Was ist das eigentlich: gesellschaftlicher Zusammenhalt? Was zahlt darauf ein, was gefährdet ihn, und leben wir in einer „gespaltenen Gesellschaft“, so wie es oft den Eindruck macht, wenn man die Bruchlinien zwischen Einkommensgruppen, politischen Haltungen, Wählerschichten, Identitäten, Herkünften betrachtet?
Die Bertelsmann Stiftung hat dazu über zehn Jahre lang intensiv geforscht, Stimmungsbarometer und Studien veröffentlicht, den Forschungsstand verglichen. Was sind eigentlich die Faktoren für sozialen Zusammenhalt: Unsere sozialen Netze? Identifikation mit einem Ort? Politisches und gesellschaftliches Engagement? Gerechtigkeitsempfinden?
Daraus entstand der Wunsch nach einem Buch, das beides verbindet: Empirie und Praxis.
Im abgelaufenen Jahr durfte ich im Auftrag der Stiftung durch Deutschland reisen, um eben dieser Frage auf den Grund zu gehen, und habe für neun Reportagekapitel ganz unterschiedliche Menschen an sehr verschiedenen Orten gesucht, gefunden und getroffen. Gelingendes wie Gescheitertes protokolliert, und gemeinsam mit meinen Auftraggeber und Mit-Autoren überlegt, was daraus folgt.
Zum Beispiel:
Eine Gruppe von engagierten Frauen, die auf einem sächsischen Dorf ein nicht-kommerzielles Dorfcafé gegründet haben, und täglich darum ringen, wie man trotz politischer Gräben beim gemeinsamen Tun noch einen Gesprächskanal offen hält (im Bild: Klezmerkonzert in Sohland am Rotstein).
Zwei Männer in einer niedersächsischen Kleinstadt, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen mit dem Ort identifizieren: der eine, weil er als Schützenkönig eine Uniform trägt, wie sie schon sein Urgroßvater aus demselben Ort trug, der andere, weil er Teil eines Bio-Bauprojektes ist, in dem Menschen mit alternativen Lebensentwürfen zusammenkommen.
Einen frustrierten Feuerwehrmann im Münchner Speckgürtel, der an der Bürokratie verzweifelt und neue Formen des Engagements sucht – und eine Frau aus München, die von ihren Erfahrungen als Spontan-Helferin für eine ukrainische Familie erzählt.
Einen Künstler aus Bremen, der mit Hilfe von Kunst einen angstbesetzten Fußgängertunnel in einem Wohlfühlort verwandelt hat – allerdings einen, der nicht jedem/jeder gefällt (im Bild: Ausschnitt aus dem teilweise zerstörten Kunsttunnel, gestaltet von Johann Büsen).
Die Mutter eines der Opfer des rechtsextremistischen Anschlages in Hanau vom 19. Februar 2020, die heute eine Bildungsinitiative gegen Rassismus leitet und sagt: Ohne Vertrauen in meinen Mitmenschen könnte ich diese Arbeit gar nicht machen.
Die Leiterin eines Instituts der Hamburger Polizei, das sich die interkulturelle Zusammenarbeit auf die Fahnen geschrieben hat und den Zusammenhalt stärken will, auch das Institutionenvertrauen, in einer Stadt, in der jedes zweite Kind migrantisch ist.
Eine Gruppe von engagierte LGBTQIA+-Aktivist:innen in Ulm, die gemeinsam mit der Stadtverwaltung darum ringen, dass queeres Leben in Ulm sichtbar sein darf und angstfrei möglich (im Bild: Ulmer Münster mit Regenbogenflagge, und ich unterwegs)
Einen jungen Politiker aus Berlin, der sich für eine Reform der Erbschaftssteuer einsetzt, und eine junge Mutter, die von ihren Erfahrungen im Modellversuch zum bedingungslosen Grundeinkommen berichtet.
Last but not least eine Gruppe aus Ludwigsfelde, die sich dem Experiment eines Bürger:innenrates gestellt haben: Was gibt es für neue Formen für niedrigschwelliges, politisches Engagement, und wie muss das aussehen, damit hinterher nicht Frustration auf allen Seiten herrscht?
Anfang Dezember 2023 wurde „Anders wird gut – Berichte aus der Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ in Berlin vorgestellt, zu bestellen gibt es das Buch hier. Einen Podcast mit Kai Unzicker (mein Auftraggeber und Mitautor) und mir gibt es hier zu hören. (Im Bild: Buchvorstellung – leider auf meiner Seite nur digital, weil ich an dem Tag krank war).
Für mich war das Projekt nicht nur beruflich beglückend, sondern hat mir auch persönlich Mut und Zuversicht gegeben: Ja, wir stehen vor riesigen Herausforderungen, vor gewaltigen Transformationen, aber wir sind auch umgeben von jeder Menge guter Ideen, wie es weitergehen könnte, wie das Andere gut werden kann.
Ich würde mich freuen, wenn sich daraus weitere interessante Projekte ergeben, bei denen es darum geht, Menschen hinter der Statistik zu finden, Wissenschaft und Journalismus zusammenzubringen.
Ihnen und euch allen ein gutes, kraftvolles, mutmachendes und erfüllendes 2024!