Eine Staatsanwältin steigt aus

Anne Brorhilker ist das prägende Gesicht des Cum-Ex-Skandals, als Staatsanwältin in Köln kämpfte sie engagiert gegen Finanzkriminalität mit vermeintlich weißer Weste. Dann warf sie hin und ging zu einer kleinen NGO – sie findet, dort kann sie mehr bewirken. Eines ihrer ersten Interviews nach dem Wechsel gab sie mir für die BRIGITTE, es erschien im Juli 24

Als Anne Brorhilker 20 war, spielte sie Klavier und Querflöte und wollte Musikerin werden. Oder Musiklehrerin. Aber alle rieten ihr vom Lehramtstudium ab, zu viele Bewerber*innen, zu wenige Jobs. Gut, dann eben Jura, das analytische Denken lag ihr, besonders Strafrecht begeisterte sie. Mit einer Ausnahme: „Ich dachte: Bloß nichts mit Zahlen, mit Wirtschaft.“ Ein frühes Herzensprojekt, das sie prägte, war ihre Arbeit für die „Gnadenstelle“ in Köln. Fälle von Drogenkranken, die wiederholt gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen hatten, und sie konnte entscheiden: Musste der Staat dort wirklich mit voller Härte durchgreifen, Haftstrafen vollziehen? „Ich habe das gesammelte Elend der Stadt gesehen“, erinnert sie sich. 

Aber dann landete sie als Staatsanwältin ausgerechnet im Steuerrecht, Anweisung von oben. Also fuchste sie sich hinein. Und merkte: Da ist ganz eine Art von Täter*innen unterwegs, die ohne Not und kühl kalkuliert den Staat betrügen. „Das hat mein Verfolgungsinteresse erheblich getriggert“, sagt Anne Brorhilker. Sie sitzt auf einem grauen Ecksofa in ihrem Büro, die Ellenbogen lässig auf den Oberschenkeln abgestützt, die Augen wach hinter der schwarz gerahmten Brille. Gerade hat ein neues Kapitel in ihrem Leben begonnen.

Was Anne Brorhilker macht, das macht sie ganz. Von 2011 bis 2023 leitete sie die Ermittlungen im wohl größten Steuerskandal der bundesdeutschen Geschichte, Stichwort: Cum Ex. Banken, Finanzberater*innen und Einzelpersonen hatten sich über Jahre vom Finanzamt Steuern auf Aktiendeals doppelt wiedererstatten lassen, die sie nur einmal gezahlt hatten, verschleiert durch Kreisgeschäfte. 1700 Anklagen erhob die Staatsanwaltschaft, viele Prozesse laufen bis heute, um rund zehn Milliarden Euro soll der Staat so zwischen 2000 und 2020 betrogen worden sein. Der Schaden aus den damit verwandten Cum Cum-Geschäften war mutmaßlich sogar drei Mal so hoch.

Eine Mammutaufgabe – und dass die Chefermittlerin eine Frau war, machte sie nicht kleiner. Noch dazu in der traditionell geprägten Finanzbranche. „Ich bin eher klein, ich bin blond, da wird man umso schneller in eine Schublade gesteckt.“ Bei der Ermittlung in einer Bank schüttelte ein Geschäftsführer allen ihren vier männlichen Kollegen die Hand. Sie, die Vorgesetzte, ignorierte er. „Er hielt mich wahrscheinlich für die Assistentin. Dabei wäre es ja schon ein Gebot der Höflichkeit, auch die zu begrüßen.“ Bald lernte sie, solche Macho-Momente als Hebel zu nutzen. „Wenn Männer merken, dass eine Frau Macht hat, bringt das viele aus dem Konzept.“ Und während die Gegenseite noch mit ihrem Weltbild haderte, konnte Brorhilker schon Anweisungen zur Durchsuchung geben.

Sie ließ sich nicht einschüchtern. Aber da war auch etwas, das zunehmend an ihr nagte. „Mir wurde immer klarer, wie sehr ich in meiner Position auf politische Rückendeckung angewiesen bin. Und die kann keiner garantieren.“ Weil Landesregierungen und Wirtschaftsminister*innen wechseln. Und damit auch die Frage, welche Ressourcen Justiz, Polizei und Steuerfahndung haben. Immer wieder fühlte sie sich ausgebremst. Und so kam es zu einer radikalen Entscheidung: Vor ein paar Monaten hängte sie ihre Robe an den Nagel und ging als Co-Geschäftsführerin zum Berliner Verein „Finanzwende“, rund 30 Mitarbeitende, gegründet 2018 vom ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick. Er und seine Mitstreiter*innen wollen Aufklärung zu Finanzkriminalität leisten, die Justiz gegen die Finanzlobby stärken, politisch Druck machen. 

Der Wechsel von Goliath zu David, von der großen Justizbehörde zur kleinen NGO, schlug enorme Wellen. Alle großen Medien berichteten, und die Frau, die immer sehr im Hintergrund geblieben war, auch aufgrund ihrer dienstlichen Verschwiegenheitspflicht, konnte sich freier in der Öffentlichkeit äußern. 

Inhaltlich heißt der neue Job für Anne Brorhilker: agieren statt reagieren, nicht mehr hinter Straftätern aufräumen, sondern vor die Welle kommen. Persönlich heißt es: Verzicht auf den Beamtenstatus, Versorgungsansprüche, Altersbezüge. Weniger Gehalt. Warum diese krasse Kehrtwende? „Klar hätte ich auch als Rechtsanwältin zu einer Großkanzlei gehen können und deutlich mehr verdienen“, sagt sie. „Aber das würde meinen Werten widersprechen.“ Die wurden nicht zuletzt vom Elternhaus geprägt, der Vater Wirtschaftswissenschaftler, die Mutter Politikwissenschaftlerin: „Diskussionskultur und ein Gespür für soziale Gerechtigkeit, das habe ich zu Hause am Küchentisch gelernt.“

Ihr neues Arbeitsumfeld: Altbauräume mit knarzenden Dielen statt Behördenflure, im Regal mehr kapitalismuskritische Essays als Aktenordner. Am Tag unseres Gesprächs treffen sich 13 Leute zur Besprechung im Erdgeschoss, hinter dem Schaufenster eines ehemaligen Ladengeschäfts in Schöneberg. Top eins, eine Top-Secret-Recherche, Top zwei, eine geplante Kampagne. Die neuen Kolleg*innen sind eher der Typ: bunter Hoodie, Sneakers, violetter Nagellack. Geschlechtsunabhängig. Anne Brorhilker kommt in marineblauem Blazer und Stiefeletten. Es ist ihr vierter Arbeitstag, der Willkommensstrauß auf dem Schreibtisch noch frisch. Ein Kulturschock? „Nein, viele Arbeitsprozesse sind ähnlich, und auch in der Justizbehörde war ich mit den meisten per Du. Der größte Unterschied: In Behörden arbeiten auch Menschen, die dort einfach eingesetzt werden. Hier sind alle aus Überzeugung, das spürt man.“

Viele Erwartungen sind auf die Neue gerichtet, die Strahlkraft ihres Namens, die Expertise als Juristin. „Anne Brorhilkers berufliche Entscheidung verdient höchsten Respekt und ist eine Kampfansage an Finanzkriminelle und ihre Unterstützer“, so hat es Gründer Gerhard Schick formuliert. Dennoch wirkt es nicht, als wäre sie der Star der Runde. Konzentriert sitzt sie auf einem Eckplatz, wirbelt einen Kugelschreiber zwischen den schmalen Fingern, schreibt in ein blassgrünes Notizbuch. Hört viel zu, stellt präzise Fragen. Sie braucht keine Show, um zu wirken. Auch wenn sie von Teilen der Presse so gelabelt wurde: die egomane Oberstaatsanwältin, die Prozesse auf ihre Person zuschneidet. Was möglicherweise mehr über das Frauenbild der Kritiker*innen sagt als über sie selbst: „Wer führen will, muss auch Führung zeigen. Bei einem Mann wäre dasselbe Verhalten vermutlich als Durchsetzungsstärke gelobt worden“, sagt sie. 

Sie glaubt an den Rechtsstaat, trotz allem. Umso mehr ärgert es sie, wenn dieser Staat mit zweierlei Maß misst. „Bei Organisierter Kriminalität greift die Justiz selbstverständlich durch, etwa bei Clankriminalität oder Drogenhandel im großen Stil. Finanzkriminalität gehört in dieselbe Kategorie, und muss auch so behandelt werden.“ Die entgangenen Steuereinnahmen fehlen ja überall, von Kindergrundsicherung bis Klimaschutz. „Das ist sozialschädlich und demokratieschädlich.“ Doch bei der Verfolgung trifft eine zeitlich und personell überlastete Justiz auf smarte und finanzkräftige Gegner. „Bei einer Ermittlung gegen eine Bank standen wir zu fünft etwa 200 Anwält*innen gegenüber, mit Maßanzügen, Doktortitel, goldenen Visitenkarten. So etwas schüchtert ein, das soll es auch“, erzählt Anne Brorhilker.

Doch wenn das so ist, warum blieb der ganz große öffentliche Aufschrei dennoch aus? Sie hat zwei Erklärungen: Zum einen gelte Steuerbetrug vielen als Kavaliersdelikt, die Dimension werde unterschätzt. Zum anderen treibe die Finanzbranche geschickte PR: „Sie hat das Thema erfolgreich mit einer Aura der Komplexität umgeben: Du kleiner Nobody wirst das nie verstehen, überlass das den Expert*innen. Das verhindert unangenehme Fragen.“ Dabei könnte man Cum Ex und Co auch einfacher erklären. Man müsste nur wollen. 

Auch bei dieser Art von Aufklärung wird Anne Brorhilker wieder hundert Prozent geben. Der Finanzlobby und der Politik unangenehme Fragen stellen, mit Sachverstand aufmerksam machen, wenn Staat und Behörden bei Sozialbetrug hart durchgreifen und bei Finanzkriminalität bequeme Deals anbieten. Gut für die soziale Gerechtigkeit, für ihre Work-Life-Balance eher nicht. Klavier spielt sie immer noch gern, aber es steht noch in Köln, wo sie mit ihrem Mann lebtDerzeit pendelt sie. Aber immerhin: Nach Konzertterminen in Berlin, da hat sie schon mal Ausschau gehalten.

Ältere Semester

Früher riss man Witze über Soziologiestudent*innen im 40. Semester, heute gibt es immer mehr Erstis über 40. Was machen die da – und sollte man es nachmachen? Dieser Frage bin ich – selbst gerade wieder im Masterstudium – für das Academy-Ressort der Brigitte nachgegangen, im Frühjahr 2024

Der Tag, an dem die Zusage für ihren Studienplatz kam, hätte eigentlich ein Glückstag sein sollen. Aber dann packte Sukie Hofmann, 46, die Angst vor der eigenen Courage. „Ich dachte plötzlich: Was, wenn ich das nicht schaffe, das Lernen, die Prüfungen? Wenn ich Menschen enttäusche, die große Stücke auf mich halten – meine Tochter, meinen Mann?“ 

Dabei war sie ihrem Traumberuf Lehrerin gerade ein großes Stück näher gerückt, und hatte wirklich keinen Grund, an sich zu zweifeln. Bei allem, was sie in den letzten Jahren geleistet hatte, auch ganz ohne Fachausbildung. Als Quereinsteigerin hatte sie eine Vorbereitungsklasse mit ukrainischen Kindern in ihrem Heimatort Titisee-Neustadt geleitet, erst zusammen mit einer deutschen, dann einer ukrainischen Pädagogin, und dabei Feuer für den Job gefangen. Nachdem sie über Jahre vor allem für ihre Familie da gewesen war und die Buchhaltung für die Physio-Praxis ihres Mannes erledigte.

In der Schule hatten sie alle geschätzt, die Kolleg*innen, die Direktorin. Aber Learning by doing würde sie nicht weiterbringen, wenn sie mehr sein wollte als „POL“, „Person ohne Lehramtsausbildung“. Sie erzählt, dass ihr Mann sie schließlich zu einem Studium ermutigte, ganz klassisch in Vollzeit. Und zum Rollenwechsel: Jahrelang hatte sie ihm zu Hause den Rücken freigehalten, jetzt war er dran mit der Care-Arbeit. Zu ihrer eigenen Überraschung schaffte sie alle Hürden: eine externe Abiprüfung, die sie machen musste, weil ihr Fachabitur nicht ausreichte, die Aufnahmeprüfung an der PH Freiburg. Trotzdem wurde sie die Selbstzweifel so schnell nicht los, das ging so bis in die ersten Hochschul-Tage: „Zu viele Infos, zu viele Menschen, die meine Kinder sein könnten.“ Aber dann, beim ‚Kenn-die-Leute-Dinner‘ der Fachschaft, tauschte sie mit einer jungen Frau Nummern aus, die dieselbe Fächerkombi hatte, Kunst und Geschichte. Am Ende gründeten sie eine gemeinsame Lerngruppe. Und plötzlich fühlten sich Dinge viel leichter an. „Ich muss einfach einen Schritt nach dem anderen gehen. Das wird.“

Sukie Hofmann ist nicht allein – weder mit ihrer Nervosität und Euphorie, noch als älteres Semester unter Erstis. Immer mehr Menschen nehmen später ein Studium auf. In Vollzeit oder berufsbegleitend, zum ersten Mal oder als Update zu einem früheren Abschluss. Laut Statistischem Bundesamt waren im Wintersemester 2022/2023 190 000 Studierende über 37 Jahren an deutschen Hochschulen eingeschrieben, das entspricht 6,5 Prozent. Und fast jedes Jahr werden es mehr. Das sieht man, wenn man die Zahlen der Erstis zwischen 40 und 55 über mehrere Jahrzehnte vergleicht: Im Jahr 1994 wagten den Spätstart deutschlandweit 854, 2014 bereits mehr als sieben Mal so viele, nämlich 6425; 2019 lag die Zahl bei 6685, danach flacht die Kurve ab, möglicherweise Corona-bedingt. Zu den beliebtesten Studienfächern der Älteren gehören Psychologie, Informatik, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. 

MBA, „Executive Master of Business Administration“, dafür hat sich die Kölnerin Ina Lübke, 49, entschieden. Sie hat in den 1990er-Jahren ihr Jurastudium abgeschlossen und danach in der Musikindustrie gearbeitet, erst bei einem Mittelständler, Abteilung „Business and Legal Affairs“, dann in einem internationalen Konzern,– „aber es wurde immer mehr Business und immer weniger Legal“, erzählt die Mutter zweier Teenagerkinder. Nun war sie nicht mehr nur für die rechtliche Seite von Deals zuständig, sondern zunehmend auch für Zahlen, Prozess- und Business-Entwicklung, Changemanagement. Sie übernahm Führungsaufgaben. „Ich habe mir en passant eine Menge Wissen draufgeschafft, aber irgendwann hatte ich das Gefühl: Ich brauche ein theoretisches Fundament, wenn ich auf Augenhöhe mit den gut ausgebildeten Teammmitgliedern und Entscheidern sein will.“ 

Schließlich bot ihr Arbeitgeber an, die Kosten für ein berufsbegleitendes Wirtschafts-Studium an der privaten Hamburg Media School zu übernehmen, zwei Jahre bis zum Master-Abschluss. Ein bis zwei Mal im Monat reist sie nun zu den Präsenzveranstaltungen, ihren Job hat sie etwas reduziert: „Vollzeit, Familie plus Hausarbeiten und Prüfungen, das wäre dann doch zu viel geworden.“ Den Kontakt zu ihren halb so alten Mitstudierenden findet sie in erster Linie belebend: „Es gibt so viele Leute meines Alters, die sich auf den Standpunkt stellen: Wir haben Dinge schon immer so gemacht, warum sollten wir das ändern? Ich möchte lieber an die Jüngeren andocken, mir von ihnen etwas abschauen.“

Ganz schön anstrengend, aber auch ganz schön schlau, sagt Antje Gardyan aus Hamburg, die sich als Coach und Autorin auf Menschen in der Lebensmitte spezialisiert hat, Einzelpersonen und Unternehmen berät. „Um die 40 haben wir in der Regel zwei längere Phasen im Berufsleben hinter uns: Die Nachahmungsphase, in der wir lernen, wie unser Job funktioniert, und dann eine lange Phase des Ankommens, in der wir an Erfahrung und Routine gewinnen. Aber schließlich flacht die Lernkurve oft merklich ab – oder wird sogar negativ, weil man mit neuen Entwicklungen nicht mitwächst.“ Und man steht vor der Entscheidung: Ist mir das ruhigere Fahrwasser gerade recht, oder brauche ich einen Entwicklungsschub? Schließlich standen die Chancen noch nie so gut, bei guter Gesundheit alt zu werden und länger fit im Kopf zu sein. Was natürlich auch Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels zugute kommt.

Es gibt unterschiedliche Gründe für eine Kurskorrektur ab 40, sagt Antje Gardyan. Etwa, weil einem gar nichts anderes übrig bleibt, wenn man nach einer Scheidung oder einer Pleite plötzlich dringend einen Job mit besserer Perspektive braucht. Klar: Als kurzfristige Lösung ist ein Studium nicht geeignet. Denn es kostet erstmal eine Stange Geld, ehe es den eigenen Marktwert verbessert. Auch mit der staatlichen Unterstützung wird es schwieriger (siehe Kasten Seite x), und für ein Zweitstudium erheben einige Bundesländer sogar zusätzliche Gebühren. Aber es kann ein mittelfristiges Projekt werden, etwa berufsbegleitend. Anders gelagert ist es, wenn nicht äußere, sondern eher innere Motive die Entscheidung vorantreiben. Zum Beispiel die Lust am Wissen, der Spaß, am Ball zu bleiben, so wie es bei Ina Lübke anklingt. Oder weil Frauen nach vielen Jahren Care-Arbeit sagen: Jetzt bin ich mal dran. Wie Sukie Hofmann. 

Die größte Hürde für den Anfang: das Lernen neu lernen. Das Hirn braucht ein bisschen Zeit, um wieder auf Touren zu kommen. Zudem muss man einen Rhythmus finden zwischen Rückzug und Austausch und den Wechsel zwischen verschiedenen Lebenswelten üben. „Mein Mann hat mir anfangs schon mal abends um elf den Laptop weggenommen und gesagt, es reicht“, erzählt Sukie Hofmann lachend. „Und unsere 16-Jährige haut mir meine eigenen Sprüche um die Ohren: Mama, mach’ einen Lernplan, portionier’ dir den Stoff.“ 

Ina Lübke fiel vor allem das Umschalten zwischen Jobwelt und akademischer Welt schwer: „Du kommst aus dem Job mit einem Kopf voller Excel-Tabellen und sollst am nächsten Tag eine Klausur schreiben – und das mit der Hand!“ Auch sie kennt Versagensängste, dagegen hilft ihr der Gedanke: „Das Studium wäre ein Sahnehäubchen auf meinem Lebenslauf, aber ich brauche es auch nicht unbedingt.“

Auch Sukie Hofmann sagt: „Während die Jüngeren näher dran sind am Stoff, an den Fakten, habe ich den Eindruck, ich kann mir gut einen Überblick verschaffen, habe einen Blick für Zusammenhänge. Das ergänzt sich auch in meiner Lerngruppe.“ Sogar die Prüfungsangst, die ihr als Schülerin oft Noten verhagelt hat, hat sie jetzt besser im Griff: „Ich sage mir dann: Ich habe im Leben schon Schlimmeres hinter mich gebracht.“ 

Wer in der zweiten Lebenshälfte noch mal studieren will, hat verschiedene Möglichkeiten, sich zu informieren: im Netz, bei Infotagen; wer’s genauer wissen möchte, kann meist auch probehalber Veranstaltungen besuchen. Bei der Entscheidung können folgende Fragen helfen, sagt Antje Gardyan: „Werde ich in zehn Jahren bereuen, es nicht versucht zu haben? Was würde ich einer guten Freundin in meiner Situation raten? Wie kann ich Unterstützung aus meinem Umfeld organisieren?“ Auch ein Plan B gibt Sicherheit: „Falls ich es nicht durchziehe: War alles umsonst, oder bringt mich das neue Wissen trotzdem weiter in die neue Richtung, die mich reizt? Reicht auch ein niedrigerer Abschluss als der ursprünglich geplante?“

Manchmal wird erst auf dem Weg das konkrete Ziel so richtig deutlich – MBA-Studentin Ina Lübke weiß aber schon jetzt ziemlich genau, was sie will. Und was nicht. „Ich muss nicht unbedingt CEO werden“, sagt sie, „Aber ich möchte Erfahrung mit neuen Erkenntnissen zusammenbringen, zum Beispiel in punkto KI. Und ich glaube, ich kann auch ein gutes Role Model für jüngere Kommilitoninnen sein, weil die sehen: Familie, Job, Führungsposition, das geht, ohne ständig komplett gestresst zu sein. Außerdem macht es mir Mut, wie die jungen Frauen ihre Karriere und Familie planen und selbstverständlich davon ausgehen, dass sie sich mit ihren Partnern die Care-Arbeit gleichberechtigt teilen werden.“ Und Lehramts-Studentin Sukie Hofmann? Kennt ihr Ziel exakt – sie war ja schon fast da. „Wenn ich eine Motivationsspritze brauche, denke ich einfach daran, wie sehr ich es liebe, vor einer Klasse zu stehen.“ 

Hier geht’s zur Einschreibung: Infos rund um das Studium ü40

Wo kann ich mich informieren? Eine zentrale Informations- und Beratungsstelle stelle für ältere Studierende gibt es nicht, die Deutschen Studierendenwerke haben jedoch eine Übersicht über Beratungsangebote ins Netz gestellt, z.B. für Studierende mit Kindern (https://www.studierendenwerke.de/themen/beratungsangebote/beratungsangebote-im-hochschulkontext).

Gibt es spezielle Hochschulangebote für Ältere? Ja, aber eher Weiterbildungsangebote ohne Abschlussmöglichkeit („Kontaktstudium“), keine Studienangebote, die sich explizit an ältere Anfänger*innen richten. Einige Hochschulen betreiben allerdings eigene „Zentren für Weiterbildung“ (etwa Dresden, Hamburg oder Lüneburg), mit Master- und Aufbaustudiengängen in verschiedenen Disziplinen für Menschen mit Berufserfahrung. Über Studienangebote für Praktiker*innen ohne Abitur informiert dieses nichtkommerzielle Portal: https://studieren-ohne-abitur.de

Muss ich jetzt zurück an die Uni? Neben dem klassischen Präsenzstudium gibt es einige Möglichkeiten, berufsbegleitend zu studieren, entweder in einer Kombi aus Präsenzveranstaltungen plus Fernlernen oder komplett remote, in Online-Studiengänge an Fernhochschulen z.B. der Fernuni Hagen. Allerdings erheben diese Studiengebühren für den zusätzlichen Aufwand eines online-Studiums, die Fernuni Hagen gibt die Kosten für ein Masterstudium mit 700 bis 1800 Euro gesamt an.

Wer bezahlt das? Ersparnisse, Einkommen, Partner*in, bei berufsbegleitenden Studiengängen übernimmt die Studiengebühren oft auch der Arbeitgeber (meist gegen die Verpflichtung, innerhalb einer bestimmten Frist nicht den Job zu wechseln). Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit ist ein Studienkredit der kfw. Gute Übersicht auf dieser Seite: https://www.studis-online.de/studienfinanzierung/studieren-mit-30.php. Die Altersgrenze für BaföG-Ansprüche wurde 2022 auf 45 Jahre angehoben, allerdings ist die Höhe der Förderung an eigene Vermögensverhältnisse gekoppelt (https://www.bafoeg-rechner.de/FAQ/bafoeg-ueber-30.php), die günstige studentische Krankenversicherung endet in der Regel mit dem 30. Lebensjahr. Um ein Stipendium bewerben? Geht auch: Das staatliche „Aufstiegsstipendium“ ist nicht an eine Altesgrenze gebunden: https://www.sbb-stipendien.de/aufstiegsstipendium/kann-ich-mich-bewerben

Sprich mit ihr!

Baugerüst vorm Fenster, Bohrer im Mund oder Buchungsfehler beim Romantik-Trip: Ich komme ganz gut klar mit den Unannehmlichkeiten des Lebens. Solange mir jemand sagt, was da eigentlich los ist. Darüber habe ich in der Brigitte-Kolumnenreihe „Geht das nur mir so“ geschrieben – im Frühjahr 2024. Wie man auf dem Foto übrigens sieht: Seit Ende September ist alles wieder beim alten.

Vor ein paar Wochen, es war noch kalt draußen, stand morgens plötzlich ein Mann auf meinem Balkon im zweiten Stock. Das war nicht weiter verwunderlich. Schließlich hatten ein paar Tage zuvor Bauarbeiter ein Gerüst vor unserem Hamburger Mietshaus hochgezogen. Dass so eine Altbausanierung im laufenden Betrieb kein Spaß ist, das dachte ich mir. Im nächsten Augenblick ließ er eine dunkle Folie vor dem Gerüst herunter, die ungefähr die Hälfte des Morgenlichts und den ganzen Ausblick wegnahm. Ratsch, so, als wäre plötzlich ein schwerer Vorhang zugegangen. Das hatte mir keiner gesagt.

Ich öffnete die Balkontür und versuchte, mehr herauszufinden. Was wird das? Und wie lang dauert das? Der Mann hob bedauernd die Hände, er sprach kein Deutsch. Das war auch nicht sein Job, ich mache ihm da keinen Vorwurf. Sein Job war, die Folie am Gerüst zu befestigen und danach auch noch Balkontür und Fenster von außen abzukleben. Das machte er gründlich. Eine halbe Stunde später sah es aus, als hätte jemand zusätzlich zum dunklen Vorhang auch noch einen massiven, zehn Meter hohen Schrank vor meinen Balkon gerückt. 

Ich begann, nach der E-Mail vom Vermieter zu suchen. Da war doch was gekommen. „Renovierungsarbeiten, bitte die Balkons freiräumen, kann zu Beeinträchtigungen kommen“, so stand es darin. Nennt mich naiv, aber das hatte ich mir harmloser vorgestellt. Später, auf der Straße, begegnete ich dem Chef des Handwerkertrupps. Der erklärte mir, dass wir für die nächsten ein, zwei Wochen Fenster und Balkontüren zur Vorderseite nicht mehr öffnen könnten, wegen der Sandstrahlarbeiten. Laut werden würde es auch. Danach müsste das Mauerwerk erstmal trocknen. Dann…

Die nächsten Arbeitsschritte erspare ich Ihnen, ist ja auch todlangweilig. Wobei: Mich, meine Familie und alle meine Nachbar*innen hätte es schon interessiert. Hätte ich das vorher genauer gewusst, ich hätte vielleicht unseren Urlaub auf diese Zeit gelegt. Oder wenigstens einen Schreibtisch in einem Coworking-Space gebucht. Und selbst wenn nicht, würde es ja schon helfen, wenn man informiert würde: Okay, das wird jetzt ein bisschen wehtun, in zwei Wochen ist das Schlimmste vorbei. Von mir aus auch: Es dauert, wie lang, wissen nicht mal die Handwerker. Alles besser als so ein wortkarges Einfach-mal-machen-dann-mal-sehen. „Sprich mit ihr“ – der Name eines alten Pedro-Almodovar-Films ist mein Lieblings-Imperativ.

Denn Reden hilft gegen Frust, Unsicherheit, schlechte Gefühle aller Art. Alternativ auch mailen, whatsappen oder in Gottesnamen faxen, ich bin da nicht wählerisch. Dies gilt auch und gerade bei nicht so guten Nachrichten. Einer der wenigen Männer in meinem Leben, der das ganz gut raushat, ist mein Zahnarzt. Der erklärt mir immerhin detailliert Schritt für Schritt, was er macht, wenn er bohren oder Keramikfüllungen anpassen muss. Wahrscheinlich weiß er, dass Hilf- und Sprachlosigkeit gepaart mit Informationsmangel keine gute Kombi für Patient*innen sind. Vor allem, während er die Finger in ihrem Mund hat. 

Andere haben da ein bisschen Nachholbedarf. Es wäre zum Beispiel auch sehr schön, wenn der Steuerberater einen ein bisschen früher vorwarnen könnte, ehe man eine astronomische Nachzahlung vom Finanzamt hingebrettert bekommt. Oder wenn ein Hotel einem bei der Buchung darauf aufmerksam macht, dass der günstige Tarif für die Romantik-Reise zufällig nur für die lichtlosen, muffig riechenden Kellerzimmer gilt. Die auch noch getrennte Betten haben. Ich denke ungern daran, weil es sich um das Geburtstagsgeschenk für meinen Mann handelte. Bei der Buchung hätte man wohl noch was ändern können, aber ahnt ja keiner, dass die im Souterrain nicht nur ausgemusterte Stühle, sondern auch Gäste lagern. Nach Ankunft war da leider nichts mehr zu machen.

Während ich diese Zeilen schreibe, im Wohnzimmer, ist draußen der Frühling ausgebrochen. Das Baugerüst draußen steht noch immer, aber wenigstens hängt jetzt eine Art Gaze davor, die Licht durchlässt und auch einen, wenn auch unscharfen, Blick nach außen ermöglicht. Das ist eine deutliche Verbesserung. Sonst passiert nichts, man munkelt, der Maurer sei krank. Ich hoffe, es geht ihm bald besser. Ja, es stimmt, all das ist auch eine Lektion in radikaler Akzeptanz, in buddhistischer Gelassenheit, die mir noch keine Meditationsübung je gebracht hat. Trotzdem: Den nächsten Mann auf meinem Balkon spreche ich wieder an. Und sag dann Bescheid, wie’s war. 

„Sei du selbst. Und sei es kompromisslos.“

Es kostete die TV-Journalistin Georgine Kellermann über 60 Jahre und viel Kraft, bis sie öffentlich zu sich selbst stehen konnte, als trans Frau. Was macht es mit Menschen, wenn sie einen so wichtigen Teil ihrer Identität unterdrücken? Und kann man ein sinnvolles, erfülltes Leben führen, solange man nicht bei sich selbst angekommen ist? Dazu durfte ich sie im Sommer 24 für die ZEIT interviewen

Groß ist sie, das fällt als erstes ins Auge, wenn man ihr gegenübersteht. Unübersehbar, herausragend, eine Frau von fast eins neunzig. Dresscode: sommerlich-lässig, Streifenbluse, Riemchensandalen zum Jeansrock, korallenroter Lippenstift. Georgine Kellermann, Journalistin im Ruhestand und Debüt-Autorin, empfängt in einer lauschigen Remise, im zweiten Hinterhof eines Verlagsgebäudes in Berlin Mitte. 

Im Leben hat sie über 60 Jahre lang eine Rolle gespielt, als Mann, der sie nie war. Auch wenn sie in einem äußerlich männlichen Körper zur Welt kam: „Ich sage im Scherz: Der liebe Gott hat leider die falsche Verpackung für mich gewählt.“ Nun will sie davon erzählen, wie sie sich daraus befreit hat. Und was es in einem Menschen entfachen kann, wenn er endlich ganz bei sich ist. 

Frau Kellermann, in Ihrem Einleitungskapitel schreiben Sie sinngemäß: Dieses Buch ist für Menschen, die so sind wie ich, deren Geschlecht nicht mit ihren Körpermerkmalen übereinstimmt, und Menschen, die sich für sie interessieren. Aber auch für andere, die auf der Suche sind, einfach, weil ihr Lebensentwurf nicht den üblichen gesellschaftlichen Vorgaben entspricht. Kann man das wirklich vergleichen? 

Es ist dieselbe Haltung dahinter: „Sei du selbst. Und sei es kompromisslos“. Solange wir damit nicht andere in irgendeiner Form einschränken, sollten wir uns nicht gesellschaftlichen Vorgaben beugen, sondern der persönlichen Idee von uns selbst folgen. Wenn zum Beispiel ein Manager sagt: Ich hab die Nase voll von meiner Tätigkeit und werde jetzt Ranger im Naturpark, dann kommt das aus einem ähnlichen Druck: Irgend etwas ist nicht richtig in meinem Leben, es passt nicht zu dem, was ich im Inneren bin.

Aber die Not und die Angst vor gesellschaftlicher Ablehnung ist vermutlich größer, wenn ich als kleines Mädchen in einem männlich gelesenen Körper in den Spiegel schaue und sage: Das bin ich nicht, als wenn ich mich nur über bestimmte Rollenerwartungen hinwegsetze?

Heute ist das heute glücklicherweise einfacher, aber in meiner Sechziger-Jahre-Kindheit kannte niemand den Begriff trans. Mir war zwar klar, etwas ist anders bei mir, und die Klarheit wurde auch immer mehr, aber ich hatte keine Worte dafür. Und auch sonst niemand in meiner Familie. Wie hätten die es denn auch lernen sollen? Außerdem galt das ungeschriebene Gesetz: Was hier am Tisch besprochen wird, bleibt am Tisch. Mein Vater hätte sich ja nie einem Freund offenbart und gesagt: Ich glaube, eines meiner Kinder wird falsch gelesen, das ist kein Junge. 

Und Ihre Mutter?

Bei ihr war es anders, sie hat mein So-Sein nicht verstanden, aber auch nicht abgelehnt. Das hat einfach mit der Liebe zu ihren Kindern zu tun. Als sie mich als Kind einmal in Mädchenkleidern gesehen hat, war sie noch schockiert, später, als ich selbständiger war, hat es ihr nichts mehr ausgemacht, mich so zu nehmen, wie ich war. Sie hat mich immer um meine schönen Beine beneidet! Ich würde heute wirklich alles dafür geben, wenn meine Mutter das Buch lesen könnte. Dann würde sie viel besser verstehen, wie es mir ging.

Georgine Kellermann kann kontrolliert und sachlich über die Einsamkeiten ihrer Kindheit sprechen, die Verletzungen, das Unverstandensein. Geht es um ihre lang verstorbene Mutter, spürt man ihre Emotion, sie blickt zur Decke, braucht einen kurzen Moment. Es ist spürbar, wie sehr sie sich die Unterstützung, den Segen ihrer Eltern gewünscht hätte. Doch als die Mutter ihren vermeintlichen Sohn mit Mädchenkleidung erwischte, reagiert sie drastisch, aus Hilflosigkeit. „Sie verbrannte die Sachen, die ich getragen hatte, im Kohlenherd in der Küche. Ich stand daneben und sah zu, wie sie diese mit dem Stocheisen immer weiter ins Feuer drückte.“ Mit knapp 30, bei einem Restaurantbesuch, versuchte Kellermann sich ihrem Vater zu erklären, sagte ihm rundheraus: Ich bin eine Frau. Er tat es mit einer kurzen Bemerkung ab – dachte ich mir, deine Mutter macht immer solche Andeutungen –, ließ sich aber auf kein Gespräch ein. „Er aß einfach weiter und stellte keine Fragen.“

Man könnte sagen: Es ist Aufgabe von Eltern, ihre Kinder in ihrer Selbstfindung zu unterstützen, auch wenn diese nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wie konnten Sie Ihren Eltern diese Härte verzeihen, diese Verleugnung?

Ich blicke nicht im Groll zurück, mache niemandem Vorwürfe, ich glaube, ich hatte einfach zu hohe Erwartungen. Wenn ich heute in eine Schule gehe und sehe, wie offen junge Menschen mit dem Thema trans umgehen, denke ich schon: Das wäre ja schön gewesen, wenn ich das auch gehabt hätte. Aber dieses Hadern bringt nichts, ich möchte dieses Leidensspiel nicht spielen, nicht immer die Diskriminierung betonen. Jetzt, wo ich mich gefunden habe, möchte ich mindestens 90 werden, da liegt also hoffentlich noch viel Leben vor mir.

Hatten Sie denn überhaupt Menschen, bei denen Sie als junger Mensch Sie selbst sein konnten? Allys, wie man heute sagt?

Da gab es einige, meine Cousine Ute, zum Beispiel. Sie war bereit, mich so zu nehmen, wie ich bin, auch in weiblicher Kleidung. Ich besuchte sie oft im damals noch geteilten Berlin, die Stadt war ja schon immer so ein Ort, an dem man jenseits gesellschaftlicher Erwartungen sein und leben konnte. Und vielleicht gab es zwischen ihr und mir auch eine Art Solidarität zwischen Outlaws. Sie trug selbst ein schweres Geheimnis mit sich herum, ihr Vater war ein katholischer Priester, was aber niemand wissen durfte. Das verband uns.

Georgine Kellermann wurde erwachsen, steuerte mit Anfang 20 in einem Ferienjob mächtige Trucks in den USA, machte beim WDR Karriere, mit klangvollen Stationen: Paris, Washington. Ein Männerleben, mit männlichen Attributen, Pronomen, einem männlichen Namen, Georg. Äußerlich Traumjob, innerlich Schwerstarbeit. „Ich bin jeden Tag in diese Männerrolle geschlüpft, habe mir den Georg angezogen wie ein Arbeiter seinen Blaumann, als Arbeitskleidung.“ Es gab immer wieder kleine Inseln: Hier ein Fest, auf das sie in Frauenkleidung ging, da ein Urlaub. Trotzdem stieg der Druck immer mehr.

Der Psychologe Michael Slepian von der US-amerikanischen Columbia University hat einmal ein Experiment gemacht, in dem er die Teilnehmenden aufforderte, sich an ein belastendes, persönliches Geheimnis zu erinnern und danach die Steigung eines Hügels einschätzen. Je schwerer die Menschen subjektiv an ihren Geheimnissen trugen, desto höher war die Zahl. War Ihr Leben ein gefühlter Himalaja, obwohl Sie irgendwann wieder im sanften Rheinland lebten?
Ich glaube sogar, die Steigung nahm immer mehr zu. Es wurde immer schwerer, so zu tun, als wäre ich, wer ich nicht bin. Als ich mich zu Beginn meiner Karriere einmal gegenüber einem Mentor beim WDR öffnete, riet er mir, mich nicht zu outen – wir teilten die Sorge, dass ich dann nicht mehr vor der Kamera stehen kann. Dass ich nicht mehr tun kann, was ich liebe, wenn ich werde, wer ich bin. 

Würden Sie im Rückblick sagen, zu Recht?

Damals war das gesellschaftliche Umfeld nicht so, und da tut ein öffentlich-rechtlicher Sender gut daran, seine Mitarbeitenden zu schützen. Selbst Stars aus dem WDR-Kosmos, die schwul oder lesbisch waren, hielten das verborgen. Aber es tat mir nicht gut. Später bin ich auch mal in beruflichen Situationen unprofessionell geworden, bin ausgerastet, wo ich es nicht hätte tun dürfen, und ahnte: dahinter steckt meine ständige Verleugnung nach außen. 

Sie sind schließlich einen Deal mit sich selbst eingegangen…

Ja, ich hatte geplant, 2021 in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen und mich zu diesem Anlass zu offenbaren. Ich hatte mir schon ein wunderschönes schwarzes Kostüm gekauft und wollte das mit großem Knall machen. Aber dann, zwei Jahre zuvor, passierte etwas…

Sie haben schon einmal geschildert: Sie trafen zufällig eine Kollegin am Bahnhof, in Frauenkleidung, die sie fragte, ob Sie sich verkleidet hätten…

..und ich antwortete: Nein, ich bin eine Frau. Im Nachhinein war das wie das Umlegen eines Schalters. Ein Reflex. Zwei Minuten vorher wusste ich noch nicht, dass sich in wenigen Augenblicken mein Leben dramatisch zum Guten wenden würde.

Ihre Kollegin hat damals empathisch reagiert, von dem Tag an haben Sie auf allen Ebenen reinen Tisch gemacht, Social-Media-Accounts geändert, Mailadresse, am Ende offiziell den Personenstand. Wäre die Reaktion der Kollegin anders gewesen: Hätten Sie einen Rückzieher gemacht? 

Nein. Es wäre mir nicht egal gewesen, aber ich hätte auch keinen Schritt zurück gemacht. Dieser Moment hat am Ende so viele positive Lebensgeister bei mir geweckt, dass ich auf den vorzeitigen Ruhestand verzichtet habe. Ich konnte auf einmal viel besser journalistisch arbeiten, weil eine Aufgabe weggefallen war, die ständige Schauspielerei, die innerlich gewaltig Energie gezogen hat. Auf einmal war ich frei. Jetzt bin ich in Rente, aber es fühlt sich überhaupt nicht so an, weil ich so viel zu tun habe: das Buch schreiben, mich an Schulen für Aufklärungsarbeit für LGBTQ+ einsetzen…

Wenn Sie zurückblicken: Hat Ihnen die männliche Identität nicht auch Dinge ermöglicht, die für eine Frau Ihres Jahrgangs sonst nicht so leicht zu erreichen gewesen wäre?

Das ist eine ganz schön hypothetische Frage. Einiges hätte ich mir sicher schenken können, das vor allem dazu diente, mir meine Männlichkeit zu beweisen. Wobei auch meine Zeit als Truckfahrer eine tolle Erfahrung war. Wenn Sie einmal um zwei Uhr morgens  in einen „Truck Stop“ gehen und die verlorenen Seelen dort sehen, dann wissen Sie was ich meine.Aber ein anderer Lebenstraum, vom Reisen, vom Reporterinnendasein, der hat sich ja trotzdem erfüllt, der hat nichts zu tun mit meinem Geschlecht. Und mein Arbeitgeber hat Frauen schon seit den Neunziger Jahren gefördert. Ich bin aber nicht dankbar für das Arrangement, das ich dafür eingegangen bin, anders wäre es schöner gewesen. 

Lässt sich denn etwas nachholen von dem, was sie nicht hatten?

Ich kann endlich meine weibliche Seite leben, die Wärme, die Geborgenheit, die ich mit dem Begriff „Frau“ verbinde. Ich ziehe mich auch total gerne schön an und genieße, was ich jetzt alles darf, in aller Öffentlichkeit. Neulich wunderte sich eine Bekannte, dass ich bei kaltem Wetter in High Heels durch Hamburg lief: Immer du mit deinen Schühchen! Aber das ist mir ein tiefes Bedürfnis. Mannsein musste ich mir abschauen, in Filmen, bei meinem Vater, als Frau bin ich ganz bei mir. 

Sehen Sie heute, nach ihrem Coming-out, einen anderen Sinn in ihrem Leben? Hat sich das, was Sie als sinnstiftend empfinden, geändert?

Ich sehe keinen „anderen Sinn“ in meinem Leben. Aber spüre, dass sich der Sinn dramatisch erweitert hat. Viele schreiben mir, ich sei für sie ein Vorbild, ein Role Model. Das ist eine Verpflichtung für mich. Damit darf ich nicht verantwortungslos umgehen. 

Wie viele trans Menschen bekommen Sie viel Hass und Anfeindungen, gerade auf Social Media. Was gibt Ihnen die Kraft, darüber zu stehen?

Ich möchte die Leute dort nicht allein lassen, die mich unterstützt haben, und anders herum. Außerdem bin ich überzeugt, dass es mehr von den Guten gibt, sie äußern sich nur weniger, und die andere Seite ist lauter. Mir wird auch gesagt: meine Sichtbarkeit ist wichtig, mehr Menschen setzen sich mit dem Thema trans auseinander, in Schulen, in Unternehmen, das macht mir Hoffnung. Und wir haben jetzt ein neues Selbstbestimmungsgesetz, es ist nicht perfekt, aber der beste politische Kompromiss, den wir derzeit erreichen können.

Als einzige Partei wollte die AfD am veralteten Transsexuellengesetz von 1980 festhalten, und sie steht in Umfrageergebnissen in ostdeutschen Bundesländern bei über 30 Prozent. Haben Sie keine Angst, dass Sie in Zukunft noch einmal um Ihre Identität kämpfen müssen – bei der politischen Großwetterlage, dem Rechtsruck?

(denkt einen Moment nach) Doch. Ich bin nicht die einzige, die schon mal vorsichtshalber gegoogelt hat: Wo könnte man hin, wo sind die Lebensbedingungen gut für trans Menschen, wenn es Deutschland nicht mehr ist? Aber ich hoffe, es kommt nicht so. Backlashes hat es immer gegeben, die grundlegende Richtung stimmt.

Kommen wir zum Schluss nochmal auf die Frage zurück: Wie schaffe ich, zu mir zu stehen, die Angst vor der Reaktion der Menschen um mich herum zu überwinden? Weil meine geschlechtliche Identität nicht passt, aber vielleicht auch, weil ich mir eine andere Lebensweise wünsche, von einer anderen Tätigkeit träume…?

Sich selbst wichtig genug nehmen. Und sich Hilfe außerhalb der eigenen Blase zu holen. Wenn in der eigenen Familie keine Allys sind, vielleicht im Freundeskreis. Ja, es besteht immer die Gefahr, abgelehnt oder ausgelacht zu werden. Aber ein bisschen Mut muss man schon selbst mitbringen, das kann einem niemand abnehmen. Mein Bruder, zum Beispiel: Er hat als junger Mann eine kaufmännische Ausbildung gemacht und später auf Grafiker umgeschult. Da war was los in der Familie! Brotlose Kunst! Aber noch heute ist er glücklich mit seiner kreativen Tätigkeit, statt in einem Büro zu sitzen und sich unwohl zu fühlen. Gut, wie wir beide die Kurve gekriegt haben. Er auf seine, ich auf meine Weise.

Aktuelles Buch: „Georgine. Der lange Weg zu mir selbst. Meine Befreiung als trans* Frau nach über 60 Jahren“. Ullstein, 22,99 € 

„Wir leben heute immer noch im Patriarchat“

Das findet die Autorin und Aktivistin Emilia Roig und wirbt für einen modernen, inklusiven und streitbaren Feminismus. Stimmt ihr Vorwurf, und wenn ja, wie kommen wir da raus? Darüber durfte ich mit ihr für die „Brigitte“ sprechen, das Interview erschien im März 2024

BRIGITTE: „Unlearn Patriarchy”, „das Patriarchat verlernen“, dazu fordert der Titel des zweiten Sammelbandes auf, bei dem Sie Mitherausgeberin sind. Bei diesem mittelalterlich klingenden Begriff denkt man eher an den Iran oder Afghanistan, ist das nicht ein bisschen überspitzt?

Emilia Roig: Nein, ist es nicht. Wir leben im Patriarchat, auch in Deutschland. Auch wenn es hierzulande vor dem Gesetz nur wenige Differenzen zwischen den Geschlechtern gibt, sind wir keine egalitäre Gesellschaft, so lange alle Sphären der Macht von Männern besetzt sind – Politik, Finanzen, Wirtschaft, Kunst, you name it. Und auch hier sind die Strukturen gewaltvoll, selbst wenn das weniger krass ausfällt als in anderen Ländern.

Woran machen Sie das fest?

Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet, das ist die offensichtlichste Dimension. Andere sind subtiler: etwa, wenn Profi-Sportlerinnen deutlich weniger verdienen als Profi-Sportler, wenn medizinische Forschung einseitig am männlichen Körper ausgerichtet ist und Frauen doppelt so oft schwere Nebenwirkungen nach Medikamenteneinnahmen erleben als Männer. Oder wenn Stadtplanung vorrangig von Männern gemacht wird, die keinen Blick für all jene haben, die die meiste Carearbeit leisten. Etwa ausreichend Bänke und Toiletten in öffentlichen Parks, weil: Wer ist nachmittags eher im öffentlichen Raum mit Kindern oder Älteren unterwegs, die Bänke und Toiletten brauchen? Frauen. Das sind alles strukturelle Probleme, die wir im Sammelband ausführlich beschreiben, und es sind intersektionales Probleme.

Intersektional, das müssen Sie erklären.

Bis in die Achtziger, Neunziger Jahre war der Feminismus einseitig ausgerichtet an den Perspektiven, Interessen und Bedürfnissen von weißen, heterosexuellen, nicht-behinderten cis Frauen….

…also der Mehrheit all derer, die sich mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren…

…und hat sich folglich um Fragen wie die „Gläserne Decke“ im Job gedreht, oder warum ein steuerliches Instrument wie das Ehegattensplitting Frauen strukturell benachteiligt. Das ist ein legitimer Blickwinkel – wenn er nicht absolut gesetzt wird. Wenn wir den Feminismusbegriff aber intersektional erweitern, bringt das mehr Vielfalt und Tiefe, und neue Perspektiven. Etwa: Wie leiden Schwarze Frauen unter rassistischer Polizeigewalt, warum ist der Gender Pay Gap bei Frauen of Color noch mal 20 Prozent höher als bei weißen Frauen, warum sterben Schwarze Frauen bei Geburten so viel häufiger als weiße Frauen, wie patriarchal ist die Migrationspolitik, wie ermöglichen wir Zugänge zu allen Lebensbereichen für Frauen mit Behinderung oder trans Frauen?

Nach der Lektüre hat man den Eindruck: Frauen werden durch die Bank benachteiligt, teils mit dramatischen Folgen. Etwa, wenn Schwarze, mehrgewichtige Frauen medizinisch schlechter versorgt werden. Oder wenn Opfer sexualisierter Gewalt in Kriegsgebieten nicht die nötige Hilfe und Aufmerksamkeit bekommen. Warum ist der gesellschaftliche Aufschrei dann nicht größer?

Zum einen, weil auch heute noch immer zum Großteil Männer den öffentlichen Diskurs bestimmen – Chefredakteure, Politiker, CEOs, Geldgeber – die ihre eigenen Filter haben – Ignoranz, verbunden mit dem Privileg, nicht so genau hinschauen zu müssen. Weil es sie selbst nicht betrifft. Zum anderen haben Frauen verinnerlicht, sich klein zu machen, sich zufrieden zu geben mit dem Erreichten. Zudem kostet es eine Menge Kraft, gegen Ungerechtigkeit anzugehen. Und das zieht wiederum Energie ab, die es braucht, um zum Beispiel im Beruf vorankommen, im Sport Erfolge zu erzielen oder als Kriegsopfer mit einem Trauma klarzukommen. Deshalb bleibt oft nicht viel Kraft übrig, auch noch auf Missstände aufmerksam zu machen.

Andererseits sind ja viele offensichtliche Ungerechtigkeiten beseitigt worden. Wenn wir nicht mehr wie in den Siebziger Jahren darüber diskutieren, ob ein Ehemann den Job seiner Frau kündigen darf, sondern zum Beispiel über Diskriminierung von Autorinnen im Literaturbetrieb – ist das kein Fortschritt?

Ja klar, aber das sollte doch kein Grund sein, aufzuhören! Fortschritt heißt ja nicht, dass Gerechtigkeit hergestellt wurde, sondern ist nur einer der Schritte auf dem Weg dorthin. Soziale Fortschritte beruhen auf Menschen, die nie zufrieden sind. Sonst hätten ja auch Frauen vor 100 Jahren sagen können: Okay, jetzt haben wir das allgemeine Wahlrecht, jetzt können wir unseren Kampf um mehr Gerechtigkeit zu den Akten legen. Mir geht es immer wieder darum, den Schleier der Illusion zu zerstören, wir hätten alles erreicht: So lange Unterdrückung normalisiert wird, braucht es Menschen, die laut auf Missstände aufmerksam machen.

Wie sollen denn Frauen Ihrer Meinung nach am besten aktiv werden?

Es geht nicht zwingend um politisches Engagement, sondern auch erstmal um einen inneren Prozess. Gerade, wenn man den Eindruck hat: Wir sind doch längst gleichberechtigt, die Diskussion dreht sich um Details. Erst wenn Sie bei sich selbst diese Widerstandsreaktion wahrnehmen, können Sie sich eingestehen, dass Sie bestimmte Strukturen nicht sehen. Danach können Sie andere sensibilisieren, etwa Ihre Mutter, Ihre Kollegin, Ihre Tochter. Das setzt allerdings auch voraus, dass Sie sich mit ihren eigenen Überlegenheitsgefühlen auseinandersetzen.

Woher wissen Sie, ob ich die habe?

Ich weiß, das klingt hart, aber das ist Teil der Sozialisierung, insbesondere für die Mehrheitsgesellschaft. Es ist aber nicht nur für die Gesellschaft toxisch, sondern auch für jede*n einzelne*n , wenn das eigene Selbstwertgefühl abhängt von der Unterlegenheit anderer. Sei es von Männern gegenüber Frauen, von Wohlhabenden gegenüber Armutsbetroffenen, von Heteros gegenüber Queeren Menschen. Wer das bei sich erkennt und überwindet, macht einen Schritt zu einer gleichberechtigteren Gesellschaft. 

Manche Frauen fühlen sich abgeschreckt von der Wut, die oft den feministischen Diskurs bestimmt, so auch manche Ihrer Texte. Sind Sie sicher, dass Sie nicht mögliche Mitstreiter*innen verprellen, weil die sagen: Das ist mir alles mir zu radikal?

Radikal finde ich erstmal positiv – weil es von dem lateinischen Begriff radicalis stammt und für „an die Wurzel gehend“ steht, es also darum geht, ein Problem von der Wurzel her zu betrachten. Und Wut ist positiv, wenn sie uns ins Handeln bringt und dadurch konstruktiv und kreativ wird. Wenn sie andere triggert, dann liegt es an einem verinnerlichten Glaubenssatz: Die Unterdrückten haben nicht wütend zu sein. Eine wütende Frau gilt schnell als „hysterisch“, eine Schwarze Person als gewaltvoll, eine Person mit Behinderung als undankbar. Und wenn eine Frau sich so benimmt, wie es im Patriarchat Männern vorbehalten ist, dann kann das bei anderen Frauen Neid auslösen: Wie kann sie nur so aus der Reihe tanzen? 

Aber nicht alle Frauen wollen das bestehende System komplett verändern. Auch, weil es zumindest kurzfristig Vorteile bringt. So macht das Ehegattensplitting Frauen finanziell möglich, weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, weil das Einkommen des Mannes weniger stark besteuert wird.

Mir geht es nicht darum, Lebensentwürfe zu bevorzugen oder abzuwerten, sondern um Wahlfreiheit. Wäre es nicht viel besser, ein System zu schaffen, in dem Frauen sich um ihre Kinder kümmern können, ohne sich dadurch wirtschaftlich von einem Ernährer abhängig zu machen? Man muss aber auch sagen: Es ist oft bequem, sich in der Unterdrückung und Unterlegenheit einzurichten. Und es wird belohnt.

Wie das?

Weil Frauen, die das Patriarchat mittragen, die auch mal einen derben Herrenwitz reißen oder sich öffentlich gegen Quoten aussprechen, Zuspruch bekommen, von der Gesellschaft, von den Männern, oder von der älteren Generation. Aber es ist auch nicht notwendig, alle gleichermaßen vom Feminismus zu überzeugen. Soziale Bewegungen brauchen eine gewisse kritische Masse, um zu wirken, aber das muss nicht die Mehrheit sein. 

Sie klingen optimistisch – obwohl rechtsradikale Parteien im Aufwind sind, obwohl auf Instagram Influencerinnen Erfolg haben, die ein supertraditionelles Frauenbild propagieren, obwohl Sie eine Menge haarsträubender Beispiele für Ungerechtigkeit in Ihrem Sammelband gesammelt haben. Woher nehmen Sie die Zuversicht?

Die Unterdrückung von Frauen und anders marginalisierten Gruppen ist Jahrtausende alt, Rückschritte und Widerstand unvermeidlich, aber ich bin sicher, dass wir insgesamt in die richtige Richtung gehen. Wir sehen ja, wie zum Beispiel die jüngere Generation schon oft einen sensibleren Blick für Diskriminierungen hat, wie feministische Themen Mainstream werden. Etwa in unseren Büchern, die in einem großen Publikumsverlag erscheinen, oder in einem Blockbuster wie „Barbie“. Selbst wenn ich auch Kritik daran habe – mit solchen Erzählungen wird das Patriarchat entnormalisiert. Das gibt mir Hoffnung.

Buchtipp: Im zweiten Band von Unlearn Patriarchy“ (Ullstein, 22,99 €), herausgegeben von Emilia Roig, Brigitte-Redakteurin Alexandra Zykunov und Lektorin Silvie Horch, widmen sich Autor*innen wie Asha Hedayati, Anne Dittmann und Melina Borçak Themen von Erziehung und lebenslangen „Pay Gaps“ bis hin zu Kirche, Rechtsprechung und Architektur, immer unter feministischer Perspektive. Aufwühlend, informativ, kontrovers


„Ja, so kann ich weiterleben“

Vor vier Jahren verlor Serpil Unvar ihren Sohn beim Terroranschlag von Hanau. Sein Zimmer hat sie seither unverändert gelassen, die Verhältnisse aber will sie umkrempeln: mit einer Initiative, die gerade zum internationalen Netzwerk wächst. Mein Porträt von ihr erschien im Februar 2024 in der BRIGITTE

Am Ende kommen ihr doch noch die Tränen. Serpil Unvar greift nach dem Mikro, das Gesicht tränenfeucht, die Worte trotzig: „Ich schwör, ich hasse Weinen.“ Eine kleine Person auf großer Bühne, elegante Weste über weißer Bluse, die dichten schwarzen Haare lang und offen. Direkt über ihr, im großen Veranstaltungssaal des Hanauer Kongresszentrums, wirft ein Beamer überlebensgroß ein Schwarzweiß-Porträt an die Wand. Es zeigt Ferhat Unvar, ihren ältesten Sohn. Basecap, Pelzkragen, wacher Blick. Darunter sein Geburtsdatum, der 14. November 1996. 

Sein Todestag steht dort nicht. 

Die Veranstaltung an diesem Abend soll weniger Trauerfeier sein als verspätete Geburtstagsparty, mit Luftballons, Bar und Büffet. Das Datum kennen ohnehin alle im bis zum letzten Sitz gefüllten Saal: den 19. Februar 2020, als ein Rechtsextremer zu einem Amoklauf aufbrach, wahllos Menschen umbrachte, deren Äußeres nicht in sein rassistisches Weltbild passte. An Orten, an denen sie sich sicher fühlten, in einer Shisha-Bar und einem Kiosk mit Pizzatheke. Einer von ihnen war Ferhat. Der Denker, der Dichter, der „Seelenmensch“, wie einer seiner Freunde auf der Bühne sagt. An jenem Winterabend hatte er nur kurz Billard spielen gehen wollen, um die Ecke von seinem Wohnhaus. Er kam nie wieder zurück.

„Die Trauer wird mich begleiten, bis ich sterbe“, sagt Serpil Unvar. Bis heute ist das Zimmer ihres Ältesten in ihrem Bungalow im Stadtviertel Kesselstadt so geblieben, wie er es verlassen hat. Wegzuziehen, fort von den schmerzlichen Erinnerungen? Für Serpil Unvar keine Option. Das wäre, als würde sie ihren Sohn zurücklassen. 

Zugleich hat Ferhats gewaltsamer Tod ihr eine neue Lebensaufgabe gegeben. Schon ein dreiviertel Jahr danach, zum ersten Geburtstag, den er nicht mehr erlebte, gründete sie mit Mitstreiter*innen eine Bildungsinitiative, ließ Jugendliche zu Antirassismustrainer*innen ausbilden. Viele von ihnen aus migrantischen Familien, die selbst davon erzählen können, wie es ist, wenn man nicht für voll genommen, demotiviert, ausgegrenzt wird. Wegen einer Hautfarbe, eines Kopftuchs, eines Namens. Die Teams gehen in Schulen, Universitäten, Firmen. Für Betroffene eine Möglichkeit, sich auszutauschen, für die anderen, zuzuhören und sich in ihre Lage zu versetzen: Wie fühlt es sich an, wenn die Lehrerin zu dir sagt: Wozu brauchst du Abi, Frauen wie du bekommen doch eh mit 20 das erste Kind? 

70 Workshops haben die Teamer*innen 2023 gegeben, und sie konnten nicht einmal alle Anfragen berücksichtigen. Der Bedarf ist da, wird immer mehr. „Auch Ferhat hat als Jugendlicher rassistische Erfahrungen gemacht“, sagt Serpil Unvar, „und es gibt viele kleine Ferhats dort draußen. Wir brauchen ein besseres Bildungssystem, das alle mitnimmt, alle Talente fördert. Das ist doch unsere Zukunft!“ Die Jugendlichen nennen sie „Serpil Abla“, wörtlich übersetzt: „große Schwester“. Eine gängige türkische für erwachsene Frauen, aber da schwingt noch mehr mit. Liebe und Bewunderung. Sie hat viel erreicht. Und sie will noch mehr.

Im Bild: Ich durfte Serpil Unvar in Hanau besuchen – dieses Selfie zeigt uns beide am Morgen nach der Jubiläumsfeier

Angefangen hat alles mit einem Startkapital von 125 Euro, ein Geldgeschenk von Ferhats Freunden. Per Social Media hatten sie mitbekommen, dass seine Mutter über die Gründung einer Initiative nachdachte, und sammelten dafür. Serpil Unvar erinnert sich: „Als die zu mir kamen und sagten, wir wollen dich unterstützen, da habe ich zum ersten Mal gedacht: Ja, so kann ich weiterleben, mit diesen Jugendlichen, die eine bessere Zukunft wollen. Dann ist mein Sohn nicht ganz umsonst gestorben.“ Die Idee einer Bildungsinitiative nahm Gestalt an, Serpil Unvar fand gleichgesinnte Unterstützer*innen. Eine Spendenkampagne brachte genügend ein, um die Räumlichkeiten zu mieten, die Arbeit war anfangs rein ehrenamtlich.

Später beantragten sie Fördergelder, lernten, wie man eine NGO führt – und sie bekamen praktische Hilfe. Unter anderem von Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, der die ersten Teamer*innen ausbilden ließ. Ein Deutsch-Israeli und eine muslimische Kurdin – diese Art der Verbindung sollte wegweisend werden, über kulturelle, religiöse, sprachliche Grenzen hinaus. Heute arbeiten neben zahlreichen Ehrenamtler*innen eine Reihe von Festangestellten mit, Serpil Unvar ist die Vorsitzende und das Gesicht des Vereins. Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, dankt ihr auf der Jubiläumsfeier so: „Du hast einen Ort geschaffen, an dem Menschen zeigen, was es heißt, an ein anderes Wir zu glauben, für ein inklusiveres Wir einzustehen.“

Längst ist die Initiative Teil eines größeren, thematischen Netzwerkes, deutschlandweit und international, finanziert von Spenden ebenso wie aus staatlichen und nichtstaatlichen Fördertöpfen aller Art. Etwa von der linksliberalen Stiftungsorganisation „Open Society Foundations“. Denn Vernetzung kostet Geld, vor allem für persönliche Treffen. Und Serpil Unvar und ihre Teammitglieder sind viel gereist in den vergangenen Monaten. Etwa nach Oslo und Athen, wo sie sich mit Hinterbliebenengruppen anderer rechtsradikaler Anschläge ausgetauscht haben. Der Fokus liegt immer auf Gewalt und Terrorismus – egal wo und egal, welche Ideologie dahintersteckt. An dem Abend in Hanau spricht unter anderem Astrid Passin ein Grußwort, sie hat ihren Vater beim islamistischen Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz verloren. Eine Mutter schickt eine Videobotschaft aus Barcelona, ihr Sohn kam beim Attentat auf den Pariser Club Bataclan ums Leben. Der Schmerz, der Vertrauensverlust, die Wut auf die Attentäter, oft auch auf Institutionen und Behörden – die Gefühle ähneln sich. Häufig sind es Frauen, oft Mütter, die sich bei diesen Anlässen gegenseitig Trost spenden. Sie alle kennen diese Geburtstage, an denen sie allein bleiben, weil ihre Kinder aus dem Leben gerissen wurden.

Am nächsten Vormittag, in den Räumen der Initiative – ein unscheinbarer Flachbau am Rand des Freiheitsplatzes im Stadtzentrum, an der Außenwand ein Graffito, das Ferhats Gesicht zeigt. Darunter eine Zeile aus einem seiner Gedichte, die heute beinahe prophetisch wirkt: 

„Tot sind wir erst/ wenn man uns vergisst.“ 

Das Gebäude ist ein Ort des Gedenkens und des Aufbruchs zugleich. Hier werden Workshops geplant, aber es ist auch ein Begnungsort für jedermann, zum Chillen auf den schwarzen Ledersofas, zum Quatschen, Teetrinken, Werwolf spielen. Serpil Unvar und ihre Mitstreiter*innen haben zum deutsch-türkisch-kurdischen Frühstücksbüffet geladen, mit Scheibenkäse und Oliven, Filterkaffee und dampfendem Çay. Die Nacht davor war lang, die Veranstaltung, die Feier danach. Gerade einmal zwei Stunden hat sie geschlafen, trotzdem ist sie das Energiezentrum des Raums, lacht, umarmt Menschen, scheint an allen Tischen gleichzeitig zu sein. „Weißt du, die Leute um mich rum, die laden meinen Akku auf wie mit einem Schnelladekabel.“ 

Vielleicht muss man dafür ein Stück zurückgehen, um zu verstehen, was sie antreibt, also etwa 47 Jahre – ihren exakten Geburtstag kennt Serpil Unvar selbst nicht. Sie kam als das jüngstes von acht Kindern im kurdischen Teil der Türkei zur Welt, nahe der syrischen Grenze, und schon ihre eigene Mutter lebte ihr eine besondere Kombination vor aus traditioneller Rolle plus weiblicher Superkraft. Als Serpil ein kleines Mädchen war, ging ihr Vater zum Arbeiten nach Frankreich, von da an war ihre Mutter auf sich gestellt, verheiratet und doch alleinerziehend. „Aber ich habe sie nie klagen gehört. Sie hat einfach getan, was getan werden musste.“ 

So wie später sie, die Tochter. Was sie erzählt, ist eine Geschichte von Wachstum, auch wenn sie geprägt ist von einem schrecklichen Schicksalsschlag, dem Terror-Tod des Sohnes. Mit 20 kam Serpil Unvar mit ihrem damaligen Mann nach Deutschland, in ein fremdes Land mit fremder Sprache und fremder Kultur. Wurde Mutter, besorgte sich einen Job in einer Schnellrestaurantküche, um ein eigenes Einkommen zu haben. Vor acht Jahren ließ sie sich schließlich vom Vater ihrer vier Kinder scheiden. Weil er sie klein hielt und ihr nicht gut tat. Ein Mutausbruch, nach einem bösen Streit zu viel. Später begann sie, Artikel für kurdische Zeitungen zu schreiben. Hörte damit 2020 wieder auf, nach Ferhats Tod, zu beschäftigt damit, einfach nur von Tag zu Tag zu überleben. Und gleichzeitig ihre anderen Kinder nicht zu belasten: „Ich habe nie vor ihnen geweint, höchstens im Schlaf. Ich mache viel mit mir selbst aus.“ 

Heute ist sie das Gesicht eines internationalen, wachsenden Netzwerkes gegen den Hass, sie spricht am Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt vor dem EU-Parlament in Brüssel, bekommt Preise für ihr Engagement, zuletzt das „Marburger Leuchtfeuer“. Sie hat nie eine Fachausbildung gemacht, nie studiert. Alles, was sie wissen muss, hat sie vom Leben gelernt. Und außerdem, sie ist ja nicht allein. „Wir Frauen bringen die nächste Generation zur Welt, schaffen die Zukunft. Das macht stark. Wir müssen nur an uns selbst glauben, dann gibt es keine Grenzen“, sagt Serpil Unvar. 

Aber ist es nicht auch eine Gratwanderung: eine Arbeit zu machen, die einen Tag für Tag mit dem größten Verlust des eigenen Lebens konfrontiert? Die einen ständig in ein Wechselbad der Gefühle taucht, aus Trauer, Wut, Mut, Hoffnung, Stolz? Serpil Unvar sagt, für sie ist es der beste, der einzige Weg. Für Ferhat, mit dem sie oft lange, innere Zwiegespräche führt: Was möchtest du, was wäre dir heute wichtig? Für die drei Kinder, die am Leben sind, die Älteren Anfang 20, der Kleinste gerade elf Jahre alt geworden. Für alle, die an sie glauben, Mitstreiter*innen, Weggefährt*innen.

„Ferhat wollte lebendig bleiben“, sagt sie, „Und wir halten ihn lebendig. Jedes Jahr am 14. November wird die Initiative ein Jahr älter, und er mit ihr.“ Und jedes Jahr zu seinem Geburtstag werden sie wieder Luftballons steigen lassen. Schwarz wie die Trauer. Gold wie das kostbarste, das wir haben, das Leben. Und leicht wie die Hoffnung. 

INFOKASTEN: Die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ in Hanau besteht seit November 2020, beschäftigt ein Team von sieben Angestellten plus zwei FSJler*innen und eine große Zahl ehrenamtlicher „Teamer*innen“, die an Schulen, in Unis und Firmen Workshops gegen Rassismus und Diskriminierung geben und Vorträge halten. Sie finanziert sich aus verschiedenen Fördermitteln und Spenden

Anders wird gut: als Autorin für die Bertelsmann-Stiftung unterwegs

Was ist das eigentlich: gesellschaftlicher Zusammenhalt? Was zahlt darauf ein, was gefährdet ihn, und leben wir in einer „gespaltenen Gesellschaft“, so wie es oft den Eindruck macht, wenn man die Bruchlinien zwischen Einkommensgruppen, politischen Haltungen, Wählerschichten, Identitäten, Herkünften betrachtet?

Die Bertelsmann Stiftung hat dazu über zehn Jahre lang intensiv geforscht, Stimmungsbarometer und Studien veröffentlicht, den Forschungsstand verglichen. Was sind eigentlich die Faktoren für sozialen Zusammenhalt: Unsere sozialen Netze? Identifikation mit einem Ort? Politisches und gesellschaftliches Engagement? Gerechtigkeitsempfinden?

Daraus entstand der Wunsch nach einem Buch, das beides verbindet: Empirie und Praxis.

Im abgelaufenen Jahr durfte ich im Auftrag der Stiftung durch Deutschland reisen, um eben dieser Frage auf den Grund zu gehen, und habe für neun Reportagekapitel ganz unterschiedliche Menschen an sehr verschiedenen Orten gesucht, gefunden und getroffen. Gelingendes wie Gescheitertes protokolliert, und gemeinsam mit meinen Auftraggeber und Mit-Autoren überlegt, was daraus folgt.

Zum Beispiel:

Eine Gruppe von engagierten Frauen, die auf einem sächsischen Dorf ein nicht-kommerzielles Dorfcafé gegründet haben, und täglich darum ringen, wie man trotz politischer Gräben beim gemeinsamen Tun noch einen Gesprächskanal offen hält (im Bild: Klezmerkonzert in Sohland am Rotstein).

Zwei Männer in einer niedersächsischen Kleinstadt, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen mit dem Ort identifizieren: der eine, weil er als Schützenkönig eine Uniform trägt, wie sie schon sein Urgroßvater aus demselben Ort trug, der andere, weil er Teil eines Bio-Bauprojektes ist, in dem Menschen mit alternativen Lebensentwürfen zusammenkommen.

Einen frustrierten Feuerwehrmann im Münchner Speckgürtel, der an der Bürokratie verzweifelt und neue Formen des Engagements sucht – und eine Frau aus München, die von ihren Erfahrungen als Spontan-Helferin für eine ukrainische Familie erzählt.

Einen Künstler aus Bremen, der mit Hilfe von Kunst einen angstbesetzten Fußgängertunnel in einem Wohlfühlort verwandelt hat – allerdings einen, der nicht jedem/jeder gefällt (im Bild: Ausschnitt aus dem teilweise zerstörten Kunsttunnel, gestaltet von Johann Büsen).

Die Mutter eines der Opfer des rechtsextremistischen Anschlages in Hanau vom 19. Februar 2020, die heute eine Bildungsinitiative gegen Rassismus leitet und sagt: Ohne Vertrauen in meinen Mitmenschen könnte ich diese Arbeit gar nicht machen.

Die Leiterin eines Instituts der Hamburger Polizei, das sich die interkulturelle Zusammenarbeit auf die Fahnen geschrieben hat und den Zusammenhalt stärken will, auch das Institutionenvertrauen, in einer Stadt, in der jedes zweite Kind migrantisch ist.

Eine Gruppe von engagierte LGBTQIA+-Aktivist:innen in Ulm, die gemeinsam mit der Stadtverwaltung darum ringen, dass queeres Leben in Ulm sichtbar sein darf und angstfrei möglich (im Bild: Ulmer Münster mit Regenbogenflagge, und ich unterwegs)

Einen jungen Politiker aus Berlin, der sich für eine Reform der Erbschaftssteuer einsetzt, und eine junge Mutter, die von ihren Erfahrungen im Modellversuch zum bedingungslosen Grundeinkommen berichtet.

Last but not least eine Gruppe aus Ludwigsfelde, die sich dem Experiment eines Bürger:innenrates gestellt haben: Was gibt es für neue Formen für niedrigschwelliges, politisches Engagement, und wie muss das aussehen, damit hinterher nicht Frustration auf allen Seiten herrscht?

Anfang Dezember 2023 wurde „Anders wird gut – Berichte aus der Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ in Berlin vorgestellt, zu bestellen gibt es das Buch hier. Einen Podcast mit Kai Unzicker (mein Auftraggeber und Mitautor) und mir gibt es hier zu hören. (Im Bild: Buchvorstellung – leider auf meiner Seite nur digital, weil ich an dem Tag krank war).

Für mich war das Projekt nicht nur beruflich beglückend, sondern hat mir auch persönlich Mut und Zuversicht gegeben: Ja, wir stehen vor riesigen Herausforderungen, vor gewaltigen Transformationen, aber wir sind auch umgeben von jeder Menge guter Ideen, wie es weitergehen könnte, wie das Andere gut werden kann.

Ich würde mich freuen, wenn sich daraus weitere interessante Projekte ergeben, bei denen es darum geht, Menschen hinter der Statistik zu finden, Wissenschaft und Journalismus zusammenzubringen.

Ihnen und euch allen ein gutes, kraftvolles, mutmachendes und erfüllendes 2024!

„Queere Kinder“ – ein persönliches Vorwort

Ungefähr anderthalb Jahre hat es gedauert von der ersten Idee über die Recherche und die Zusammenarbeit mit meiner Mit-Autorin Christiane Kolb und dem Beltz Verlag, bis unser neuestes Buch erschienen ist: Report, Ratgeber, persönliche Reise aus verschiedenen Blickwinkeln zu der Frage, warum Jugendliche und junge Erwachsene heute anders mit dem Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt umgehen als wir, die „Generation X“. Und was Eltern wie ich (mittelalt, hetero, cisgeschlechtlich) am besten tun, wenn eines ihrer Kinder sich als queer outet, früher oder später, vehementer oder auch spielerischer. Das Buch soll aufklären und Empathie wecken, soll Verständnis für Jugendliche ebenso wie latent überforderte Eltern wecken, soll den Stand der Wissenschaft abbilden und ganz viel von den Menschen erzählen, die am besten wissen, wie sich Queersein anfühlt, nämlich Mitgliedern dieser Community. Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Eingangskapitel, in dem ich meine persönlichen Beweggründe schildere, dieses Buch zu machen.

Als meine Tochter etwa acht, neun Jahre alt war, hatten sie und ich einen gemeinsamen Lieblingsfilm. „Yentl“, eine Tragikomödie aus den Achtziger Jahren, erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem jüdischen „Schtetl“ in ländlichen Osteuropa lebt und davon träumt, auf die Thoraschule zu gehen und zu lernen. Das Hausfrauen- und Mutterdasein, das ihr vorherbestimmt ist, erscheint ihr eng, dumpf und geistlos. Schließlich gibt sie sich in ihrer Verzweiflung als Mann aus und wird als Student aufgenommen, was erwartungsgemäß zu einer Reihe von Irrungen und Wirrungen führt.

Heute weiß ich: Obwohl wir die DVD unzählige Male gemeinsam sahen, an denselben Stellen lachten und diskutierten, haben wir zwei verschiedene Filme gesehen. Ich sah die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die alles haben will, sowohl ein geistiges, intellektuelles Leben als auch eines als sinnliche Frau. Mein Kind sah die Geschichte eines Menschen, der relativ mühelos zwischen den Geschlechtern hin- und herwechselte, sich in einen Mann verliebte, aber auch erotische Spannung zu einer Frau spürte (auch wenn das nur sehr subtil angedeutet wird). Man kann den ganzen Film auch als Parabel lesen auf uneingestandene homosexuelle Liebe und Coming out.

Möglicherweise hätte ich da schon merken müssen, welche Saite (und Seite) das in ihr zum Klingen brachte. Stattdessen klopfte ich mir innerlich auf die Schulter, dass ich so cool mit diesem Thema umging und so selbstverständlich mit meinem Grundschulkind darüber sprach, dass Frauen alles erreichen können, und dass es neben Vater-Mutter-Kind-Modell viele Wege des Liebens gab: Männer, die Männer liebten, Frauen, die Frauen liebten, sogar Menschen, die sich keinem der mir bekannten Geschlechter zugehörig fühlten. Hätte man mich damals gefragt, ob es ein Problem für mich wäre, wenn eines meiner Kinder selbst zu einer dieser Gruppen gehören würde, ich hätte empört verneint. Aber die ganze Wahrheit ist: Als sich ebendiese Tochter einige Jahre später die die Haare abschnitt, nur noch Jungskleidung trug, sich erst als bisexuell outete und wenig später erklärte, dass sie sich zwischen den Geschlechtern fühlte, war ich doch nicht ganz so mit vollem Herzen dabei, wie ich es von mir erwartet hätte.

Ehe ich im nächsten Kapitel näher darauf eingehen werde, was es mit diesen Outings auf sich hatte (und wie und warum so viele Familien gerade ähnliche Erfahrungen machen), will ich einmal kurz erzählen, wo ich innerlich herkomme. Nicht, weil mein Leben so originell wäre, sondern im Gegenteil gerade deshalb, weil ich denke, dass viele Eltern aus der Generation der heute 40-, 50jährigen in derselben Gedankenwelt aufgewachsen sind. Denn das macht auch verständlich, warum es uns trotz äußerlich behaupteter Liberalität manchmal schwerfällt, aus unserer Haut zu kommen.

Eine kurze Zeitreise: Als ich so alt war wie meine Tochter heute, also 17, war es Mitte der Achtziger Jahre. Im Strafgesetzbuch der BRD stand noch immer der Paragraf 175, auch wenn schwuler Sex nicht mehr grundsätzlich strafbar war, sondern nur, wenn einer der Beteiligten unter 18 Jahre alt war. Und erst wenige Jahre danach, 1990, sollte Homosexualität aus dem Diagnosekatalog psychischer Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation WHO gestrichen werden.  Es scheint aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, aber ich selbst hatte erst durch die homophoben Schlagzeilen über Aids („Die Schwulenseuche!“) wenige Jahre zuvor überhaupt realisiert, dass manche Menschen anders liebten, Männer wie Frauen. 

In meiner Kindheit war das schlicht kein Thema gewesen, obwohl ich nicht in einem besonders konservativen oder verklemmten Haushalt groß geworden bin. Später, im Sexualkundeunterricht, war es, wenn überhaupt, Anlass für geschmacklose Witze und angeekelte Gesichter, bei Lehrer*innen genau so wie bei uns Schüler*innen. Dass auch unter uns jemand hätte sein können, der auf diese Weise begehrte, darauf kam ich gar nicht (und schäme mich heute, weil ich später auf diversen Abiturstreffen herausfand, dass es genau so war). Wenn das Thema in den Medien stattfand, die wir als Teenager im Prä-Tiktok-Zeitalter konsumierten, dann immer mit dem Dreh: Macht euch keine Sorgen, wenn ihr so fühlt, das geht vorbei. Egal, ob „Bravo“ oder „Mädchen“, homosexuelles Begehren war etwas, das auf keinen Fall mehr zu sein hatte als eine „Phase“. Meine Freundinnen und ich versicherten einander: Bei uns ist das nicht so, wir kennen auch niemanden, dem es so geht, aber falls wir je so jemanden treffen, werden wir tolerant sein. Sind ja auch nur Menschen.

Natürlich kannte ich damals Personen, die anders liebten, ich wusste nur nichts davon, weil viele damals ihre Neigung verheimlichten, oft sogar vor sich selbst. Einen von ihnen kannte ich sogar gut, und mehr als das. Denn es war der Junge, mit dem ich als Teenager jahrelang eine feste Beziehung führte. Als ich 20 war, 1990, outete er sich, etwa ein dreiviertel Jahr, nachdem ich zum Studium fast 500 Kilometer weit weggezogen war, damals hatten wir einvernehmlich Schluss gemacht. Ich war eine der ersten, der er sich endlich offenbarte. Er reiste dazu sogar eigens an, um sich mir nach vielen hektisch gerauchten Zigaretten und Rotwein an meinem WG-Küchentisch anzuvertrauen. Er hatte Angst, ich würde ihn anschreien oder weinend zusammenbrechen; stattdessen umarmte ich ihn spontan, weil ich so erleichtert war. Denn das erklärte im Nachhinein vieles.

In den Neunzigern wurde schwullesbisches Leben – das war damals noch die übliche Sammelbezeichnung – für mich wahrnehmbarer und selbstverständlicher. Auf den WG-Klos lagen Ralf-König-Comics, egal, wer da wohnte. Der erste Männer-Filmkuss im Vorabendprogramm, 1991 in der „Lindenstraße“, mochte die Nation noch in Wallung bringen, im Münchner Glockenbachviertel sah man Menschen gleichen Geschlechts schon recht unbekümmert Händchen halten, jedenfalls im Nachtleben. Ein einziges Mal habe ich eine Frau geküsst, nachts angeschickert auf einem Balkon, merkte, dass mir das nichts gab und beließ es dabei. 

In den Nuller Jahren lernte ich meinen späteren Mann kennen, der als Hetero in Hamburg mitten im regenbogenbunten St. Georg wohnte, ein paar Jahre später wurden wir Eltern. Erst eine Tochter, zweieinhalb Jahre später ein Sohn. Aus meiner Mainstream-Perspektive hatte ich damals den Eindruck: alle gesellschaftlichen Probleme sind mehr oder weniger gelöst, jede*r kann lieben und leben, wie er oder sie möchte. Ich fand es gut, dass zur Faschingszeit ein Junge in der Kita unserer Kinder ein pinkfarbenes Prinzessinnenkleid als Kostüm wählte. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich ganz froh war, dass es nicht mein Junge war, unser zweites Kind. Das ging genderkonform als Pirat und fiel damit natürlich weniger auf. Dafür fand er Glitzernagellack genau so toll wie seine große Schwester und ihre Freundinnen, und so verpasste ich der ganzen Bande immer wieder einen frischen Anstrich, den sie danach gemeinschaftlich auf dem Spielplatz ruinierten.

Als meine Tochter mit acht schüchtern gestand, dass sie für ihren älteren Cousin schwärmte, war da ein Moment der Rührung und des Wiedererkennens. Ältere, weit entfernt lebende Cousins sind ideal als erste Objekte platonischer Verliebtheitsgefühle, ich hatte gleich zwei davon. Ich muss zugeben, ich war auch ein bisschen beruhigt. Denn an anderer Stelle war sie deutlich weniger mädchenhaft, trug nur noch blau, grau und schwarz, wollte die Haare am liebsten kurz (wir einigten uns auf eine Art Longbob) und Kleider wenn, dann nur zu hohen Feiertagen. 

Ein paar Jahre später, als sie immer mehr zu dem stand, was sie war und ist, als sie ihre Role Models fand und die richtigen Worte für sich selbst, musste ich mir eingestehen: Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte vielleicht nicht von einem Mini-Me geträumt, das mich kopierte vom Kleidungsstil bis zum Gefühlshaushalt, aber ich hatte mit mehr Nähe gerechnet, mehr Momenten des Wiedererkennens. Stattdessen stand hier ein Mensch, der sagte: Bei mir ist das alles ganz, ganz anders. Und nein, das ist keine Phase, keine pubertäre Rebellion. Ich meine das ernst.

Gleichzeitig merkte ich, dass ich mit meiner Mischung aus Bewunderung, Irritation und Sorge um mein Kind – wird sie in ihrem Leben anecken, sich um Chancen bringen, oder sogar Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden? – sowie Stolz auf ihr Selbstbewusstsein nicht allein war. Denn fast egal, wem ich davon erzählte – die Leute waren weit weniger verwundert, als ich angenommen hatte. Viele Eltern hatten ähnliches zu berichten, mal von den eigenen Kindern, mal aus der Familie oder dem Freundeskreis: von Teenagern und jungen Erwachsenen, die gleichgeschlechtlich liebten (oder auch nur mit der Idee flirteten), die nicht oder nicht immer mit ihrem Geburtsgeschlecht konform gingen. Mal wirkte es eher spielerisch, wie ein Kostümball mit verschiedenen Identitätsangeboten. Manchmal war auch viel Leidensdruck dabei, vor allem bei Jugendlichen, die sich dauerhaft mit einem anderen als ihrem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht identifizieren. 

Gleichzeitig wird immer sichtbarer, wie breit das Spektrum ist, sowohl für sexuelle Orientierung als auch für Geschlechtsidentität: trans Personen sind gefragte Teilnehmende von Castingshows, von Plakatwänden lachen Menschen fluider Identität, werben für E-Zigaretten, Kaufhausketten, und als ich vor drei Jahren nach der Feier zum 30jährigen Abi-Jubiläum mit ein paar ehemaligen Mitschüler:innen in der letzten geöffneten Bar versackte, war auch eine frisch von ihrem Mann geschiedene Frau dabei, die hingebungsvoll ihre neue Partnerin küsste. Also alles bunt und gut? Jein. Denn die Eltern, mit denen ich sprach, waren sehr unterschiedlich in ihrer Einordnung. Manche richtiggehend begeistert von der neuen Freiheit jenseits rigider Zuschreibungen bei den Themen Sexualität und Geschlecht, andere ablehnend. „Die spinnen, aber sie kriegen sich schon wieder ein!“ Wieder andere waren voller Zweifel, wie sie richtig reagieren sollen. Also haben Christiane und ich uns aufgemacht, ein wenig aufzuräumen im Dickicht von Halbwissen, Vorurteilen, Befürchtungen und Ideologie. 

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Stadt, Land, Plus

Arsch der Heide? Von wegen: Jenseits überteuerter Großstädte finden Pionier*innen neue Freiräume für Kreativität und spinnen inspirierende Netzwerke. Und oft haben dabei Frauen die Nase vorn. Wie in Luckau und Perleberg, wo ich im Frühjahr 2023 für die BRIGITTE recherchiert habe

„Da muss jetzt mal was vorangehen“, sagt Katja Klugewitz, 53. An einem kalten Morgen steht sie mit ihrer Bauingenieurin im Flur eines fast 300 Jahren alten Stadthauses in Luckau, 10.000 Einwohner, knapp 100 Kilometer südöstlich von Berlin, und gleicht Pläne ab: Der Tischler muss noch seinen Termin bestätigen, der Elektriker ein Angebot machen. Denn wo jetzt noch rohes Mauerwerk ist, grob abgeschliffene Holztüren und eine Freitreppe unter einer dicken Schicht Baustaub, soll nach der Kernsanierung eine Mischung aus Wohnhaus und Kulturzentrum entstehen. „Kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen!“ Der Rundgang ist ein kurzer Ritt durch die Geschichte: Im 18. Jahrhundert wurden in den beiden Hinterhäusern Teppiche geknüpft und Zigarren gedreht, im Vorderhaus gingen im 19. Jahrhundert „Kolonialwaren“ über die Ladentheke. Nach dem Mauerfall stand das Haus zwischen Marktplatz und Altstadtgraben für 30 Jahre leer, bis es vor zwei Jahren eine neue Besitzerin fand.

Wobei, was heißt schon leer. „Das war wie eine Zeitkapsel“, erinnert Katja Klugewitz sich, „beim Ausräumen haben wir noch alle möglichen DDR-Produkte gefunden, etwa eine Kiste Cola mit der Aufschrift ‚VEB Getränke Drehna‘.“ Und weil sich die energische Frau nicht nur für ihren Beruf als Ärztin begeistert, Fachbereich Innere Medizin, sondern auch fürs Fotografieren, war im Herbst 2022 rasch die erste Idee für eine Popup-Ausstellung im Rohbau geboren, zur „Altstadtnacht Luckau“. Mit Fotos der Zufallsfunde, dazu Zeichnungen einer örtlichen Künstlerin und Musik von einem Jazzgitarristen. Unplugged, denn Strom gab es noch keinen, dafür Solarlaternen und Kerzenlicht. „Eine Wahnsinnsstimmung“, erinnert sie sich, „die Leute tanzten im Schaufenster, auf der Straße, kamen und gingen bis spät in die Nacht. Mich hat das an die Atmosphäre im Berlin der 90er erinnert, wo ich studiert habe: ständig gab es neue Kneipen und Clubs in Wohnungen oder leerstehenden Gebäuden, man erfuhr durch Mundpropaganda davon. Ich mag dieses Unfertige, Raue.“

Katja Klugewitz gehört zu einer wachsenden Anzahl von Menschen, die nach Orten suchen, an denen sowas geht: Kulturprojekte, oder neue Formen des Zusammenlebens, oder Startups. Raum für Ideen, die angesichts der Immobilienpreise und der Wohnungsnot in Großstädten kaum noch finanzierbar sind. Denn in Berlin, Hamburg, Leipzig, in West wie Ost sind die Freiräume abhandengekommen, fast jedes ehemals alternative Viertel durchgentrifiziert. Gleichzeitig macht es die Digitalisierung möglich, in mehreren Welten zugleich zu leben.

Das bringt Aufwind für Gegenden wie den Landkreis Dahme-Spree, die Prignitz zwischen Berlin und Hamburg, das Dreieck Görlitz-Zittau in der Lausitz, aber auch für das niedersächsische Emsland westlich von Bremen. Alles Entdecker-Ecken, an denen es brodelt. Teils ganz von selbst, teils angelockt von Zuzugs- und Rückkehrer*innen und ihre Initiativen wie elblandwerker.de oder raumpioniere-oberlausitz.de. Orte, an denen man bei der Suche nach Wohn- und Büroräumen nicht zuerst den Immobilienmakler anruft, sondern die Leerstandsmanagerin.

Wer hierher kommt, sucht meist nicht nur Ruhe, Platz für die eigenen Tomatenstauden und bezahlbaren Wohnraum. Sondern will sich auch einbringen, manchmal nur für eine Weile, manchmal dauerhaft. Die Schönheiten abseits der Ballungszentren aus dem Dornröschenschlaf küssen. Es mag Zufall sein, dass die wichtigsten Personen bei Katja Klugewitz‘ Sanierung alle weiblich sind, eine Bauingenieurin, eine Statikerin eine Vermessungsingenieurin. Aber es ist ein sprechender Zufall. Dabei geht es auch um ganz Handfestes. Klugewitz, die in Lüneburg aufwuchs, hat Ideen, wie man Nachwuchsmediziner*innen anlocken könnte. „In Zukunft wird es nicht mehr nötig sein, ständig in einer Praxis präsent zu sein“, glaubt sie. Dann könnte man pendeln, mal Luckau, mal Homeoffice mit Videocall-Sprechstunde in Berlin, Magedeburg, Dresden. Und alle hätten etwas davon.

Nächste Station: Perleberg, auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg. Fährt man auf der B 5 hinein in die 13.000-Seelen-Stadt, fühlt man sich erstmal wie in einem Juli-Zeh-Roman – die Windräder, der Landhandel, das Gasthaus namens „Kuhstall“, Tagesangebot: Currywurst. Schließlich werden die Kirchtürme der Altstadt sichtbar. Außer dem Griechen am Marktplatz hat Sonntag mittags kein Café geöffnet, kaum jemand lässt sich draußen zwischen den Fachwerkhäusern blicken. Und hier soll ein Nest von Menschen sein, die vor Ideen sprühen? Doch, jede Menge, hat man mir bei der Initiative Elblandwerker versichert: „Du solltest als erstes die beiden Marias fragen.“

Auftritt Maria Pegelow, 46, Landschaftsarchitektin, die das Coworking-Space am Marktplatz organisiert, die „Perle“. Das Büro in einem ehemaligen Ladengeschäft mit seinen Tapeziertischen, den Kaffeetassen vom Trödel und dem Konferenzraum, in dem ein Fahrrad lehnt, könnte genauso auch in Hamburg-Ottensen oder Köln-Ehrenfeld stehen. Inklusive denen, die hier tageweise arbeiten: eine Journalistin, ein israelisch-isländisches Paar, er Musiker, sie Therapeutin, und den Macher*innen einer Biolandwirtschaftskooperative mit dem schönen Namen „Gemüslichkeit“. Plus Maria, angestellt bei der brandenburgischen Architektenkammer, Dienstort: remote. 

Eine Corona-Fluchtgeschichte mit Happy End: Im zweiten Pandemiesommer mieteten sie und ihr damaliger Partner für schmales Geld ein besonderes Gebäude, einen mittelalterlichen Wehrturm mit vier Stockwerken, um ihn als Wochenend- und Ferienhaus zu nutzen oder dort im Homeoffice zu arbeiten. Mit Blick auf die Enten auf dem Flüsschen Stepenitz, als Kontrast zu ihrer Berliner Hinterhofwohnung. Die Liebe ist mittlerweile Geschichte, Maria immer noch da. 

Für immer – oder jedenfalls fürs erste. „Ich bin ein ungebundener Typ, habe keine Kinder, keine Verpflichtungen. Ich reise gern mit leichtem Gepäck“, sagt die Frau mit dem lässigen Haarknoten. Dennoch hat sie hier eine Art von Verbindung und Freundschaft gefunden, die sie in Berlin vermisst hat, beinahe, ohne es zu merken. „Perleberg zieht Gleichgesinnte an, Träumer, Sehnsüchtige, die sich noch austoben wollen“, so beschreibt sie den Spirit. „Ich habe in meiner ganzen Zeit in Berlin nicht halb so viele interessante und witzige Menschen getroffen wir hier.“ 

Längst ist sie Teil der Gemeinschaft und Anlaufstelle nicht nur für die Coworking-Räume, die die Stadt gratis zur Verfügung stellt. Eine Gruppe von zugezogenen Südtiroler*innen renoviert ein leerstehendes Gebäude und eröffnet darin den „Knödelclub“, mit Alpenküche und einem Hinterhofbiergarten im Shabby Chic? Maria steht aushilfsweise hinter dem Tresen. Die Stadt überlegt, was man aus den aufgelassenen Kasernen aus der Kaiserzeit machen könnte? Maria berät mit Architektur-Knowhow. Jemand sucht nach Investoren, die das frühere „Hoffmanns Hotel“ neben dem ehemaligen Postamt sanieren? Maria plant eine Aktion, bei der Anwohner Luftballons mit Wunschzetteln in den Himmel steigen lassen, Projektname „Hoffnungshotel.“

Der Investor fehlt noch, aber Teile des Areals sind bereits zu neuem Leben erwacht – dank Maria Nummer zwei, Nachname Kwaschik. Die 36-jährige Musiktheaterregisseurin aus Potsdam lebt seit knapp drei Jahren in Perleberg, eigentlich, weil sie nach einem Ort suchte, wo ihr kleiner Sohn unbeschwert aufwachsen kann. Und für sich selbst als Ruhepol zwischen ihren Reisen von Regieprojekt zu Regieprojekt. Auch sie kam, sah und blieb, angezogen vom Charme des Unfertigen, und weil sie spürte, dass sie hier etwas bewegen konnte: „Als Regisseurin bespiele ich gern unübliche Orte: ein Foyer, ein privates Wohnzimmer, ein ehemaliges Kühlhaus. Als ich von diesem alten Hotel erfuhr und den Hof sah, dachte ich sofort: Daraus könnte man einen Veranstaltungsort machen!“ 

So entstand das „Kulturkombinat“, bestehend aus Hof, Remise und Ausschank in einem Seitenflügel der Ruine. Und Maria Kwaschik lernte ganz nebenbei, wie man Pflaster verlegt, eine Bühne baut, Decken herausreißt und freiwillige Helfer*innen bei Laune hält („hinterher grillen, und gute Musik!“). In der schönen Jahreszeit  finden Open-air-Veranstaltungsabende statt – Konzert, Kino, Gesprächspodien. Und weil das Kulturkombinat ein Ort für alle sein soll, laden die Betreiber*innen auch zum Fußball-Public Viewing oder zum Flohmarkt.

Denn das ist wohl entscheidend dafür, dass es läuft zwischen Alteingesessenen und Neuzuzügler*innen, auch wenn das Tempo manchmal unterschiedlich ist, die Mentalität. Gesten, die zeigen: Wir, die Neuen, betrachten eure Stadt nicht als unseren Spielplatz, wollen uns nicht in unserer eigenen Blase abschotten. Kwaschik ist seit Kurzem auch „Innenstadtagentin“, vermittelt zwischen Stadt, Bürger*innen, Vereinen und Investoren. Etwa, wenn es um die neue Nutzung leerstehender Häuser geht. Geben statt nehmen – so wie Maria Pegelow das Coworking-Büro managt. Oder Katja Klugewitz in Luckau: Sie singt dort nicht nur im Chor, sondern stellte nach dem Hauskauf erstmal gemeinsam mit dem Bürgermeister („ein quirliger, lebendiger, offener Typ“) eine Corona-Impfaktion im Rathaus auf die Beine.

Wunschlos glücklich ist keine der Neu-Kleinstädterinnen, noch nicht. Die Wunschlisten gleichen sich: Ein paar mehr Cafés, mit Tischen zum Draußensitzen, für einen Kaffee im Vorbeigehen, das wäre schön. Ein paar Läden, ein Kino, das mehr zeigt als zwei Blockbuster. Radwege, ein Bus, der nicht nur alle zwei Stunden fährt. Aber dafür haben sie hier alle etwas gefunden, das ihnen mehr wert ist. Maria Pegelow sagt es so: „In Berlin ist vieles Show, man kann einander eine Menge vorgaukeln. Das Leben hier fühlt sich echter an. Purer. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ich kann so sein, wie ich bin.“ 

Alles bunt und gut?

Wenn sich das eigene Kind als queer outet, ist das heute keine große Sache mehr. Oder? Das dachte auch ich, ehe ich selbst als Mutter erlebte: Ganz so einfach ist es nicht. Das liegt an der eigenen Prägung – und an einer aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte. Mein Beitrag für die BRIGITTE, August 2023

Als meine beiden Kinder klein waren, vor zehn, fünfzehn Jahren, hatte ich einen Plan. Ich wollte sie zu maximal offenen und toleranten Menschen erziehen. Frauen, die Frauen liebten, Männer, die Männer liebten, all das sollte für sie so selbstverständlich sein wie die Tatsache, dass Menschen einen anderen Hautton haben als sie oder Rollstuhl fahren, statt zu Fuß zu gehen. Ich erwähnte auch, dass es Menschen gab, deren Geschlechtsempfinden nicht zu ihren körperlichen Merkmalen passte. Damit fühlte ich mich ganz weit vorn. Als ich selbst Kind war, habe ich kein Wort zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gehört. Ich war geschockt, als ich mit zehn oder elf zum ersten Mal von schwulen Männern erfuhr. So etwas gibt es?

Ich dichtete also in Vorlesebüchern manchmal ein Vater-Mutter-Kind-Trio zu einer Regenbogenfamilie um, feierte einen kleinen Jungen, der als Prinzessin zum Kita-Fasching kam und klopfte mir innerlich auf die Schulter. Super, Mama, alles richtig gemacht. Nur eine Möglichkeit hatte ich nicht bedacht: Dass queere Menschen nicht „die anderen“ sein könnten. Sondern ein Teil unserer Familie, von Anfang an. Auch wenn ich es lange übersah. Vielleicht übersehen wollte, aus Unsicherheit, Berührungsangst, Konformitätsdruck. Bis es nicht mehr anders ging.

Meine Tochter war acht, als sie sämtliche mädchenhafte Kleidung aus ihrem Schrank verbannte und bei Schulhof-Rollenspielen am liebsten die Jungsrolle übernahm. Zwölf, als sie sich die Haare raspelkurz schneiden ließ. Mit 13 verliebte sie sich – wenngleich unerwidert – in ein Mädchen und outete sich: Mama, Papa, ich bin bi. Mit 14 gab sie auf Instagram ihre Pronomen mit sie/er/they an. In allen Geschlechtern zu Hause. Wir bestärkten sie: Du weißt selbst am besten, wer und was du bist. 

Meinem Mann fiel das erstaunlich leicht, seine Liebe zu seinem Kind kam mir bedingungsloser vor als meine eigene. Ich tat mich schwerer, auch wenn ich es vor ihr zu verbergen versuchte. Ich erkannte mein kleines Mädchen nicht wieder, das ging tiefer als pubertäre Entfremdung. Aber Moment mal: War sie das überhaupt jemals gewesen, mein kleines Mädchen? „Ich bin genderfluid“, erklärte sie schließlich, „ich fühle mich manchmal weiblich, manchmal männlich, manchmal weder noch.“ Jedenfalls völlig anders als ich, und auch ganz anders, als ich mir eine heranwachsende Tochter vorgestellt hatte. Das musste ich erst einmal schlucken.

Mit diesen Wachstumsschmerzen bin ich nicht allein. In der Generation der Millennials finden sich deutlich mehr Menschen unter dem LGBTQI+-Label als in der Generation X. Laut dem „Global Survey“ des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos von 2021 mit 20.000 Befragten definieren sich weltweit 18 Prozent der heute 18- bis 25jährigen als homo- oder bisexuell, das sind doppelt so viele wie unter den heute 50jährigen. Und vier Prozent der Jüngeren ordnen sich nicht dem binären Männlein-oder-Weiblein-Schema zu, oder nicht dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurden. Vier Mal mehr als in der Elterngeneration. 

Andere Studien kommen zu anderen Zahlen, teils etwas niedrigeren, aber die Tendenz ist dieselbe: Sowohl die sexuelle Orientierung, also die Richtung von Lust und Liebe, also auch die geschlechtliche Identität werden heute stärker hinterfragt, Varianten offener gelebt. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass es mehr junge Schwule, Lesben oder trans Menschen gibt als früher. Nur, dass zumindest in der westlichen Welt heute vielerorts leichter möglich ist, dazu zu stehen. Gerade dann, wenn sich Menschen – wie meine Tochter – irgendwo in der Mitte verorten: Nicht lesbisch, nicht hetero, weder trans Mann noch „ganz Frau“. 

Diese Uneindeutigkeit zu akzeptieren, war eine Herausforderung. Nicht nur für mein Kind, auch für mich. Lange dachte ich, dass dieses Pendel irgendwann zum Stillstand kommen würde. Dass es sich um eine „Phase“ handeln würde, so wie das Thema in den Teeniezeitschriften meiner Achtziger-Jahre-Jugend abgehandelt wurde. Aber so wie es aussieht, gehört das zu ihr. Genauso wie der kleine Leberfleck neben ihrer Nase oder ihre Füße mit den knubbeligen Zehen, die genau so aussehen wie meine. Ich musste mich von einer Vorstellung lösen, die wohl tiefer saß als erahnt: Hier wir, die „Normalen“, dort „die anderen.“ Erst 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Homosexualität aus der Liste psychischer Krankheiten entfernt, erst 2018 Transidentität als normale Variante der geschlechtlichen Entwicklung anerkannt.

Ich habe sie einmal gefragt, wie sie sich wohl definiert hätte vor 30, 40 Jahren, als ein Begriff wie „genderfluid“ noch nicht im Umlauf war. „Wahrscheinlich hätte ich als Frau gelebt und auch heterosexuelle Beziehungen gehabt“, hat sie überlegt, „aber immer das Gefühl gehabt, das etwas nicht ganz stimmt.“ Das hat mich berührt. „Sei du selbst, finde deinen Platz in der Welt“ – ist es nicht das, was man seinen Kindern mit auf den Weg gibt? Oder will man Konformität um jeden Preis? So wie die kleine Mehrjungfrau im Märchen, die ihre Stimme opfert, um Teil der Menschenwelt zu werden? 

Irgendwann habe ich auch überlegt, ob meine frühen Toleranz-Lektionen meine Tochter zu der Person gemacht haben, die sie ist. Und gleichzeitig geahnt, dass der Gedanke absurd ist. So wichtig, so mächtig sind Eltern nicht. Woher genau sexuelle Orientierung und Geschlechtsempfinden kommen, das kann die Wissenschaft Stand heute noch nicht eindeutig sagen. Vielleicht wird sie es nie können, es ist ein komplexes Puzzle aus Genetik und Prägung. Sicher ist nur: Man kann weder das eine noch das andere anerziehen. Aberziehen auch nicht – nur unterdrücken. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ergab: 28 Prozent aller trans Jugendlichen wussten „schon immer“ über ihre geschlechtliche Besonderheit Bescheid, bei weiteren 33 Prozent war die Findung mit dem 16. Geburtstag abgeschlossen. Darunter Personen, die eine hormonelle und operative Geschlechtsangleichung wünschten, aber auch Menschen wie meine Tochter, die sich jenseits der gängigen Geschlechtszuschreibungen eingerichtet hat. Bei homo- und bisexuellen Jugendlichen kommt die Selbsterkenntnis oft etwas später, aber auch unter ihnen wissen zwei Drittel gegen Ende der Pubertät, wo die Reise hingeht.

Einfach zu sich selbst stehen, offen und frei, das ist aber nicht für jede*n möglich. Leider. Denn noch etwas habe ich als Heterofrau gelernt: Es ist längst nicht alles so bunt und gut, wie ich dachte. Nur weil Konzerne ausgeklügelte Diversity-Strategien vorlegen und die Fußball-Nationalmannschaft in Katar beinahe so etwas wie eine „One-love“-Armbinde getragen hätte, ist Akzeptanz keinesfalls selbstverständlich. Auch nicht in unserem vermeintlich aufgeklärten Land. Jede*r zweite der Jugendlichen erlebt während seiner oder ihrer Schulzeit Mobbing und Diskriminierung. 

Claudia Krell, die früher am DJI geforscht hat und heute bei der Münchner Beratungsstelle LeTra arbeitet, sagt: „Ich höre immer wieder, dass Hetero-Menschen den Eindruck haben: Das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Damit wird aber suggeriert, Menschen dürften kein Problem mehr damit haben, wenn sie queer sind. Die Unsicherheit, der Stress wird ihnen abgesprochen.“ Und der kann riesig sein. Das Bundesinnenministerium registrierte 2021 zum ersten Mal mehr als 1000 queerfeindliche Straftaten. Hass und Gewalt. Und wenn die AfD ausgerechnet im Juni, dem traditionellen „Pride Month“ für queere Sichtbarkeit, einen „Stolzmonat“ ausruft, dann ist das eine verbale Kampfansage, kombiniert mit dem Slogan „schwarz rot gold ist bunt genug.“ Wenn ich so etwas lese und an meine Tochter und ihre Freund*innen denke, wird mir himmelangst. In ihrer Schule, der Verwandtschaft, unserem Großstadtviertel ist sie – bisher! – sicher. Aber es gibt Gegenden, auch in Deutschland, da sollte sie mit ihrer bunten Clique besser nicht zum Zelten fahren. 

Und weil Teile der Gesellschaft das Gegenteil von empowernd sind, ist es umso wichtiger, dass Eltern queeren Kindern den Rücken stärken. Manchmal sogar lebenswichtig, sagt Claudia Krell: „Eltern müssen nicht immer alles richtig machen. Sie dürfen sich ihre Zeit nehmen, mit der unerwarteten sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ihres heranwachsenden Kindes klarzukommen. Aber wenn sie sagen: Ich stehe zu dir, wir schaffen das, geben sie einen unschätzbaren Rückhalt. Wir wissen aus Studien über Resilienz: Wenn es wenigstens eine Person gibt, an die sich Jugendliche vertrauensvoll wenden können, ist das Risiko für Suizid deutlich verringert.“ Das gilt ebenso für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen. 

Klar, es gibt es auch Kinder und Jugendliche, die in einer Selbstfindungsphase ihre Sexualität oder ihr Geschlecht hinterfragen, als Erwachsene aber fühlen und lieben wie die Mehrheit. Aber Empathie, Zuhören, vielleicht professionelle Beratung suchen – das schadet nie. Nicht ernst nehmen, ignorieren, eigene Vorstellungen in das Kind projizieren – das schadet immer.

Nächstes Jahr macht meine Tochter Abitur und wird volljährig. Oder sollte ich lieber sagen: Tochter*, mit Gendersternchen? Menschen wie sie bringen nicht nur die Verhältnisse zum Tanzen, auch die Sprache. Sie ist ein schillernder Mensch, trägt mal Herrenhemd, mal Kleid, und ich bin sehr stolz auf sie. Auf ihre Klarheit, ihr oft hart erkämpftes Selbstbewusstsein. Ihren Weg, der so anders ist als der meines jüngeren Kindes, männlich, hetero, auf einer straighten Linie vom Jungen zum Mann. 

Einen Plan? Den habe ich schon lang nicht mehr. Nur einen Wunsch. Dass sie mich beide noch ein Stück mitnehmen auf ihren Wegen. Dass es ihnen gut ergehen möge. Und dass ich weiter an ihnen wachsen kann.