmal gegenüber einem Mentor beim WDR öffnete, riet er mir, mich nicht zu outen – wir teilten die Sorge, dass ich dann nicht mehr vor der Kamera stehen kann. Dass ich nicht mehr tun kann, was ich liebe, wenn ich werde, wer ich bin. 

Würden Sie im Rückblick sagen, zu Recht?

Damals war das gesellschaftliche Umfeld nicht so, und da tut ein öffentlich-rechtlicher Sender gut daran, seine Mitarbeitenden zu schützen. Selbst Stars aus dem WDR-Kosmos, die schwul oder lesbisch waren, hielten das verborgen. Aber es tat mir nicht gut. Später bin ich auch mal in beruflichen Situationen unprofessionell geworden, bin ausgerastet, wo ich es nicht hätte tun dürfen, und ahnte: dahinter steckt meine ständige Verleugnung nach außen. 

Sie sind schließlich einen Deal mit sich selbst eingegangen…

Ja, ich hatte geplant, 2021 in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen und mich zu diesem Anlass zu offenbaren. Ich hatte mir schon ein wunderschönes schwarzes Kostüm gekauft und wollte das mit großem Knall machen. Aber dann, zwei Jahre zuvor, passierte etwas…

Sie haben schon einmal geschildert: Sie trafen zufällig eine Kollegin am Bahnhof, in Frauenkleidung, die sie fragte, ob Sie sich verkleidet hätten…

..und ich antwortete: Nein, ich bin eine Frau. Im Nachhinein war das wie das Umlegen eines Schalters. Ein Reflex. Zwei Minuten vorher wusste ich noch nicht, dass sich in wenigen Augenblicken mein Leben dramatisch zum Guten wenden würde.

Ihre Kollegin hat damals empathisch reagiert, von dem Tag an haben Sie auf allen Ebenen reinen Tisch gemacht, Social-Media-Accounts geändert, Mailadresse, am Ende offiziell den Personenstand. Wäre die Reaktion der Kollegin anders gewesen: Hätten Sie einen Rückzieher gemacht? 

Nein. Es wäre mir nicht egal gewesen, aber ich hätte auch keinen Schritt zurück gemacht. Dieser Moment hat am Ende so viele positive Lebensgeister bei mir geweckt, dass ich auf den vorzeitigen Ruhestand verzichtet habe. Ich konnte auf einmal viel besser journalistisch arbeiten, weil eine Aufgabe weggefallen war, die ständige Schauspielerei, die innerlich gewaltig Energie gezogen hat. Auf einmal war ich frei. Jetzt bin ich in Rente, aber es fühlt sich überhaupt nicht so an, weil ich so viel zu tun habe: das Buch schreiben, mich an Schulen für Aufklärungsarbeit für LGBTQ+ einsetzen…

Wenn Sie zurückblicken: Hat Ihnen die männliche Identität nicht auch Dinge ermöglicht, die für eine Frau Ihres Jahrgangs sonst nicht so leicht zu erreichen gewesen wäre?

Das ist eine ganz schön hypothetische Frage. Einiges hätte ich mir sicher schenken können, das vor allem dazu diente, mir meine Männlichkeit zu beweisen. Wobei auch meine Zeit als Truckfahrer eine tolle Erfahrung war. Wenn Sie einmal um zwei Uhr morgens  in einen „Truck Stop“ gehen und die verlorenen Seelen dort sehen, dann wissen Sie was ich meine.Aber ein anderer Lebenstraum, vom Reisen, vom Reporterinnendasein, der hat sich ja trotzdem erfüllt, der hat nichts zu tun mit meinem Geschlecht. Und mein Arbeitgeber hat Frauen schon seit den Neunziger Jahren gefördert. Ich bin aber nicht dankbar für das Arrangement, das ich dafür eingegangen bin, anders wäre es schöner gewesen. 

Lässt sich denn etwas nachholen von dem, was sie nicht hatten?

Ich kann endlich meine weibliche Seite leben, die Wärme, die Geborgenheit, die ich mit dem Begriff „Frau“ verbinde. Ich ziehe mich auch total gerne schön an und genieße, was ich jetzt alles darf, in aller Öffentlichkeit. Neulich wunderte sich eine Bekannte, dass ich bei kaltem Wetter in High Heels durch Hamburg lief: Immer du mit deinen Schühchen! Aber das ist mir ein tiefes Bedürfnis. Mannsein musste ich mir abschauen, in Filmen, bei meinem Vater, als Frau bin ich ganz bei mir. 

Sehen Sie heute, nach ihrem Coming-out, einen anderen Sinn in ihrem Leben? Hat sich das, was Sie als sinnstiftend empfinden, geändert?

Ich sehe keinen „anderen Sinn“ in meinem Leben. Aber spüre, dass sich der Sinn dramatisch erweitert hat. Viele schreiben mir, ich sei für sie ein Vorbild, ein Role Model. Das ist eine Verpflichtung für mich. Damit darf ich nicht verantwortungslos umgehen. 

Wie viele trans Menschen bekommen Sie viel Hass und Anfeindungen, gerade auf Social Media. Was gibt Ihnen die Kraft, darüber zu stehen?

Ich möchte die Leute dort nicht allein lassen, die mich unterstützt haben, und anders herum. Außerdem bin ich überzeugt, dass es mehr von den Guten gibt, sie äußern sich nur weniger, und die andere Seite ist lauter. Mir wird auch gesagt: meine Sichtbarkeit ist wichtig, mehr Menschen setzen sich mit dem Thema trans auseinander, in Schulen, in Unternehmen, das macht mir Hoffnung. Und wir haben jetzt ein neues Selbstbestimmungsgesetz, es ist nicht perfekt, aber der beste politische Kompromiss, den wir derzeit erreichen können.

Als einzige Partei wollte die AfD am veralteten Transsexuellengesetz von 1980 festhalten, und sie steht in Umfrageergebnissen in ostdeutschen Bundesländern bei über 30 Prozent. Haben Sie keine Angst, dass Sie in Zukunft noch einmal um Ihre Identität kämpfen müssen – bei der politischen Großwetterlage, dem Rechtsruck?

(denkt einen Moment nach) Doch. Ich bin nicht die einzige, die schon mal vorsichtshalber gegoogelt hat: Wo könnte man hin, wo sind die Lebensbedingungen gut für trans Menschen, wenn es Deutschland nicht mehr ist? Aber ich hoffe, es kommt nicht so. Backlashes hat es immer gegeben, die grundlegende Richtung stimmt.

Kommen wir zum Schluss nochmal auf die Frage zurück: Wie schaffe ich, zu mir zu stehen, die Angst vor der Reaktion der Menschen um mich herum zu überwinden? Weil meine geschlechtliche Identität nicht passt, aber vielleicht auch, weil ich mir eine andere Lebensweise wünsche, von einer anderen Tätigkeit träume…?

Sich selbst wichtig genug nehmen. Und sich Hilfe außerhalb der eigenen Blase zu holen. Wenn in der eigenen Familie keine Allys sind, vielleicht im Freundeskreis. Ja, es besteht immer die Gefahr, abgelehnt oder ausgelacht zu werden. Aber ein bisschen Mut muss man schon selbst mitbringen, das kann einem niemand abnehmen. Mein Bruder, zum Beispiel: Er hat als junger Mann eine kaufmännische Ausbildung gemacht und später auf Grafiker umgeschult. Da war was los in der Familie! Brotlose Kunst! Aber noch heute ist er glücklich mit seiner kreativen Tätigkeit, statt in einem Büro zu sitzen und sich unwohl zu fühlen. Gut, wie wir beide die Kurve gekriegt haben. Er auf seine, ich auf meine Weise.

Aktuelles Buch: „Georgine. Der lange Weg zu mir selbst. Meine Befreiung als trans* Frau nach über 60 Jahren“. Ullstein, 22,99 € 

„Wir leben heute immer noch im Patriarchat“

Das findet die Autorin und Aktivistin Emilia Roig und wirbt für einen modernen, inklusiven und streitbaren Feminismus. Stimmt ihr Vorwurf, und wenn ja, wie kommen wir da raus? Darüber durfte ich mit ihr für die „Brigitte“ sprechen, das Interview erschien im März 2024

BRIGITTE: „Unlearn Patriarchy”, „das Patriarchat verlernen“, dazu fordert der Titel des zweiten Sammelbandes auf, bei dem Sie Mitherausgeberin sind. Bei diesem mittelalterlich klingenden Begriff denkt man eher an den Iran oder Afghanistan, ist das nicht ein bisschen überspitzt?

Emilia Roig: Nein, ist es nicht. Wir leben im Patriarchat, auch in Deutschland. Auch wenn es hierzulande vor dem Gesetz nur wenige Differenzen zwischen den Geschlechtern gibt, sind wir keine egalitäre Gesellschaft, so lange alle Sphären der Macht von Männern besetzt sind – Politik, Finanzen, Wirtschaft, Kunst, you name it. Und auch hier sind die Strukturen gewaltvoll, selbst wenn das weniger krass ausfällt als in anderen Ländern.

Woran machen Sie das fest?

Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet, das ist die offensichtlichste Dimension. Andere sind subtiler: etwa, wenn Profi-Sportlerinnen deutlich weniger verdienen als Profi-Sportler, wenn medizinische Forschung einseitig am männlichen Körper ausgerichtet ist und Frauen doppelt so oft schwere Nebenwirkungen nach Medikamenteneinnahmen erleben als Männer. Oder wenn Stadtplanung vorrangig von Männern gemacht wird, die keinen Blick für all jene haben, die die meiste Carearbeit leisten. Etwa ausreichend Bänke und Toiletten in öffentlichen Parks, weil: Wer ist nachmittags eher im öffentlichen Raum mit Kindern oder Älteren unterwegs, die Bänke und Toiletten brauchen? Frauen. Das sind alles strukturelle Probleme, die wir im Sammelband ausführlich beschreiben, und es sind intersektionales Probleme.

Intersektional, das müssen Sie erklären.

Bis in die Achtziger, Neunziger Jahre war der Feminismus einseitig ausgerichtet an den Perspektiven, Interessen und Bedürfnissen von weißen, heterosexuellen, nicht-behinderten cis Frauen….

…also der Mehrheit all derer, die sich mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren…

…und hat sich folglich um Fragen wie die „Gläserne Decke“ im Job gedreht, oder warum ein steuerliches Instrument wie das Ehegattensplitting Frauen strukturell benachteiligt. Das ist ein legitimer Blickwinkel – wenn er nicht absolut gesetzt wird. Wenn wir den Feminismusbegriff aber intersektional erweitern, bringt das mehr Vielfalt und Tiefe, und neue Perspektiven. Etwa: Wie leiden Schwarze Frauen unter rassistischer Polizeigewalt, warum ist der Gender Pay Gap bei Frauen of Color noch mal 20 Prozent höher als bei weißen Frauen, warum sterben Schwarze Frauen bei Geburten so viel häufiger als weiße Frauen, wie patriarchal ist die Migrationspolitik, wie ermöglichen wir Zugänge zu allen Lebensbereichen für Frauen mit Behinderung oder trans Frauen?

Nach der Lektüre hat man den Eindruck: Frauen werden durch die Bank benachteiligt, teils mit dramatischen Folgen. Etwa, wenn Schwarze, mehrgewichtige Frauen medizinisch schlechter versorgt werden. Oder wenn Opfer sexualisierter Gewalt in Kriegsgebieten nicht die nötige Hilfe und Aufmerksamkeit bekommen. Warum ist der gesellschaftliche Aufschrei dann nicht größer?

Zum einen, weil auch heute noch immer zum Großteil Männer den öffentlichen Diskurs bestimmen – Chefredakteure, Politiker, CEOs, Geldgeber – die ihre eigenen Filter haben – Ignoranz, verbunden mit dem Privileg, nicht so genau hinschauen zu müssen. Weil es sie selbst nicht betrifft. Zum anderen haben Frauen verinnerlicht, sich klein zu machen, sich zufrieden zu geben mit dem Erreichten. Zudem kostet es eine Menge Kraft, gegen Ungerechtigkeit anzugehen. Und das zieht wiederum Energie ab, die es braucht, um zum Beispiel im Beruf vorankommen, im Sport Erfolge zu erzielen oder als Kriegsopfer mit einem Trauma klarzukommen. Deshalb bleibt oft nicht viel Kraft übrig, auch noch auf Missstände aufmerksam zu machen.

Andererseits sind ja viele offensichtliche Ungerechtigkeiten beseitigt worden. Wenn wir nicht mehr wie in den Siebziger Jahren darüber diskutieren, ob ein Ehemann den Job seiner Frau kündigen darf, sondern zum Beispiel über Diskriminierung von Autorinnen im Literaturbetrieb – ist das kein Fortschritt?

Ja klar, aber das sollte doch kein Grund sein, aufzuhören! Fortschritt heißt ja nicht, dass Gerechtigkeit hergestellt wurde, sondern ist nur einer der Schritte auf dem Weg dorthin. Soziale Fortschritte beruhen auf Menschen, die nie zufrieden sind. Sonst hätten ja auch Frauen vor 100 Jahren sagen können: Okay, jetzt haben wir das allgemeine Wahlrecht, jetzt können wir unseren Kampf um mehr Gerechtigkeit zu den Akten legen. Mir geht es immer wieder darum, den Schleier der Illusion zu zerstören, wir hätten alles erreicht: So lange Unterdrückung normalisiert wird, braucht es Menschen, die laut auf Missstände aufmerksam machen.

Wie sollen denn Frauen Ihrer Meinung nach am besten aktiv werden?

Es geht nicht zwingend um politisches Engagement, sondern auch erstmal um einen inneren Prozess. Gerade, wenn man den Eindruck hat: Wir sind doch längst gleichberechtigt, die Diskussion dreht sich um Details. Erst wenn Sie bei sich selbst diese Widerstandsreaktion wahrnehmen, können Sie sich eingestehen, dass Sie bestimmte Strukturen nicht sehen. Danach können Sie andere sensibilisieren, etwa Ihre Mutter, Ihre Kollegin, Ihre Tochter. Das setzt allerdings auch voraus, dass Sie sich mit ihren eigenen Überlegenheitsgefühlen auseinandersetzen.

Woher wissen Sie, ob ich die habe?

Ich weiß, das klingt hart, aber das ist Teil der Sozialisierung, insbesondere für die Mehrheitsgesellschaft. Es ist aber nicht nur für die Gesellschaft toxisch, sondern auch für jede*n einzelne*n , wenn das eigene Selbstwertgefühl abhängt von der Unterlegenheit anderer. Sei es von Männern gegenüber Frauen, von Wohlhabenden gegenüber Armutsbetroffenen, von Heteros gegenüber Queeren Menschen. Wer das bei sich erkennt und überwindet, macht einen Schritt zu einer gleichberechtigteren Gesellschaft. 

Manche Frauen fühlen sich abgeschreckt von der Wut, die oft den feministischen Diskurs bestimmt, so auch manche Ihrer Texte. Sind Sie sicher, dass Sie nicht mögliche Mitstreiter*innen verprellen, weil die sagen: Das ist mir alles mir zu radikal?

Radikal finde ich erstmal positiv – weil es von dem lateinischen Begriff radicalis stammt und für „an die Wurzel gehend“ steht, es also darum geht, ein Problem von der Wurzel her zu betrachten. Und Wut ist positiv, wenn sie uns ins Handeln bringt und dadurch konstruktiv und kreativ wird. Wenn sie andere triggert, dann liegt es an einem verinnerlichten Glaubenssatz: Die Unterdrückten haben nicht wütend zu sein. Eine wütende Frau gilt schnell als „hysterisch“, eine Schwarze Person als gewaltvoll, eine Person mit Behinderung als undankbar. Und wenn eine Frau sich so benimmt, wie es im Patriarchat Männern vorbehalten ist, dann kann das bei anderen Frauen Neid auslösen: Wie kann sie nur so aus der Reihe tanzen? 

Aber nicht alle Frauen wollen das bestehende System komplett verändern. Auch, weil es zumindest kurzfristig Vorteile bringt. So macht das Ehegattensplitting Frauen finanziell möglich, weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, weil das Einkommen des Mannes weniger stark besteuert wird.

Mir geht es nicht darum, Lebensentwürfe zu bevorzugen oder abzuwerten, sondern um Wahlfreiheit. Wäre es nicht viel besser, ein System zu schaffen, in dem Frauen sich um ihre Kinder kümmern können, ohne sich dadurch wirtschaftlich von einem Ernährer abhängig zu machen? Man muss aber auch sagen: Es ist oft bequem, sich in der Unterdrückung und Unterlegenheit einzurichten. Und es wird belohnt.

Wie das?

Weil Frauen, die das Patriarchat mittragen, die auch mal einen derben Herrenwitz reißen oder sich öffentlich gegen Quoten aussprechen, Zuspruch bekommen, von der Gesellschaft, von den Männern, oder von der älteren Generation. Aber es ist auch nicht notwendig, alle gleichermaßen vom Feminismus zu überzeugen. Soziale Bewegungen brauchen eine gewisse kritische Masse, um zu wirken, aber das muss nicht die Mehrheit sein. 

Sie klingen optimistisch – obwohl rechtsradikale Parteien im Aufwind sind, obwohl auf Instagram Influencerinnen Erfolg haben, die ein supertraditionelles Frauenbild propagieren, obwohl Sie eine Menge haarsträubender Beispiele für Ungerechtigkeit in Ihrem Sammelband gesammelt haben. Woher nehmen Sie die Zuversicht?

Die Unterdrückung von Frauen und anders marginalisierten Gruppen ist Jahrtausende alt, Rückschritte und Widerstand unvermeidlich, aber ich bin sicher, dass wir insgesamt in die richtige Richtung gehen. Wir sehen ja, wie zum Beispiel die jüngere Generation schon oft einen sensibleren Blick für Diskriminierungen hat, wie feministische Themen Mainstream werden. Etwa in unseren Büchern, die in einem großen Publikumsverlag erscheinen, oder in einem Blockbuster wie „Barbie“. Selbst wenn ich auch Kritik daran habe – mit solchen Erzählungen wird das Patriarchat entnormalisiert. Das gibt mir Hoffnung.

Buchtipp: Im zweiten Band von Unlearn Patriarchy“ (Ullstein, 22,99 €), herausgegeben von Emilia Roig, Brigitte-Redakteurin Alexandra Zykunov und Lektorin Silvie Horch, widmen sich Autor*innen wie Asha Hedayati, Anne Dittmann und Melina Borçak Themen von Erziehung und lebenslangen „Pay Gaps“ bis hin zu Kirche, Rechtsprechung und Architektur, immer unter feministischer Perspektive. Aufwühlend, informativ, kontrovers


„Gebraucht werden ist das Schönste am Vatersein – und das Schlimmste“

Die große Mehrheit aller jungen Eltern findet, ein Vater solle so viel Zeit wie möglich mit seinen Kindern verbringen. Aber die Quote derer, die länger Elternzeit nehmen oder ihre Arbeitszeit dauerhaft reduzieren, spricht eine andere Sprache. Wie kann sich das ändern? Fürs ELTERN-Magazin, Dezember 2022, habe ich mich mit vier Männern unterhalten, die Ernst machen

Treffen sich vier Väter auf Zoom und wollen mal reden. Darüber, wie Kind und Karrieremachen zusammenpassen, wie man Liebe, Abwasch und Jobprojekte zusammenbringt und woran es eigentlich liegt, dass zwischen Müttern und Vätern die Aufgaben immer noch so ungleich verteilt sind. Einer sitzt vor einem an die Wand gehängten Surfboard, einer ein Kellerbüro, zwei haben virtuelle Hintergründe eingeblendet; zwei sind älter, zwei jünger. Aber, kein Witz, eines haben sie alle gemeinsam…

ELTERN FAMILY: Roman, Marius, Harald, Volker: Ihr habt insgesamt zehn Kinder, seid alle verheiratet und angetreten, aktive Väter zu sein. Wie läuft‘s?

Roman: Ich habe nach der Geburt unserer Zwillinge nur zwei Monate Elternzeit genommen, rückblickend würde ich sagen, das war viel zu wenig. Aber ich glaube, am Ende macht nicht die Dauer der Auszeit einen guten Vater aus, sondern vor allem das normale Alltagsleben, das Teilen der Carearbeit, für 18 Jahre oder mehr. Es ist perfekt, ein halbes Jahr zu Hause zu sein, aber nicht, wenn man danach mehr oder weniger abwesend ist.

Wie sieht das konkret bei dir aus?

Roman: Unsere Kinder sind von etwa 8.30 bis 16 Uhr in der Kita, meine Frau und ich teilen uns Erwerbs- und Familienarbeit. Das muss nicht jeden Tag die gleiche Stundenzahl sein, aber am Ende des Monats, des Jahres muss man sich in die Augen schauen können und sagen: Ja, das hat für uns gepasst. Glücklich-glücklich kann gleichbedeutend sein mit Fifty-Fifty, muss aber nicht. Meine Erfahrung ist, je aktiver man als Vater ist, desto schöner wird es, desto mehr vermisst man seine Kinder, wenn man ihnen mal nicht nah ist. Viele Väter, gerade solche in Führungspositionen wie ich, haben das nie erlebt.

Marius: Bei meinem älteren Sohn, jetzt neun, habe ich auch nur die zwei Vätermonate gemacht, ohne groß nachzudenken – das war halt Standard. Später wurde auch ich Papa von Zwillingen, und habe ein ganzes Jahr lang ausgesetzt. Meine Frau ist Ärztin mit eigener Praxis, ich war damals angestellt in einem großen Konzern. Danach bin ich in Teilzeit zurückgegangen, mittlerweile habe ich mich selbständig gemacht und halte außerdem den Laden zu Hause am Laufen. Das heißt, wenn in der Kita ein Kind hinfällt, dann bin ich derjenige, der angerufen wird. Das musste ich denen erst mal beibringen!

Harald: Ich bin hier in der Runde der Hardcore-Elternzeitler: Ingesamt elf Jahre mit einem Pflegekind und später zwei leiblichen Kindern. Das lag aber auch daran, dass mein früherer Arbeitgeber, ein Mittelständler aus dem Technikbereich, mich mit allen Mitteln loswerden wollte. Heute arbeite ich 14 Stunden die Woche als Schreibkraft, was gut in unser Leben passt, aber wenn man ehrlich ist, bin ich formal total überqualifiziert. 

Volker, du berätst seit über 15 Jahren Firmen zu Vereinbarkeitsthemen, speziell im Hinblick auf Väter. Welche Erfahrungen bringst du selbst mit?

Volker: Meine Frau und ich haben mit unserer älteren Tochter schon vor 22 Jahren ein Fifty-Fifty-Modell gelebt, das war damals noch viel schwieriger zu organisieren, es gab ja kaum Betreuungsplätze für jüngere Kinder. Auch mir hat mein Arbeitgeber damals für eine Vater-Auszeit die Rote Karte gezeigt – das war der Anstoß für meine Selbständigkeit. Heute haben wir Kunden vom Großkonzern SAP bis zu den Stadtwerken Lübeck, und überall rumort es in den Unternehmen. Auch durch den Homeoffice-Boom während Corona sind gerade jüngere Väter zunehmend nicht mehr bereit, alte Muster weiterzustricken. 

Und doch ist der Fortschritt eine Schnecke, und Beispiele wie die euren bleiben die Ausnahme. Woran liegt das: die Wirtschaft, die Männer, die Frauen…?

Marius: Als ich meinem Vorgesetzten gesagt habe, dass ich über ein Jahr pausieren will, wusste ich, dass meine Expertise nicht so schnell zu ersetzen ist und habe das auch so angekündigt – „Chef, jetzt versau ich Ihnen den Tag!“. Er hat es trotzdem cool aufgenommen, da kann ich nicht klagen. Unangenehm waren eher die Spitzen aus der obersten Führungsebene. Die trifft man auf dem Flur, unterhält sich nett, „Mensch, Sie gehen in Elternzeit, freuen Sie sich?“, und im Gehen kommt dann eine Bemerkung wie: „Na, Sie werden schon wissen, was Sie tun“. Da ist noch viel altes Denken in den Köpfen.

Roman: Diese Haltung zieht sich noch immer quer durch die Gesellschaft, bei Männern wie Frauen, im Privaten wie im Beruflichen. Wenn ich Interviews gebe, kommentieren auch manche Frauen online: Aber Kinder gehören doch zur Mutter! Andererseits begreifen auch manche Männer nicht, warum sich überhaupt etwas ändern sollte. Dabei ist für mich eines klar, moderne Unternehmenskulturen brauchen nicht nur Frauen im Vorstand, sondern auch Väter, die für ihre Kinder da sein können.

Gehst du als Chef mit gutem Beispiel voran?

Roman: Ich gehe auf Mitarbeitende zu und sage: Ich hab gehört, du wirst Papa, oder du wirst Mama, wie können wir dich unterstützen? In meinem Führungsteam sind alle Männer in Elternzeit gegangen, auch mehr als zwei Monate. Denn wenn ein Chef, eine Chefin das aktiv angeht und kein Tabu aus Vereinbarkeitsfragen macht, erzählen Männer im Unternehmen früher und offener, dass sie Vater werden. Nach dem dritten Monat, wenn sie es auch ihren Freunden sagen. Das wiederum gibt dem Arbeitgeber fast ein halbes Jahr Puffer, um zu planen.

Harald: Klingt gut, aber ich habe genau das Gegenteil erlebt. Man hat ja als werdender Vater nicht denselben Kündigungsschutz wie eine werdende Mutter, ob es also schlau ist, frühzeitig eine Ankündigung zu machen, hängt also sehr von der Unternehmenskultur ab. Für meinen Vorgesetzen war ich sofort abgeschrieben, als ich gesagt habe, ich möchte aussetzen.

Roman: Aber meiner Meinung nach macht es der derzeitige Fachkräftemangels einfacher, einen neuen Arbeitgeber zu finden, der Vereinbarkeit ermöglicht. Es wäre doch jetzt genau die richtige Zeit für Väter, selbstbewusster aufzutreten!

Harald: Ich habe mich vielfach in Teilzeit beworben, sowohl im Bereich Einkauf und Beschaffung, wo ich vor meiner Elternzeit gearbeitet habe, als auch mit meiner Basisqualifikation als Elektriker und Elektrotechniker. Aber wenn die sehen, da will ein Mann weniger als 30, 40 Wochenstunden arbeiten, kommt innerhalb von drei Tagen eine Absage!

Volker: Es gibt Riesenunterschiede zwischen den Milieus, zwischen Stadt und Land. Zwar nehmen in Bayern die meisten Väter die zwei so genannten Vätermonate, mehr als in allen anderen Bundesländern, aber danach heißt es, vor allen in ländlichen Gebieten: Jetzt bringst du bitte wieder 120 Prozent, für Familie ist deine Frau zuständig. In Metropolregionen mit mehr Fachkräftemangel, mehr Konkurrenz, mehr Vielfalt ist die Situation oft günstiger. Aber es gibt auch eine aktuelle Studie der Antidiskriminierungsstelle, die sagt: Nicht nur jede zweite Frau erfährt im Arbeitsleben Diskriminierung, wenn sie Mutter wird, auch jeder dritte Vater. Bei den Frauen ist es eher die Rückkehr in den Job, bei den Vätern beginnt es bei der Ankündigung, dass sie reduzieren möchten, weil ein Kind kommt. Da ist die Politik gefragt, Rahmenbedingungen zu ändern, das können wir nicht nur im Privaten lösen.

Marius: Bin ich total bei dir. Wir müssen aber aufpassen, nicht in so einen Tenor abzugleiten: Hilfe, Familie, Riesenbelastung! Ich habe total davon profitiert, in der Elternzeit einen Schritt zurückzumachen vom Arbeitsleben, Dinge anders zu denken. Ich habe eine andere Perspektive auf das Leben, einen anderen Fokus. Das bringt mich persönlich weiter, im Berufsleben, in der Paarbeziehung.

Volker: Gutes Stichwort, Paarbeziehung. Entscheidend ist, dass man es schafft, nicht nur Familienarbeit, sondern auch den Mental Load gerecht aufzuteilen: Wer besorgt das Geschenk für die Schwiegermutter oder organisiert den Kindergeburtstag? Da entsteht nämlich schon in der Elternzeit ein Ungleichgewicht, weil das zu wenig besprochen wird. Ich würde mir auch wünschen, dass die neuen, jungen Väter die älteren fragen, Mensch, wie habt ihr das denn eigentlich gemacht? Wann habt ihr euch wie aufgeteilt? 

Marius: Die haben sich doch solche Gedanken größtenteils gar nicht gemacht! 

Harald: Also, ich bin in den Siebzigern, Achtzigern in kleinbäuerlichen Strukturen groß geworden, da hat zu Hause jeder angepackt. Wenn mein Vater im Schichtdienst war, saß meine Mutter auf dem Traktor, und wenn sie beim Arbeiten war, dann hat mein Vater mir das Schulbrot geschmiert. Für mich ein gutes Vorbild. Als ich selbst Vater wurde, habe ich jedenfalls viel positives Feedback bekommen, vom Freundeskreis bis zur Krabbelgruppe.

Marius: Ja, dieses Positive habe ich auch erlebt, aber nicht nur. Es gab auch total absurde Situationen. Etwa, wenn man Bekannte trifft und erzählt, wir haben Zwillinge, da kommt vor allem von älteren Frauen gerne so ein Spruch: „Oh, die arme Mutter.“

Roman (lacht): Ja, hier auch: „Das ist aber anstrengend für Ihre Frau.“ 

Marius: Dabei freuen wir uns doch darüber, dass wir diese Kinder haben, da ist niemand arm. Zweitens bin ich derjenige, der zu Hause alles wuppt. Drittens, bring dein Weltbild in die Altstofftonne. Aber auch bei Babytreffen gab es solche, die sich keinen Reim auf mich machen konnten. Einmal habe ich zwischen zwei Müttern gesessen, die sich lang und breit über meinen Kopf hinweg über meine Kinder unterhielten, als wäre ich gar nicht da: „Oh, süß, Zwillinge, welches ist wohl das ältere….“ Dabei hätten sie mich nur fragen müssen, sie wussten ja, dass die Kinder zu mir gehören.

Über eine Sache haben wir noch nicht gesprochen, das Geld. Es gibt Paare, da können sich weder Mütter noch Väter längere Auszeiten leisten….

Harald: Stimmt, Elternzeit ist Luxus. Wir sind es pragmatisch angegangen: Was gibt unsere Konstellation her, jenseits von Männer- und Frauenrolle? Meine Frau war erst fünf Jahre in ihrem Beruf als Lehrerin und wollte vorankommen, ich bin zehn Jahre älter und hatte dafür mehr Rentenpunkte. Logisch, dass ich zu Hause bleibe.

Marius: Wir haben für meine Elternzeit bei den Zwillingen hart gespart. Wir hätten sie auch früher in die Krippe geben können, aber das wollten wir nicht, weil wir bei unserem Großen nicht so gute Erfahrungen gemacht hatten. Danach was das Geld komplett aufgebraucht, aber das war es uns wert. Mein Punkt ist, in vielen Familien findet dieser Planungsprozess gar nicht statt. Der Mann denkt, er muss die Kohle anschaffen, die Mutter denkt, sie müsste zu Hause bleiben, und damit wird das Thema so weggewischt. 

Volker: Wir wissen, dass 77 Prozent der Väter den Löwenanteil des Geldes nach Hause bringen, es sagen aber auch 70 Prozent der Mütter, dass es wichtig für sie ist, in den ersten Jahren Zeit mit dem Kind zu verbringen. Das emotionale steht noch vor dem finanziellen. Und ich gebe Marius recht: Wir haben noch keine gesellschaftlichen Rituale dafür, wie und wo Paare sich darüber austauschen könnten! Väter gehen heute mit zum Geburtsvorbereitungskurs und reden über Ängste vor der Geburt – aber nicht darüber, was danach kommt. Unsere Idee als Beratungsunternehmen ist, Vereinbarkeitscoaches in Firmen zu installieren, die mit werdenden Eltern ins Gespräch kommen, auch wenn einer von beiden gar nicht dort arbeitet. Es braucht eine andere Gesprächs- und Arbeitskultur, quer durch die Branchen – auf dem Bau, in Rechtsanwaltskanzleien, im Gesundheitswesen….

Roman: Ganz wichtig! In der Chirurgie kannst du auch nicht einfach hinwerfen, wenn vor dir einer auf dem Tisch liegt, nur weil die Kita anruft, dass dein Kind Fieber hat. Anders als in anderen Berufen. Es gibt aber schon New Work-Modelle für Gesundheitswesen oder Industrie, mit denen man zum Beispiel per App flexibel Schichten tauschen kann, das hilft sehr. Aus meiner eigenen, früheren Erfahrung als Schichtarbeiter würde ich sagen: Es hat auch Vorteile, wenn ein Vater am Ende des Arbeitstages den Hammer und die Feile fallen lassen kann und seine Kinder abholen, ohne auch für den Rest des Tages immer und überall erreichbar sein zu müssen. Abschalten fällt da sicher leichter als in einem Job wie meinem.

Harald: Ich bin bei vielem ganz bei dir, Roman. Aber wenn du eine Woche Spätschicht hast, eine Frühschicht, danach eine Nachtschicht, musst du trotzdem nachmittags die Betreuung bezahlen, auch wenn du sie nicht nutzt. Wenn mein Kind in die Musikschule gehen will und der Nahverkehr auf dem Land ist ein Debakel, dann ist der halbe Nachmittag mit Fahrdiensten belegt. Vieles klingt in der Theorie besser als in der Praxis. 

Zum Schluss ein Gedankenexperiment. Stellt euch vor, ihr seid 70 Jahre alt, eure Kinder erwachsen. Was sollen sie über euch sagen, wenn sie an ihre Kindheit denken?

Volker: Es wäre schön, wenn meine Töchter sagen: Er hatte immer dann Zeit für mich, wenn es wirklich wichtig war.

Marius: Da schließe ich mich an.

Roman: Man muss ja erstmal anwesend sein, um auch zum richtigen Zeitpunkt da zu sein. Meine Kinder sollen sich daran erinnern, dass sich nicht nur das Eis am Wochenende mit ihnen geteilt habe. Sondern auch ihre Probleme und Sorgen.

Harald: So ist es. Ständig gebraucht zu werden, das ist das Schlimmste am Vatersein. Und zugleich auch das Schönste.

Unsere Gesprächspartner:

ROMAN GAIDA, 40, lebt mit seiner Frau und vierjährigen Zwillingssöhnen in Düsseldorf und leitet den Geschäftsbereich CNC in der Niederlassung des Mitsubishi-Konzerns. In seinem aktuellen Buch erzählt er von seinem Weg zwischen Karriere und Vaterschaft und gibt Tipps für Männer, die beides wollen: „Working Dad“, Campus, 24 €

HARALD LÖFFLER, 52, ist mit Frau und drei Kindern (11, 9 und 5) im ländlichen Franken zu Hause. Der ausgebildete Elektrotechniker arbeitet zur Zeit in Teilzeit als Schreibkraft.

MARIUS KRONSBERGER, 41, wohnt mit Frau und Kindern (das ältere neun, die jüngeren Zwillinge vier) als Immobilienmakler an der Ostsee. Seine Erfahrungen aus der einjährigen Elternzeit sind nachzulesen in „Von einem der heimging, um bei seinen Kindern zu sein“ (im Selbstverlag, zu bestellen im Buchhandel, 14,90 €)

VOLKER BAISCH, Unternehmensberater, 55, hat mit seiner Frau zwei erwachsene Töchter und lebt in Hamburg. Seine Firma entwirft Konzepte zu Vereinbarkeitsfragen im Job, besonders im Hinblick auf Väter (conpadres.de)

„Krieg ist immer ein Backlash für die Sache der Frauen“

Aber ihre Rolle wird auch unterschätzt, sagt die Historikerin Hedwig Richter. Denn Frauen spielen eine Schlüsselrolle, wenn es um das Voranbringen der Demokratie geht – auch in der Ukraine. Für die BRIGITTE habe ich mit ihr gesprochen.

Seit Beginn von Putins Angriffen fühlt man sich oft wie um 100 Jahre zurückversetzt: Auf der einen Seite die männlichen Helden, die in Kiew kämpfen, während Mütter und Kinder verzweifelt fliehen – und in deutschen Talkshows sitzen Generäle. Ein gesellschaftlicher Backlash?

Hedwig Richter: Krieg und Gewalt sind entsetzlich und immer ein Rückschlag für den Feminismus, oft auf allen Seiten. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass wir Freiheit und Gleichheit auf Dauer nicht zurückdrehen werden. Wir sind nicht blind einem Schicksal ausgeliefert, sondern haben vieles selbst in der Hand.

Inwiefern?

Das wird beim Blick auf die Geschlechterordnung deutlich, die sich immer nur mit großen Mühen ändern lässt. Nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 bekamen Frauen das Wahlrecht, um das sie Jahrzehnte lang gekämpft hatten plus besseren Zugang zu Bildung und Berufsleben. Das war fortschrittlich. Die Nationalsozialisten sorgten für Rückkehr zu einer martialischen Männlichkeit, Frauen wurden aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Und nachdem sie im Krieg und in der direkten Nachkriegszeit fast alle Aufgaben der Männer selbst übernommen hatten, kamen die fünfziger Jahre mit ihrem Idealbild der Hausfrauenehe. Doch Stück um Stück ist die Offenheit unserer Gesellschaft gewachsen, die Demokratie hat an Stärke gewonnen. Putin greift genau diese Friedensordnung an: Freiheit, Gleichheit, Vielfalt. Und damit wächst auch das Bewusstsein, dass es sich lohnt, diese Werte zu verteidigen.

Notfalls auch gewaltsam? In der Ukraine kämpfen ja auch ein paar Frauen.

Eine Diskussion, die so alt ist wie der Feminismus selbst. Die eine Strömung sagt: Gleiche Rechte, gleiche Pflichten, also auch zur Waffe greifen wie die Männer. Die andere Strömung argumentiert: Frauen sind, aus welchen Gründen auch immer, die friedlicheren Menschen und brauchen deshalb mehr Macht, um auf unblutige Weise Lösungen zu finden. Ich habe selbst keine einfache Antwort auf diese Frage. Was man aber sagen kann: Frauen waren schon immer ein Motor friedlicher Transformation.

Woran machen Sie das fest?

Studien zeigen an vielen Beispielen: Wenn sich eine Gesellschaft demokratisiert, ist das nachhaltiger und dauerhafter, wenn es aus der Zivilgesellschaft kommt und nicht von einer kleinen Gruppe, die ihre Ziele gewaltsam durchsetzt. Und an friedlichen Übergängen sind immer mehr Frauen beteiligt als an gewaltsamen. Ihre Rolle wird immer unterschätzt, weil sie nicht so heroisch inszeniert und gewaltsam sind. Nehmen Sie die 68er-Bewegung – dominierend sind Bilder der Steine werfenden Männer, während die Frauen wenig glorios gesellschaftliche Veränderungen durchgesetzt haben, mehr Gleichheit, gewaltfreie Erziehung, Selbstbestimmungsrechte. Auch international ist demokratischer Wandel oft weiblich getrieben, etwa in Belarus oder in Afghanistan. Selbst wenn die Lage derzeit furchtbar ist, denke ich, auf Dauer wird sich das nicht unterdrücken lassen.

Was ist mit den Frauen auf der russischen Seite?

Ich bin keine Russlandexpertin. Aber auch hier sehen wir viele Frauen, die an den Protesten beteiligt sind. Autoritäre Regime wie in Syrien, Belarus und jetzt in Russland sind misogyn und homophob. Und sie schlagen mit voller Härte zu, weil sie wissen, dass ihre Stunde geschlagen hat. Weil die Demokratie, Menschenwürde für alle so attraktiv ist, geistig und materiell, hat sie eine große Anziehungskraft auf Bevölkerung in diesen Ländern. Vieles spricht dafür, dass sich diese Lebensweise am Ende durchsetzt. Und das werden wir ganz stark den Frauen zu verdanken haben.
Darf man sich angesichts des ganzen Leidens überhaupt so etwas wie Geschlechterfragen stellen? 

Unbedingt! Hier wird deutlich, dass unsere zivilen Reflexe funktionieren, und dass wir unsere Friedenslektion gelernt haben. Frauenrechte und Emanzipation, berühren den Kern demokratischer Werte: Freiheit und Gleichheit.

„Jede Mutter hält ihr Kind für ein unschuldiges Lamm – keine fragt sich, ob es der Wolf ist“

Was ist schlimmer für Eltern: Wenn das eigene Kind zum Opfer wird oder zum Täter? Und macht Liebe blind für die Schattenseiten derer, die uns nahe stehen? Die israelische Psychotherapeutin und Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen stellt unbequeme Fragenich durfte sie für ZEIT online interviewen

Alle Eltern kennen die Angst, jemand könnte ihrem Kind etwas antun – von Ausgrenzung in der Schule bis zu Gewaltverbrechen. Für die Hauptfigur Ihres neuen Romans, eine israelische Mutter in Kalifornien, kippt diese Angst ins Gegenteil, als sie sich fragen muss, ob ihr Teenagersohn einen Mitschüler getötet hat. Was hat Sie an diesem Setting gereizt?

Als Autorin und Psychologin habe ich die Möglichkeit, Abgründe auszuloten, vor denen meine Figuren zurückscheuen. Aber auch persönliche Schlüsselmomente haben mich auf das Thema gebracht. Am ersten Kindergartentag meiner kleinen Tochter habe ich mich nervös gefragt: Was tun die anderen Kinder ihr möglicherweise an, wenn ich sie nicht mehr den ganzen Tag beschützen kann? Bis mir klar wurde: Mit mir stehen hier noch 20 andere Mütter, besorgt und mit Herzklopfen, in der Überzeugung, dass ihre eigenen Kinder unschuldige Lämmer sind, die in einen Wald voller Wölfe geschickt werden. Und keine fragt sich: Moment – könnte es sein, dass mein Kind selbst der Wolf ist? 

Aber brauchen Kinder nicht auch diesen verklärten Blick, das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden?

Klar. Als Eltern sehen wir unsere Kinder im besten Licht, das ist unser Job. Wir nehmen an, dass niemand sie so lieben kann wie wir, mit Recht. Aber das bedeutet auch, dass wir blind sind für manche ihrer Seiten. Auch, weil es unser Selbstbild stört.

Das Kind als kostbarer Besitz, als Objekt elterlicher Allmachtsphantasien?

Manche präsentieren ihre Kinder wir einen Leistungsnachweis: das Beste, das mir je gelungen ist! Mich macht das misstrauisch. Wenn eine Mutter sagt: „Mein Kind würde nie etwas Böses tun“, dann ist das wichtigste Wort in diesem Satz das Possessivpronomen: „mein“. Etwas, das aus mir entstanden ist, ist über jeden Zweifel erhaben. Dieser Narzissmus bringt ein bestimmtes Selbstverständnis mit sich: ich mache mich zur Anwältin meines Kindes in seiner Auseinandersetzung mit der Welt, unabhängig davon, wer im Recht ist, egal, ob es um Schulnoten geht oder um Konflikte mit anderen Kindern.

Als die Mutter in Ihrem Roman herausfindet, dass ihr Sohn ein Verbrechen begangen haben könnte, will sie es nicht wahrhaben, verdrängt es, hat Angst, ihn zu konfrontieren. Mord ist natürlich ein extremes Beispiel, aber vielleicht verhalten sich die eigenen Kinder aggressiv, verbal oder körperlich. Was wäre Ihr Rat als Psychotherapeutin: Wie können wir mit unseren Kindern ins Gespräch kommen, damit sie lernen, besser mit solchen Impulsen umzugehen?

Mein Rat wäre: Nicht wegsehen, nicht kleinreden, sondern versuchen, die Motivation des Kindes zu verstehen. Verstehen heißt aber nicht akzeptieren. Wir müssen ganz klar machen, dass sein Verhalten falsch war, dass es bessere Wege der Konfliktlösung gibt, sollten aber Kinder nicht für ihr Verhalten bestrafen. Denn Strafe führt nur zu Groll und Wut, und wir möchten ja ein zarteres Gefühl auslösen – Bedauern. Deshalb sollten wir dem Kind vor allem vermitteln: Ich glaube, dass du es beim nächsten Mal besser machen kannst. Du bist nicht böse, du hast etwas Böses getan, und du kannst es ändern.

Wahrscheinlich kommen viele Eltern gar nicht an diesen Punkt, weil sie so mit ihrer Angst beschäftigt sind, ihr Kind könnte selbst unter anderen leiden. Sie sagen, bei der Recherche für Ihren Roman haben ihnen einige erzählt: Wenn ich mich entscheiden müsste, ob mein Kind gemobbt wird oder andere mobbt, dann lieber zweiteres. Können Sie das nachvollziehen?

Ich hatte diese Diskussion sogar mit meinem eigenen Partner. Wie viele andere Eltern hat er gesagt: Natürlich möchte ich weder das eine noch das andere, aber im Zweifelsfall wünsche ich mir vor allem, dass mein Kind möglichst wenige Narben davonträgt, psychisch wie körperlich. Wenn es aggressiv ist gegen andere, kann ich es dazu bringen, sein Verhalten zu ändern, und es kann bereuen, was es getan hat – aber Opfer bleibt man ein Leben lang.

Ist das vielleicht eine spezifisch israelisch-jüdischen Erfahrung, eine Urangst: Alles, nur nie wieder Opfer sein?

Das dachte ich auch, als ich mich zuerst mit dem Thema beschäftigte. Der Holocaust ist unser kollektives Trauma, die Angst, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt zu werden. Ich kann mich gut erinnern, als ich ein kleines Mädchen war und wir im ersten Golfkrieg einen Angriff aus dem Irak befürchteten, dass mein Großvater verbittert sagte: Ich hätte niemals gedacht, dass ich noch einmal erlebe, wie jüdische Kinder Angst haben müssen vor Gas. Er wäre lieber in den Krieg gezogen und sogar gestorben, als passiv in einem Schutzraum zu sitzen und nichts tun zu können. Aus diesem unerträglichen Gefühl von Hilflosigkeit erwächst eine Art israelische Macho-Mentalität: Lieber jetzt Stärke zeigen und es später bereuen als umgekehrt. Aber auch in anderen Ländern reagierten Eltern ähnlich auf meine Frage nach ihren Kindern, etwa in Deutschland oder der Schweiz. Ich glaube, es hat mit wachsendem Individualismus zu tun. Mit der globalen Feelgood-Diktatur.

Was meinen Sie damit?

Zufriedenheit und Selbstwertgefühl des Einzelnen stehen ganz oben auf der Agenda, über allem anderen, in weiten Teilen der Welt. Googeln Sie mal Artikel zum Thema „Wie stärke ich das Selbstbewusstsein meines Kindes“ und zum Thema „Wie erziehe ich mein Kind zu einem guten Menschen“ – jede Wette, dass sie beim ersten Begriff deutlich mehr finden?

Dabei spricht ja erstmal nicht dagegen, zu sagen: Hauptsache, meinem Kind geht es gut und es ist glücklich.

Vor zwei, drei Generationen noch ging es Eltern weniger um Wohlbefinden als um Moral, um Sinn, ständig beurteilten sie das Benehmen ihres Kindes: Wird aus ihm ein guter Christ, ein guter Kibuzznik, ein guter Kommunist? Natürlich ist es ein Segen, dass diese starren Systeme heute nicht mehr in der Form existieren, dass gesellschaftliche Zwänge und Schuldgefühle uns nicht mehr die Luft abschnüren. Aber manchmal scheint mir, wir haben das Konzept von Schuld komplett über Bord geworfen, und das besorgt mich. Als Konsequenz daraus biegen wir als Eltern die Welt so zurecht, dass unser Kind sich nicht wehtun kann, und übersehen dabei andere.

Macht es das Leben nicht auch aus, dass es nicht immer diese klaren Fronten gibt, hier Täter, da Opfer?

Genau da wird es interessant. Denn wenn wir uns ein neugeborenes Kind anschauen, und zu welcher Grausamkeit Menschen später im Leben fähig sind, dann fragen wir uns doch: Was ist schiefgelaufen auf dem Weg dahin? Niemand wird als Mörder geboren, als Nazi, als Faschist. Wenn wir uns nicht nur fragen, was unserem Kind geschehen könnte, sondern auch, wozu es fähig sein könnte, dass es Potenzial in sich trägt zu Gutem wie zu Bösen, wäre das ein großer erster Schritt, um Gewalt zu verhindern. Persönlich, zwischen Kindern, in der Schule, aber auch Gewalt zwischen Gruppen oder Nationen. Ich weiß noch, wie ich nach der Geburt meiner Tochter ihre winzigen Fingerchen betrachtete, und plötzlich so einen Gedanken hatte: Was wird sie damit alles tun, vielleicht schreiben, vielleicht Klavier spielen – oder den Abzug einer Waffe betätigen? 

Aber warum ist es so schwer, sich den eigenen Abgründen zu stellen, und denen unserer Nächsten?

Weil uns die Vorstellung Sicherheit gibt: Das Böse ist irgendwo da draußen, hier drin, von mir und meiner Familie habe ich nichts zu befürchten. Wenn das Böse uns aber von außen bedroht, können wir es auch gemeinsam bekämpfen, können uns dabei auf der richtigen Seite fühlen, stark, wie in einem Thriller auf Netflix. Wenn wir merken, dass diese Sicherheit trügerisch ist, dann wird es dagegen unheimlich. Aber es wäre hilfreich, anzuerkennen: Das Monster ist nicht draußen, jenseits der Burgmauern, nicht hinter der Staatsgrenze, es ist nicht einmal in unserem Gegenüber, sondern in uns selbst. Deshalb ist es auch so wichtig, schon Kindern beizubringen, sich bei Konflikten in den anderen hineinzuversetzen: Wie würdest du dich fühlen, wenn das andere Kind dich ausgelacht oder gehauen hätte?

Heißt es auch, Verantwortung für unsere aggressiven Impulse zu übernehmen? 

Verantwortung ist ein wichtiges Stichwort. In der Psychologie neigen wir manchmal dazu, vor lauter Verständnis für den Aggressor seine Taten zu rechtfertigen. Auf einer persönlichen Ebene, aber auch auf einer gesellschaftlichen. Nehmen wir den ersten Mord der biblischen Geschichte: Kain tötet seinen Bruder Abel, weil er so eifersüchtig ist, dass Gottvater dessen Opfergabe seiner vorgezogen hat…

…und deshalb ist Gott der wahre Schuldige in der Geschichte?

Eben nicht, das wäre zu einfach. Als Therapeutin würde ich zu Kain sagen: Ja, du hast ein Recht dazu, traurig und wütend zu sein, dich zu beklagen, weil Gott deinen Bruder vorzieht – aber das gibt dir noch nicht das Recht, ihn umzubringen. Und die Schuld dafür auf deinen Vater abzuwälzen. Das gilt genau so, wenn argumentiert wird: Oh, Hitler war so eine charismatische Persönlichkeit, klar, dass die Deutschen ihm gefolgt sind, sie konnten nicht anders. Diese Sichtweise ist fatalistisch, dann können wir auch gleich sagen: C’est la vie, das kulturelle Klima ist an allem Übel Schuld, das Bildungssystem, die Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir uns mit unseren eigenen negativen Gefühlen, Wut und Kränkungen auseinandersetzen, verstehen, woher sie kommen. Aber am Ende müssen wir uns an unseren Taten messen lassen.

Als israelische Mutter betrifft Sie unser Gesprächsthema auch ganz existenziell: Auch Ihr Sohn könnte eines Tages vor der Entscheidung stehen, entweder selbst zu töten oder getötet zu werden, in der Armee. Wie gehen Sie damit um?

Mein Sohn ist fünf, mit 18 wird er eingezogen, mir bleiben also nur noch 13 Jahre, in denen ich dazu beitragen kann, dass die Situation in Israel friedlicher wird. Damit sich keiner mehr entscheiden muss, Opfer oder Täter zu sein. Ich war immer sehr politisch engagiert, und Muttersein hat das noch verstärkt. Genauso hat mich meine Tochter noch mehr zur Feministin gemacht, weil ich alles durch diese Brille sehe: In was für eine Welt habe ich mein Mädchen gesetzt? Sie ist jetzt sieben, was kann ich tun, damit sie nicht später an der Uni oder im Arbeitsleben sexuell belästigt wird? Dass wir unsere Kinder als Erweiterung von uns selbst sehen, ist eben nicht nur narzisstisch, es hat auch eine positive Kraft. Man denkt intensiver über den Zustand der Welt nach und gibt sich nicht einfach mit dem Status Quo zufrieden. Im besten Fall dient das nicht nur den eigenen Kindern, sondern allen.

ZUR PERSON: Ayelet Gundar-Goshen, Jahrgang 1982, gehört zu den profiliertesten Stimmen in der jungen israelischen Literatur und gewann zahlreiche Preise. Sie lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv, und arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Drehbuchautorin als Psychotherapeutin in einer Klinik. Ihr aktueller Roman „Wo der Wolf lauert“ erscheint in deutscher Übersetzung im Verlag Kein & Aber

„Nur in scharf geschnittener Kleidung kann man scharf denken“

Finden wir nach der Pandemie wieder aus Jogginghose und Schlabbershirt heraus? Sicher, sagt Modetheoretikerin Barbara Vinken, und hat mir für die BRIGITTE im Oktober 2021 ein Interview gegeben. Aber unser Styling wird ein anderes sein. Das sieht man jetzt schon (auch an meiner Herbstgarderobe oben)

BRIGITTE: Optisch war Corona, insbesondere im Lockdown, die Epoche der Jogginghose, des Hoodies und des Ganztagspyjamas. Auch für Sie?

BARBARA VINKEN: Nein, denn ich bin überzeugt: Nur in scharf geschnittener Kleidung kann man auch scharf denken.Damit meine ich nicht einengend, es gibt wunderbare Alternativen – mein Schrank enthält viel Kaschmir, weite, Marlene-Dietrich-artige Writers‘ Pants, und schwingende Röcke und Kleider im Lagenlook. 

Diese Wechselwirkung zwischen Outfit und Output haben im Homeoffice viele bemerkt. „Zieh dich richtig an, auch wenn dich keiner sieht“, habe ich selbst als Ratschlag verinnerlicht.

Unsere Geisteshaltung wird immer von unserer äußeren Haltung beeinflusst. Kleidung ist, linguistisch ausgedrückt, ein Sprechakt: Wir signalisieren damit, wer wir sind, selbst ohne dass jemand zusieht. Eine Jogginghose kann natürlich auch heißen: Pass auf, ich tue hier etwas so Ernsthaftes, ich habe keine Zeit für Oberflächlichkeiten. Auch das ist eine Form von Eitelkeit, ein Fetisch des Authentischen.

Sie glauben aber, man bringt darin trotzdem nichts Gutes zustande?

Jedenfalls ist man gleichzeitig sehr beschäftigt damit, nach außen zu signalisieren, wie unwichtig einem das Äußere ist. 

Als Romanistin haben Sie den Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich: Hier das Land der Funktionsjacke, dort das Land des unangestrengten Alltags-Schick – hat sich das auch in der Pandemie modisch ausgewirkt?

Meinem Eindruck nach fühlten sich Menschen in Frankreich stärker eingesperrt und wahrten eher die Form, gerade wenn sonst alles Baden ging. Zogen sich zu Essen um, auch wenn sie nur zu zweit waren. Eigentlich ganz clever, es heißt ja nicht ohne Grund „There is always lipstick on a rainy day“. Lebensschönheit und Glück lassen sich manchmal auch über die äußere Form herstellen. 

Manche prophezeien, dass wir uns auch nach Corona weiter leger kleiden werden. Die New York Times zeigte kürzlich Fotos von der Wall Street: Vor zwei Jahren sah man hier fast nur dunkle Anzüge und edle Lederschuhe. Jetzt sind auffallend viele Banker*innen in Sneakers, Jeans und bunten Sommerkleidern unterwegs.  

Wie in vielen Lebensbereichen ist das Virus auch hier eher Beschleuniger, Katalysator, als Auslöser. Den Trend zu Streetwear, zur Abkehr von formellen Dresscodes, sehen wir seit mindestens zehn Jahren. Interessant ist, wie sich Frauen- und Männermode aufeinander zubewegt haben. Und die Frage, ob Corona die Richtung ändert.

Das müssen Sie erklären.

Die Frauenmode hat schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine gradlinige Entwicklung hinter sich, von der rein weiblich markierten Mode zur männlichen. Das Korsett fiel, der Bubikopf kam, die Hose setzte sich durch. Seit den 80er-Jahren schwankt Frauenmode zwischen zwei Polen. Mal eine fast aggressive Weiblichkeit mit Highheels und engen Röcken, die signalisiert: Jungs, passt mal auf, hier kommt eine Frau. Und mal einem Unisex-Stil, der eher signalisiert: Jungs, ich bin wie ihr. Die Männermode hat sich viel weniger geändert, doch in den letzten Jahren vor der Pandemie hat sich die Einbahnstraße zum ersten Mal umgekehrt. Auf den Laufstegen gab es auch Männer-Looks, die mit Durchsichtigkeit spielten, Ausschnitten, Rüschen, Codes für Weiblichkeit. Corona hat dieser zaghaften Fluidität fürs Erste ein Ende gemacht. Vielleicht, weil alle das Gefühl haben: Wir leben in ernsten Zeiten, da sind seriöse, kühle Macher gefragt.

Zumindest für Frauen sind die aktuellen Herbst- und Wintertrends wieder exaltiert und sexy – teilweise aber auch das Gegenteil: Minis, Lack und Metallic neben gefütterten Overalls, die fast wirken wie Labor-Schutzanzüge. Hat das auch noch mit der Pandemie zu tun?

Mode hat immer auch eine schützende Funktion, fast wie eine Rüstung. Nicht nur vor der Kälte, auch vor den Blicken der anderen. Ich denke, dieses Cocooning-Gefühl aus der Corona-Zeit wird bleiben, der Rückzug in warme, weiche Kleider, in die wir uns tröstlich einkuscheln könnten. Die andere Seite ist kein Widerspruch, das gehört dazu: Der Wunsch, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, die Straßen, die Restaurants, und das Leben zu feiern, mit festlichen Stoffen und lauten Farben. So war es historisch gesehen fast immer nach Phasen von Seuchen, Kriegen, Katastrophen. Nach der Spanischen Grippe kamen in den 1920-ern Kleider mit Federn, Pailletten und Fransen, auf den Zweiten Weltkrieg folgte der „New Look“ mit schwingenden Röcken.

Das freut sicher die Modeindustrie, die hohe Verluste gemacht hat – laut einer McKinsey-Studie brachen die Umsätze 2020 um 15 bis 30 Prozent ein. Die höchsten Rückgänge gab es im Niedrigpreisbereich, stärker als in den gehobenen Segmenten. Geht der Trend auch langfristig weg von noch schneller, noch billiger?

Ja, und ich habe den Eindruck, viele in der Branche begrüßen das. Nach allem was ich höre, haben manche Modemacher das als Atempause gesehen, und sich gefragt: Brauchen wir ernsthaft sieben Kollektionen im Jahr, wollen wir wirklich weitermachen mit der massiven Ausbeutung von Umwelt und Arbeitskräften, mit Fast Fashion? Ich bin optimistisch, dass Corona unser Verhältnis zur Mode bewusster und nachhaltiger macht. Das aktuelle It-Piece ist auf jeden Fall ein Lieblingsstück, das vielleicht etwas teurer ist, aber gemeinsam mit uns älter wird, wie ein wertvoller Kunstgegenstand. Ich habe im Sommer ein Seidenkleid wiederentdeckt, sicher schon zehn Jahre alt, aber mit seinem Lagenlook wieder völlig passend zur Saison. Voilà!

Barbara Vinken, 61, ist Professorin für Romanistik an der Münchner LMU und macht immer wieder mit klugen Kommentaren zu ganz unterschiedlichen Themen von sich reden – sei es zur Mode, zum deutschen Mutterbild oder als Literaturkritikerin im Fernsehen.

Ich Mogelpackung!

„Irgendwann finden sie‘s raus!“: Viele Menschen treibt die Angst, als Niete enttarnt zu werden. Oft gerade die, die ihre Sache außergewöhnlich gut machen – im Job wie im Privatleben. Kürzlich habe ich für die „Barbara“ Vera Strauch, Führungskräftetrainerin und Podcasterin, interview. Hier erklärt sie: Woher kommt das „Impostor-Syndrom“, und wie wird man es los?

BARBARA: Als Journalistin sitzt man ständig Leuten gegenüber, die mehr vom Thema verstehen als man selbst, und soll denen kluge Fragen stellen. Weniger Ahnung haben, aber auf dicke Hose machen – da kann man schon mal an sich zweifeln.

Vera Strauch: Und, tun Sie’s?

Nee, zumindest nicht übermäßig.

Dann leiden Sie wohl nicht am Impostor-Syndrom.

Impostor-was?

„Impostor-“, also „Hochstapler-Syndrom“. Besonders in leistungsorientierten Bereichen findet man Leute, die nachts schweißgebadet aufwachen und sich fragen, wann sie auffliegen – obwohl sie völlig zurecht an ihrem Platz sind und mit Erfolgen glänzen.

Also die mit den Turbo-Karrieren?

Das muss sich nicht immer auf den Job beziehen, sondern auch auf andere Bereiche, die uns wichtig sind, über die wir uns definieren. Das kann auch das Äußere sein, der Körper, die Kleidergröße, oder die Frage, wer den besten Kindergeburtstag organisiert. 

Das ist eher ein Frauending, oder? Sich die Latte so hoch legen, dass man nie den eigenen Ansprüchen genügt?

Tatsächlich dachte man das früher, in den Siebzigern und Achtzigern, und sprach vom „Female Impostor-Syndrom“. Aber die neuere Sozialforschung hat das widerlegt. Auch Männer sind betroffen, vor allem Führungskräfte. Meistens in Umfeldern, die sehr auf Wettbewerb angelegt sind. Das Phänomen ist nicht neu, aber das Thema kocht gerade wieder hoch.

Wie macht sich das bemerkbar?

Immer wieder haben mich Leute aus meinem beruflichen Umfeld darauf angesprochen und mich gebeten, dazu etwas zu veröffentlichen. Mich hat das überrascht, weil ich es von mir selbst nicht so kenne, aber es betrifft wirklich viele. Gerade solche, von denen man es nicht denkt.

Merkt man denen ihre Unsicherheit denn an?

Nein, das ist es ja. Sie wirken vielleicht sogar etwas arrogant, gerade, weil sie im Kern so wenig Selbstbewusstsein haben und deshalb viel Energie aufwenden, die Fassade aufrecht zu erhalten. Der Bereich spielt keine Rolle. Ich kann eine international anerkannte Hirnchirurgin sein, und trotzdem glauben: Die anderen haben nur noch nicht gemerkt, dass ich eigentlich eine Versagerin bin, weil sie weniger davon verstehen – wie gut, dass der Kopf wieder zugenäht ist! Das Impostor-Syndrom ist im Grunde ein Symptom einer gesellschaftlichen Schieflage.

Wie jetzt?

Weil unsere Gesellschaft so einseitig auf Leistung und Output schaut.

Und dazu kommt ja noch unsere Selbstdarstellungskultur, die glänzende Fassade belohnt. Leute, die auf ihren Social Media-Kanälen ständig ihre Erfolge vorzeigen, ihre Halbmarathons, die schmeichelhaftestes Selfies, Jobprojekte – sind die im Grunde ihres Herzens auch so unsicher, dass sie ständig nach Aufmerksamkeit gieren und trotzdem an sich zweifeln?

Kann schon sein, auch wenn so eine Ferndiagnose natürlich schwierig ist. Aber ich glaube, auch in der Offline-Welt sind wir sehr herausgefordert, sollen ständig den vielfältigsten Ansprüchen genügen. Lebenslang lernen, uns in unserer Beziehung engagieren, unsere eigene Ernährungsphilosophie entwickeln….da kann man schon mal das Gefühl haben: Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich bin nie gut genug.

Warum lassen sich denn manche mehr unter Druck setzen als andere?

Im Grunde ist es eine Frage von grundlegendem Selbstwert. Die Sozialforschung sagt: Das Impostor-Syndrom entsteht entweder, wenn ich als Kind gelernt habe, dass ich Leistung bringen muss, um Liebe und Aufmerksamkeit zu bekommen. Oder, im Gegenteil: Weil meine Eltern mir ständig vermittelt haben, wie perfekt und einzigartig ich bin. Egal, was ich tue. Dadurch fehlt mir die Erfahrung: Es ist okay, auch mal etwas nicht zu wissen, zu scheitern, etwas weniger gut zu können als andere.

Es gibt aber ja Situationen, da gilt die Spruchweisheit: Klappern gehört zum Handwerk. Von Coaches hört man Tipps wie: Kauf dir für dein nächstes Vorstellungsgespräch eine Bluse, die du dir eigentlich nicht leisten kannst. Oder ein Paar Schuhe fürs selbstbewusstere Auftreten.

Da würde ich nach der Motivation fragen. Ein paar Schuhe, eine Bluse können eine tolle Investition sein, im Sinne von: Ich bin mir selbst was wert, und ich zeige euch damit meinen Respekt. Jedenfalls mehr als in Sneakers und Jogginghose. Aber wenn ich mich in ein teures Kostüm zwänge, in dem ich mich verkleidet fühle, sollte ich überlegen: Willst du wirklich einen Job, in dem du dich verstellen musst?

Wie war das bei Ihnen: Sie haben mit noch nicht mal 30 ein Bauunternehmen mit 100 Mitarbeitern gemanagt, fast alles Männer, fast alle älter. Muss man da nicht ein bisschen auf den Putz hauen, um ernst genommen zu werden?

Es gibt zwei Möglichkeiten, sich Respekt zu verschaffen. Zum einen Status: Ich erzähle den Leuten, was ich für tolle Abschlüsse habe und wie viele Sprachen ich spreche, und sie müssen mir zuhören. Der Haken daran: Betritt jemand den Raum, der in der Hierarchie über mir steht, bin ich abgemeldet. Zum anderen Verbindung. Wenn ich zwischen berufserfahrenen Männern zwischen 40 und 50 stehe, als junge Frau, die zufällig auch noch blond ist, dann sage ich denen: Ihr wisst viel mehr darüber, wie man Betonwände herstellt oder Investitionsanträge rechnet, da kann ich von euch lernen. Aber was ich euch erzählen kann, ist, wie man Abläufe verändern kann, wie man Strukturen flexibel macht….schon schaffe ich Ehrlichkeit, die entwaffnend wirkt. 

Also nicht so tun, als wüsste man alles besser?

Bloß nicht! Es ist ein Merkmal von gut laufenden Systemen, dass nicht jeder alles können muss. Wenn ich tolle Torten backe und ein Café eröffne, muss ich nicht den Anspruch haben, auch noch meine Steuererklärung selbst zu machen – wie schön, dass es dafür andere gibt, die das gut und gerne tun! Oder ob ich mir von meinen Kindern helfen lasse, meinen Rechner neu aufzusetzen. Hilfe annehmen ist keine Schwäche, im Gegenteil.

Sorry, aber klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Wenn ich einen Job im Haifischbecken habe, dann habe ich doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder, ich steige aus und suche mir lieber einen Job im Streichelzoo, oder ich beiße selbst die anderen weg, um zu überleben. 

Wenn ich von Ehrlichkeit und Verletzlichkeit spreche, dann heißt nicht, dass ich meine privaten Probleme im Meeting ausbreite. Aber ich glaube schon, dass jede und jeder einzelne von innen heraus eine Kultur verändern kann, auch ein toughes Arbeitsklima. Es gibt ja nicht nur Schwarz oder Weiß, also nur entweder die totale Anpassung an ein System, in dem ich mich verbiegen muss, oder die totale Verweigerung. 

Und wie geht das, Veränderung von innen heraus?

Manchmal sind es kleine Dinge, die uns und anderen helfen, authentischer zu sein und weniger falsch. Etwa, wenn nicht mitmache, wenn über Abwesende schlecht geredet wird, oder mir andere Kontakte im Arbeitsumfeld suche, die unterstützender sind. 

Kann eigentlich der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten auch ganz berechtigt sein? Ist ja möglich, dass mir eine Aufgabe wirklich zu groß ist.

Klar, nicht jede Unsicherheit ist ein Zeichen fürs Hochstaplersyndrom. Und dann kann es auch richtig und ehrlich sein, zuzugeben: Ich schaffe das nicht, ich bin hier falsch. Aber auch in dem Fall gibt es vielleicht einen dritten Weg.

Also: Fake it till you make it? 

Ich bin mal auf einen TED-Talk gestoßen, der hieß „Fake it till you become it“ – also: Tu so, bis du dazu wirst. Alles ist ständig in Bewegung, von unseren Zellen, die sich permanent teilen bis zur Arbeitswelt, die komplett im Umbruch sind. Wichtig ist, sich immer wieder aufs Neue Klarheit zu verschaffen: Was bin ich heute, und was will ich werden? Eine Führungskraft, eine Frau, die ein Haus mit Vorgarten hat und zwei Kinder? Etwas ganz anderes? Wenn ich wage, Träume zu haben, dann muss ich weder vortäuschen, was ich noch nicht bin, noch mich dafür schämen, wenn ich nicht alles erreiche. 

„Ein paar Wochen lang haben wir Utopie gespielt“

Barbara Bleisch, Buchautorin, Philosophin und TV-Moderatorin („Sternstunde Philosophie“), glaubt: Die Pandemie wird vieles dauerhaft verändern – von Arbeit bis Körperkontakt. Das ist aber nicht nur Grund zur Freude.

BRIGITTE: Als die Krise im Frühjahr Deutschland erreichte, war da neben Ängsten auch Aufbruchstimmung. Menschen träumten von Entschleunigung, neuer Solidarität, einer Chance für ökologischen Umbau … was ist daraus geworden?

Barbara Bleisch: Ja, es war ein Schrebergartenidyll: Kinder spielen auf der Straße, Flugzeuge bleiben am Boden, Angebote für Nachbarschaftshilfe hängen an jedem Laternenpfahl. Aber die Vision war nicht nachhaltig. Wir haben nur eine Zeitlang Utopie gespielt.

Die Pessimisten haben Recht behalten, nicht nur, was die zweite Welle betrifft?

Das lässt sich abschließend noch nicht sagen, denn die Krise ist noch immer zu frisch, und wir befinden uns nach wie vor in einer Schockstarre. Ich denke, sie hat gesellschaftlich viele Entwicklungen angestoßen, aber es ist noch nicht klar, wohin die Reise geht. Etwa in der Politik: Mich hat die Selbstwirksamkeit des politischen Systems hoffnungsvoll gestimmt, wie man klare Prioritäten für die Schwächeren gesetzt hat, gegen die Eigenlogik der Wirtschaft. Aber jetzt sieht man die Kehrseite: ein schleichendes Misstrauen der Bürger, wenn zu lang an den Parlamenten vorbei regiert wird, und die berechtigte Angst, autoritäre Regime könnten die Einschränkung der Freiheitsrechte für sich ausnutzen. Was auch klarer als zuvor geworden ist: Politik braucht den öffentlichen Raum, der virtuelle reicht nicht aus.

Aber durch die Erschütterungen ergeben sich ja auch Chancen. Etwa in der Arbeitswelt, weil vom Zwang zu flexibleren Modellen gerade Frauen und Familien profitieren.

Auch das ist zweischneidig. Klar helfen Homeoffice-Lösungen arbeitenden Eltern –aber Arbeitgeber entziehen sich auch ihrer Verantwortung, wenn sie diese Entwicklung nutzen, um zum Beispiel Bürofläche einzusparen. Außerdem sind Frauen auch in der Arbeitswelt überproportional gefährdet: Zum einen, weil in ökonomischen Krisen Teilzeitjobs meist als erstes abgebaut werden, zum anderen, weil viele in Care-Berufen arbeiten. Und ich fürchte, aus der erhofften Revolution in diesem Bereich, mit besserer Bezahlung und besseren Bedingungen, wird nichts – wenn die Wirtschaft weiter einbricht, wird das genau so wenig finanzierbar sein wie eine grüne Wende. Auf der Positivseite sehe ich, dass jetzt wieder intensiver über Modelle für ein Grundeinkommen diskutiert wird.

Die Coronakrise hat uns zwangsläufig häuslich gemacht. Wir sind auf unseren Wohnort zurückgeworfen, Nachtleben findet nicht mehr statt, Kultur kaum noch. Kommt ein neues Biedermeier – und ist das eher Bedrohung oder eher Sehnsuchtsort?

Wenn einige Entwicklungen korrigiert werden, die ausgeufert sind, ist das sicher gut – Stichwort Reisen und ökologischer Fußabdruck. Aber insgesamt macht es mir eher Sorgen, dass alles so eng wird, das Denken wie die geographischen Grenzen. Warum denken wir bei Schutzmaßnahmen und neuen Lockdowns zum Beispiel nicht in europäischen Regionen, sondern jeder Nationalstaat kocht sei eigenes Süppchen oder macht sogar Grenzen wieder dicht? Corona hat uns die Kehrseite der Globalisierung gezeigt, die Verwundbarkeit, die aus dem internationalen Zusammenrücken entsteht, und es ist noch offen, was das mit unserer Wahrnehmung macht: Fühlen und leiden wir eher mit weit entfernten Menschen mit, weil wir durch das Virus im selben Boot sitzen, oder schotten wir uns dauerhaft stärker ab?

Das gilt ja auch im Nahbereich, Stichwort Kontaktbeschränkungen.

Das stimmt mich besonders nachdenklich. Auch wenn wir Corona durch Impfstoffe und bessere Therapien in den Griff bekommen, der Blick auf unser Gegenüber als gefährlichen Virenhaufen könnte zum Dauerzustand werden. Covid 19 ist ja nur ein Virus von vielen. Aber wenn wir uns den Händedruck komplett abgewöhnen, oder Gesten, etwa, dass wir im Gespräch jemandem beruhigend die Hand auf den Arm legen, dann nehmen wir uns auch die Möglichkeit, Konflikte aus der Welt zu schaffen.

Sie als Philosophin: Empfinden Sie das Denken in Krisenzeiten eigentlich als Trost?

Eigentlich ist die Philosophie eher die Kunst des Zweifelns und des Fragestellens, also per se nicht unbedingt tröstlich. Dennoch ist etwas dran: Der Dichter Gottfried Benn hat vom „Gegengewicht Geist“ gesprochen, das heißt, durch Denken kann man Distanz schaffen, sich ins Verhältnis setzen zum Weltgeschehen, und wird dadurch weniger von Gefühlen überwältigt. Nicht umsonst ist gerade die Philosophie der antiken Stoiker wieder sehr im Kommen, inklusive Websites und Newslettern wie „Daily Stoic“.

Was hat denn eine über 2000 Jahre alte Denkrichtung zur Pandemie zu sagen?

Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, was man etwa auch aus der modernen Yogapraxis kennt: die eigenen Gefühle wahrnehmen und einordnen, ohne sich allzusehr mit ihnen zu identifizieren. Weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern. Diese Haltung hilft, Krisen zu bewältigen – nicht nur Corona.

„Liebe macht Kinder stark“

Gene oder Umwelt – diese Frage ist überholt, sagt die Bremer Neurobiologin, Psychologin und Autorin Nicole Strüber. In ihrem aktuellen Buch erklärt sie, wie ererbte Persönlichkeit und Beziehung zwischen Eltern und Kind sich ergänzen – und wie Mütter und Väter ausgleichen können, wenn der Start ins Leben nicht optimal war. Mein Interview mit ihr erschien in ELTERN 2/20

Alle Mütter und Väter wünschen sich, dass ihre Kinder später zu selbstbewussten, stabilen Menschen werden. Aber haben wir das als Eltern wirklich in der Hand – oder entscheiden darüber die Gene?

Nicole Strüber: Es gibt kein Entweder-Oder – das ist eine der wichtigsten, neueren Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. Früher hat man versucht, in Zwillingsstudien herauszufinden, was mehr zählt, Umwelt oder Erbgut. Das Ergebnis war mal unentschieden, mal ergab sich ein knapper Vorsprung für die Gene. Heute wissen wir: Beide Seiten stehen in einer Wechselwirkung.

Wie muss ich mir das vorstellen?

Unser Erbgut bestimmt nicht nur offensichtliche Merkmale wie Haar- oder Augenfarbe, sondern auch, wie Hormone und Botenstoffe in unserem Körper wirken, etwa Serotonin und Oxytocin. Also jene Stoffe, die dafür zuständig sind, ob wir freudig, traurig, ängstlich sind. Wie die Moleküle transportiert werden, wie sie abgebaut werden, das hat einen Einfluss darauf, ob ein Mensch zum Beispiel zu Depressionen oder Ängsten neigt, schnell überfordert ist, oder ob er eher die Ruhe weg hat. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.

Und die andere ist das Umfeld – in den ersten Jahren wir Eltern?

Genau. Wenn ein Kind behütet und in einer sicheren Bindung aufwächst, einen feinfühligen Umgang erlebt, dann können Eltern ungünstige Voraussetzungen ausgleichen. Es gibt nun mal Babys und Kleinkinder, die mehr Trost, Nähe, Hilfe bei der Stressregulation brauchen als andere. Wenn sie die bekommen, spielt sich auch ihr Hormonhaushalt auf einem guten Level ein. Ist ein Kind dagegen genetisch vorbelastet und wächst zusätzlich mit unsicheren Bindungen und wenig Zuwendung auf, hat das einen negativen Einfluss auf sein Stresssystem.

Was heißt das, Stresssystem?

Immer, wenn wir mit hohen Anforderungen konfrontiert sind, werden im menschlichen Körper Hormone ausgeschüttet, die uns leistungsbereit machen, etwa Cortisol und Noradrenalin. Das ist ganz normal, das passiert jeden Tag – eine höhere Cortisolausschüttung am Morgen hilft uns zum Beispiel, wach zu werden und aufmerksam zu sein. Aber wie sich dieses Stresssystem einspielt, ob es für inneres Gleichgewicht sorgt oder ständig auf Hochtouren fährt wie ein kaputter Thermostat, das ist individuell ganz unterschiedlich.

Und dafür ist schon die Babyzeit entscheidend?

Nein, diese Prägung beginnt sogar noch früher, schon ab dem zweiten Drittel der Schwangerschaft, im Zusammenspiel mit dem Hormonsystem der Mutter.  Ist sie ausgeglichen und nicht chronisch gestresst, ist das von Vorteil – hat sie dagegen schwere Belastungen zu ertragen, wirkt sich das meist ungünstig auf das Kind aus.

Da fragen sich jetzt alle Schwangeren: Schade ich meinem Kind, wenn ich in der 20. Woche mit der Chefin streite?

Nein, keine Sorge! Bei normalem Alltagsstress oder beispielsweise Leistungssport verhindert ein Enzym, dass das Cortisol der Mutter den kindlichen Kreislauf erreicht. Wobei es immer hilfreich ist, auf genügend Ruhepausen zu achten und das eigene Wohlbefinden. Problematisch wird es bei anhaltenden, schwerwiegenden Ereignissen – etwa dramatische Partnerschaftskonflikte, Trauer um nahe Angehörige, oder auch wenn die Mutter unter Angststörungen leidet. Dann wird dieses Enzym quasi abgeschaltet und das kindliche Gehirn mit Hormonen überflutet. Körpereigene Regelkreise können dann außer Kontrolle geraten.

Das wären schon zwei Einflussfaktoren auf das Gefühlsleben eines Kindes – Gene und Schwangerschaft. Spielt auch die Geburt eine Rolle?

Definitiv. Bei einer spontanen, natürlichen Geburt ohne Komplikationen werden die Botenstoffe von Mutter und Kind, also etwa Oxytocin und Opioide, so aufeinander eingestellt, dass das Kennenlernen für beide Seiten glücklich verläuft – die erste Bindung, der Stillstart. Wird die Geburt eingeleitet oder kommt es zu einem Kaiserschnitt – was ja medizinisch manchmal nicht vermeidbar ist! – , sind diese Prozesse unter Umständen noch nicht abgeschlossen. Eine von vielen möglichen Folgen: das Neugeborene kommt sehr unruhig auf die Welt, weil sein Oxytocin-System nicht optimal funktioniert. Denn das braucht es, um Stress abzubauen.

Aber wie eine Geburt verläuft oder ob wir in der Schwangerschaft schwere Sorgen haben, das haben wir ja nur bedingt in der Hand. Heißt das, solche Kinder werden auch später zwangsläufig seelisch instabiler?

Nein! Zum einen bringen sie wie gesagt ihre eigenen Anlagen mit, die sie unterschiedlich empfindlich machen. Zum anderen ist für Eltern wichtig, zu verstehen: Wenn ein Kind reizbarer auf die Welt kommt als andere, dann ist das nicht ihre Schuld, sondern ein Ergebnis von Prägungen und bisherigen Erfahrungen. Aber frühe Verletzungen können heilen, auch wenn es manchmal viel Geduld erfordert. Dazu braucht es nicht viel: Körperkontakt, Nähe, Verständnis, all das hat Einfluss auf das Cortisol- und Oxytocin-System. Bloß nicht ein Baby schreien lassen aus Angst, es zu verwöhnen!

Weil dann im Hirn was passiert?

Eins vorweg: Kinder brauchen keine perfekte Umgebung. Keine Mutter, kein Vater kann immerzu feinfühlig und geduldig sein, manchmal ist der Alltag belastend, das können Kinder gut verdauen, wenn die Basis stimmt. Gefährlich wird es für Kinder, die konstant zu wenig Fürsorge bekommen. Der biologische Hintergrund ist kompliziert – Gene, die für Oxytocin- oder Cortisol-Bindungsstellen im Körper zuständig sind, werden quasi abgeschaltet. Das sichtbare Ergebnis ist traurig: Die Kinder zeigen ähnliche Symptome wie nach einem Trauma und sind später oft emotional wie taub. Je älter ein Kind ist, desto schwieriger lässt sich das noch ändern. Deshalb ist es in den ersten Monaten und Jahren auch so wichtig, dass wir die Gefühle unserer Kinder wahrnehmen und mit unserem Gesichtsausdruck spiegeln. In Worte fassen, wenn sie wütend, traurig, fröhlich sind, damit sie verstehen, was mit ihnen los ist.

Bei der Lektüre Ihres neuen Buches fällt auf: Sie schreiben sehr viel mehr über die Mutter- als über die Vaterbeziehung. Ist das nicht etwas rückwärtsgewandt?

Nein, selbstverständlich können Väter sich nicht minder gut auf Kinder einlassen – auch wenn sie oft anders mit ihnen umgehen. Die Vaterbeziehung ist allerdings nicht so gut erforscht. Im besten Fall bekommt ein Kind durch mehrere nahestehende Menschen eine Bandbreite von guten Einflüssen mit. Wichtig ist aber, dass es eine primäre Bezugsperson gibt, bei der es sich vollkommen sicher fühlt – wenn es dazu noch weitere nahestehende Menschen gibt, Großeltern, Eltern, in einer klassischen Familie oder einer homosexuellen Partnerschaft, umso besser.

Und Erzieher in der Kita? Es wird ja noch wie vor gestritten, was Fremdbetreuung mit Kleinkindern macht.

Schwierige Frage. Man hat bei Kindern in Krippenbetreuung oder Tageseltern mit vielen zu betreuenden Kindern einen untypischen Verlauf der Cortisol-Kurve gefunden: Statt im Lauf des Tages abzufallen, stieg der Level des Stresshormons an. Dieser Effekt war stärker, je jünger die Kinder waren und je schlechter der Betreuungsschlüssel, außerdem abhängig vom Temperament des Kindes. Wie stark das langfristig prägt, das ist jedoch umstritten. Man kann nicht sagen: Krippenbetreuung führt zu Depressionen oder Aufmerksamkeitsproblemen, das wäre zu einfach. Aber man sollte im Auge behalten, wie das Leben sonst aussieht: Wenn ein Kleinkind nach fünf Stunden von gut gelaunten Eltern abgeholt wird, die sich mit ihm auf den Spielplatz setzen, ist das sicherlich vorteilhafter für sein Stresssystem, als wenn es nach acht Stunden auf überlastete Eltern trifft, die nach einem harten Arbeitstag noch den Haushalt wuppen müssen.

Was sich ja manchmal auch nicht vermeiden lässt…

Ja, ich sehe da nicht nur bei den Einzelnen eine Verantwortung, auch bei der Gesellschaft. Wir sollten endlich die Grabenkämpfe, die Schuldzuweisungen zwischen Raben- und Gluckeneltern hinter uns lassen und uns fragen: Wenn das Kitasystem so schlecht ausgestattet ist wie derzeit, wäre es dann nicht besser, den Familien den Vortritt zu lassen, die wirtschaftlich dringend auf frühe Betreuung angewiesen sind? Es gibt sicherlich viele, die es finanziell möglich machen könnten, ein Kind auch zwei, drei Jahre zu Hause zu betreuen. Und die es nicht tun, weil sie fürchten, dass sie ihm etwas vorenthalten oder als Helikoptermütter diffamiert werden.

Wir haben jetzt viel über die Wichtigkeit stabiler Bindungen geredet. Aber was ist mit Eltern, die fürchten, sie könnten keine gute Mutter, kein guter Vater sein? Weil sie selbst unter schwierigen Umständen aufgewachsen sind?

Kommt darauf an, wie schwierig genau! Für manche Eltern mit ungünstigen Erfahrungen reicht es völlig, wenn sie in einer Gruppe lernen, die Signale ihres Babys besser zu deuten. Nehmen Sie etwa Babymassage: Wenn man sich jeden Tag 20, 30 Minuten intensiv mit dem Kind beschäftigst, wird auch bei Vater oder Mutter Oxytocin freigesetzt. Das wiederum hilft, das Schreien eines unruhigen Kindes besser auszuhalten, nicht so schnell selbst nervös zu werden, wenn es länger dauert, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. So entstehen Engels- statt Teufelskreise. Der nächste Schritt wäre, sich Hilfe zu holen: durch die Hebamme, bei Erziehungsberatungsstellen. Solche Angebote anzunehmen, darf kein Stigma sein sondern eher ein Signal: Was du für dich tust, für deine eigene Kompetenz als Mutter oder Vater, das tust du für dein Kind! Und wenn auch das nicht reicht, hilft auch eine Psychotherapie, die eigenen emotionalen Kompetenzen zu stärken und dadurch einen neuen Zugang zu den eigenen Kindern zu bekommen.

Wenn wir also unseren Kindern einen guten Start geben und bei schwierigen Veranlagungen gegensteuern – was haben sie dann später davon?

Menschen, die einen guten Zugang zu ihren eigenen Emotionen haben, schaffen es später im Leben auch besser, mit schwierigen Situationen umzugehen, sich Hilfe zu holen, sich auf andere zu verlassen und Belastendes zu überwinden. Weil sie als Kinder gelernt haben: Ich darf traurig sein, ich kann mir Hilfe holen. Nicht nur bei gewöhnlichen Alltagsärgernissen, auch in traumatischen Situationen sind die körperlichen Systeme optimal aufeinander eingestellt, Hormone, Regelkreise, Hirnstrukturen.

Und das ist mit dem Modewort „Resilienz“ gemeint?

Ja, als resilient bezeichnen wir Menschen, die Krisen stabil überwinden, die es schaffen, Schicksalsschläge in ihrem Leben zu integrieren und nach vorne zu schauen. Wir können unsere Kinder ja nicht auf Dauer vor Frustration und Unglück bewahren – aber wir können sie stark machen, damit sie besser mit Widrigkeiten klarkommen. Und das ist eines der wertvollsten Geschenke, die wir ihnen mitgeben können.

Buchtipp: „Risiko Kindheit – die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern“ (Klett Cotta, 22 €) lautet der Titel von Nicole Strübers umfangreichem Wissenschafts-Schmöker – darin erläutert sie ausführlich und gut lesbar, wie das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt den Charakter formt und erklärt dabei ganz nebenbei nicht nur, was schief gehen kann, sondern genauso, was weiterhilft