„Krieg ist immer ein Backlash für die Sache der Frauen“

Aber ihre Rolle wird auch unterschätzt, sagt die Historikerin Hedwig Richter. Denn Frauen spielen eine Schlüsselrolle, wenn es um das Voranbringen der Demokratie geht – auch in der Ukraine. Für die BRIGITTE habe ich mit ihr gesprochen.

Seit Beginn von Putins Angriffen fühlt man sich oft wie um 100 Jahre zurückversetzt: Auf der einen Seite die männlichen Helden, die in Kiew kämpfen, während Mütter und Kinder verzweifelt fliehen – und in deutschen Talkshows sitzen Generäle. Ein gesellschaftlicher Backlash?

Hedwig Richter: Krieg und Gewalt sind entsetzlich und immer ein Rückschlag für den Feminismus, oft auf allen Seiten. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass wir Freiheit und Gleichheit auf Dauer nicht zurückdrehen werden. Wir sind nicht blind einem Schicksal ausgeliefert, sondern haben vieles selbst in der Hand.

Inwiefern?

Das wird beim Blick auf die Geschlechterordnung deutlich, die sich immer nur mit großen Mühen ändern lässt. Nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 bekamen Frauen das Wahlrecht, um das sie Jahrzehnte lang gekämpft hatten plus besseren Zugang zu Bildung und Berufsleben. Das war fortschrittlich. Die Nationalsozialisten sorgten für Rückkehr zu einer martialischen Männlichkeit, Frauen wurden aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Und nachdem sie im Krieg und in der direkten Nachkriegszeit fast alle Aufgaben der Männer selbst übernommen hatten, kamen die fünfziger Jahre mit ihrem Idealbild der Hausfrauenehe. Doch Stück um Stück ist die Offenheit unserer Gesellschaft gewachsen, die Demokratie hat an Stärke gewonnen. Putin greift genau diese Friedensordnung an: Freiheit, Gleichheit, Vielfalt. Und damit wächst auch das Bewusstsein, dass es sich lohnt, diese Werte zu verteidigen.

Notfalls auch gewaltsam? In der Ukraine kämpfen ja auch ein paar Frauen.

Eine Diskussion, die so alt ist wie der Feminismus selbst. Die eine Strömung sagt: Gleiche Rechte, gleiche Pflichten, also auch zur Waffe greifen wie die Männer. Die andere Strömung argumentiert: Frauen sind, aus welchen Gründen auch immer, die friedlicheren Menschen und brauchen deshalb mehr Macht, um auf unblutige Weise Lösungen zu finden. Ich habe selbst keine einfache Antwort auf diese Frage. Was man aber sagen kann: Frauen waren schon immer ein Motor friedlicher Transformation.

Woran machen Sie das fest?

Studien zeigen an vielen Beispielen: Wenn sich eine Gesellschaft demokratisiert, ist das nachhaltiger und dauerhafter, wenn es aus der Zivilgesellschaft kommt und nicht von einer kleinen Gruppe, die ihre Ziele gewaltsam durchsetzt. Und an friedlichen Übergängen sind immer mehr Frauen beteiligt als an gewaltsamen. Ihre Rolle wird immer unterschätzt, weil sie nicht so heroisch inszeniert und gewaltsam sind. Nehmen Sie die 68er-Bewegung – dominierend sind Bilder der Steine werfenden Männer, während die Frauen wenig glorios gesellschaftliche Veränderungen durchgesetzt haben, mehr Gleichheit, gewaltfreie Erziehung, Selbstbestimmungsrechte. Auch international ist demokratischer Wandel oft weiblich getrieben, etwa in Belarus oder in Afghanistan. Selbst wenn die Lage derzeit furchtbar ist, denke ich, auf Dauer wird sich das nicht unterdrücken lassen.

Was ist mit den Frauen auf der russischen Seite?

Ich bin keine Russlandexpertin. Aber auch hier sehen wir viele Frauen, die an den Protesten beteiligt sind. Autoritäre Regime wie in Syrien, Belarus und jetzt in Russland sind misogyn und homophob. Und sie schlagen mit voller Härte zu, weil sie wissen, dass ihre Stunde geschlagen hat. Weil die Demokratie, Menschenwürde für alle so attraktiv ist, geistig und materiell, hat sie eine große Anziehungskraft auf Bevölkerung in diesen Ländern. Vieles spricht dafür, dass sich diese Lebensweise am Ende durchsetzt. Und das werden wir ganz stark den Frauen zu verdanken haben.
Darf man sich angesichts des ganzen Leidens überhaupt so etwas wie Geschlechterfragen stellen? 

Unbedingt! Hier wird deutlich, dass unsere zivilen Reflexe funktionieren, und dass wir unsere Friedenslektion gelernt haben. Frauenrechte und Emanzipation, berühren den Kern demokratischer Werte: Freiheit und Gleichheit.

Sei kein Held

Bis zum 24. Februar 22 habe ich in einer Welt gelebt, in der Jungen weinen dürfen und pinke Tüllröcke tragen. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist das militärische Denken zurück, und als Mutter eines Sohnes frage ich mich: Kann Feigheit uns retten? Darüber habe ich für das Sinn-Ressort der ZEIT einen Text geschrieben, der in leichter redaktioneller Bearbeitung erschienen ist wie unten

Nun überschlagen sich die Ereignisse, dort wie hier. Wie ein Schneeball, der auf dem Weg den Hang hinab Fahrt aufnimmt, Volumen gewinnt und schließlich alles überrollt. In Kiew und Charkiw sind es die Menschen, ihr Leben, ihre Freiheitsrechte, die davon erstickt werden. In Berlin und Hamburg ersticken wir nur die Zweifel, das Unbehagen, die Widerrede. Von einem Tag auf den anderen befürworten wir mehrheitlich Milliardenpakete für die Bundeswehr, Waffenlieferungen, Unterstützung. Wir fühlen uns auf der richtigen, der gerechten Seite, und die Angst legt mir ihre kalten Finger in den Nacken. Was wird das für meinen Sohn bedeuten, nicht heute, aber vielleicht eines Tages, wenn das nur der Anfang einer neuen, unkontrollierbaren Kriegszeit ist? Was wäre schlimmer, demokratische Werte zu verlieren, Freiheit, Wohlstand – oder ein Kind? Was ist ein Leben wert? 

Darüber denke ich nach, eine Woche nach Putins Überfall, und schäme mich dafür. Ukrainische Eltern würde mit Handkuss meine theoretischen Überlegungen gegen ihre konkrete Angst tauschen. In Deutschland sitzen wir warm und trocken. Keiner, der uns auffordert, Molotowcocktails zu bauen und Schützengräben auszuheben. Dort kämpft nicht nur die Armee, auch männliche Zivilisten zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht mehr das Land verlassen, weil sie zur Verteidigung gebraucht werden. Ich kann verstehen, was sie treibt, ich bewundere ihren Mut. Und frage mich gleichzeitig: Hätte ich ein Sohn in Kiew oder Charkiw, würde ich ihm raten, sich einem übermächtigen Angreifer entgegenzustellen? Oder sagen: Renn weg, versteck dich, rette dich? Ich kann auf alles verzichten, Wohlstand, Freiheit, aber nicht auf dich? 

Mein Junge ist bald 14. Drei Jahre nach seiner Geburt hat Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr zur reinen Berufsarmee umgestaltet. Das war für mich ein Signal: Ob jemand bereit ist, den Kopf hinzuhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben, auch bereit sein, zu töten, das ist von nun an eine kühle Entscheidung. Keine staatsbürgerliche Pflicht mehr, der man sich nur aus Gründen der individuellen Moral entziehen kann. Doch nach dem Angriff auf die Ukraine hat es nur etwas mehr als 48 Stunden gedauert, bis die ersten Forderungen kamen, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Jedenfalls in Form einer allgemeinen Dienstpflicht, die auch zivile Bereiche umfasst. Fürsprecher sitzen nicht nur im Reservistenverband, auch der niedersächsische CDU-Chef Bernd Althusmann gehört dazu und der SPD-Sicherheitsexperte Wolfgang Hellmich. Drei Tage nach Kriegsbeginn fragte sich gar der Historiker Karl Schlögel im Talk bei Anne Will, warum junge Europäer nicht freiwillig an der Seite der Ukraine in den Kampf ziehen wie einst Hemingway in den Spanischen Bürgerkrieg. 

Wenn ich das höre, denke ich an meinen Sohn, wie er einen Volleyballaufschlag macht, Eintopf aus seinem „Herr der Ringe“-Kochbuch zubereitet, seinen Fischen im Aquarium Namen gibt, und mir wird schlecht. Er gehört zu einer Generation, die von der Krippe an gelernt hat, dass man Streit mit Worten regelt, nicht schlägt, nicht beißt, nicht haut. In der Jungen weinen dürfen, zärtlich sein und sogar pinke Tüllröcke anziehen. Gegner existieren nur auf dem Sportplatz, nach dem Match gibt man sich High Five. Sollen wir sie nun mit den Kindheitsidealen ihrer Großväter anfüttern, der Todesverachtung, der Tapferkeit, nur, weil es einer gerechten Sache dient? Ist nicht es nicht gerade dieses Männerbild, das in seiner extremen Form Wladimir Putin verkörpert, hart, herzlos, homophob? Wenn wir wieder militärisch denken, verlieren wir dann nicht zu viel von dem, was uns ausmacht – und geben damit denen recht, die alte Heldenbilder nicht vom Sockel stoßen, sondern als neue Rollenvorbilder aufstellen wollen?

In meiner Familie ist oft die Geschichte erzählt worden, wie meine Großmutter ihren Sohn davon abgehalten hat, den Helden zu spielen. Im Frühjahr 45 kam er eines Tages von der Schule nach Hause und erzählte, sie hätten mit der Panzerfaust geübt. Sie verließ mit ihm Hals über Kopf den Ort, damit er nicht aus dem Klassenzimmer heraus rekrutiert wurde. Sie stand auf der richtigen Seite der Geschichte, und sie wusste es. Der 15jährige, mein späterer Onkel, hätte für ein mörderisches Regime sterben können, das schon verloren hatte, dabei andere verletzen oder töten. Die Definition von Sinnlosigkeit. Der innere Widerspruch ist mir klar: Für ihn hat sie sich stark gemacht, für die Schwächeren nicht. Keine jüdische Familie versteckt, sich und ihre Nächsten nicht für andere in Gefahr gebracht. Warum sie nicht im Widerstand war, habe ich sie einmal gefragt. Was glaubst denn du?, hat sie gesagt, ich hatte drei Kinder. Das war vielleicht nur die halbe Wahrheit, aber wer wäre ich, ihr das vorzuwerfen? 

Alternativloser Pazifismus ist schön, bequem, aber auch denkfaul. An diesem Widerspruch arbeite ich mich ab. Ich will, dass meine Kinder frei wählen, frei lieben, frei denken dürfen, und ertrage gleichzeitig den Gedanken nicht, eines von beiden könnte sich dafür opfern. Dann wieder überlege ich: Was, wenn wir alle empfindsame Weicheier wären, weltweit? Wäre das nicht auf Dauer hilfreicher als eine neue Spirale von Verteidigungsbereitschaft, Gewalt, Eskalation? Es berührt mich, wenn russische Bekannte sich beschämt äußern über ihre autokratische Regierung. Wenn ich vom Komitee der Soldatenmütter in Moskau lese, einer Menschenrechtsorganisation, die sich bereits seit dem Afghanistan-Krieg vor 40 Jahren um Missstände in der russischen Armee kümmert. Eltern wenden sich an sie, die ihre Söhne vor der Einberufung schützen wollen. Die Vorsitzende Valentina Melnikowa hat am sechsten Tag des Ukrainekrieges eine Feuerpause gefordert, damit es zumindest einen Austausch von Toten und Gefangenen geben kann. „We share the same biology, regardless of ideology“, sang Sting 1984, in seinem Song „Russians“ – biologisch sind wir gleich, auch wenn wir unterschiedlich denken. Das war im Kalten Krieg, zu meiner eigenen Teenagerzeit. Wir sind alle auf gleiche Weise verletzlich und hängen an unserem kurzen und unbedeutenden Leben. Das zu wissen, könnte ein Anfang sein.