Ich hab es beruflich super getroffen – als Selbständige bin ich Chefin und Angestellte in einer Person. Aber Ahnung, wie man sich selbst gut anleitet, habe ich nicht.
Kann man das lernen? Das habe ich mich im Sommer 2022 für die BARBARA gefragt.
Das Foto ist beim Shooting entstanden: „Verena, guck mal chefig!“
Meine Chefin so? Ich sag mal: tagesformabhängig. Sie hat schon ihre Momente. Zeichnet mir jeden Urlaubsantrag ab, teilt mir nichts zu, worauf ich so gar keinen Bock habe. Aber dann wieder knallt sie mir ohne Vorwarnung einen Stapel Papiere auf den Schreibtisch und kreischt etwas von Planänderung. Weil plötzlich etwas wichtiger ist als das, woran ich gerade sitze. Das versteht sie wohl unter agiler Führung. Sie geizt mit Lob und meckert viel. Ihre Idee von New Work ist auch nur halb ausgereift: Arbeit im Bett ist okay, aber einen Kicker habe ich noch immer nicht. Außerdem warte ich seit 2004 auf ein Gespräch über berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei ist ein Termin eigentlich nicht schwer zu bekommen: Meine Chefin bin ich.
Als freiberufliche Journalistin gehöre ich zu den zwei Millionen Soloselbständigen, die niemanden beschäftigen außer sich selbst. Die an niemanden berichten, außer wenn sie unter der Dusche Selbstgespräche führen. Die Vorteile sind klar, die Nachteile auch: Wenn ich mir das bisschen Leadership selbst machen muss, bleibt alles ziemlich handgestrickt, Motivation, Richtung, Struktur. Kann ich mir irgendwo eine Schulung abholen? Und hilft mir das vielleicht sogar in meinem Zweitjob, als Mutter zügelloser Teenager?
ALS SCHREIBENDER MENSCH ist mein erster Impuls: etwas zum Thema lesen. In der Buchhandlung scanne ich anderthalb Regalmeter „Führung und Management“. Die eine Hälfte hört sich an wie ein Youtube-Motivationsvideo, schon im Titel:
Do Epic Stuff!, The Mind of the Leader! In der anderen spricht man deutsch („Die ersten hundert Tage in der Führungsrolle“), und auf den Titelfotos beugen sich Männer mit offenem Hemdkragen über Frauen in weißen Blusen, als suchten sie gerade ihr nächstes MeToo-Opfer. Diese Art Ratgeber haben auf mich eine schwer sedierende Wirkung. Beim Anblick endloser Checklisten für Zielvereinbarungen und Konfliktgespräche sehne ich mich nach tiefem ungestörten Büroschlaf. Die mit den englischen Titeln machen dagegen hibbelig wie Koks auf dem Konzernklo: Bei so viel disruptiven, game-changing Ansätzen bekomme ich schon beim Blättern Bluthochdruck. Aber wie ich als Chefin mehr aus mir heraushole und gleichzeitig wertschätzender mit mir umgehe, sagt mir keiner. Auch nicht, wie ich meinen 13-Jährigen effektiv dazu bewege, seine Socken im Wäschekorb zu deponieren. Statt unter seinem Bett.
Auf dem Heimweg vom Buchladen bin ich nervös: Wird mich meine Chefin wegen Zeitverschwendung abmahnen? Da erreicht mich ein Anruf von Kollegin Bea, Autorin wie ich. Seit neuestem verbringt sie drei Nachmittage pro Woche auf dem Land bei ihrem neuen Freund. Ein Spanier namens Dio, gut gebaut, elegant und blutjung. Der Vierjährige steht in einem Reitstall 50 Kilometer nördlich von Hamburg, und gemeinsam mit Trainerin Franzi bringt sie ihm bei, wie Tier und Mensch gut zusammenarbeiten. Vielleicht kann ich mir da etwas abgucken.
„Soso, Führung“, sagt Pferdeflüsterin Franzi, während sie Dio an die Longe nimmt, „was verstehst du denn darunter?“ Ich stammle etwas von Respekt verschaffen, Durchsetzen, klaren Ansagen. „Aha“, gibt sie zurück und verzieht keine Miene, „und ich dachte, wir hätten dieses autoritäre Denken endlich hinter uns gelassen.“ Es ist klar, dass sie nicht nur von Reiterhöfen spricht. Peinlich berührt trotte ich hinterher und beobachte, wie sie Dio seine Aufwärmrunden laufen lässt, ihn lobt, ihn schon durch das zarte Anheben ihrer Longierpeitsche dazu bringt, einen Zahn zuzulegen. Mehr Zwiegespräch als Zwang. „Ich habe immer eine Vorstellung, wie ich das Bewusstsein meines Gegenübers anheben kann“, erklärt sie, „und im besten Fall ist das Gegenüber daran interessiert.“
Das klingt etwas esoterisch, hat aber einen handfesten Kern. Ich verstehe: Auch mir würde im Selbstgespräch mehr Schulterklopfen und Ansporn guttun. Dann könnte ich mir mehr zutrauen, die Latte etwas höher legen. Das wichtigste an der Führung, sagt Franzi, ist Freude. „Ich gebe nicht nur ein Ziel vor, ich möchte vor allem, dass der Funke überspringt.“ Auf mich bezogen heißt das: Mehr „Wow, wo willst du heute hin?“, weniger „Na, Frau Carl, kommen wir heute noch mal in die Hufe?“
Das Pferd ist jetzt warm. Longe ab, Bea in den Sattel. Sie wechselt wie von Zauberhand Gangarten, Tempo, Richtung, ohne Drohen, Schimpfen oder Schreien. Wäre ich nicht selbst ein Ex-Pferdemädchen, würde ich nicht mal erkennen, wie sie das macht: leichter Schenkeldruck hier, minimaler Zügelzug da. Die beste Führung ist unsichtbar. Invisible Leadership. Hey: Das wäre mal ein guter Titel für ein Buch! Oder für einen Podcast. Gleich notieren. Später, während Bea Dio in den Stall führt, erzählt sie, dass pferdegestütztes Training für Manager seit Jahren gut gebucht ist. Dabei sollen Leute, die sonst Umsatzvorgaben erarbeiten oder Zielmärkte erschließen, beispielsweise einen Parcours in der Reithalle aufbauen. Und begreifen dabei, warum die Stimmung in ihrem Büro so mies ist. Wer zu viel Druck ausübt oder seine Wünsche nicht klar zum Ausdruck bringt, macht nicht nur sein Team wuschig, sondern bringt auch kein Pferd dazu, über Balken zu steigen und um Tonnen herumzugehen
Bald schon kann ich das Learning anwenden, in meinem kleinen, gelegentlich erfolgreichen Familienunternehmen. Die Challenge: eine aufgelöste 16-Jährige, die versucht, innerhalb von zwei Stunden für eine Klassenarbeit nachzuholen, was sie in zwei Monaten verschlafen hat. Normalerweise sind mein Liebster und ich eine gute Doppelspitze, aber heute ist Papa mit seinen Skills am Ende: Weder Negativ-Feed-back („Habe ich dir nicht schon vor drei Tagen gesagt …“) noch der Verweis auf digitale Organisationstools („Ich richte dir jetzt ein Trello-Board ein“) helfen weiter. Dafür komme jetzt ich, mit der richtigen Mischung aus Liebe und Struktur, wie bei jungen Pferden. Aufs Wesentliche konzentrieren, aufhören, ehe nichts mehr geht. Töchterchen und ich einigen uns auf eine niedrigschwellige Zielvorgabe. Eine Vier ist gut genug, eine Fünf lässt sich ausgleichen. Ich muss daran denken, was meine Freundin Jasmin, Co-Chefin einer mittelständischen Pharmafirma, einmal gesagt hat: „Führung heißt nicht, Kontrolle ausüben, sondern Kontrolle abgeben. Vertrauen. Zügel lang lassen.“ Weil ich gerade so
einen Lauf habe, plane ich abends eine Teambuilding-Maßnahme, beim Familienessen: Der warme Stuhl. Jeder sagt den anderen, was er toll an ihnen findet. Den Tipp habe ich von einer Lehrerin. Die habe ich auch gefragt, wie sie mit Problemschülern, Störern, Saboteuren umgeht. Ganz ähnlich: Loben, bis der Arzt kommt. Jedes noch so kleinste Fitzelchen erwähnen, das gut läuft, statt über den Berg Bockmist daneben zu schimpfen. Das probiere ich gleich bei meinem Sohn aus: „Oh, super, unter dem Kopfende liegt nur ein einziges Bonbonpapierchen“ statt „Was ist mit den sieben Socken unter dem Fußende – und ist das daneben etwa dein verlorenes Biobuch?!“ Das irritiert ihn so, dass er später freiwillig die Spülmaschine ausräumt.
WENN MITARBEITER ETWAS GUT MACHEN, bekommen sie je nach Gehaltsklasse eine kleine Prämie oder die Champions-of-the-year-Golfreise nach Malle spendiert. Ich finde, ich habe auch einen Bonus verdient und schenke mir zum Abschluss Konzertkarten, inklusive Schaumwein in der Pause. Der Dirigent ist ein attraktiv ergrauter Finne, und was er am Pult macht, ist mehr Ausdruckstanz als Einsatzplanung. Es sieht aus, als wäre das gesamte Orchester, die Hornistinnen, Geigerinnen, Paukisten, seine Klaviatur, auf der er virtuos spielt. Am Ende applaudieren sich die Bläser gegenseitig, die Streicher wedeln mit ihren Bögen, das Publikum flippt auf hanseatische Art aus. Und ich merke: Dasselbe passiert an guten Tagen in meinem Kopf. Wenn plötzlich alle inneren Stimmen harmonisch zusammenklingen, dann komme ich am weitesten, egal, ob beim Arbeiten oder mit meinen Kindern. Ich habe ja jetzt ein paar Ideen gesammelt, wie ich mir mehr solche Momente schaffen kann. Nur meiner Chefin muss ich noch Bescheid sagen.