Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown ist…? Weil gerade (Stand Juli 2021) die Infektionszahlen wieder steigen, hier noch ein Text aus dem Mai, zur Wiedervorlage. Da schrieb ich in der BRIGITTE: „Die Pandemie hat unsere Pläne radikal ausgebremst. Paradoxer Effekt: Je länger der Stillstand anhält, desto träger werden wir. Warum stresst uns plötzlich ein einziger Termin am Tag, und wie kommen wir da wieder raus?“
„Was werden das für großartige Partys irgendwann mal wieder! Ich werde euch alle ständig umarmen!“ So lautete der Facebook-Post meines Freundes Sebastian, und ich dachte sehnsüchtig: Feiern, yes! Auch mir fehlten die regelmäßigen Freitag Abende bei ihm und seiner Frau Tara, das Gedränge in der Souterrain-Küche, die flirrende Energie, die aus einer Dosis Tiefsinn, einer Prise gehobenem Blödsinn und einem Kühlschrank voller Weißwein entsteht. Das war im März 2020.
Ein Jahr später erscheint mir Feiern absurder denn je. Und das Schlimme: ich vermisse es nicht einmal mehr. Schon der Gedanke strengt mich eher an. Eine Abend-Einladung? Was soll ich da, was soll ich anziehen, muss man dazu tatsächlich erst vor die Tür und später im Dunkeln wieder zurück, und wie geht das: mit Leuten reden, einfach so?
Und ich bin nicht alleine mit dieser Trägheit. Ich höre von Freundinnen, die sagen: Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, mich häufiger als einmal die Woche zu verabreden. Die Ehrgeizigen haben wenig Motivation, an einer Karriere zu schrauben, Sportausrüstung verstaubt hinten im Schrank, Singles verlieren die Lust an online-Dates. Nach langer Kontaktfastenzeit sind wir schneller überfüttert und sozial ungeübter. Das gilt nicht nur in Sachen Corona, sondern auch wenn wir aus anderen Gründen zum Herunterschalten gezwungen sind. Etwa durch eine längere Krankheit, in einer Phase der Arbeitslosigkeit, oder wenn eine ausgedehnte Babypause zu Ende geht.
Warum ist das so? Warum büßen wir unseren Drive ein, wenn wir doch gleichzeitig so viel nachzuholen haben? Nicole Strüber, Neurowissenschaftlerin und Wissenschaftsautorin, sagt: Weil wir von der Evolution auf Couch Potato gepolt sind – aus gutem Grund. Das gilt vor allem für unsere Körperfunktionen. „Über Jahrtausende hat sich unsere Spezies an ein Leben angepasst, das geprägt war von Nahrungsmittelknappheit und hoher körperlicher Anstrengung“, erklärt Strüber. „Da ist Energiesparen die beste Überlebensstrategie.“ Der Anblick unseres Sofas (Ruhe und Entspannung), gerne kombiniert mit einer Tüte Chips (fetthaltige Nahrung), bringt unseren Körper dazu, Dopamin auszuschütten, das Hirn signalisiert: Schön, hier winkt eine Belohnung. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Verhalten als „Exercise Paradox“: Wir wissen, dass Aktivität gut für uns ist, körperlich wie geistig, aber der Schweinehund ist stärker. „In einer Studie wurde die Hirnaktivität von Probanden am Bildschirm verglichen: zuerst sollten sie einen Avatar von Bewegung in den Ruhezustand versetzen, dann umgekehrt. Im EEG sieht man, dass für den zweiten Durchgang mehr kognitive Kontrolle notwendig ist“, erzählt Nicole Strüber.
Die archaische Programmierung auf Faulsein kann in manchen Phasen durchaus hilfreich sein, etwa um halbwegs unbeschadet durch Lockdownzeiten zu kommen. Doch je länger unsere Systeme lahmgelegt sind, desto schwerer fahren sie wieder hoch. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, unser Hirn auszutricksen, sagt Nicole Strüber. Sowohl körperlich als auch geistig. „Je häufiger wir uns bewegen und dabei registrieren, dass wir uns hinterher besser fühlen, desto mehr verbindet das Hirn Aktivität mit Belohnung“, sagt die Expertin – und wir fühlen uns unausgelastet, wenn wir das Lauftraining zu lang schleifen lassen. Oder uns nicht mal zu einem Spaziergang aufraffen. Und wenn der Jobstammtisch oder der Literaturkreis ausfallen muss, dann halten uns Kontakte per Telefon, Videocall oder Clubhouse-App kommunikativ geschmeidig. Bei angenehmen Begegnungen wird das „Bindungshormon“ Oxytocin ausgeschüttet, und je mehr wir davon bekommen, desto mehr wollen wir auch haben. Beides eine gute Vorbereitung für die Zeit, wenn wieder mehr möglich ist.
Eine andere Frage ist: Wollen wir unser altes Leben nach einer Krise, ob Corona oder anderweitig, überhaupt eins zu eins zurück? Oder kann der erzwungene Stillstand auch eine Chance sein, das Hamsterrad hinter sich zu lassen und sich neu zu sortieren? Julia Städtler hat in ihrer Coachingpraxis in der Nähe von München und in Online-Beratungen (juliastaedtler.com) viel mit Menschen zu tun, die sich nach beruflichen und privaten Umbrüchen neu sortieren. Sie sieht die aktuelle Zäsur als Möglichkeit zur Kurskorrektur: „Wir hatten viel Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen: Welche neuen Rituale habe ich in den vergangenen Monaten gefunden, die mir guttun? Wo war mir mein altes Leben mir zu schnell, mehr fremd- als selbstbestimmt? Wo ist weniger mehr?“ Das Zurückgeworfensein auf uns selbst hat uns im besten Fall sensibler gemacht, glaubt Städtler. Kann schon sein, dass wir auch nach dem Ende aller Kontaktbeschränkungen lieber in Ruhe einem interessanten Gespräch mit einer Freundin nachspüren, statt nahtlos zur nächsten Verabredung überzugehen. Dass wir uns auf einem Musikfestival überfordert fühlen von zu viel Phonstärke und zu viel körperlicher Nähe. Kein Zeichen, dass etwas mit uns nicht stimmt, im Gegenteil: „Es ist eine Chance für Selbstfürsorge, dafür, eigene Ziele und Bedürfnisse neu zu justieren: Will ich gern wieder auf ein Konzert, aber buche ich mir lieber einen Sitzplatz, erlaube ich mir, früher zu gehen, wenn es mir zu viel wird?“ „Fun of missing out“ statt „fear of missing out“.
Auch die Philosophin und Autorin Barbara Bleisch sieht die momentane Phase als Chance, die eigene Wahrnehmung zu schulen: „Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern.“ Eine menschenfreundliche Haltung, die auch über Corona hinaus Bestand haben könnte. Und schließlich führt die Rückbesinnung auf den Moment, auf das Innen fast von selbst zu einer nachhaltigeren Lebensweise. Die tut nicht nur uns gut, sondern auch unserer Umwelt: Wollen wir wirklich zurück zu jährlichen Fernreisen, Dauer-Powershopping und zu wenig Zeit für Menschen, die uns wirklich brauchen?
Aber natürlich fällt es nicht jedem gleichermaßen leicht, den Stillstand als Chance zur Neuorientierung zu begreifen. Und manche von uns hätten gerne solch harmlosen Sorgen wie die, ob sie in den letzten Monaten zum Nerd geworden sind. Oder wie sie beim Lauftraining wieder in den Tritt kommen. Weil sie nicht einfach anschließen können an den Status Quo von davor, sondern weil ihr Leben in Stücke gehauen wurde durch Pleite, Arbeitslosigkeit, den Verlust geliebter Menschen. „Da gibt es keinen einfachen Ratschlag, da hilft nur Zeit, Raum für Trauer, Begleitung“, sagt Coach Julia Städtler. „Am hilfreichsten ist, sich auf innere Stärken, auf Wurzeln zu besinnen. Das Gefühl: Egal, wie es um mich herum aussieht, ich bin immer noch ich.“ Wer sich erlaubt, durch das Tal der Tränen zu gehen, zu hadern, wütend zu sein, der kommt irgendwann wieder an einen Punkt, an dem Neues denkbar scheint. Etwa: Will ich wirklich einen ähnlichen Job in einer ähnlichen Firma? Stimmen meine alten Ziele noch? Oder ist jetzt die Zeit für ein Herzensprojekt, eine Kurskorrektur, etwas, das mir neuen Schwung gibt?
Wenn ich selbst Bilanz ziehen sollte, würde ich sagen: Auch ich habe aussortiert in den letzten Monaten. Mich auf einige Dinge besonnen, die mir schon früher im Leben Freude gemacht haben. Stundenlange Telefonate mit Freundinnen, dicke Romane lesen, kochen. Seit selbst Ost- und Nordsee zu vorübergehend unerreichbaren Sehnsuchtszielen geworden sind, habe ich sogar mehr Lust bekommen, in die Nähe zu schweifen, und muss so schnell weder nach Spanien noch nach Thailand. Selbst wenn die Welt wieder offensteht. Was allerdings die nächste Party bei Sebastian angeht, das Gedränge in der Souterrainküche und die Gespräche: Die kann ich kaum erwarten.