„Queere Kinder“ – ein persönliches Vorwort

Ungefähr anderthalb Jahre hat es gedauert von der ersten Idee über die Recherche und die Zusammenarbeit mit meiner Mit-Autorin Christiane Kolb und dem Beltz Verlag, bis unser neuestes Buch erschienen ist: Report, Ratgeber, persönliche Reise aus verschiedenen Blickwinkeln zu der Frage, warum Jugendliche und junge Erwachsene heute anders mit dem Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt umgehen als wir, die „Generation X“. Und was Eltern wie ich (mittelalt, hetero, cisgeschlechtlich) am besten tun, wenn eines ihrer Kinder sich als queer outet, früher oder später, vehementer oder auch spielerischer. Das Buch soll aufklären und Empathie wecken, soll Verständnis für Jugendliche ebenso wie latent überforderte Eltern wecken, soll den Stand der Wissenschaft abbilden und ganz viel von den Menschen erzählen, die am besten wissen, wie sich Queersein anfühlt, nämlich Mitgliedern dieser Community. Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Eingangskapitel, in dem ich meine persönlichen Beweggründe schildere, dieses Buch zu machen.

Als meine Tochter etwa acht, neun Jahre alt war, hatten sie und ich einen gemeinsamen Lieblingsfilm. „Yentl“, eine Tragikomödie aus den Achtziger Jahren, erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem jüdischen „Schtetl“ in ländlichen Osteuropa lebt und davon träumt, auf die Thoraschule zu gehen und zu lernen. Das Hausfrauen- und Mutterdasein, das ihr vorherbestimmt ist, erscheint ihr eng, dumpf und geistlos. Schließlich gibt sie sich in ihrer Verzweiflung als Mann aus und wird als Student aufgenommen, was erwartungsgemäß zu einer Reihe von Irrungen und Wirrungen führt.

Heute weiß ich: Obwohl wir die DVD unzählige Male gemeinsam sahen, an denselben Stellen lachten und diskutierten, haben wir zwei verschiedene Filme gesehen. Ich sah die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die alles haben will, sowohl ein geistiges, intellektuelles Leben als auch eines als sinnliche Frau. Mein Kind sah die Geschichte eines Menschen, der relativ mühelos zwischen den Geschlechtern hin- und herwechselte, sich in einen Mann verliebte, aber auch erotische Spannung zu einer Frau spürte (auch wenn das nur sehr subtil angedeutet wird). Man kann den ganzen Film auch als Parabel lesen auf uneingestandene homosexuelle Liebe und Coming out.

Möglicherweise hätte ich da schon merken müssen, welche Saite (und Seite) das in ihr zum Klingen brachte. Stattdessen klopfte ich mir innerlich auf die Schulter, dass ich so cool mit diesem Thema umging und so selbstverständlich mit meinem Grundschulkind darüber sprach, dass Frauen alles erreichen können, und dass es neben Vater-Mutter-Kind-Modell viele Wege des Liebens gab: Männer, die Männer liebten, Frauen, die Frauen liebten, sogar Menschen, die sich keinem der mir bekannten Geschlechter zugehörig fühlten. Hätte man mich damals gefragt, ob es ein Problem für mich wäre, wenn eines meiner Kinder selbst zu einer dieser Gruppen gehören würde, ich hätte empört verneint. Aber die ganze Wahrheit ist: Als sich ebendiese Tochter einige Jahre später die die Haare abschnitt, nur noch Jungskleidung trug, sich erst als bisexuell outete und wenig später erklärte, dass sie sich zwischen den Geschlechtern fühlte, war ich doch nicht ganz so mit vollem Herzen dabei, wie ich es von mir erwartet hätte.

Ehe ich im nächsten Kapitel näher darauf eingehen werde, was es mit diesen Outings auf sich hatte (und wie und warum so viele Familien gerade ähnliche Erfahrungen machen), will ich einmal kurz erzählen, wo ich innerlich herkomme. Nicht, weil mein Leben so originell wäre, sondern im Gegenteil gerade deshalb, weil ich denke, dass viele Eltern aus der Generation der heute 40-, 50jährigen in derselben Gedankenwelt aufgewachsen sind. Denn das macht auch verständlich, warum es uns trotz äußerlich behaupteter Liberalität manchmal schwerfällt, aus unserer Haut zu kommen.

Eine kurze Zeitreise: Als ich so alt war wie meine Tochter heute, also 17, war es Mitte der Achtziger Jahre. Im Strafgesetzbuch der BRD stand noch immer der Paragraf 175, auch wenn schwuler Sex nicht mehr grundsätzlich strafbar war, sondern nur, wenn einer der Beteiligten unter 18 Jahre alt war. Und erst wenige Jahre danach, 1990, sollte Homosexualität aus dem Diagnosekatalog psychischer Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation WHO gestrichen werden.  Es scheint aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, aber ich selbst hatte erst durch die homophoben Schlagzeilen über Aids („Die Schwulenseuche!“) wenige Jahre zuvor überhaupt realisiert, dass manche Menschen anders liebten, Männer wie Frauen. 

In meiner Kindheit war das schlicht kein Thema gewesen, obwohl ich nicht in einem besonders konservativen oder verklemmten Haushalt groß geworden bin. Später, im Sexualkundeunterricht, war es, wenn überhaupt, Anlass für geschmacklose Witze und angeekelte Gesichter, bei Lehrer*innen genau so wie bei uns Schüler*innen. Dass auch unter uns jemand hätte sein können, der auf diese Weise begehrte, darauf kam ich gar nicht (und schäme mich heute, weil ich später auf diversen Abiturstreffen herausfand, dass es genau so war). Wenn das Thema in den Medien stattfand, die wir als Teenager im Prä-Tiktok-Zeitalter konsumierten, dann immer mit dem Dreh: Macht euch keine Sorgen, wenn ihr so fühlt, das geht vorbei. Egal, ob „Bravo“ oder „Mädchen“, homosexuelles Begehren war etwas, das auf keinen Fall mehr zu sein hatte als eine „Phase“. Meine Freundinnen und ich versicherten einander: Bei uns ist das nicht so, wir kennen auch niemanden, dem es so geht, aber falls wir je so jemanden treffen, werden wir tolerant sein. Sind ja auch nur Menschen.

Natürlich kannte ich damals Personen, die anders liebten, ich wusste nur nichts davon, weil viele damals ihre Neigung verheimlichten, oft sogar vor sich selbst. Einen von ihnen kannte ich sogar gut, und mehr als das. Denn es war der Junge, mit dem ich als Teenager jahrelang eine feste Beziehung führte. Als ich 20 war, 1990, outete er sich, etwa ein dreiviertel Jahr, nachdem ich zum Studium fast 500 Kilometer weit weggezogen war, damals hatten wir einvernehmlich Schluss gemacht. Ich war eine der ersten, der er sich endlich offenbarte. Er reiste dazu sogar eigens an, um sich mir nach vielen hektisch gerauchten Zigaretten und Rotwein an meinem WG-Küchentisch anzuvertrauen. Er hatte Angst, ich würde ihn anschreien oder weinend zusammenbrechen; stattdessen umarmte ich ihn spontan, weil ich so erleichtert war. Denn das erklärte im Nachhinein vieles.

In den Neunzigern wurde schwullesbisches Leben – das war damals noch die übliche Sammelbezeichnung – für mich wahrnehmbarer und selbstverständlicher. Auf den WG-Klos lagen Ralf-König-Comics, egal, wer da wohnte. Der erste Männer-Filmkuss im Vorabendprogramm, 1991 in der „Lindenstraße“, mochte die Nation noch in Wallung bringen, im Münchner Glockenbachviertel sah man Menschen gleichen Geschlechts schon recht unbekümmert Händchen halten, jedenfalls im Nachtleben. Ein einziges Mal habe ich eine Frau geküsst, nachts angeschickert auf einem Balkon, merkte, dass mir das nichts gab und beließ es dabei. 

In den Nuller Jahren lernte ich meinen späteren Mann kennen, der als Hetero in Hamburg mitten im regenbogenbunten St. Georg wohnte, ein paar Jahre später wurden wir Eltern. Erst eine Tochter, zweieinhalb Jahre später ein Sohn. Aus meiner Mainstream-Perspektive hatte ich damals den Eindruck: alle gesellschaftlichen Probleme sind mehr oder weniger gelöst, jede*r kann lieben und leben, wie er oder sie möchte. Ich fand es gut, dass zur Faschingszeit ein Junge in der Kita unserer Kinder ein pinkfarbenes Prinzessinnenkleid als Kostüm wählte. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich ganz froh war, dass es nicht mein Junge war, unser zweites Kind. Das ging genderkonform als Pirat und fiel damit natürlich weniger auf. Dafür fand er Glitzernagellack genau so toll wie seine große Schwester und ihre Freundinnen, und so verpasste ich der ganzen Bande immer wieder einen frischen Anstrich, den sie danach gemeinschaftlich auf dem Spielplatz ruinierten.

Als meine Tochter mit acht schüchtern gestand, dass sie für ihren älteren Cousin schwärmte, war da ein Moment der Rührung und des Wiedererkennens. Ältere, weit entfernt lebende Cousins sind ideal als erste Objekte platonischer Verliebtheitsgefühle, ich hatte gleich zwei davon. Ich muss zugeben, ich war auch ein bisschen beruhigt. Denn an anderer Stelle war sie deutlich weniger mädchenhaft, trug nur noch blau, grau und schwarz, wollte die Haare am liebsten kurz (wir einigten uns auf eine Art Longbob) und Kleider wenn, dann nur zu hohen Feiertagen. 

Ein paar Jahre später, als sie immer mehr zu dem stand, was sie war und ist, als sie ihre Role Models fand und die richtigen Worte für sich selbst, musste ich mir eingestehen: Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte vielleicht nicht von einem Mini-Me geträumt, das mich kopierte vom Kleidungsstil bis zum Gefühlshaushalt, aber ich hatte mit mehr Nähe gerechnet, mehr Momenten des Wiedererkennens. Stattdessen stand hier ein Mensch, der sagte: Bei mir ist das alles ganz, ganz anders. Und nein, das ist keine Phase, keine pubertäre Rebellion. Ich meine das ernst.

Gleichzeitig merkte ich, dass ich mit meiner Mischung aus Bewunderung, Irritation und Sorge um mein Kind – wird sie in ihrem Leben anecken, sich um Chancen bringen, oder sogar Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden? – sowie Stolz auf ihr Selbstbewusstsein nicht allein war. Denn fast egal, wem ich davon erzählte – die Leute waren weit weniger verwundert, als ich angenommen hatte. Viele Eltern hatten ähnliches zu berichten, mal von den eigenen Kindern, mal aus der Familie oder dem Freundeskreis: von Teenagern und jungen Erwachsenen, die gleichgeschlechtlich liebten (oder auch nur mit der Idee flirteten), die nicht oder nicht immer mit ihrem Geburtsgeschlecht konform gingen. Mal wirkte es eher spielerisch, wie ein Kostümball mit verschiedenen Identitätsangeboten. Manchmal war auch viel Leidensdruck dabei, vor allem bei Jugendlichen, die sich dauerhaft mit einem anderen als ihrem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht identifizieren. 

Gleichzeitig wird immer sichtbarer, wie breit das Spektrum ist, sowohl für sexuelle Orientierung als auch für Geschlechtsidentität: trans Personen sind gefragte Teilnehmende von Castingshows, von Plakatwänden lachen Menschen fluider Identität, werben für E-Zigaretten, Kaufhausketten, und als ich vor drei Jahren nach der Feier zum 30jährigen Abi-Jubiläum mit ein paar ehemaligen Mitschüler:innen in der letzten geöffneten Bar versackte, war auch eine frisch von ihrem Mann geschiedene Frau dabei, die hingebungsvoll ihre neue Partnerin küsste. Also alles bunt und gut? Jein. Denn die Eltern, mit denen ich sprach, waren sehr unterschiedlich in ihrer Einordnung. Manche richtiggehend begeistert von der neuen Freiheit jenseits rigider Zuschreibungen bei den Themen Sexualität und Geschlecht, andere ablehnend. „Die spinnen, aber sie kriegen sich schon wieder ein!“ Wieder andere waren voller Zweifel, wie sie richtig reagieren sollen. Also haben Christiane und ich uns aufgemacht, ein wenig aufzuräumen im Dickicht von Halbwissen, Vorurteilen, Befürchtungen und Ideologie. 

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Alles bunt und gut?

Wenn sich das eigene Kind als queer outet, ist das heute keine große Sache mehr. Oder? Das dachte auch ich, ehe ich selbst als Mutter erlebte: Ganz so einfach ist es nicht. Das liegt an der eigenen Prägung – und an einer aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte. Mein Beitrag für die BRIGITTE, August 2023

Als meine beiden Kinder klein waren, vor zehn, fünfzehn Jahren, hatte ich einen Plan. Ich wollte sie zu maximal offenen und toleranten Menschen erziehen. Frauen, die Frauen liebten, Männer, die Männer liebten, all das sollte für sie so selbstverständlich sein wie die Tatsache, dass Menschen einen anderen Hautton haben als sie oder Rollstuhl fahren, statt zu Fuß zu gehen. Ich erwähnte auch, dass es Menschen gab, deren Geschlechtsempfinden nicht zu ihren körperlichen Merkmalen passte. Damit fühlte ich mich ganz weit vorn. Als ich selbst Kind war, habe ich kein Wort zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gehört. Ich war geschockt, als ich mit zehn oder elf zum ersten Mal von schwulen Männern erfuhr. So etwas gibt es?

Ich dichtete also in Vorlesebüchern manchmal ein Vater-Mutter-Kind-Trio zu einer Regenbogenfamilie um, feierte einen kleinen Jungen, der als Prinzessin zum Kita-Fasching kam und klopfte mir innerlich auf die Schulter. Super, Mama, alles richtig gemacht. Nur eine Möglichkeit hatte ich nicht bedacht: Dass queere Menschen nicht „die anderen“ sein könnten. Sondern ein Teil unserer Familie, von Anfang an. Auch wenn ich es lange übersah. Vielleicht übersehen wollte, aus Unsicherheit, Berührungsangst, Konformitätsdruck. Bis es nicht mehr anders ging.

Meine Tochter war acht, als sie sämtliche mädchenhafte Kleidung aus ihrem Schrank verbannte und bei Schulhof-Rollenspielen am liebsten die Jungsrolle übernahm. Zwölf, als sie sich die Haare raspelkurz schneiden ließ. Mit 13 verliebte sie sich – wenngleich unerwidert – in ein Mädchen und outete sich: Mama, Papa, ich bin bi. Mit 14 gab sie auf Instagram ihre Pronomen mit sie/er/they an. In allen Geschlechtern zu Hause. Wir bestärkten sie: Du weißt selbst am besten, wer und was du bist. 

Meinem Mann fiel das erstaunlich leicht, seine Liebe zu seinem Kind kam mir bedingungsloser vor als meine eigene. Ich tat mich schwerer, auch wenn ich es vor ihr zu verbergen versuchte. Ich erkannte mein kleines Mädchen nicht wieder, das ging tiefer als pubertäre Entfremdung. Aber Moment mal: War sie das überhaupt jemals gewesen, mein kleines Mädchen? „Ich bin genderfluid“, erklärte sie schließlich, „ich fühle mich manchmal weiblich, manchmal männlich, manchmal weder noch.“ Jedenfalls völlig anders als ich, und auch ganz anders, als ich mir eine heranwachsende Tochter vorgestellt hatte. Das musste ich erst einmal schlucken.

Mit diesen Wachstumsschmerzen bin ich nicht allein. In der Generation der Millennials finden sich deutlich mehr Menschen unter dem LGBTQI+-Label als in der Generation X. Laut dem „Global Survey“ des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos von 2021 mit 20.000 Befragten definieren sich weltweit 18 Prozent der heute 18- bis 25jährigen als homo- oder bisexuell, das sind doppelt so viele wie unter den heute 50jährigen. Und vier Prozent der Jüngeren ordnen sich nicht dem binären Männlein-oder-Weiblein-Schema zu, oder nicht dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurden. Vier Mal mehr als in der Elterngeneration. 

Andere Studien kommen zu anderen Zahlen, teils etwas niedrigeren, aber die Tendenz ist dieselbe: Sowohl die sexuelle Orientierung, also die Richtung von Lust und Liebe, also auch die geschlechtliche Identität werden heute stärker hinterfragt, Varianten offener gelebt. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass es mehr junge Schwule, Lesben oder trans Menschen gibt als früher. Nur, dass zumindest in der westlichen Welt heute vielerorts leichter möglich ist, dazu zu stehen. Gerade dann, wenn sich Menschen – wie meine Tochter – irgendwo in der Mitte verorten: Nicht lesbisch, nicht hetero, weder trans Mann noch „ganz Frau“. 

Diese Uneindeutigkeit zu akzeptieren, war eine Herausforderung. Nicht nur für mein Kind, auch für mich. Lange dachte ich, dass dieses Pendel irgendwann zum Stillstand kommen würde. Dass es sich um eine „Phase“ handeln würde, so wie das Thema in den Teeniezeitschriften meiner Achtziger-Jahre-Jugend abgehandelt wurde. Aber so wie es aussieht, gehört das zu ihr. Genauso wie der kleine Leberfleck neben ihrer Nase oder ihre Füße mit den knubbeligen Zehen, die genau so aussehen wie meine. Ich musste mich von einer Vorstellung lösen, die wohl tiefer saß als erahnt: Hier wir, die „Normalen“, dort „die anderen.“ Erst 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Homosexualität aus der Liste psychischer Krankheiten entfernt, erst 2018 Transidentität als normale Variante der geschlechtlichen Entwicklung anerkannt.

Ich habe sie einmal gefragt, wie sie sich wohl definiert hätte vor 30, 40 Jahren, als ein Begriff wie „genderfluid“ noch nicht im Umlauf war. „Wahrscheinlich hätte ich als Frau gelebt und auch heterosexuelle Beziehungen gehabt“, hat sie überlegt, „aber immer das Gefühl gehabt, das etwas nicht ganz stimmt.“ Das hat mich berührt. „Sei du selbst, finde deinen Platz in der Welt“ – ist es nicht das, was man seinen Kindern mit auf den Weg gibt? Oder will man Konformität um jeden Preis? So wie die kleine Mehrjungfrau im Märchen, die ihre Stimme opfert, um Teil der Menschenwelt zu werden? 

Irgendwann habe ich auch überlegt, ob meine frühen Toleranz-Lektionen meine Tochter zu der Person gemacht haben, die sie ist. Und gleichzeitig geahnt, dass der Gedanke absurd ist. So wichtig, so mächtig sind Eltern nicht. Woher genau sexuelle Orientierung und Geschlechtsempfinden kommen, das kann die Wissenschaft Stand heute noch nicht eindeutig sagen. Vielleicht wird sie es nie können, es ist ein komplexes Puzzle aus Genetik und Prägung. Sicher ist nur: Man kann weder das eine noch das andere anerziehen. Aberziehen auch nicht – nur unterdrücken. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ergab: 28 Prozent aller trans Jugendlichen wussten „schon immer“ über ihre geschlechtliche Besonderheit Bescheid, bei weiteren 33 Prozent war die Findung mit dem 16. Geburtstag abgeschlossen. Darunter Personen, die eine hormonelle und operative Geschlechtsangleichung wünschten, aber auch Menschen wie meine Tochter, die sich jenseits der gängigen Geschlechtszuschreibungen eingerichtet hat. Bei homo- und bisexuellen Jugendlichen kommt die Selbsterkenntnis oft etwas später, aber auch unter ihnen wissen zwei Drittel gegen Ende der Pubertät, wo die Reise hingeht.

Einfach zu sich selbst stehen, offen und frei, das ist aber nicht für jede*n möglich. Leider. Denn noch etwas habe ich als Heterofrau gelernt: Es ist längst nicht alles so bunt und gut, wie ich dachte. Nur weil Konzerne ausgeklügelte Diversity-Strategien vorlegen und die Fußball-Nationalmannschaft in Katar beinahe so etwas wie eine „One-love“-Armbinde getragen hätte, ist Akzeptanz keinesfalls selbstverständlich. Auch nicht in unserem vermeintlich aufgeklärten Land. Jede*r zweite der Jugendlichen erlebt während seiner oder ihrer Schulzeit Mobbing und Diskriminierung. 

Claudia Krell, die früher am DJI geforscht hat und heute bei der Münchner Beratungsstelle LeTra arbeitet, sagt: „Ich höre immer wieder, dass Hetero-Menschen den Eindruck haben: Das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Damit wird aber suggeriert, Menschen dürften kein Problem mehr damit haben, wenn sie queer sind. Die Unsicherheit, der Stress wird ihnen abgesprochen.“ Und der kann riesig sein. Das Bundesinnenministerium registrierte 2021 zum ersten Mal mehr als 1000 queerfeindliche Straftaten. Hass und Gewalt. Und wenn die AfD ausgerechnet im Juni, dem traditionellen „Pride Month“ für queere Sichtbarkeit, einen „Stolzmonat“ ausruft, dann ist das eine verbale Kampfansage, kombiniert mit dem Slogan „schwarz rot gold ist bunt genug.“ Wenn ich so etwas lese und an meine Tochter und ihre Freund*innen denke, wird mir himmelangst. In ihrer Schule, der Verwandtschaft, unserem Großstadtviertel ist sie – bisher! – sicher. Aber es gibt Gegenden, auch in Deutschland, da sollte sie mit ihrer bunten Clique besser nicht zum Zelten fahren. 

Und weil Teile der Gesellschaft das Gegenteil von empowernd sind, ist es umso wichtiger, dass Eltern queeren Kindern den Rücken stärken. Manchmal sogar lebenswichtig, sagt Claudia Krell: „Eltern müssen nicht immer alles richtig machen. Sie dürfen sich ihre Zeit nehmen, mit der unerwarteten sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ihres heranwachsenden Kindes klarzukommen. Aber wenn sie sagen: Ich stehe zu dir, wir schaffen das, geben sie einen unschätzbaren Rückhalt. Wir wissen aus Studien über Resilienz: Wenn es wenigstens eine Person gibt, an die sich Jugendliche vertrauensvoll wenden können, ist das Risiko für Suizid deutlich verringert.“ Das gilt ebenso für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen. 

Klar, es gibt es auch Kinder und Jugendliche, die in einer Selbstfindungsphase ihre Sexualität oder ihr Geschlecht hinterfragen, als Erwachsene aber fühlen und lieben wie die Mehrheit. Aber Empathie, Zuhören, vielleicht professionelle Beratung suchen – das schadet nie. Nicht ernst nehmen, ignorieren, eigene Vorstellungen in das Kind projizieren – das schadet immer.

Nächstes Jahr macht meine Tochter Abitur und wird volljährig. Oder sollte ich lieber sagen: Tochter*, mit Gendersternchen? Menschen wie sie bringen nicht nur die Verhältnisse zum Tanzen, auch die Sprache. Sie ist ein schillernder Mensch, trägt mal Herrenhemd, mal Kleid, und ich bin sehr stolz auf sie. Auf ihre Klarheit, ihr oft hart erkämpftes Selbstbewusstsein. Ihren Weg, der so anders ist als der meines jüngeren Kindes, männlich, hetero, auf einer straighten Linie vom Jungen zum Mann. 

Einen Plan? Den habe ich schon lang nicht mehr. Nur einen Wunsch. Dass sie mich beide noch ein Stück mitnehmen auf ihren Wegen. Dass es ihnen gut ergehen möge. Und dass ich weiter an ihnen wachsen kann.

Queere Kinder – wenn die Gen Z über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nachdenkt

Wen wir lieben, mit welchem Geschlecht wir uns identifizieren – für Heranwachsende ist das heute vielfach ein selbstverständlicher Bestandteil der eigenen Identitätssuche. Sei es auf eher spielerische Weise, beim Ausloten der eigenen Sexualität mit der Pubertät, oder sei es als lebenslanger Bestandteil der eigenen Person, wie es bei Kindern auf dem trans Spektrum häufig früh im Leben der Fall ist. Doch wie gehen wir als Elterngeneration damit um, vor allem, wenn wir selbst hetero und cisgeschlechtlich sind? Wie können wir unsere Kinder gut unterstützen, ihnen bei der Suche nach ihrem geschlechtlichen und sexuellen Selbst liebevoll zur Seite stehen? Auf welchen dieser Wege brauchen sie uns, welche können sie allein gehen?

Mit diesem Thema, das viele Menschen unserer Altersgruppe betrifft, habe ich mich gemeinsam mit meiner Freundin und Kollegin Christiane in einer Mischung aus Ratgeber und Sachbuch auseinandergesetzt. Christiane arbeitet in der sexuellen Bildung und ist durch ihren Masterabschluss in Sexualwissenschaften auf dem neuesten Stand, ich als Mutter einer queeren Tochter* habe mich vor allem auf den Weg gemacht, die Menschen hinter den Geschichten zu erleben: Wie geht eine Familie mit der Transition ihres Kindes um, wie reagiert ein Vater auf das lesbische Coming-out seiner Tochter? Welche Hürden werden queeren Kindern in Schule, Ausbildung, Freizeit in den Weg gelegt, wie kommen sie klar, wo ist die Gesellschaft gefragt? Und was erzählen erwachsene LGBTQIA+-Personen, wenn man sie fragt, was sie selbst als Jugendliche gebraucht hätten? Eine Deutschlandreise, und eine Reise zum Ursprung der eigenen Elterngefühle. Eine Brücke in einer hitzig und oft aggressiv geführten Debatte.

Christiane und ich stehen gern für Veranstaltungen zur Verfügung, gemeinsam oder einzeln, sowohl für Eltern-Workshops als auch zu Vorträgen bei Fachveranstaltungen oder für Firmen, die mehr über diesen Aspekt von Diversity erfahren möchten. Den Link zum Buch finden Sie hier.