Arsch der Heide? Von wegen: Jenseits überteuerter Großstädte finden Pionier*innen neue Freiräume für Kreativität und spinnen inspirierende Netzwerke. Und oft haben dabei Frauen die Nase vorn. Wie in Luckau und Perleberg, wo ich im Frühjahr 2023 für die BRIGITTE recherchiert habe
„Da muss jetzt mal was vorangehen“, sagt Katja Klugewitz, 53. An einem kalten Morgen steht sie mit ihrer Bauingenieurin im Flur eines fast 300 Jahren alten Stadthauses in Luckau, 10.000 Einwohner, knapp 100 Kilometer südöstlich von Berlin, und gleicht Pläne ab: Der Tischler muss noch seinen Termin bestätigen, der Elektriker ein Angebot machen. Denn wo jetzt noch rohes Mauerwerk ist, grob abgeschliffene Holztüren und eine Freitreppe unter einer dicken Schicht Baustaub, soll nach der Kernsanierung eine Mischung aus Wohnhaus und Kulturzentrum entstehen. „Kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen!“ Der Rundgang ist ein kurzer Ritt durch die Geschichte: Im 18. Jahrhundert wurden in den beiden Hinterhäusern Teppiche geknüpft und Zigarren gedreht, im Vorderhaus gingen im 19. Jahrhundert „Kolonialwaren“ über die Ladentheke. Nach dem Mauerfall stand das Haus zwischen Marktplatz und Altstadtgraben für 30 Jahre leer, bis es vor zwei Jahren eine neue Besitzerin fand.
Wobei, was heißt schon leer. „Das war wie eine Zeitkapsel“, erinnert Katja Klugewitz sich, „beim Ausräumen haben wir noch alle möglichen DDR-Produkte gefunden, etwa eine Kiste Cola mit der Aufschrift ‚VEB Getränke Drehna‘.“ Und weil sich die energische Frau nicht nur für ihren Beruf als Ärztin begeistert, Fachbereich Innere Medizin, sondern auch fürs Fotografieren, war im Herbst 2022 rasch die erste Idee für eine Popup-Ausstellung im Rohbau geboren, zur „Altstadtnacht Luckau“. Mit Fotos der Zufallsfunde, dazu Zeichnungen einer örtlichen Künstlerin und Musik von einem Jazzgitarristen. Unplugged, denn Strom gab es noch keinen, dafür Solarlaternen und Kerzenlicht. „Eine Wahnsinnsstimmung“, erinnert sie sich, „die Leute tanzten im Schaufenster, auf der Straße, kamen und gingen bis spät in die Nacht. Mich hat das an die Atmosphäre im Berlin der 90er erinnert, wo ich studiert habe: ständig gab es neue Kneipen und Clubs in Wohnungen oder leerstehenden Gebäuden, man erfuhr durch Mundpropaganda davon. Ich mag dieses Unfertige, Raue.“
Katja Klugewitz gehört zu einer wachsenden Anzahl von Menschen, die nach Orten suchen, an denen sowas geht: Kulturprojekte, oder neue Formen des Zusammenlebens, oder Startups. Raum für Ideen, die angesichts der Immobilienpreise und der Wohnungsnot in Großstädten kaum noch finanzierbar sind. Denn in Berlin, Hamburg, Leipzig, in West wie Ost sind die Freiräume abhandengekommen, fast jedes ehemals alternative Viertel durchgentrifiziert. Gleichzeitig macht es die Digitalisierung möglich, in mehreren Welten zugleich zu leben.
Das bringt Aufwind für Gegenden wie den Landkreis Dahme-Spree, die Prignitz zwischen Berlin und Hamburg, das Dreieck Görlitz-Zittau in der Lausitz, aber auch für das niedersächsische Emsland westlich von Bremen. Alles Entdecker-Ecken, an denen es brodelt. Teils ganz von selbst, teils angelockt von Zuzugs- und Rückkehrer*innen und ihre Initiativen wie elblandwerker.de oder raumpioniere-oberlausitz.de. Orte, an denen man bei der Suche nach Wohn- und Büroräumen nicht zuerst den Immobilienmakler anruft, sondern die Leerstandsmanagerin.
Wer hierher kommt, sucht meist nicht nur Ruhe, Platz für die eigenen Tomatenstauden und bezahlbaren Wohnraum. Sondern will sich auch einbringen, manchmal nur für eine Weile, manchmal dauerhaft. Die Schönheiten abseits der Ballungszentren aus dem Dornröschenschlaf küssen. Es mag Zufall sein, dass die wichtigsten Personen bei Katja Klugewitz‘ Sanierung alle weiblich sind, eine Bauingenieurin, eine Statikerin eine Vermessungsingenieurin. Aber es ist ein sprechender Zufall. Dabei geht es auch um ganz Handfestes. Klugewitz, die in Lüneburg aufwuchs, hat Ideen, wie man Nachwuchsmediziner*innen anlocken könnte. „In Zukunft wird es nicht mehr nötig sein, ständig in einer Praxis präsent zu sein“, glaubt sie. Dann könnte man pendeln, mal Luckau, mal Homeoffice mit Videocall-Sprechstunde in Berlin, Magedeburg, Dresden. Und alle hätten etwas davon.
Nächste Station: Perleberg, auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg. Fährt man auf der B 5 hinein in die 13.000-Seelen-Stadt, fühlt man sich erstmal wie in einem Juli-Zeh-Roman – die Windräder, der Landhandel, das Gasthaus namens „Kuhstall“, Tagesangebot: Currywurst. Schließlich werden die Kirchtürme der Altstadt sichtbar. Außer dem Griechen am Marktplatz hat Sonntag mittags kein Café geöffnet, kaum jemand lässt sich draußen zwischen den Fachwerkhäusern blicken. Und hier soll ein Nest von Menschen sein, die vor Ideen sprühen? Doch, jede Menge, hat man mir bei der Initiative Elblandwerker versichert: „Du solltest als erstes die beiden Marias fragen.“
Auftritt Maria Pegelow, 46, Landschaftsarchitektin, die das Coworking-Space am Marktplatz organisiert, die „Perle“. Das Büro in einem ehemaligen Ladengeschäft mit seinen Tapeziertischen, den Kaffeetassen vom Trödel und dem Konferenzraum, in dem ein Fahrrad lehnt, könnte genauso auch in Hamburg-Ottensen oder Köln-Ehrenfeld stehen. Inklusive denen, die hier tageweise arbeiten: eine Journalistin, ein israelisch-isländisches Paar, er Musiker, sie Therapeutin, und den Macher*innen einer Biolandwirtschaftskooperative mit dem schönen Namen „Gemüslichkeit“. Plus Maria, angestellt bei der brandenburgischen Architektenkammer, Dienstort: remote.
Eine Corona-Fluchtgeschichte mit Happy End: Im zweiten Pandemiesommer mieteten sie und ihr damaliger Partner für schmales Geld ein besonderes Gebäude, einen mittelalterlichen Wehrturm mit vier Stockwerken, um ihn als Wochenend- und Ferienhaus zu nutzen oder dort im Homeoffice zu arbeiten. Mit Blick auf die Enten auf dem Flüsschen Stepenitz, als Kontrast zu ihrer Berliner Hinterhofwohnung. Die Liebe ist mittlerweile Geschichte, Maria immer noch da.
Für immer – oder jedenfalls fürs erste. „Ich bin ein ungebundener Typ, habe keine Kinder, keine Verpflichtungen. Ich reise gern mit leichtem Gepäck“, sagt die Frau mit dem lässigen Haarknoten. Dennoch hat sie hier eine Art von Verbindung und Freundschaft gefunden, die sie in Berlin vermisst hat, beinahe, ohne es zu merken. „Perleberg zieht Gleichgesinnte an, Träumer, Sehnsüchtige, die sich noch austoben wollen“, so beschreibt sie den Spirit. „Ich habe in meiner ganzen Zeit in Berlin nicht halb so viele interessante und witzige Menschen getroffen wir hier.“
Längst ist sie Teil der Gemeinschaft und Anlaufstelle nicht nur für die Coworking-Räume, die die Stadt gratis zur Verfügung stellt. Eine Gruppe von zugezogenen Südtiroler*innen renoviert ein leerstehendes Gebäude und eröffnet darin den „Knödelclub“, mit Alpenküche und einem Hinterhofbiergarten im Shabby Chic? Maria steht aushilfsweise hinter dem Tresen. Die Stadt überlegt, was man aus den aufgelassenen Kasernen aus der Kaiserzeit machen könnte? Maria berät mit Architektur-Knowhow. Jemand sucht nach Investoren, die das frühere „Hoffmanns Hotel“ neben dem ehemaligen Postamt sanieren? Maria plant eine Aktion, bei der Anwohner Luftballons mit Wunschzetteln in den Himmel steigen lassen, Projektname „Hoffnungshotel.“
Der Investor fehlt noch, aber Teile des Areals sind bereits zu neuem Leben erwacht – dank Maria Nummer zwei, Nachname Kwaschik. Die 36-jährige Musiktheaterregisseurin aus Potsdam lebt seit knapp drei Jahren in Perleberg, eigentlich, weil sie nach einem Ort suchte, wo ihr kleiner Sohn unbeschwert aufwachsen kann. Und für sich selbst als Ruhepol zwischen ihren Reisen von Regieprojekt zu Regieprojekt. Auch sie kam, sah und blieb, angezogen vom Charme des Unfertigen, und weil sie spürte, dass sie hier etwas bewegen konnte: „Als Regisseurin bespiele ich gern unübliche Orte: ein Foyer, ein privates Wohnzimmer, ein ehemaliges Kühlhaus. Als ich von diesem alten Hotel erfuhr und den Hof sah, dachte ich sofort: Daraus könnte man einen Veranstaltungsort machen!“
So entstand das „Kulturkombinat“, bestehend aus Hof, Remise und Ausschank in einem Seitenflügel der Ruine. Und Maria Kwaschik lernte ganz nebenbei, wie man Pflaster verlegt, eine Bühne baut, Decken herausreißt und freiwillige Helfer*innen bei Laune hält („hinterher grillen, und gute Musik!“). In der schönen Jahreszeit finden Open-air-Veranstaltungsabende statt – Konzert, Kino, Gesprächspodien. Und weil das Kulturkombinat ein Ort für alle sein soll, laden die Betreiber*innen auch zum Fußball-Public Viewing oder zum Flohmarkt.
Denn das ist wohl entscheidend dafür, dass es läuft zwischen Alteingesessenen und Neuzuzügler*innen, auch wenn das Tempo manchmal unterschiedlich ist, die Mentalität. Gesten, die zeigen: Wir, die Neuen, betrachten eure Stadt nicht als unseren Spielplatz, wollen uns nicht in unserer eigenen Blase abschotten. Kwaschik ist seit Kurzem auch „Innenstadtagentin“, vermittelt zwischen Stadt, Bürger*innen, Vereinen und Investoren. Etwa, wenn es um die neue Nutzung leerstehender Häuser geht. Geben statt nehmen – so wie Maria Pegelow das Coworking-Büro managt. Oder Katja Klugewitz in Luckau: Sie singt dort nicht nur im Chor, sondern stellte nach dem Hauskauf erstmal gemeinsam mit dem Bürgermeister („ein quirliger, lebendiger, offener Typ“) eine Corona-Impfaktion im Rathaus auf die Beine.
Wunschlos glücklich ist keine der Neu-Kleinstädterinnen, noch nicht. Die Wunschlisten gleichen sich: Ein paar mehr Cafés, mit Tischen zum Draußensitzen, für einen Kaffee im Vorbeigehen, das wäre schön. Ein paar Läden, ein Kino, das mehr zeigt als zwei Blockbuster. Radwege, ein Bus, der nicht nur alle zwei Stunden fährt. Aber dafür haben sie hier alle etwas gefunden, das ihnen mehr wert ist. Maria Pegelow sagt es so: „In Berlin ist vieles Show, man kann einander eine Menge vorgaukeln. Das Leben hier fühlt sich echter an. Purer. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ich kann so sein, wie ich bin.“