Vor vier Jahren verlor Serpil Unvar ihren Sohn beim Terroranschlag von Hanau. Sein Zimmer hat sie seither unverändert gelassen, die Verhältnisse aber will sie umkrempeln: mit einer Initiative, die gerade zum internationalen Netzwerk wächst. Mein Porträt von ihr erschien im Februar 2024 in der BRIGITTE
Am Ende kommen ihr doch noch die Tränen. Serpil Unvar greift nach dem Mikro, das Gesicht tränenfeucht, die Worte trotzig: „Ich schwör, ich hasse Weinen.“ Eine kleine Person auf großer Bühne, elegante Weste über weißer Bluse, die dichten schwarzen Haare lang und offen. Direkt über ihr, im großen Veranstaltungssaal des Hanauer Kongresszentrums, wirft ein Beamer überlebensgroß ein Schwarzweiß-Porträt an die Wand. Es zeigt Ferhat Unvar, ihren ältesten Sohn. Basecap, Pelzkragen, wacher Blick. Darunter sein Geburtsdatum, der 14. November 1996.
Sein Todestag steht dort nicht.
Die Veranstaltung an diesem Abend soll weniger Trauerfeier sein als verspätete Geburtstagsparty, mit Luftballons, Bar und Büffet. Das Datum kennen ohnehin alle im bis zum letzten Sitz gefüllten Saal: den 19. Februar 2020, als ein Rechtsextremer zu einem Amoklauf aufbrach, wahllos Menschen umbrachte, deren Äußeres nicht in sein rassistisches Weltbild passte. An Orten, an denen sie sich sicher fühlten, in einer Shisha-Bar und einem Kiosk mit Pizzatheke. Einer von ihnen war Ferhat. Der Denker, der Dichter, der „Seelenmensch“, wie einer seiner Freunde auf der Bühne sagt. An jenem Winterabend hatte er nur kurz Billard spielen gehen wollen, um die Ecke von seinem Wohnhaus. Er kam nie wieder zurück.
„Die Trauer wird mich begleiten, bis ich sterbe“, sagt Serpil Unvar. Bis heute ist das Zimmer ihres Ältesten in ihrem Bungalow im Stadtviertel Kesselstadt so geblieben, wie er es verlassen hat. Wegzuziehen, fort von den schmerzlichen Erinnerungen? Für Serpil Unvar keine Option. Das wäre, als würde sie ihren Sohn zurücklassen.
Zugleich hat Ferhats gewaltsamer Tod ihr eine neue Lebensaufgabe gegeben. Schon ein dreiviertel Jahr danach, zum ersten Geburtstag, den er nicht mehr erlebte, gründete sie mit Mitstreiter*innen eine Bildungsinitiative, ließ Jugendliche zu Antirassismustrainer*innen ausbilden. Viele von ihnen aus migrantischen Familien, die selbst davon erzählen können, wie es ist, wenn man nicht für voll genommen, demotiviert, ausgegrenzt wird. Wegen einer Hautfarbe, eines Kopftuchs, eines Namens. Die Teams gehen in Schulen, Universitäten, Firmen. Für Betroffene eine Möglichkeit, sich auszutauschen, für die anderen, zuzuhören und sich in ihre Lage zu versetzen: Wie fühlt es sich an, wenn die Lehrerin zu dir sagt: Wozu brauchst du Abi, Frauen wie du bekommen doch eh mit 20 das erste Kind?
70 Workshops haben die Teamer*innen 2023 gegeben, und sie konnten nicht einmal alle Anfragen berücksichtigen. Der Bedarf ist da, wird immer mehr. „Auch Ferhat hat als Jugendlicher rassistische Erfahrungen gemacht“, sagt Serpil Unvar, „und es gibt viele kleine Ferhats dort draußen. Wir brauchen ein besseres Bildungssystem, das alle mitnimmt, alle Talente fördert. Das ist doch unsere Zukunft!“ Die Jugendlichen nennen sie „Serpil Abla“, wörtlich übersetzt: „große Schwester“. Eine gängige türkische für erwachsene Frauen, aber da schwingt noch mehr mit. Liebe und Bewunderung. Sie hat viel erreicht. Und sie will noch mehr.
Im Bild: Ich durfte Serpil Unvar in Hanau besuchen – dieses Selfie zeigt uns beide am Morgen nach der Jubiläumsfeier
Angefangen hat alles mit einem Startkapital von 125 Euro, ein Geldgeschenk von Ferhats Freunden. Per Social Media hatten sie mitbekommen, dass seine Mutter über die Gründung einer Initiative nachdachte, und sammelten dafür. Serpil Unvar erinnert sich: „Als die zu mir kamen und sagten, wir wollen dich unterstützen, da habe ich zum ersten Mal gedacht: Ja, so kann ich weiterleben, mit diesen Jugendlichen, die eine bessere Zukunft wollen. Dann ist mein Sohn nicht ganz umsonst gestorben.“ Die Idee einer Bildungsinitiative nahm Gestalt an, Serpil Unvar fand gleichgesinnte Unterstützer*innen. Eine Spendenkampagne brachte genügend ein, um die Räumlichkeiten zu mieten, die Arbeit war anfangs rein ehrenamtlich.
Später beantragten sie Fördergelder, lernten, wie man eine NGO führt – und sie bekamen praktische Hilfe. Unter anderem von Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, der die ersten Teamer*innen ausbilden ließ. Ein Deutsch-Israeli und eine muslimische Kurdin – diese Art der Verbindung sollte wegweisend werden, über kulturelle, religiöse, sprachliche Grenzen hinaus. Heute arbeiten neben zahlreichen Ehrenamtler*innen eine Reihe von Festangestellten mit, Serpil Unvar ist die Vorsitzende und das Gesicht des Vereins. Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, dankt ihr auf der Jubiläumsfeier so: „Du hast einen Ort geschaffen, an dem Menschen zeigen, was es heißt, an ein anderes Wir zu glauben, für ein inklusiveres Wir einzustehen.“
Längst ist die Initiative Teil eines größeren, thematischen Netzwerkes, deutschlandweit und international, finanziert von Spenden ebenso wie aus staatlichen und nichtstaatlichen Fördertöpfen aller Art. Etwa von der linksliberalen Stiftungsorganisation „Open Society Foundations“. Denn Vernetzung kostet Geld, vor allem für persönliche Treffen. Und Serpil Unvar und ihre Teammitglieder sind viel gereist in den vergangenen Monaten. Etwa nach Oslo und Athen, wo sie sich mit Hinterbliebenengruppen anderer rechtsradikaler Anschläge ausgetauscht haben. Der Fokus liegt immer auf Gewalt und Terrorismus – egal wo und egal, welche Ideologie dahintersteckt. An dem Abend in Hanau spricht unter anderem Astrid Passin ein Grußwort, sie hat ihren Vater beim islamistischen Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz verloren. Eine Mutter schickt eine Videobotschaft aus Barcelona, ihr Sohn kam beim Attentat auf den Pariser Club Bataclan ums Leben. Der Schmerz, der Vertrauensverlust, die Wut auf die Attentäter, oft auch auf Institutionen und Behörden – die Gefühle ähneln sich. Häufig sind es Frauen, oft Mütter, die sich bei diesen Anlässen gegenseitig Trost spenden. Sie alle kennen diese Geburtstage, an denen sie allein bleiben, weil ihre Kinder aus dem Leben gerissen wurden.
Am nächsten Vormittag, in den Räumen der Initiative – ein unscheinbarer Flachbau am Rand des Freiheitsplatzes im Stadtzentrum, an der Außenwand ein Graffito, das Ferhats Gesicht zeigt. Darunter eine Zeile aus einem seiner Gedichte, die heute beinahe prophetisch wirkt:
„Tot sind wir erst/ wenn man uns vergisst.“
Das Gebäude ist ein Ort des Gedenkens und des Aufbruchs zugleich. Hier werden Workshops geplant, aber es ist auch ein Begnungsort für jedermann, zum Chillen auf den schwarzen Ledersofas, zum Quatschen, Teetrinken, Werwolf spielen. Serpil Unvar und ihre Mitstreiter*innen haben zum deutsch-türkisch-kurdischen Frühstücksbüffet geladen, mit Scheibenkäse und Oliven, Filterkaffee und dampfendem Çay. Die Nacht davor war lang, die Veranstaltung, die Feier danach. Gerade einmal zwei Stunden hat sie geschlafen, trotzdem ist sie das Energiezentrum des Raums, lacht, umarmt Menschen, scheint an allen Tischen gleichzeitig zu sein. „Weißt du, die Leute um mich rum, die laden meinen Akku auf wie mit einem Schnelladekabel.“
Vielleicht muss man dafür ein Stück zurückgehen, um zu verstehen, was sie antreibt, also etwa 47 Jahre – ihren exakten Geburtstag kennt Serpil Unvar selbst nicht. Sie kam als das jüngstes von acht Kindern im kurdischen Teil der Türkei zur Welt, nahe der syrischen Grenze, und schon ihre eigene Mutter lebte ihr eine besondere Kombination vor aus traditioneller Rolle plus weiblicher Superkraft. Als Serpil ein kleines Mädchen war, ging ihr Vater zum Arbeiten nach Frankreich, von da an war ihre Mutter auf sich gestellt, verheiratet und doch alleinerziehend. „Aber ich habe sie nie klagen gehört. Sie hat einfach getan, was getan werden musste.“
So wie später sie, die Tochter. Was sie erzählt, ist eine Geschichte von Wachstum, auch wenn sie geprägt ist von einem schrecklichen Schicksalsschlag, dem Terror-Tod des Sohnes. Mit 20 kam Serpil Unvar mit ihrem damaligen Mann nach Deutschland, in ein fremdes Land mit fremder Sprache und fremder Kultur. Wurde Mutter, besorgte sich einen Job in einer Schnellrestaurantküche, um ein eigenes Einkommen zu haben. Vor acht Jahren ließ sie sich schließlich vom Vater ihrer vier Kinder scheiden. Weil er sie klein hielt und ihr nicht gut tat. Ein Mutausbruch, nach einem bösen Streit zu viel. Später begann sie, Artikel für kurdische Zeitungen zu schreiben. Hörte damit 2020 wieder auf, nach Ferhats Tod, zu beschäftigt damit, einfach nur von Tag zu Tag zu überleben. Und gleichzeitig ihre anderen Kinder nicht zu belasten: „Ich habe nie vor ihnen geweint, höchstens im Schlaf. Ich mache viel mit mir selbst aus.“
Heute ist sie das Gesicht eines internationalen, wachsenden Netzwerkes gegen den Hass, sie spricht am Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt vor dem EU-Parlament in Brüssel, bekommt Preise für ihr Engagement, zuletzt das „Marburger Leuchtfeuer“. Sie hat nie eine Fachausbildung gemacht, nie studiert. Alles, was sie wissen muss, hat sie vom Leben gelernt. Und außerdem, sie ist ja nicht allein. „Wir Frauen bringen die nächste Generation zur Welt, schaffen die Zukunft. Das macht stark. Wir müssen nur an uns selbst glauben, dann gibt es keine Grenzen“, sagt Serpil Unvar.
Aber ist es nicht auch eine Gratwanderung: eine Arbeit zu machen, die einen Tag für Tag mit dem größten Verlust des eigenen Lebens konfrontiert? Die einen ständig in ein Wechselbad der Gefühle taucht, aus Trauer, Wut, Mut, Hoffnung, Stolz? Serpil Unvar sagt, für sie ist es der beste, der einzige Weg. Für Ferhat, mit dem sie oft lange, innere Zwiegespräche führt: Was möchtest du, was wäre dir heute wichtig? Für die drei Kinder, die am Leben sind, die Älteren Anfang 20, der Kleinste gerade elf Jahre alt geworden. Für alle, die an sie glauben, Mitstreiter*innen, Weggefährt*innen.
„Ferhat wollte lebendig bleiben“, sagt sie, „Und wir halten ihn lebendig. Jedes Jahr am 14. November wird die Initiative ein Jahr älter, und er mit ihr.“ Und jedes Jahr zu seinem Geburtstag werden sie wieder Luftballons steigen lassen. Schwarz wie die Trauer. Gold wie das kostbarste, das wir haben, das Leben. Und leicht wie die Hoffnung.
INFOKASTEN: Die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ in Hanau besteht seit November 2020, beschäftigt ein Team von sieben Angestellten plus zwei FSJler*innen und eine große Zahl ehrenamtlicher „Teamer*innen“, die an Schulen, in Unis und Firmen Workshops gegen Rassismus und Diskriminierung geben und Vorträge halten. Sie finanziert sich aus verschiedenen Fördermitteln und Spenden