Generation Hä?

20jährige ticken heute oft völlig anders als ihre Eltern im gleichen Alter, in Liebe, Job und Leben. Für die BRIGITTE Woman, Ausgabe 8/22, habe ich mich gefragt: Ist das ein Anlass, sich zu wundern – oder auch, sich ein paar frische Ideen abzuschauen?

Ich bin 52 und habe gute Gründe, mich jung zu fühlen. Nachmittage auf dem SUP-Board, ein Abendessen bei Freunden, das in eine spontane Tanzparty mündet, das Naturblond, das sich dank freundlicher Gene noch immer flächendeckend auf meinem Kopf befindet (danke, Papa). Aber manchmal werde ich auf einen Schlag auch ganz schön alt. Zum Beispiel neulich, als mir meine Nichte erklärte, sie wolle doch lieber Lehrerin werden als was mit Medien, „weil ich auf meine mentale Gesundheit achten will“. Echt, mit 19? Oder die Schulabgängerin von nebenan, die auf die Frage nach ihrem Beziehungsstatus so irritiert dreinschaute, als hätte ich gefragt, ob sie an Einhörner glaubt. War da nicht mal was, in dem Alter, mit Liebe und so? Zuletzt meine 16jährige Tochter, die von einer Netzbekanntschaft namens „River“ erzählte. Ein Junge, ein Mädchen? Weder noch: „Eine Person, der Pronomen nicht so wichtig sind.“ Ach so. Sozialforscher sprechen von Millennials. Ich nur noch von „Generation Hä?“.

Als vor ein paar Jahren die gesundheitsbewusste, sensible, sinnsuchende „Generation Y“ in aller Munde war, „y“ wie „why“, dachte ich noch: Jetzt macht mal halblang. Auch wir Älteren hatten nicht ständig Dollarzeichen in den Augen, Sex im Kopf und Caipirinha im Glas. Aber jetzt wird die nächste Altersgruppe erwachsen, und kratzt dabei an Dingen, die ich für die Basiseinstellung des Jungseins hielt. Sie wollen lieber Minecraft als Nightlife, lieber Selfcare als Karriereplan, lieber Kuscheln als Vögeln. Um es mit einem Top-Ten-Hit aus den Achtzigern zu sagen: Was soll das? Geht das wieder weg? Oder ist es am Ende zukunftsträchtig? 

Natürlich ist es immer schwierig, Menschen über einen Kamm zu scheren, nur weil sie ein ähnliches Geburtsjahr teilen. Schon gar nicht, wenn Individualismus großgeschrieben wird und nichts so uncool ist wie Herdentrieb. Nur ein Beispiel: Bei der letzten Bundestagswahl machten ähnlich viele Erstwähler:innen ihr Kreuz bei der FDP (23 Prozent) wie bei den Grünen (21 Prozent). Das heißt, unter 18jährigen sind konsumfreudige Porsche- und PS-Fans genauso vertreten wie die, die sich auf Durchgangsstraßen festkleben, um die Verkehrswende zu erzwingen. So wie sich in den Achtzigern Rick Astley- und The Cure-Hörer:innen dieselbe Raucherecke auf dem Schulhof teilten. Aber Gemeinsamkeiten unter Millennials gibt es eben doch, quer zur politischen Grundeinstellung. 

Anruf bei Ines Imdahl, Psychologin aus Köln und Gründerin des Rheingold-Salons. Die Sozialforscherin beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Werten und Befindlichkeiten, besonders die junger Frauen. „Anpassung ist die neue Rebellion“, so fasst sie das Lebensgefühl zusammen. Der fundamentale Unterschied zu uns, geboren um 1970: Während wir uns nach Entgrenzung gesehnt haben, Rausch, Ekstase, ob beim Interrail-Trip oder auf der Technoparty, hat sich bei den heute 20jährigen Ernüchterung breit gemacht. „Mama, Papa, Krise – so sind sie aufgewachsen“, sagt Imdahl. Klimastreik, Corona-Daueralarm, die fragmentierte, überdrehte Welt zwischen TikTok-Clip und Fast Fashion, als jüngstes Drama der Krieg in der Ukraine. Da ist die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit verständlich. War das ikonische Bild unserer Jugend die berstende Mauer aus Pink Floyds „The Wall“, sind es heute Insta-Posts unter dem Hashtag #cottagecore: Feldsteinmauer, Kletterrosen, Milchkanne. Nicht „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sondern die Suche nach heilen Orten. Selbst unter Berufsanfängern vor der Familienphase sinkt die Lust auf die Altbauwohnung im Szeneviertel und steigt die aufs Häuschen mit alten Apfelbäumen im Garten. 

Das kann man für spießig und biedermeierlich halten. Oder für eine ziemlich gesunde Reaktion auf eine ziemlich kranke Welt. Von Menschen, die in der Lage sind, sich besser zu schützen als wir. Sicher nicht zuletzt eine Erziehungsfrage. Unsere eigene Elterngeneration war zwar wohlmeinend, trug aber die Härte und Strenge der Kriegs- und Nachkriegszeit noch in den Knochen. Konformitätsdruck, Leistungsanspruch, so sind wir aufgewachsen. Unseren Kindern haben wir vielfach andere Werte mitgegeben. Kenn deine Grenzen, sag nein, deine Bedürfnisse sind wichtig. Das sorgt hier und da für Irritation. Kein Wunder, dass vor allem die sprichwörtlichen Alten, Weißen Männer den heutigen Berufsanfänger:innen das Label „Generation Schneeflocke“ verpassen. Weil diese weniger druckempfindlich, weniger leidensfähig sind. Das mag ein Problem für Chef:innen sein, ist aber auch ganz schön clever: Wer mit 25 auf sich achtet, braucht mit 45 eher keine Burnout-Klinik. Zu Ende gedacht, ist diese Haltung alles andere als angepasst. Sondern eine ziemlich radikale Forderung nach einer menschenfreundlicheren Arbeitswelt. 

Je mehr ich über das Thema nachdenke, desto klarer wird mir: Hinter der netten, sensiblen Fassade brennt jede Menge revolutionäres Feuer. Da wachsen Menschen nach, die vieles hinterfragen, bis zu unserem Konzept von Körper, Liebe, Familie. Nicht, dass gleich alle polyamor werden oder ihr Geburtsgeschlecht anzweifeln. Aber wenn in Studien sieben bis 15 Prozent aller befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeben, nicht rein heterosexuell zu sein oder nicht ausschließlich weiblich oder männlich, dann sind das ganz schön viele, ganz schön mutige Menschen auf der Suche nach sich selbst. Auch Beziehungen werden neu vermessen. In der preisgekrönten Young Adult-Serie „Druck“ (auf YouTube) zählt die verlässliche Clique mehr als wechselnde Knutsch- und Sexaffären. Deutlich anders als zu unserer Teeniezeit, als Mädchen die Suche nach „dem Richtigen“ als Lebensziel schon ins Poesiealbum geschrieben wurde. Zwar spielte bereits vor 20 Jahren Frauenfreundschaft eine tragende Rolle in „Sex and the City“, aber der Hauptgewinn war der ewige Traummann Mr. Big. Am Ende waren alle in festen Händen, selbst Sexgöttin Samantha. Ächz, stöhn, gähn. Im aktuellen Nachklapp „And just like that“ (läuft gerade auf Sky) fremdeln Carrie und ihre gealterten Freundinnen mit der woken, genderfluiden Gegenwart, und sind gleichzeitig davon fasziniert. Genau wie ich.

Vielleicht, so kommt es mir vor, tut unsere Nachfolgegeneration eben doch, was junge Leute halt so tun: Sie grenzt sich ab, mit ihrer Art zu lieben, mit ihrer Art zu leben. Nur auf andere Weise als wir. Einfach, weil wir eine ganze Menge Felder schon für uns besetzt haben, die heute nicht mehr zu Rebellion taugen. Wir tragen mit 50 immer noch dieselben Street Style-Klamotten, gehen auf Festivals, wenn die Covid-Zahlen es erlauben, lassen uns von Musiksoftware aktuelle Playlists zusammenstellen. Gut so. Also suchen sich unsere Töchter, Nichten, Kinder von Freunden andere Nischen. Treffen sich auf Discord im Netz statt nachts im Club, folgen online Streamern statt Filmstars, verlangen Hafermilch statt Kuh zum Cappuccino (vorbildlich!) und vegane Festmenüs. Im Extremfall machen sie mit ihren Eltern auf Best Buddys und weigern sich, zu Hause auszuziehen, bis sie 27 sind. An dieser Stelle ein Wort an meine Kinder: Falls ihr so etwas mit mir vorhabt, vergesst es! Rebellieren und mich abgrenzen, wenn mir was nicht passt – das kann ich schon seit über 30 Jahren.