Ältere Semester

Früher riss man Witze über Soziologiestudent*innen im 40. Semester, heute gibt es immer mehr Erstis über 40. Was machen die da – und sollte man es nachmachen? Dieser Frage bin ich – selbst gerade wieder im Masterstudium – für das Academy-Ressort der Brigitte nachgegangen, im Frühjahr 2024

Der Tag, an dem die Zusage für ihren Studienplatz kam, hätte eigentlich ein Glückstag sein sollen. Aber dann packte Sukie Hofmann, 46, die Angst vor der eigenen Courage. „Ich dachte plötzlich: Was, wenn ich das nicht schaffe, das Lernen, die Prüfungen? Wenn ich Menschen enttäusche, die große Stücke auf mich halten – meine Tochter, meinen Mann?“ 

Dabei war sie ihrem Traumberuf Lehrerin gerade ein großes Stück näher gerückt, und hatte wirklich keinen Grund, an sich zu zweifeln. Bei allem, was sie in den letzten Jahren geleistet hatte, auch ganz ohne Fachausbildung. Als Quereinsteigerin hatte sie eine Vorbereitungsklasse mit ukrainischen Kindern in ihrem Heimatort Titisee-Neustadt geleitet, erst zusammen mit einer deutschen, dann einer ukrainischen Pädagogin, und dabei Feuer für den Job gefangen. Nachdem sie über Jahre vor allem für ihre Familie da gewesen war und die Buchhaltung für die Physio-Praxis ihres Mannes erledigte.

In der Schule hatten sie alle geschätzt, die Kolleg*innen, die Direktorin. Aber Learning by doing würde sie nicht weiterbringen, wenn sie mehr sein wollte als „POL“, „Person ohne Lehramtsausbildung“. Sie erzählt, dass ihr Mann sie schließlich zu einem Studium ermutigte, ganz klassisch in Vollzeit. Und zum Rollenwechsel: Jahrelang hatte sie ihm zu Hause den Rücken freigehalten, jetzt war er dran mit der Care-Arbeit. Zu ihrer eigenen Überraschung schaffte sie alle Hürden: eine externe Abiprüfung, die sie machen musste, weil ihr Fachabitur nicht ausreichte, die Aufnahmeprüfung an der PH Freiburg. Trotzdem wurde sie die Selbstzweifel so schnell nicht los, das ging so bis in die ersten Hochschul-Tage: „Zu viele Infos, zu viele Menschen, die meine Kinder sein könnten.“ Aber dann, beim ‚Kenn-die-Leute-Dinner‘ der Fachschaft, tauschte sie mit einer jungen Frau Nummern aus, die dieselbe Fächerkombi hatte, Kunst und Geschichte. Am Ende gründeten sie eine gemeinsame Lerngruppe. Und plötzlich fühlten sich Dinge viel leichter an. „Ich muss einfach einen Schritt nach dem anderen gehen. Das wird.“

Sukie Hofmann ist nicht allein – weder mit ihrer Nervosität und Euphorie, noch als älteres Semester unter Erstis. Immer mehr Menschen nehmen später ein Studium auf. In Vollzeit oder berufsbegleitend, zum ersten Mal oder als Update zu einem früheren Abschluss. Laut Statistischem Bundesamt waren im Wintersemester 2022/2023 190 000 Studierende über 37 Jahren an deutschen Hochschulen eingeschrieben, das entspricht 6,5 Prozent. Und fast jedes Jahr werden es mehr. Das sieht man, wenn man die Zahlen der Erstis zwischen 40 und 55 über mehrere Jahrzehnte vergleicht: Im Jahr 1994 wagten den Spätstart deutschlandweit 854, 2014 bereits mehr als sieben Mal so viele, nämlich 6425; 2019 lag die Zahl bei 6685, danach flacht die Kurve ab, möglicherweise Corona-bedingt. Zu den beliebtesten Studienfächern der Älteren gehören Psychologie, Informatik, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. 

MBA, „Executive Master of Business Administration“, dafür hat sich die Kölnerin Ina Lübke, 49, entschieden. Sie hat in den 1990er-Jahren ihr Jurastudium abgeschlossen und danach in der Musikindustrie gearbeitet, erst bei einem Mittelständler, Abteilung „Business and Legal Affairs“, dann in einem internationalen Konzern,– „aber es wurde immer mehr Business und immer weniger Legal“, erzählt die Mutter zweier Teenagerkinder. Nun war sie nicht mehr nur für die rechtliche Seite von Deals zuständig, sondern zunehmend auch für Zahlen, Prozess- und Business-Entwicklung, Changemanagement. Sie übernahm Führungsaufgaben. „Ich habe mir en passant eine Menge Wissen draufgeschafft, aber irgendwann hatte ich das Gefühl: Ich brauche ein theoretisches Fundament, wenn ich auf Augenhöhe mit den gut ausgebildeten Teammmitgliedern und Entscheidern sein will.“ 

Schließlich bot ihr Arbeitgeber an, die Kosten für ein berufsbegleitendes Wirtschafts-Studium an der privaten Hamburg Media School zu übernehmen, zwei Jahre bis zum Master-Abschluss. Ein bis zwei Mal im Monat reist sie nun zu den Präsenzveranstaltungen, ihren Job hat sie etwas reduziert: „Vollzeit, Familie plus Hausarbeiten und Prüfungen, das wäre dann doch zu viel geworden.“ Den Kontakt zu ihren halb so alten Mitstudierenden findet sie in erster Linie belebend: „Es gibt so viele Leute meines Alters, die sich auf den Standpunkt stellen: Wir haben Dinge schon immer so gemacht, warum sollten wir das ändern? Ich möchte lieber an die Jüngeren andocken, mir von ihnen etwas abschauen.“

Ganz schön anstrengend, aber auch ganz schön schlau, sagt Antje Gardyan aus Hamburg, die sich als Coach und Autorin auf Menschen in der Lebensmitte spezialisiert hat, Einzelpersonen und Unternehmen berät. „Um die 40 haben wir in der Regel zwei längere Phasen im Berufsleben hinter uns: Die Nachahmungsphase, in der wir lernen, wie unser Job funktioniert, und dann eine lange Phase des Ankommens, in der wir an Erfahrung und Routine gewinnen. Aber schließlich flacht die Lernkurve oft merklich ab – oder wird sogar negativ, weil man mit neuen Entwicklungen nicht mitwächst.“ Und man steht vor der Entscheidung: Ist mir das ruhigere Fahrwasser gerade recht, oder brauche ich einen Entwicklungsschub? Schließlich standen die Chancen noch nie so gut, bei guter Gesundheit alt zu werden und länger fit im Kopf zu sein. Was natürlich auch Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels zugute kommt.

Es gibt unterschiedliche Gründe für eine Kurskorrektur ab 40, sagt Antje Gardyan. Etwa, weil einem gar nichts anderes übrig bleibt, wenn man nach einer Scheidung oder einer Pleite plötzlich dringend einen Job mit besserer Perspektive braucht. Klar: Als kurzfristige Lösung ist ein Studium nicht geeignet. Denn es kostet erstmal eine Stange Geld, ehe es den eigenen Marktwert verbessert. Auch mit der staatlichen Unterstützung wird es schwieriger (siehe Kasten Seite x), und für ein Zweitstudium erheben einige Bundesländer sogar zusätzliche Gebühren. Aber es kann ein mittelfristiges Projekt werden, etwa berufsbegleitend. Anders gelagert ist es, wenn nicht äußere, sondern eher innere Motive die Entscheidung vorantreiben. Zum Beispiel die Lust am Wissen, der Spaß, am Ball zu bleiben, so wie es bei Ina Lübke anklingt. Oder weil Frauen nach vielen Jahren Care-Arbeit sagen: Jetzt bin ich mal dran. Wie Sukie Hofmann. 

Die größte Hürde für den Anfang: das Lernen neu lernen. Das Hirn braucht ein bisschen Zeit, um wieder auf Touren zu kommen. Zudem muss man einen Rhythmus finden zwischen Rückzug und Austausch und den Wechsel zwischen verschiedenen Lebenswelten üben. „Mein Mann hat mir anfangs schon mal abends um elf den Laptop weggenommen und gesagt, es reicht“, erzählt Sukie Hofmann lachend. „Und unsere 16-Jährige haut mir meine eigenen Sprüche um die Ohren: Mama, mach’ einen Lernplan, portionier’ dir den Stoff.“ 

Ina Lübke fiel vor allem das Umschalten zwischen Jobwelt und akademischer Welt schwer: „Du kommst aus dem Job mit einem Kopf voller Excel-Tabellen und sollst am nächsten Tag eine Klausur schreiben – und das mit der Hand!“ Auch sie kennt Versagensängste, dagegen hilft ihr der Gedanke: „Das Studium wäre ein Sahnehäubchen auf meinem Lebenslauf, aber ich brauche es auch nicht unbedingt.“

Auch Sukie Hofmann sagt: „Während die Jüngeren näher dran sind am Stoff, an den Fakten, habe ich den Eindruck, ich kann mir gut einen Überblick verschaffen, habe einen Blick für Zusammenhänge. Das ergänzt sich auch in meiner Lerngruppe.“ Sogar die Prüfungsangst, die ihr als Schülerin oft Noten verhagelt hat, hat sie jetzt besser im Griff: „Ich sage mir dann: Ich habe im Leben schon Schlimmeres hinter mich gebracht.“ 

Wer in der zweiten Lebenshälfte noch mal studieren will, hat verschiedene Möglichkeiten, sich zu informieren: im Netz, bei Infotagen; wer’s genauer wissen möchte, kann meist auch probehalber Veranstaltungen besuchen. Bei der Entscheidung können folgende Fragen helfen, sagt Antje Gardyan: „Werde ich in zehn Jahren bereuen, es nicht versucht zu haben? Was würde ich einer guten Freundin in meiner Situation raten? Wie kann ich Unterstützung aus meinem Umfeld organisieren?“ Auch ein Plan B gibt Sicherheit: „Falls ich es nicht durchziehe: War alles umsonst, oder bringt mich das neue Wissen trotzdem weiter in die neue Richtung, die mich reizt? Reicht auch ein niedrigerer Abschluss als der ursprünglich geplante?“

Manchmal wird erst auf dem Weg das konkrete Ziel so richtig deutlich – MBA-Studentin Ina Lübke weiß aber schon jetzt ziemlich genau, was sie will. Und was nicht. „Ich muss nicht unbedingt CEO werden“, sagt sie, „Aber ich möchte Erfahrung mit neuen Erkenntnissen zusammenbringen, zum Beispiel in punkto KI. Und ich glaube, ich kann auch ein gutes Role Model für jüngere Kommilitoninnen sein, weil die sehen: Familie, Job, Führungsposition, das geht, ohne ständig komplett gestresst zu sein. Außerdem macht es mir Mut, wie die jungen Frauen ihre Karriere und Familie planen und selbstverständlich davon ausgehen, dass sie sich mit ihren Partnern die Care-Arbeit gleichberechtigt teilen werden.“ Und Lehramts-Studentin Sukie Hofmann? Kennt ihr Ziel exakt – sie war ja schon fast da. „Wenn ich eine Motivationsspritze brauche, denke ich einfach daran, wie sehr ich es liebe, vor einer Klasse zu stehen.“ 

Hier geht’s zur Einschreibung: Infos rund um das Studium ü40

Wo kann ich mich informieren? Eine zentrale Informations- und Beratungsstelle stelle für ältere Studierende gibt es nicht, die Deutschen Studierendenwerke haben jedoch eine Übersicht über Beratungsangebote ins Netz gestellt, z.B. für Studierende mit Kindern (https://www.studierendenwerke.de/themen/beratungsangebote/beratungsangebote-im-hochschulkontext).

Gibt es spezielle Hochschulangebote für Ältere? Ja, aber eher Weiterbildungsangebote ohne Abschlussmöglichkeit („Kontaktstudium“), keine Studienangebote, die sich explizit an ältere Anfänger*innen richten. Einige Hochschulen betreiben allerdings eigene „Zentren für Weiterbildung“ (etwa Dresden, Hamburg oder Lüneburg), mit Master- und Aufbaustudiengängen in verschiedenen Disziplinen für Menschen mit Berufserfahrung. Über Studienangebote für Praktiker*innen ohne Abitur informiert dieses nichtkommerzielle Portal: https://studieren-ohne-abitur.de

Muss ich jetzt zurück an die Uni? Neben dem klassischen Präsenzstudium gibt es einige Möglichkeiten, berufsbegleitend zu studieren, entweder in einer Kombi aus Präsenzveranstaltungen plus Fernlernen oder komplett remote, in Online-Studiengänge an Fernhochschulen z.B. der Fernuni Hagen. Allerdings erheben diese Studiengebühren für den zusätzlichen Aufwand eines online-Studiums, die Fernuni Hagen gibt die Kosten für ein Masterstudium mit 700 bis 1800 Euro gesamt an.

Wer bezahlt das? Ersparnisse, Einkommen, Partner*in, bei berufsbegleitenden Studiengängen übernimmt die Studiengebühren oft auch der Arbeitgeber (meist gegen die Verpflichtung, innerhalb einer bestimmten Frist nicht den Job zu wechseln). Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit ist ein Studienkredit der kfw. Gute Übersicht auf dieser Seite: https://www.studis-online.de/studienfinanzierung/studieren-mit-30.php. Die Altersgrenze für BaföG-Ansprüche wurde 2022 auf 45 Jahre angehoben, allerdings ist die Höhe der Förderung an eigene Vermögensverhältnisse gekoppelt (https://www.bafoeg-rechner.de/FAQ/bafoeg-ueber-30.php), die günstige studentische Krankenversicherung endet in der Regel mit dem 30. Lebensjahr. Um ein Stipendium bewerben? Geht auch: Das staatliche „Aufstiegsstipendium“ ist nicht an eine Altesgrenze gebunden: https://www.sbb-stipendien.de/aufstiegsstipendium/kann-ich-mich-bewerben