Eine Staatsanwältin steigt aus

Anne Brorhilker ist das prägende Gesicht des Cum-Ex-Skandals, als Staatsanwältin in Köln kämpfte sie engagiert gegen Finanzkriminalität mit vermeintlich weißer Weste. Dann warf sie hin und ging zu einer kleinen NGO – sie findet, dort kann sie mehr bewirken. Eines ihrer ersten Interviews nach dem Wechsel gab sie mir für die BRIGITTE, es erschien im Juli 24

Als Anne Brorhilker 20 war, spielte sie Klavier und Querflöte und wollte Musikerin werden. Oder Musiklehrerin. Aber alle rieten ihr vom Lehramtstudium ab, zu viele Bewerber*innen, zu wenige Jobs. Gut, dann eben Jura, das analytische Denken lag ihr, besonders Strafrecht begeisterte sie. Mit einer Ausnahme: „Ich dachte: Bloß nichts mit Zahlen, mit Wirtschaft.“ Ein frühes Herzensprojekt, das sie prägte, war ihre Arbeit für die „Gnadenstelle“ in Köln. Fälle von Drogenkranken, die wiederholt gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen hatten, und sie konnte entscheiden: Musste der Staat dort wirklich mit voller Härte durchgreifen, Haftstrafen vollziehen? „Ich habe das gesammelte Elend der Stadt gesehen“, erinnert sie sich. 

Aber dann landete sie als Staatsanwältin ausgerechnet im Steuerrecht, Anweisung von oben. Also fuchste sie sich hinein. Und merkte: Da ist ganz eine Art von Täter*innen unterwegs, die ohne Not und kühl kalkuliert den Staat betrügen. „Das hat mein Verfolgungsinteresse erheblich getriggert“, sagt Anne Brorhilker. Sie sitzt auf einem grauen Ecksofa in ihrem Büro, die Ellenbogen lässig auf den Oberschenkeln abgestützt, die Augen wach hinter der schwarz gerahmten Brille. Gerade hat ein neues Kapitel in ihrem Leben begonnen.

Was Anne Brorhilker macht, das macht sie ganz. Von 2011 bis 2023 leitete sie die Ermittlungen im wohl größten Steuerskandal der bundesdeutschen Geschichte, Stichwort: Cum Ex. Banken, Finanzberater*innen und Einzelpersonen hatten sich über Jahre vom Finanzamt Steuern auf Aktiendeals doppelt wiedererstatten lassen, die sie nur einmal gezahlt hatten, verschleiert durch Kreisgeschäfte. 1700 Anklagen erhob die Staatsanwaltschaft, viele Prozesse laufen bis heute, um rund zehn Milliarden Euro soll der Staat so zwischen 2000 und 2020 betrogen worden sein. Der Schaden aus den damit verwandten Cum Cum-Geschäften war mutmaßlich sogar drei Mal so hoch.

Eine Mammutaufgabe – und dass die Chefermittlerin eine Frau war, machte sie nicht kleiner. Noch dazu in der traditionell geprägten Finanzbranche. „Ich bin eher klein, ich bin blond, da wird man umso schneller in eine Schublade gesteckt.“ Bei der Ermittlung in einer Bank schüttelte ein Geschäftsführer allen ihren vier männlichen Kollegen die Hand. Sie, die Vorgesetzte, ignorierte er. „Er hielt mich wahrscheinlich für die Assistentin. Dabei wäre es ja schon ein Gebot der Höflichkeit, auch die zu begrüßen.“ Bald lernte sie, solche Macho-Momente als Hebel zu nutzen. „Wenn Männer merken, dass eine Frau Macht hat, bringt das viele aus dem Konzept.“ Und während die Gegenseite noch mit ihrem Weltbild haderte, konnte Brorhilker schon Anweisungen zur Durchsuchung geben.

Sie ließ sich nicht einschüchtern. Aber da war auch etwas, das zunehmend an ihr nagte. „Mir wurde immer klarer, wie sehr ich in meiner Position auf politische Rückendeckung angewiesen bin. Und die kann keiner garantieren.“ Weil Landesregierungen und Wirtschaftsminister*innen wechseln. Und damit auch die Frage, welche Ressourcen Justiz, Polizei und Steuerfahndung haben. Immer wieder fühlte sie sich ausgebremst. Und so kam es zu einer radikalen Entscheidung: Vor ein paar Monaten hängte sie ihre Robe an den Nagel und ging als Co-Geschäftsführerin zum Berliner Verein „Finanzwende“, rund 30 Mitarbeitende, gegründet 2018 vom ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick. Er und seine Mitstreiter*innen wollen Aufklärung zu Finanzkriminalität leisten, die Justiz gegen die Finanzlobby stärken, politisch Druck machen. 

Der Wechsel von Goliath zu David, von der großen Justizbehörde zur kleinen NGO, schlug enorme Wellen. Alle großen Medien berichteten, und die Frau, die immer sehr im Hintergrund geblieben war, auch aufgrund ihrer dienstlichen Verschwiegenheitspflicht, konnte sich freier in der Öffentlichkeit äußern. 

Inhaltlich heißt der neue Job für Anne Brorhilker: agieren statt reagieren, nicht mehr hinter Straftätern aufräumen, sondern vor die Welle kommen. Persönlich heißt es: Verzicht auf den Beamtenstatus, Versorgungsansprüche, Altersbezüge. Weniger Gehalt. Warum diese krasse Kehrtwende? „Klar hätte ich auch als Rechtsanwältin zu einer Großkanzlei gehen können und deutlich mehr verdienen“, sagt sie. „Aber das würde meinen Werten widersprechen.“ Die wurden nicht zuletzt vom Elternhaus geprägt, der Vater Wirtschaftswissenschaftler, die Mutter Politikwissenschaftlerin: „Diskussionskultur und ein Gespür für soziale Gerechtigkeit, das habe ich zu Hause am Küchentisch gelernt.“

Ihr neues Arbeitsumfeld: Altbauräume mit knarzenden Dielen statt Behördenflure, im Regal mehr kapitalismuskritische Essays als Aktenordner. Am Tag unseres Gesprächs treffen sich 13 Leute zur Besprechung im Erdgeschoss, hinter dem Schaufenster eines ehemaligen Ladengeschäfts in Schöneberg. Top eins, eine Top-Secret-Recherche, Top zwei, eine geplante Kampagne. Die neuen Kolleg*innen sind eher der Typ: bunter Hoodie, Sneakers, violetter Nagellack. Geschlechtsunabhängig. Anne Brorhilker kommt in marineblauem Blazer und Stiefeletten. Es ist ihr vierter Arbeitstag, der Willkommensstrauß auf dem Schreibtisch noch frisch. Ein Kulturschock? „Nein, viele Arbeitsprozesse sind ähnlich, und auch in der Justizbehörde war ich mit den meisten per Du. Der größte Unterschied: In Behörden arbeiten auch Menschen, die dort einfach eingesetzt werden. Hier sind alle aus Überzeugung, das spürt man.“

Viele Erwartungen sind auf die Neue gerichtet, die Strahlkraft ihres Namens, die Expertise als Juristin. „Anne Brorhilkers berufliche Entscheidung verdient höchsten Respekt und ist eine Kampfansage an Finanzkriminelle und ihre Unterstützer“, so hat es Gründer Gerhard Schick formuliert. Dennoch wirkt es nicht, als wäre sie der Star der Runde. Konzentriert sitzt sie auf einem Eckplatz, wirbelt einen Kugelschreiber zwischen den schmalen Fingern, schreibt in ein blassgrünes Notizbuch. Hört viel zu, stellt präzise Fragen. Sie braucht keine Show, um zu wirken. Auch wenn sie von Teilen der Presse so gelabelt wurde: die egomane Oberstaatsanwältin, die Prozesse auf ihre Person zuschneidet. Was möglicherweise mehr über das Frauenbild der Kritiker*innen sagt als über sie selbst: „Wer führen will, muss auch Führung zeigen. Bei einem Mann wäre dasselbe Verhalten vermutlich als Durchsetzungsstärke gelobt worden“, sagt sie. 

Sie glaubt an den Rechtsstaat, trotz allem. Umso mehr ärgert es sie, wenn dieser Staat mit zweierlei Maß misst. „Bei Organisierter Kriminalität greift die Justiz selbstverständlich durch, etwa bei Clankriminalität oder Drogenhandel im großen Stil. Finanzkriminalität gehört in dieselbe Kategorie, und muss auch so behandelt werden.“ Die entgangenen Steuereinnahmen fehlen ja überall, von Kindergrundsicherung bis Klimaschutz. „Das ist sozialschädlich und demokratieschädlich.“ Doch bei der Verfolgung trifft eine zeitlich und personell überlastete Justiz auf smarte und finanzkräftige Gegner. „Bei einer Ermittlung gegen eine Bank standen wir zu fünft etwa 200 Anwält*innen gegenüber, mit Maßanzügen, Doktortitel, goldenen Visitenkarten. So etwas schüchtert ein, das soll es auch“, erzählt Anne Brorhilker.

Doch wenn das so ist, warum blieb der ganz große öffentliche Aufschrei dennoch aus? Sie hat zwei Erklärungen: Zum einen gelte Steuerbetrug vielen als Kavaliersdelikt, die Dimension werde unterschätzt. Zum anderen treibe die Finanzbranche geschickte PR: „Sie hat das Thema erfolgreich mit einer Aura der Komplexität umgeben: Du kleiner Nobody wirst das nie verstehen, überlass das den Expert*innen. Das verhindert unangenehme Fragen.“ Dabei könnte man Cum Ex und Co auch einfacher erklären. Man müsste nur wollen. 

Auch bei dieser Art von Aufklärung wird Anne Brorhilker wieder hundert Prozent geben. Der Finanzlobby und der Politik unangenehme Fragen stellen, mit Sachverstand aufmerksam machen, wenn Staat und Behörden bei Sozialbetrug hart durchgreifen und bei Finanzkriminalität bequeme Deals anbieten. Gut für die soziale Gerechtigkeit, für ihre Work-Life-Balance eher nicht. Klavier spielt sie immer noch gern, aber es steht noch in Köln, wo sie mit ihrem Mann lebtDerzeit pendelt sie. Aber immerhin: Nach Konzertterminen in Berlin, da hat sie schon mal Ausschau gehalten.

Ältere Semester

Früher riss man Witze über Soziologiestudent*innen im 40. Semester, heute gibt es immer mehr Erstis über 40. Was machen die da – und sollte man es nachmachen? Dieser Frage bin ich – selbst gerade wieder im Masterstudium – für das Academy-Ressort der Brigitte nachgegangen, im Frühjahr 2024

Der Tag, an dem die Zusage für ihren Studienplatz kam, hätte eigentlich ein Glückstag sein sollen. Aber dann packte Sukie Hofmann, 46, die Angst vor der eigenen Courage. „Ich dachte plötzlich: Was, wenn ich das nicht schaffe, das Lernen, die Prüfungen? Wenn ich Menschen enttäusche, die große Stücke auf mich halten – meine Tochter, meinen Mann?“ 

Dabei war sie ihrem Traumberuf Lehrerin gerade ein großes Stück näher gerückt, und hatte wirklich keinen Grund, an sich zu zweifeln. Bei allem, was sie in den letzten Jahren geleistet hatte, auch ganz ohne Fachausbildung. Als Quereinsteigerin hatte sie eine Vorbereitungsklasse mit ukrainischen Kindern in ihrem Heimatort Titisee-Neustadt geleitet, erst zusammen mit einer deutschen, dann einer ukrainischen Pädagogin, und dabei Feuer für den Job gefangen. Nachdem sie über Jahre vor allem für ihre Familie da gewesen war und die Buchhaltung für die Physio-Praxis ihres Mannes erledigte.

In der Schule hatten sie alle geschätzt, die Kolleg*innen, die Direktorin. Aber Learning by doing würde sie nicht weiterbringen, wenn sie mehr sein wollte als „POL“, „Person ohne Lehramtsausbildung“. Sie erzählt, dass ihr Mann sie schließlich zu einem Studium ermutigte, ganz klassisch in Vollzeit. Und zum Rollenwechsel: Jahrelang hatte sie ihm zu Hause den Rücken freigehalten, jetzt war er dran mit der Care-Arbeit. Zu ihrer eigenen Überraschung schaffte sie alle Hürden: eine externe Abiprüfung, die sie machen musste, weil ihr Fachabitur nicht ausreichte, die Aufnahmeprüfung an der PH Freiburg. Trotzdem wurde sie die Selbstzweifel so schnell nicht los, das ging so bis in die ersten Hochschul-Tage: „Zu viele Infos, zu viele Menschen, die meine Kinder sein könnten.“ Aber dann, beim ‚Kenn-die-Leute-Dinner‘ der Fachschaft, tauschte sie mit einer jungen Frau Nummern aus, die dieselbe Fächerkombi hatte, Kunst und Geschichte. Am Ende gründeten sie eine gemeinsame Lerngruppe. Und plötzlich fühlten sich Dinge viel leichter an. „Ich muss einfach einen Schritt nach dem anderen gehen. Das wird.“

Sukie Hofmann ist nicht allein – weder mit ihrer Nervosität und Euphorie, noch als älteres Semester unter Erstis. Immer mehr Menschen nehmen später ein Studium auf. In Vollzeit oder berufsbegleitend, zum ersten Mal oder als Update zu einem früheren Abschluss. Laut Statistischem Bundesamt waren im Wintersemester 2022/2023 190 000 Studierende über 37 Jahren an deutschen Hochschulen eingeschrieben, das entspricht 6,5 Prozent. Und fast jedes Jahr werden es mehr. Das sieht man, wenn man die Zahlen der Erstis zwischen 40 und 55 über mehrere Jahrzehnte vergleicht: Im Jahr 1994 wagten den Spätstart deutschlandweit 854, 2014 bereits mehr als sieben Mal so viele, nämlich 6425; 2019 lag die Zahl bei 6685, danach flacht die Kurve ab, möglicherweise Corona-bedingt. Zu den beliebtesten Studienfächern der Älteren gehören Psychologie, Informatik, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. 

MBA, „Executive Master of Business Administration“, dafür hat sich die Kölnerin Ina Lübke, 49, entschieden. Sie hat in den 1990er-Jahren ihr Jurastudium abgeschlossen und danach in der Musikindustrie gearbeitet, erst bei einem Mittelständler, Abteilung „Business and Legal Affairs“, dann in einem internationalen Konzern,– „aber es wurde immer mehr Business und immer weniger Legal“, erzählt die Mutter zweier Teenagerkinder. Nun war sie nicht mehr nur für die rechtliche Seite von Deals zuständig, sondern zunehmend auch für Zahlen, Prozess- und Business-Entwicklung, Changemanagement. Sie übernahm Führungsaufgaben. „Ich habe mir en passant eine Menge Wissen draufgeschafft, aber irgendwann hatte ich das Gefühl: Ich brauche ein theoretisches Fundament, wenn ich auf Augenhöhe mit den gut ausgebildeten Teammmitgliedern und Entscheidern sein will.“ 

Schließlich bot ihr Arbeitgeber an, die Kosten für ein berufsbegleitendes Wirtschafts-Studium an der privaten Hamburg Media School zu übernehmen, zwei Jahre bis zum Master-Abschluss. Ein bis zwei Mal im Monat reist sie nun zu den Präsenzveranstaltungen, ihren Job hat sie etwas reduziert: „Vollzeit, Familie plus Hausarbeiten und Prüfungen, das wäre dann doch zu viel geworden.“ Den Kontakt zu ihren halb so alten Mitstudierenden findet sie in erster Linie belebend: „Es gibt so viele Leute meines Alters, die sich auf den Standpunkt stellen: Wir haben Dinge schon immer so gemacht, warum sollten wir das ändern? Ich möchte lieber an die Jüngeren andocken, mir von ihnen etwas abschauen.“

Ganz schön anstrengend, aber auch ganz schön schlau, sagt Antje Gardyan aus Hamburg, die sich als Coach und Autorin auf Menschen in der Lebensmitte spezialisiert hat, Einzelpersonen und Unternehmen berät. „Um die 40 haben wir in der Regel zwei längere Phasen im Berufsleben hinter uns: Die Nachahmungsphase, in der wir lernen, wie unser Job funktioniert, und dann eine lange Phase des Ankommens, in der wir an Erfahrung und Routine gewinnen. Aber schließlich flacht die Lernkurve oft merklich ab – oder wird sogar negativ, weil man mit neuen Entwicklungen nicht mitwächst.“ Und man steht vor der Entscheidung: Ist mir das ruhigere Fahrwasser gerade recht, oder brauche ich einen Entwicklungsschub? Schließlich standen die Chancen noch nie so gut, bei guter Gesundheit alt zu werden und länger fit im Kopf zu sein. Was natürlich auch Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels zugute kommt.

Es gibt unterschiedliche Gründe für eine Kurskorrektur ab 40, sagt Antje Gardyan. Etwa, weil einem gar nichts anderes übrig bleibt, wenn man nach einer Scheidung oder einer Pleite plötzlich dringend einen Job mit besserer Perspektive braucht. Klar: Als kurzfristige Lösung ist ein Studium nicht geeignet. Denn es kostet erstmal eine Stange Geld, ehe es den eigenen Marktwert verbessert. Auch mit der staatlichen Unterstützung wird es schwieriger (siehe Kasten Seite x), und für ein Zweitstudium erheben einige Bundesländer sogar zusätzliche Gebühren. Aber es kann ein mittelfristiges Projekt werden, etwa berufsbegleitend. Anders gelagert ist es, wenn nicht äußere, sondern eher innere Motive die Entscheidung vorantreiben. Zum Beispiel die Lust am Wissen, der Spaß, am Ball zu bleiben, so wie es bei Ina Lübke anklingt. Oder weil Frauen nach vielen Jahren Care-Arbeit sagen: Jetzt bin ich mal dran. Wie Sukie Hofmann. 

Die größte Hürde für den Anfang: das Lernen neu lernen. Das Hirn braucht ein bisschen Zeit, um wieder auf Touren zu kommen. Zudem muss man einen Rhythmus finden zwischen Rückzug und Austausch und den Wechsel zwischen verschiedenen Lebenswelten üben. „Mein Mann hat mir anfangs schon mal abends um elf den Laptop weggenommen und gesagt, es reicht“, erzählt Sukie Hofmann lachend. „Und unsere 16-Jährige haut mir meine eigenen Sprüche um die Ohren: Mama, mach’ einen Lernplan, portionier’ dir den Stoff.“ 

Ina Lübke fiel vor allem das Umschalten zwischen Jobwelt und akademischer Welt schwer: „Du kommst aus dem Job mit einem Kopf voller Excel-Tabellen und sollst am nächsten Tag eine Klausur schreiben – und das mit der Hand!“ Auch sie kennt Versagensängste, dagegen hilft ihr der Gedanke: „Das Studium wäre ein Sahnehäubchen auf meinem Lebenslauf, aber ich brauche es auch nicht unbedingt.“

Auch Sukie Hofmann sagt: „Während die Jüngeren näher dran sind am Stoff, an den Fakten, habe ich den Eindruck, ich kann mir gut einen Überblick verschaffen, habe einen Blick für Zusammenhänge. Das ergänzt sich auch in meiner Lerngruppe.“ Sogar die Prüfungsangst, die ihr als Schülerin oft Noten verhagelt hat, hat sie jetzt besser im Griff: „Ich sage mir dann: Ich habe im Leben schon Schlimmeres hinter mich gebracht.“ 

Wer in der zweiten Lebenshälfte noch mal studieren will, hat verschiedene Möglichkeiten, sich zu informieren: im Netz, bei Infotagen; wer’s genauer wissen möchte, kann meist auch probehalber Veranstaltungen besuchen. Bei der Entscheidung können folgende Fragen helfen, sagt Antje Gardyan: „Werde ich in zehn Jahren bereuen, es nicht versucht zu haben? Was würde ich einer guten Freundin in meiner Situation raten? Wie kann ich Unterstützung aus meinem Umfeld organisieren?“ Auch ein Plan B gibt Sicherheit: „Falls ich es nicht durchziehe: War alles umsonst, oder bringt mich das neue Wissen trotzdem weiter in die neue Richtung, die mich reizt? Reicht auch ein niedrigerer Abschluss als der ursprünglich geplante?“

Manchmal wird erst auf dem Weg das konkrete Ziel so richtig deutlich – MBA-Studentin Ina Lübke weiß aber schon jetzt ziemlich genau, was sie will. Und was nicht. „Ich muss nicht unbedingt CEO werden“, sagt sie, „Aber ich möchte Erfahrung mit neuen Erkenntnissen zusammenbringen, zum Beispiel in punkto KI. Und ich glaube, ich kann auch ein gutes Role Model für jüngere Kommilitoninnen sein, weil die sehen: Familie, Job, Führungsposition, das geht, ohne ständig komplett gestresst zu sein. Außerdem macht es mir Mut, wie die jungen Frauen ihre Karriere und Familie planen und selbstverständlich davon ausgehen, dass sie sich mit ihren Partnern die Care-Arbeit gleichberechtigt teilen werden.“ Und Lehramts-Studentin Sukie Hofmann? Kennt ihr Ziel exakt – sie war ja schon fast da. „Wenn ich eine Motivationsspritze brauche, denke ich einfach daran, wie sehr ich es liebe, vor einer Klasse zu stehen.“ 

Hier geht’s zur Einschreibung: Infos rund um das Studium ü40

Wo kann ich mich informieren? Eine zentrale Informations- und Beratungsstelle stelle für ältere Studierende gibt es nicht, die Deutschen Studierendenwerke haben jedoch eine Übersicht über Beratungsangebote ins Netz gestellt, z.B. für Studierende mit Kindern (https://www.studierendenwerke.de/themen/beratungsangebote/beratungsangebote-im-hochschulkontext).

Gibt es spezielle Hochschulangebote für Ältere? Ja, aber eher Weiterbildungsangebote ohne Abschlussmöglichkeit („Kontaktstudium“), keine Studienangebote, die sich explizit an ältere Anfänger*innen richten. Einige Hochschulen betreiben allerdings eigene „Zentren für Weiterbildung“ (etwa Dresden, Hamburg oder Lüneburg), mit Master- und Aufbaustudiengängen in verschiedenen Disziplinen für Menschen mit Berufserfahrung. Über Studienangebote für Praktiker*innen ohne Abitur informiert dieses nichtkommerzielle Portal: https://studieren-ohne-abitur.de

Muss ich jetzt zurück an die Uni? Neben dem klassischen Präsenzstudium gibt es einige Möglichkeiten, berufsbegleitend zu studieren, entweder in einer Kombi aus Präsenzveranstaltungen plus Fernlernen oder komplett remote, in Online-Studiengänge an Fernhochschulen z.B. der Fernuni Hagen. Allerdings erheben diese Studiengebühren für den zusätzlichen Aufwand eines online-Studiums, die Fernuni Hagen gibt die Kosten für ein Masterstudium mit 700 bis 1800 Euro gesamt an.

Wer bezahlt das? Ersparnisse, Einkommen, Partner*in, bei berufsbegleitenden Studiengängen übernimmt die Studiengebühren oft auch der Arbeitgeber (meist gegen die Verpflichtung, innerhalb einer bestimmten Frist nicht den Job zu wechseln). Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit ist ein Studienkredit der kfw. Gute Übersicht auf dieser Seite: https://www.studis-online.de/studienfinanzierung/studieren-mit-30.php. Die Altersgrenze für BaföG-Ansprüche wurde 2022 auf 45 Jahre angehoben, allerdings ist die Höhe der Förderung an eigene Vermögensverhältnisse gekoppelt (https://www.bafoeg-rechner.de/FAQ/bafoeg-ueber-30.php), die günstige studentische Krankenversicherung endet in der Regel mit dem 30. Lebensjahr. Um ein Stipendium bewerben? Geht auch: Das staatliche „Aufstiegsstipendium“ ist nicht an eine Altesgrenze gebunden: https://www.sbb-stipendien.de/aufstiegsstipendium/kann-ich-mich-bewerben

Sprich mit ihr!

Baugerüst vorm Fenster, Bohrer im Mund oder Buchungsfehler beim Romantik-Trip: Ich komme ganz gut klar mit den Unannehmlichkeiten des Lebens. Solange mir jemand sagt, was da eigentlich los ist. Darüber habe ich in der Brigitte-Kolumnenreihe „Geht das nur mir so“ geschrieben – im Frühjahr 2024. Wie man auf dem Foto übrigens sieht: Seit Ende September ist alles wieder beim alten.

Vor ein paar Wochen, es war noch kalt draußen, stand morgens plötzlich ein Mann auf meinem Balkon im zweiten Stock. Das war nicht weiter verwunderlich. Schließlich hatten ein paar Tage zuvor Bauarbeiter ein Gerüst vor unserem Hamburger Mietshaus hochgezogen. Dass so eine Altbausanierung im laufenden Betrieb kein Spaß ist, das dachte ich mir. Im nächsten Augenblick ließ er eine dunkle Folie vor dem Gerüst herunter, die ungefähr die Hälfte des Morgenlichts und den ganzen Ausblick wegnahm. Ratsch, so, als wäre plötzlich ein schwerer Vorhang zugegangen. Das hatte mir keiner gesagt.

Ich öffnete die Balkontür und versuchte, mehr herauszufinden. Was wird das? Und wie lang dauert das? Der Mann hob bedauernd die Hände, er sprach kein Deutsch. Das war auch nicht sein Job, ich mache ihm da keinen Vorwurf. Sein Job war, die Folie am Gerüst zu befestigen und danach auch noch Balkontür und Fenster von außen abzukleben. Das machte er gründlich. Eine halbe Stunde später sah es aus, als hätte jemand zusätzlich zum dunklen Vorhang auch noch einen massiven, zehn Meter hohen Schrank vor meinen Balkon gerückt. 

Ich begann, nach der E-Mail vom Vermieter zu suchen. Da war doch was gekommen. „Renovierungsarbeiten, bitte die Balkons freiräumen, kann zu Beeinträchtigungen kommen“, so stand es darin. Nennt mich naiv, aber das hatte ich mir harmloser vorgestellt. Später, auf der Straße, begegnete ich dem Chef des Handwerkertrupps. Der erklärte mir, dass wir für die nächsten ein, zwei Wochen Fenster und Balkontüren zur Vorderseite nicht mehr öffnen könnten, wegen der Sandstrahlarbeiten. Laut werden würde es auch. Danach müsste das Mauerwerk erstmal trocknen. Dann…

Die nächsten Arbeitsschritte erspare ich Ihnen, ist ja auch todlangweilig. Wobei: Mich, meine Familie und alle meine Nachbar*innen hätte es schon interessiert. Hätte ich das vorher genauer gewusst, ich hätte vielleicht unseren Urlaub auf diese Zeit gelegt. Oder wenigstens einen Schreibtisch in einem Coworking-Space gebucht. Und selbst wenn nicht, würde es ja schon helfen, wenn man informiert würde: Okay, das wird jetzt ein bisschen wehtun, in zwei Wochen ist das Schlimmste vorbei. Von mir aus auch: Es dauert, wie lang, wissen nicht mal die Handwerker. Alles besser als so ein wortkarges Einfach-mal-machen-dann-mal-sehen. „Sprich mit ihr“ – der Name eines alten Pedro-Almodovar-Films ist mein Lieblings-Imperativ.

Denn Reden hilft gegen Frust, Unsicherheit, schlechte Gefühle aller Art. Alternativ auch mailen, whatsappen oder in Gottesnamen faxen, ich bin da nicht wählerisch. Dies gilt auch und gerade bei nicht so guten Nachrichten. Einer der wenigen Männer in meinem Leben, der das ganz gut raushat, ist mein Zahnarzt. Der erklärt mir immerhin detailliert Schritt für Schritt, was er macht, wenn er bohren oder Keramikfüllungen anpassen muss. Wahrscheinlich weiß er, dass Hilf- und Sprachlosigkeit gepaart mit Informationsmangel keine gute Kombi für Patient*innen sind. Vor allem, während er die Finger in ihrem Mund hat. 

Andere haben da ein bisschen Nachholbedarf. Es wäre zum Beispiel auch sehr schön, wenn der Steuerberater einen ein bisschen früher vorwarnen könnte, ehe man eine astronomische Nachzahlung vom Finanzamt hingebrettert bekommt. Oder wenn ein Hotel einem bei der Buchung darauf aufmerksam macht, dass der günstige Tarif für die Romantik-Reise zufällig nur für die lichtlosen, muffig riechenden Kellerzimmer gilt. Die auch noch getrennte Betten haben. Ich denke ungern daran, weil es sich um das Geburtstagsgeschenk für meinen Mann handelte. Bei der Buchung hätte man wohl noch was ändern können, aber ahnt ja keiner, dass die im Souterrain nicht nur ausgemusterte Stühle, sondern auch Gäste lagern. Nach Ankunft war da leider nichts mehr zu machen.

Während ich diese Zeilen schreibe, im Wohnzimmer, ist draußen der Frühling ausgebrochen. Das Baugerüst draußen steht noch immer, aber wenigstens hängt jetzt eine Art Gaze davor, die Licht durchlässt und auch einen, wenn auch unscharfen, Blick nach außen ermöglicht. Das ist eine deutliche Verbesserung. Sonst passiert nichts, man munkelt, der Maurer sei krank. Ich hoffe, es geht ihm bald besser. Ja, es stimmt, all das ist auch eine Lektion in radikaler Akzeptanz, in buddhistischer Gelassenheit, die mir noch keine Meditationsübung je gebracht hat. Trotzdem: Den nächsten Mann auf meinem Balkon spreche ich wieder an. Und sag dann Bescheid, wie’s war. 

„Sei du selbst. Und sei es kompromisslos.“

Es kostete die TV-Journalistin Georgine Kellermann über 60 Jahre und viel Kraft, bis sie öffentlich zu sich selbst stehen konnte, als trans Frau. Was macht es mit Menschen, wenn sie einen so wichtigen Teil ihrer Identität unterdrücken? Und kann man ein sinnvolles, erfülltes Leben führen, solange man nicht bei sich selbst angekommen ist? Dazu durfte ich sie im Sommer 24 für die ZEIT interviewen

Groß ist sie, das fällt als erstes ins Auge, wenn man ihr gegenübersteht. Unübersehbar, herausragend, eine Frau von fast eins neunzig. Dresscode: sommerlich-lässig, Streifenbluse, Riemchensandalen zum Jeansrock, korallenroter Lippenstift. Georgine Kellermann, Journalistin im Ruhestand und Debüt-Autorin, empfängt in einer lauschigen Remise, im zweiten Hinterhof eines Verlagsgebäudes in Berlin Mitte. 

Im Leben hat sie über 60 Jahre lang eine Rolle gespielt, als Mann, der sie nie war. Auch wenn sie in einem äußerlich männlichen Körper zur Welt kam: „Ich sage im Scherz: Der liebe Gott hat leider die falsche Verpackung für mich gewählt.“ Nun will sie davon erzählen, wie sie sich daraus befreit hat. Und was es in einem Menschen entfachen kann, wenn er endlich ganz bei sich ist. 

Frau Kellermann, in Ihrem Einleitungskapitel schreiben Sie sinngemäß: Dieses Buch ist für Menschen, die so sind wie ich, deren Geschlecht nicht mit ihren Körpermerkmalen übereinstimmt, und Menschen, die sich für sie interessieren. Aber auch für andere, die auf der Suche sind, einfach, weil ihr Lebensentwurf nicht den üblichen gesellschaftlichen Vorgaben entspricht. Kann man das wirklich vergleichen? 

Es ist dieselbe Haltung dahinter: „Sei du selbst. Und sei es kompromisslos“. Solange wir damit nicht andere in irgendeiner Form einschränken, sollten wir uns nicht gesellschaftlichen Vorgaben beugen, sondern der persönlichen Idee von uns selbst folgen. Wenn zum Beispiel ein Manager sagt: Ich hab die Nase voll von meiner Tätigkeit und werde jetzt Ranger im Naturpark, dann kommt das aus einem ähnlichen Druck: Irgend etwas ist nicht richtig in meinem Leben, es passt nicht zu dem, was ich im Inneren bin.

Aber die Not und die Angst vor gesellschaftlicher Ablehnung ist vermutlich größer, wenn ich als kleines Mädchen in einem männlich gelesenen Körper in den Spiegel schaue und sage: Das bin ich nicht, als wenn ich mich nur über bestimmte Rollenerwartungen hinwegsetze?

Heute ist das heute glücklicherweise einfacher, aber in meiner Sechziger-Jahre-Kindheit kannte niemand den Begriff trans. Mir war zwar klar, etwas ist anders bei mir, und die Klarheit wurde auch immer mehr, aber ich hatte keine Worte dafür. Und auch sonst niemand in meiner Familie. Wie hätten die es denn auch lernen sollen? Außerdem galt das ungeschriebene Gesetz: Was hier am Tisch besprochen wird, bleibt am Tisch. Mein Vater hätte sich ja nie einem Freund offenbart und gesagt: Ich glaube, eines meiner Kinder wird falsch gelesen, das ist kein Junge. 

Und Ihre Mutter?

Bei ihr war es anders, sie hat mein So-Sein nicht verstanden, aber auch nicht abgelehnt. Das hat einfach mit der Liebe zu ihren Kindern zu tun. Als sie mich als Kind einmal in Mädchenkleidern gesehen hat, war sie noch schockiert, später, als ich selbständiger war, hat es ihr nichts mehr ausgemacht, mich so zu nehmen, wie ich war. Sie hat mich immer um meine schönen Beine beneidet! Ich würde heute wirklich alles dafür geben, wenn meine Mutter das Buch lesen könnte. Dann würde sie viel besser verstehen, wie es mir ging.

Georgine Kellermann kann kontrolliert und sachlich über die Einsamkeiten ihrer Kindheit sprechen, die Verletzungen, das Unverstandensein. Geht es um ihre lang verstorbene Mutter, spürt man ihre Emotion, sie blickt zur Decke, braucht einen kurzen Moment. Es ist spürbar, wie sehr sie sich die Unterstützung, den Segen ihrer Eltern gewünscht hätte. Doch als die Mutter ihren vermeintlichen Sohn mit Mädchenkleidung erwischte, reagiert sie drastisch, aus Hilflosigkeit. „Sie verbrannte die Sachen, die ich getragen hatte, im Kohlenherd in der Küche. Ich stand daneben und sah zu, wie sie diese mit dem Stocheisen immer weiter ins Feuer drückte.“ Mit knapp 30, bei einem Restaurantbesuch, versuchte Kellermann sich ihrem Vater zu erklären, sagte ihm rundheraus: Ich bin eine Frau. Er tat es mit einer kurzen Bemerkung ab – dachte ich mir, deine Mutter macht immer solche Andeutungen –, ließ sich aber auf kein Gespräch ein. „Er aß einfach weiter und stellte keine Fragen.“

Man könnte sagen: Es ist Aufgabe von Eltern, ihre Kinder in ihrer Selbstfindung zu unterstützen, auch wenn diese nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wie konnten Sie Ihren Eltern diese Härte verzeihen, diese Verleugnung?

Ich blicke nicht im Groll zurück, mache niemandem Vorwürfe, ich glaube, ich hatte einfach zu hohe Erwartungen. Wenn ich heute in eine Schule gehe und sehe, wie offen junge Menschen mit dem Thema trans umgehen, denke ich schon: Das wäre ja schön gewesen, wenn ich das auch gehabt hätte. Aber dieses Hadern bringt nichts, ich möchte dieses Leidensspiel nicht spielen, nicht immer die Diskriminierung betonen. Jetzt, wo ich mich gefunden habe, möchte ich mindestens 90 werden, da liegt also hoffentlich noch viel Leben vor mir.

Hatten Sie denn überhaupt Menschen, bei denen Sie als junger Mensch Sie selbst sein konnten? Allys, wie man heute sagt?

Da gab es einige, meine Cousine Ute, zum Beispiel. Sie war bereit, mich so zu nehmen, wie ich bin, auch in weiblicher Kleidung. Ich besuchte sie oft im damals noch geteilten Berlin, die Stadt war ja schon immer so ein Ort, an dem man jenseits gesellschaftlicher Erwartungen sein und leben konnte. Und vielleicht gab es zwischen ihr und mir auch eine Art Solidarität zwischen Outlaws. Sie trug selbst ein schweres Geheimnis mit sich herum, ihr Vater war ein katholischer Priester, was aber niemand wissen durfte. Das verband uns.

Georgine Kellermann wurde erwachsen, steuerte mit Anfang 20 in einem Ferienjob mächtige Trucks in den USA, machte beim WDR Karriere, mit klangvollen Stationen: Paris, Washington. Ein Männerleben, mit männlichen Attributen, Pronomen, einem männlichen Namen, Georg. Äußerlich Traumjob, innerlich Schwerstarbeit. „Ich bin jeden Tag in diese Männerrolle geschlüpft, habe mir den Georg angezogen wie ein Arbeiter seinen Blaumann, als Arbeitskleidung.“ Es gab immer wieder kleine Inseln: Hier ein Fest, auf das sie in Frauenkleidung ging, da ein Urlaub. Trotzdem stieg der Druck immer mehr.

Der Psychologe Michael Slepian von der US-amerikanischen Columbia University hat einmal ein Experiment gemacht, in dem er die Teilnehmenden aufforderte, sich an ein belastendes, persönliches Geheimnis zu erinnern und danach die Steigung eines Hügels einschätzen. Je schwerer die Menschen subjektiv an ihren Geheimnissen trugen, desto höher war die Zahl. War Ihr Leben ein gefühlter Himalaja, obwohl Sie irgendwann wieder im sanften Rheinland lebten?
Ich glaube sogar, die Steigung nahm immer mehr zu. Es wurde immer schwerer, so zu tun, als wäre ich, wer ich nicht bin. Als ich mich zu Beginn meiner Karriere einmal gegenüber einem Mentor beim WDR öffnete, riet er mir, mich nicht zu outen – wir teilten die Sorge, dass ich dann nicht mehr vor der Kamera stehen kann. Dass ich nicht mehr tun kann, was ich liebe, wenn ich werde, wer ich bin. 

Würden Sie im Rückblick sagen, zu Recht?

Damals war das gesellschaftliche Umfeld nicht so, und da tut ein öffentlich-rechtlicher Sender gut daran, seine Mitarbeitenden zu schützen. Selbst Stars aus dem WDR-Kosmos, die schwul oder lesbisch waren, hielten das verborgen. Aber es tat mir nicht gut. Später bin ich auch mal in beruflichen Situationen unprofessionell geworden, bin ausgerastet, wo ich es nicht hätte tun dürfen, und ahnte: dahinter steckt meine ständige Verleugnung nach außen. 

Sie sind schließlich einen Deal mit sich selbst eingegangen…

Ja, ich hatte geplant, 2021 in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen und mich zu diesem Anlass zu offenbaren. Ich hatte mir schon ein wunderschönes schwarzes Kostüm gekauft und wollte das mit großem Knall machen. Aber dann, zwei Jahre zuvor, passierte etwas…

Sie haben schon einmal geschildert: Sie trafen zufällig eine Kollegin am Bahnhof, in Frauenkleidung, die sie fragte, ob Sie sich verkleidet hätten…

..und ich antwortete: Nein, ich bin eine Frau. Im Nachhinein war das wie das Umlegen eines Schalters. Ein Reflex. Zwei Minuten vorher wusste ich noch nicht, dass sich in wenigen Augenblicken mein Leben dramatisch zum Guten wenden würde.

Ihre Kollegin hat damals empathisch reagiert, von dem Tag an haben Sie auf allen Ebenen reinen Tisch gemacht, Social-Media-Accounts geändert, Mailadresse, am Ende offiziell den Personenstand. Wäre die Reaktion der Kollegin anders gewesen: Hätten Sie einen Rückzieher gemacht? 

Nein. Es wäre mir nicht egal gewesen, aber ich hätte auch keinen Schritt zurück gemacht. Dieser Moment hat am Ende so viele positive Lebensgeister bei mir geweckt, dass ich auf den vorzeitigen Ruhestand verzichtet habe. Ich konnte auf einmal viel besser journalistisch arbeiten, weil eine Aufgabe weggefallen war, die ständige Schauspielerei, die innerlich gewaltig Energie gezogen hat. Auf einmal war ich frei. Jetzt bin ich in Rente, aber es fühlt sich überhaupt nicht so an, weil ich so viel zu tun habe: das Buch schreiben, mich an Schulen für Aufklärungsarbeit für LGBTQ+ einsetzen…

Wenn Sie zurückblicken: Hat Ihnen die männliche Identität nicht auch Dinge ermöglicht, die für eine Frau Ihres Jahrgangs sonst nicht so leicht zu erreichen gewesen wäre?

Das ist eine ganz schön hypothetische Frage. Einiges hätte ich mir sicher schenken können, das vor allem dazu diente, mir meine Männlichkeit zu beweisen. Wobei auch meine Zeit als Truckfahrer eine tolle Erfahrung war. Wenn Sie einmal um zwei Uhr morgens  in einen „Truck Stop“ gehen und die verlorenen Seelen dort sehen, dann wissen Sie was ich meine.Aber ein anderer Lebenstraum, vom Reisen, vom Reporterinnendasein, der hat sich ja trotzdem erfüllt, der hat nichts zu tun mit meinem Geschlecht. Und mein Arbeitgeber hat Frauen schon seit den Neunziger Jahren gefördert. Ich bin aber nicht dankbar für das Arrangement, das ich dafür eingegangen bin, anders wäre es schöner gewesen. 

Lässt sich denn etwas nachholen von dem, was sie nicht hatten?

Ich kann endlich meine weibliche Seite leben, die Wärme, die Geborgenheit, die ich mit dem Begriff „Frau“ verbinde. Ich ziehe mich auch total gerne schön an und genieße, was ich jetzt alles darf, in aller Öffentlichkeit. Neulich wunderte sich eine Bekannte, dass ich bei kaltem Wetter in High Heels durch Hamburg lief: Immer du mit deinen Schühchen! Aber das ist mir ein tiefes Bedürfnis. Mannsein musste ich mir abschauen, in Filmen, bei meinem Vater, als Frau bin ich ganz bei mir. 

Sehen Sie heute, nach ihrem Coming-out, einen anderen Sinn in ihrem Leben? Hat sich das, was Sie als sinnstiftend empfinden, geändert?

Ich sehe keinen „anderen Sinn“ in meinem Leben. Aber spüre, dass sich der Sinn dramatisch erweitert hat. Viele schreiben mir, ich sei für sie ein Vorbild, ein Role Model. Das ist eine Verpflichtung für mich. Damit darf ich nicht verantwortungslos umgehen. 

Wie viele trans Menschen bekommen Sie viel Hass und Anfeindungen, gerade auf Social Media. Was gibt Ihnen die Kraft, darüber zu stehen?

Ich möchte die Leute dort nicht allein lassen, die mich unterstützt haben, und anders herum. Außerdem bin ich überzeugt, dass es mehr von den Guten gibt, sie äußern sich nur weniger, und die andere Seite ist lauter. Mir wird auch gesagt: meine Sichtbarkeit ist wichtig, mehr Menschen setzen sich mit dem Thema trans auseinander, in Schulen, in Unternehmen, das macht mir Hoffnung. Und wir haben jetzt ein neues Selbstbestimmungsgesetz, es ist nicht perfekt, aber der beste politische Kompromiss, den wir derzeit erreichen können.

Als einzige Partei wollte die AfD am veralteten Transsexuellengesetz von 1980 festhalten, und sie steht in Umfrageergebnissen in ostdeutschen Bundesländern bei über 30 Prozent. Haben Sie keine Angst, dass Sie in Zukunft noch einmal um Ihre Identität kämpfen müssen – bei der politischen Großwetterlage, dem Rechtsruck?

(denkt einen Moment nach) Doch. Ich bin nicht die einzige, die schon mal vorsichtshalber gegoogelt hat: Wo könnte man hin, wo sind die Lebensbedingungen gut für trans Menschen, wenn es Deutschland nicht mehr ist? Aber ich hoffe, es kommt nicht so. Backlashes hat es immer gegeben, die grundlegende Richtung stimmt.

Kommen wir zum Schluss nochmal auf die Frage zurück: Wie schaffe ich, zu mir zu stehen, die Angst vor der Reaktion der Menschen um mich herum zu überwinden? Weil meine geschlechtliche Identität nicht passt, aber vielleicht auch, weil ich mir eine andere Lebensweise wünsche, von einer anderen Tätigkeit träume…?

Sich selbst wichtig genug nehmen. Und sich Hilfe außerhalb der eigenen Blase zu holen. Wenn in der eigenen Familie keine Allys sind, vielleicht im Freundeskreis. Ja, es besteht immer die Gefahr, abgelehnt oder ausgelacht zu werden. Aber ein bisschen Mut muss man schon selbst mitbringen, das kann einem niemand abnehmen. Mein Bruder, zum Beispiel: Er hat als junger Mann eine kaufmännische Ausbildung gemacht und später auf Grafiker umgeschult. Da war was los in der Familie! Brotlose Kunst! Aber noch heute ist er glücklich mit seiner kreativen Tätigkeit, statt in einem Büro zu sitzen und sich unwohl zu fühlen. Gut, wie wir beide die Kurve gekriegt haben. Er auf seine, ich auf meine Weise.

Aktuelles Buch: „Georgine. Der lange Weg zu mir selbst. Meine Befreiung als trans* Frau nach über 60 Jahren“. Ullstein, 22,99 €