Texte. Themen. Typen. Das bin ich.

Verena Carl, Journalistin, Autorin von Sachbüchern, Romanen und Hörspielen, Moderatorin.

Gesellschaft, Psychologie und Familie – für diese Themen stehe ich, in diesen Themen kenne ich mich aus. Am liebsten schlage ich die Brücke zwischen Zahlen, Daten, Fakten und der persönlichen Geschichte. Ob ich Texte für online-Medien wie zeit.de oder Printmagazine wie die Brigitte schreibe, ob bei einem Buchprojekt für die Bertelsmann-Stiftung oder den Beltz-Verlag, als Teilnehmerin eines Podiums auf einer Journalismuskonferenz oder selbst als Moderatorin einer Lesung, ob in einen fiktionalen Roman oder einem Sachbuch: Ich suche nach Geschichten, gehe gern ganz nah ran, um im Kleinen das große Ganze wiederzufinden.

Geboren bin ich 1969 in Freiburg, und lebe heute mit meiner Familie in Hamburg. Ich habe ein Diplom in BWL, mein Volontariat führte mich zum Burda Verlag und an die Deutschen Journalistenschule. Danach habe ich zehn Jahre Berufserfahrung als Redakteurin bei verschiedenen Magazinen gesammelt. Seit 2004 bin ich selbständig mit dem Büro für Schöne Worte.

Gerne werde ich auch für Sie und Ihre Organisation tätig, sei es aus dem klassischen Medienbetrieb, aus dem Unternehmensbereich oder etwa für Stiftungen, NGOs oder staatliche Stellen: Ob als Autorin, als Speakerin, oder für redaktionelle Konzepte und Texte im Corporate-Bereich. Bei Bedarf kann ich auf ein Netzwerk an Kreativen zurückgreifen, die Design und Optik liefern können, Podcasts produzieren oder Video-Inhalte – ganz nach Ihren Wünschen.

Wenn Sie mit mir in Kontakt treten möchten, erreichen Sie mich am besten per E-Mail.

Ein guter Rat: Führ dich!

Ich hab es beruflich super getroffen – als Selbständige bin ich Chefin und Angestellte in einer Person. Aber Ahnung, wie man sich selbst gut anleitet, habe ich nicht.
Kann man das lernen? Das habe ich mich im Sommer 2022 für die BARBARA gefragt.
Das Foto ist beim Shooting entstanden: „Verena, guck mal chefig!“

Meine Chefin so? Ich sag mal: tagesformabhängig. Sie hat schon ihre Momente. Zeichnet mir jeden Urlaubsantrag ab, teilt mir nichts zu, worauf ich so gar keinen Bock habe. Aber dann wieder knallt sie mir ohne Vorwarnung einen Stapel Papiere auf den Schreibtisch und kreischt etwas von Planänderung. Weil plötzlich etwas wichtiger ist als das, woran ich gerade sitze. Das versteht sie wohl unter agiler Führung. Sie geizt mit Lob und meckert viel. Ihre Idee von New Work ist auch nur halb ausgereift: Arbeit im Bett ist okay, aber einen Kicker habe ich noch immer nicht. Außerdem warte ich seit 2004 auf ein Gespräch über berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei ist ein Termin eigentlich nicht schwer zu bekommen: Meine Chefin bin ich. 

Als freiberufliche Journalistin gehöre ich zu den zwei Millionen Soloselbständigen, die niemanden beschäftigen außer sich selbst. Die an niemanden berichten, außer wenn sie unter der Dusche Selbstgespräche führen. Die Vorteile sind klar, die Nachteile auch: Wenn ich mir das bisschen Leadership selbst machen muss, bleibt alles ziemlich handgestrickt, Motivation, Richtung, Struktur. Kann ich mir irgendwo eine Schulung abholen? Und hilft mir das vielleicht sogar in meinem Zweitjob, als Mutter zügelloser Teenager? 

ALS SCHREIBENDER MENSCH ist mein erster Impuls: etwas zum Thema lesen. In der Buchhandlung scanne ich anderthalb Regalmeter „Führung und Management“. Die eine Hälfte hört sich an wie ein Youtube-Motivationsvideo, schon im Titel: 
Do Epic Stuff!The Mind of the Leader! In der anderen spricht man deutsch („Die ersten hundert Tage in der Führungsrolle“), und auf den Titelfotos beugen sich Männer mit offenem Hemdkragen über Frauen in weißen Blusen, als suchten sie gerade ihr nächstes MeToo-Opfer. Diese Art Ratgeber haben auf mich eine schwer sedierende Wirkung. Beim Anblick endloser Checklisten für Zielvereinbarungen und Konfliktgespräche sehne ich mich nach tiefem ungestörten Büroschlaf. Die mit den englischen Titeln machen dagegen hibbelig wie Koks auf dem Konzernklo: Bei so viel disruptiven, game-changing Ansätzen bekomme ich schon beim Blättern Bluthochdruck. Aber wie ich als Chefin mehr aus mir heraushole und gleichzeitig wertschätzender mit mir umgehe, sagt mir keiner. Auch nicht, wie ich meinen 13-Jährigen effektiv dazu bewege, seine Socken im Wäschekorb zu deponieren. Statt unter seinem Bett. 

Auf dem Heimweg vom Buchladen bin ich nervös: Wird mich meine Chefin wegen Zeitverschwendung abmahnen? Da erreicht mich ein Anruf von Kollegin Bea, Autorin wie ich. Seit neuestem verbringt sie drei Nachmittage pro Woche auf dem Land bei ihrem neuen Freund. Ein Spanier namens Dio, gut gebaut, elegant und blutjung. Der Vierjährige steht in einem Reitstall 50 Kilometer nördlich von Hamburg, und gemeinsam mit Trainerin Franzi bringt sie ihm bei, wie Tier und Mensch gut zusammenarbeiten. Vielleicht kann ich mir da etwas abgucken. 

„Soso, Führung“, sagt Pferdeflüsterin Franzi, während sie Dio an die Longe nimmt, „was verstehst du denn darunter?“ Ich stammle etwas von Respekt verschaffen, Durchsetzen, klaren Ansagen. „Aha“, gibt sie zurück und verzieht keine Miene, „und ich dachte, wir hätten dieses autoritäre Denken endlich hinter uns gelassen.“ Es ist klar, dass sie nicht nur von Reiterhöfen spricht. Peinlich berührt trotte ich hinterher und beobachte, wie sie Dio seine Aufwärmrunden laufen lässt, ihn lobt, ihn schon durch das zarte Anheben ihrer Longierpeitsche dazu bringt, einen Zahn zuzulegen. Mehr Zwiegespräch als Zwang. „Ich habe immer eine Vorstellung, wie ich das Bewusstsein meines Gegenübers anheben kann“, erklärt sie, „und im besten Fall ist das Gegenüber daran interessiert.“

Das klingt etwas esoterisch, hat aber einen handfesten Kern. Ich verstehe: Auch mir würde im Selbstgespräch mehr Schulterklopfen und Ansporn guttun. Dann könnte ich mir mehr zutrauen, die Latte etwas höher legen. Das wichtigste an der Führung, sagt Franzi, ist Freude. „Ich gebe nicht nur ein Ziel vor, ich möchte vor allem, dass der Funke überspringt.“ Auf mich bezogen heißt das: Mehr „Wow, wo willst du heute hin?“, weniger „Na, Frau Carl, kommen wir heute noch mal in die Hufe?“  

Das Pferd ist jetzt warm. Longe ab, Bea in den Sattel. Sie wechselt wie von Zauberhand Gangarten, Tempo, Richtung, ohne Drohen, Schimpfen oder Schreien. Wäre ich nicht selbst ein Ex-Pferdemädchen, würde ich nicht mal erkennen, wie sie das macht: leichter Schenkeldruck hier, minimaler Zügelzug da. Die beste Führung ist unsichtbar. Invisible Leadership. Hey: Das wäre mal ein guter Titel für ein Buch! Oder für einen Podcast. Gleich notieren. Später, während Bea Dio in den Stall führt, erzählt sie, dass pferdegestütztes Training für Manager seit Jahren gut gebucht ist. Dabei sollen Leute, die sonst Umsatzvorgaben erarbeiten oder Zielmärkte erschließen, beispielsweise einen Parcours in der Reithalle aufbauen. Und begreifen dabei, warum die Stimmung in ihrem Büro so mies ist. Wer zu viel Druck ausübt oder seine Wünsche nicht klar zum Ausdruck bringt, macht nicht nur sein Team wuschig, sondern bringt auch kein Pferd dazu, über Balken zu steigen und um Tonnen herumzugehen

Bald schon kann ich das Learning anwenden, in meinem kleinen, gelegentlich erfolgreichen Familienunternehmen. Die Challenge: eine aufgelöste 16-Jährige, die versucht, innerhalb von zwei Stunden für eine Klassenarbeit nachzuholen, was sie in zwei Monaten verschlafen hat. Normalerweise sind mein Liebster und ich eine gute Doppelspitze, aber heute ist Papa mit seinen Skills am Ende: Weder Negativ-Feed-back („Habe ich dir nicht schon vor drei Tagen gesagt …“) noch der Verweis auf digitale Organisationstools („Ich richte dir jetzt ein Trello-Board ein“) helfen weiter. Dafür komme jetzt ich, mit der richtigen Mischung aus Liebe und Struktur, wie bei jungen Pferden. Aufs Wesentliche konzentrieren, aufhören, ehe nichts mehr geht. Töchterchen und ich einigen uns auf eine niedrigschwellige Zielvorgabe. Eine Vier ist gut genug, eine Fünf lässt sich ausgleichen. Ich muss daran denken, was meine Freundin Jasmin, Co-Chefin einer mittelständischen Pharmafirma, einmal gesagt hat: „Führung heißt nicht, Kontrolle ausüben, sondern Kontrolle abgeben. Vertrauen. Zügel lang lassen.“ Weil ich gerade so 
einen Lauf habe, plane ich abends eine Teambuilding-Maßnahme, beim Familienessen: Der warme Stuhl. Jeder sagt den anderen, was er toll an ihnen findet. Den Tipp habe ich von einer Lehrerin. Die habe ich auch gefragt, wie sie mit Problemschülern, Störern, Saboteuren umgeht. Ganz ähnlich: Loben, bis der Arzt kommt. Jedes noch so kleinste Fitzelchen erwähnen, das gut läuft, statt über den Berg Bockmist daneben zu schimpfen. Das probiere ich gleich bei meinem Sohn aus: „Oh, super, unter dem Kopfende liegt nur ein einziges Bonbonpapierchen“ statt „Was ist mit den sieben Socken unter dem Fußende – und ist das daneben etwa dein verlorenes Biobuch?!“ Das irritiert ihn so, dass er später freiwillig die Spülmaschine ausräumt. 

WENN MITARBEITER ETWAS GUT MACHEN, bekommen sie je nach Gehaltsklasse eine kleine Prämie oder die Champions-of-the-year-Golfreise nach Malle spendiert. Ich finde, ich habe auch einen Bonus verdient und schenke mir zum Abschluss Konzertkarten, inklusive Schaumwein in der Pause. Der Dirigent ist ein attraktiv ergrauter Finne, und was er am Pult macht, ist mehr Ausdruckstanz als Einsatzplanung. Es sieht aus, als wäre das gesamte Orchester, die Hornistinnen, Geigerinnen, Paukisten, seine Klaviatur, auf der er virtuos spielt. Am Ende applaudieren sich die Bläser gegenseitig, die Streicher wedeln mit ihren Bögen, das Publikum flippt auf hanseatische Art aus. Und ich merke: Dasselbe passiert an guten Tagen in meinem Kopf. Wenn plötzlich alle inneren Stimmen harmonisch zusammenklingen, dann komme ich am weitesten, egal, ob beim Arbeiten oder mit meinen Kindern. Ich habe ja jetzt ein paar Ideen gesammelt, wie ich mir mehr solche Momente schaffen kann. Nur meiner Chefin muss ich noch Bescheid sagen. 

„Gebraucht werden ist das Schönste am Vatersein – und das Schlimmste“

Die große Mehrheit aller jungen Eltern findet, ein Vater solle so viel Zeit wie möglich mit seinen Kindern verbringen. Aber die Quote derer, die länger Elternzeit nehmen oder ihre Arbeitszeit dauerhaft reduzieren, spricht eine andere Sprache. Wie kann sich das ändern? Fürs ELTERN-Magazin, Dezember 2022, habe ich mich mit vier Männern unterhalten, die Ernst machen

Treffen sich vier Väter auf Zoom und wollen mal reden. Darüber, wie Kind und Karrieremachen zusammenpassen, wie man Liebe, Abwasch und Jobprojekte zusammenbringt und woran es eigentlich liegt, dass zwischen Müttern und Vätern die Aufgaben immer noch so ungleich verteilt sind. Einer sitzt vor einem an die Wand gehängten Surfboard, einer ein Kellerbüro, zwei haben virtuelle Hintergründe eingeblendet; zwei sind älter, zwei jünger. Aber, kein Witz, eines haben sie alle gemeinsam…

ELTERN FAMILY: Roman, Marius, Harald, Volker: Ihr habt insgesamt zehn Kinder, seid alle verheiratet und angetreten, aktive Väter zu sein. Wie läuft‘s?

Roman: Ich habe nach der Geburt unserer Zwillinge nur zwei Monate Elternzeit genommen, rückblickend würde ich sagen, das war viel zu wenig. Aber ich glaube, am Ende macht nicht die Dauer der Auszeit einen guten Vater aus, sondern vor allem das normale Alltagsleben, das Teilen der Carearbeit, für 18 Jahre oder mehr. Es ist perfekt, ein halbes Jahr zu Hause zu sein, aber nicht, wenn man danach mehr oder weniger abwesend ist.

Wie sieht das konkret bei dir aus?

Roman: Unsere Kinder sind von etwa 8.30 bis 16 Uhr in der Kita, meine Frau und ich teilen uns Erwerbs- und Familienarbeit. Das muss nicht jeden Tag die gleiche Stundenzahl sein, aber am Ende des Monats, des Jahres muss man sich in die Augen schauen können und sagen: Ja, das hat für uns gepasst. Glücklich-glücklich kann gleichbedeutend sein mit Fifty-Fifty, muss aber nicht. Meine Erfahrung ist, je aktiver man als Vater ist, desto schöner wird es, desto mehr vermisst man seine Kinder, wenn man ihnen mal nicht nah ist. Viele Väter, gerade solche in Führungspositionen wie ich, haben das nie erlebt.

Marius: Bei meinem älteren Sohn, jetzt neun, habe ich auch nur die zwei Vätermonate gemacht, ohne groß nachzudenken – das war halt Standard. Später wurde auch ich Papa von Zwillingen, und habe ein ganzes Jahr lang ausgesetzt. Meine Frau ist Ärztin mit eigener Praxis, ich war damals angestellt in einem großen Konzern. Danach bin ich in Teilzeit zurückgegangen, mittlerweile habe ich mich selbständig gemacht und halte außerdem den Laden zu Hause am Laufen. Das heißt, wenn in der Kita ein Kind hinfällt, dann bin ich derjenige, der angerufen wird. Das musste ich denen erst mal beibringen!

Harald: Ich bin hier in der Runde der Hardcore-Elternzeitler: Ingesamt elf Jahre mit einem Pflegekind und später zwei leiblichen Kindern. Das lag aber auch daran, dass mein früherer Arbeitgeber, ein Mittelständler aus dem Technikbereich, mich mit allen Mitteln loswerden wollte. Heute arbeite ich 14 Stunden die Woche als Schreibkraft, was gut in unser Leben passt, aber wenn man ehrlich ist, bin ich formal total überqualifiziert. 

Volker, du berätst seit über 15 Jahren Firmen zu Vereinbarkeitsthemen, speziell im Hinblick auf Väter. Welche Erfahrungen bringst du selbst mit?

Volker: Meine Frau und ich haben mit unserer älteren Tochter schon vor 22 Jahren ein Fifty-Fifty-Modell gelebt, das war damals noch viel schwieriger zu organisieren, es gab ja kaum Betreuungsplätze für jüngere Kinder. Auch mir hat mein Arbeitgeber damals für eine Vater-Auszeit die Rote Karte gezeigt – das war der Anstoß für meine Selbständigkeit. Heute haben wir Kunden vom Großkonzern SAP bis zu den Stadtwerken Lübeck, und überall rumort es in den Unternehmen. Auch durch den Homeoffice-Boom während Corona sind gerade jüngere Väter zunehmend nicht mehr bereit, alte Muster weiterzustricken. 

Und doch ist der Fortschritt eine Schnecke, und Beispiele wie die euren bleiben die Ausnahme. Woran liegt das: die Wirtschaft, die Männer, die Frauen…?

Marius: Als ich meinem Vorgesetzten gesagt habe, dass ich über ein Jahr pausieren will, wusste ich, dass meine Expertise nicht so schnell zu ersetzen ist und habe das auch so angekündigt – „Chef, jetzt versau ich Ihnen den Tag!“. Er hat es trotzdem cool aufgenommen, da kann ich nicht klagen. Unangenehm waren eher die Spitzen aus der obersten Führungsebene. Die trifft man auf dem Flur, unterhält sich nett, „Mensch, Sie gehen in Elternzeit, freuen Sie sich?“, und im Gehen kommt dann eine Bemerkung wie: „Na, Sie werden schon wissen, was Sie tun“. Da ist noch viel altes Denken in den Köpfen.

Roman: Diese Haltung zieht sich noch immer quer durch die Gesellschaft, bei Männern wie Frauen, im Privaten wie im Beruflichen. Wenn ich Interviews gebe, kommentieren auch manche Frauen online: Aber Kinder gehören doch zur Mutter! Andererseits begreifen auch manche Männer nicht, warum sich überhaupt etwas ändern sollte. Dabei ist für mich eines klar, moderne Unternehmenskulturen brauchen nicht nur Frauen im Vorstand, sondern auch Väter, die für ihre Kinder da sein können.

Gehst du als Chef mit gutem Beispiel voran?

Roman: Ich gehe auf Mitarbeitende zu und sage: Ich hab gehört, du wirst Papa, oder du wirst Mama, wie können wir dich unterstützen? In meinem Führungsteam sind alle Männer in Elternzeit gegangen, auch mehr als zwei Monate. Denn wenn ein Chef, eine Chefin das aktiv angeht und kein Tabu aus Vereinbarkeitsfragen macht, erzählen Männer im Unternehmen früher und offener, dass sie Vater werden. Nach dem dritten Monat, wenn sie es auch ihren Freunden sagen. Das wiederum gibt dem Arbeitgeber fast ein halbes Jahr Puffer, um zu planen.

Harald: Klingt gut, aber ich habe genau das Gegenteil erlebt. Man hat ja als werdender Vater nicht denselben Kündigungsschutz wie eine werdende Mutter, ob es also schlau ist, frühzeitig eine Ankündigung zu machen, hängt also sehr von der Unternehmenskultur ab. Für meinen Vorgesetzen war ich sofort abgeschrieben, als ich gesagt habe, ich möchte aussetzen.

Roman: Aber meiner Meinung nach macht es der derzeitige Fachkräftemangels einfacher, einen neuen Arbeitgeber zu finden, der Vereinbarkeit ermöglicht. Es wäre doch jetzt genau die richtige Zeit für Väter, selbstbewusster aufzutreten!

Harald: Ich habe mich vielfach in Teilzeit beworben, sowohl im Bereich Einkauf und Beschaffung, wo ich vor meiner Elternzeit gearbeitet habe, als auch mit meiner Basisqualifikation als Elektriker und Elektrotechniker. Aber wenn die sehen, da will ein Mann weniger als 30, 40 Wochenstunden arbeiten, kommt innerhalb von drei Tagen eine Absage!

Volker: Es gibt Riesenunterschiede zwischen den Milieus, zwischen Stadt und Land. Zwar nehmen in Bayern die meisten Väter die zwei so genannten Vätermonate, mehr als in allen anderen Bundesländern, aber danach heißt es, vor allen in ländlichen Gebieten: Jetzt bringst du bitte wieder 120 Prozent, für Familie ist deine Frau zuständig. In Metropolregionen mit mehr Fachkräftemangel, mehr Konkurrenz, mehr Vielfalt ist die Situation oft günstiger. Aber es gibt auch eine aktuelle Studie der Antidiskriminierungsstelle, die sagt: Nicht nur jede zweite Frau erfährt im Arbeitsleben Diskriminierung, wenn sie Mutter wird, auch jeder dritte Vater. Bei den Frauen ist es eher die Rückkehr in den Job, bei den Vätern beginnt es bei der Ankündigung, dass sie reduzieren möchten, weil ein Kind kommt. Da ist die Politik gefragt, Rahmenbedingungen zu ändern, das können wir nicht nur im Privaten lösen.

Marius: Bin ich total bei dir. Wir müssen aber aufpassen, nicht in so einen Tenor abzugleiten: Hilfe, Familie, Riesenbelastung! Ich habe total davon profitiert, in der Elternzeit einen Schritt zurückzumachen vom Arbeitsleben, Dinge anders zu denken. Ich habe eine andere Perspektive auf das Leben, einen anderen Fokus. Das bringt mich persönlich weiter, im Berufsleben, in der Paarbeziehung.

Volker: Gutes Stichwort, Paarbeziehung. Entscheidend ist, dass man es schafft, nicht nur Familienarbeit, sondern auch den Mental Load gerecht aufzuteilen: Wer besorgt das Geschenk für die Schwiegermutter oder organisiert den Kindergeburtstag? Da entsteht nämlich schon in der Elternzeit ein Ungleichgewicht, weil das zu wenig besprochen wird. Ich würde mir auch wünschen, dass die neuen, jungen Väter die älteren fragen, Mensch, wie habt ihr das denn eigentlich gemacht? Wann habt ihr euch wie aufgeteilt? 

Marius: Die haben sich doch solche Gedanken größtenteils gar nicht gemacht! 

Harald: Also, ich bin in den Siebzigern, Achtzigern in kleinbäuerlichen Strukturen groß geworden, da hat zu Hause jeder angepackt. Wenn mein Vater im Schichtdienst war, saß meine Mutter auf dem Traktor, und wenn sie beim Arbeiten war, dann hat mein Vater mir das Schulbrot geschmiert. Für mich ein gutes Vorbild. Als ich selbst Vater wurde, habe ich jedenfalls viel positives Feedback bekommen, vom Freundeskreis bis zur Krabbelgruppe.

Marius: Ja, dieses Positive habe ich auch erlebt, aber nicht nur. Es gab auch total absurde Situationen. Etwa, wenn man Bekannte trifft und erzählt, wir haben Zwillinge, da kommt vor allem von älteren Frauen gerne so ein Spruch: „Oh, die arme Mutter.“

Roman (lacht): Ja, hier auch: „Das ist aber anstrengend für Ihre Frau.“ 

Marius: Dabei freuen wir uns doch darüber, dass wir diese Kinder haben, da ist niemand arm. Zweitens bin ich derjenige, der zu Hause alles wuppt. Drittens, bring dein Weltbild in die Altstofftonne. Aber auch bei Babytreffen gab es solche, die sich keinen Reim auf mich machen konnten. Einmal habe ich zwischen zwei Müttern gesessen, die sich lang und breit über meinen Kopf hinweg über meine Kinder unterhielten, als wäre ich gar nicht da: „Oh, süß, Zwillinge, welches ist wohl das ältere….“ Dabei hätten sie mich nur fragen müssen, sie wussten ja, dass die Kinder zu mir gehören.

Über eine Sache haben wir noch nicht gesprochen, das Geld. Es gibt Paare, da können sich weder Mütter noch Väter längere Auszeiten leisten….

Harald: Stimmt, Elternzeit ist Luxus. Wir sind es pragmatisch angegangen: Was gibt unsere Konstellation her, jenseits von Männer- und Frauenrolle? Meine Frau war erst fünf Jahre in ihrem Beruf als Lehrerin und wollte vorankommen, ich bin zehn Jahre älter und hatte dafür mehr Rentenpunkte. Logisch, dass ich zu Hause bleibe.

Marius: Wir haben für meine Elternzeit bei den Zwillingen hart gespart. Wir hätten sie auch früher in die Krippe geben können, aber das wollten wir nicht, weil wir bei unserem Großen nicht so gute Erfahrungen gemacht hatten. Danach was das Geld komplett aufgebraucht, aber das war es uns wert. Mein Punkt ist, in vielen Familien findet dieser Planungsprozess gar nicht statt. Der Mann denkt, er muss die Kohle anschaffen, die Mutter denkt, sie müsste zu Hause bleiben, und damit wird das Thema so weggewischt. 

Volker: Wir wissen, dass 77 Prozent der Väter den Löwenanteil des Geldes nach Hause bringen, es sagen aber auch 70 Prozent der Mütter, dass es wichtig für sie ist, in den ersten Jahren Zeit mit dem Kind zu verbringen. Das emotionale steht noch vor dem finanziellen. Und ich gebe Marius recht: Wir haben noch keine gesellschaftlichen Rituale dafür, wie und wo Paare sich darüber austauschen könnten! Väter gehen heute mit zum Geburtsvorbereitungskurs und reden über Ängste vor der Geburt – aber nicht darüber, was danach kommt. Unsere Idee als Beratungsunternehmen ist, Vereinbarkeitscoaches in Firmen zu installieren, die mit werdenden Eltern ins Gespräch kommen, auch wenn einer von beiden gar nicht dort arbeitet. Es braucht eine andere Gesprächs- und Arbeitskultur, quer durch die Branchen – auf dem Bau, in Rechtsanwaltskanzleien, im Gesundheitswesen….

Roman: Ganz wichtig! In der Chirurgie kannst du auch nicht einfach hinwerfen, wenn vor dir einer auf dem Tisch liegt, nur weil die Kita anruft, dass dein Kind Fieber hat. Anders als in anderen Berufen. Es gibt aber schon New Work-Modelle für Gesundheitswesen oder Industrie, mit denen man zum Beispiel per App flexibel Schichten tauschen kann, das hilft sehr. Aus meiner eigenen, früheren Erfahrung als Schichtarbeiter würde ich sagen: Es hat auch Vorteile, wenn ein Vater am Ende des Arbeitstages den Hammer und die Feile fallen lassen kann und seine Kinder abholen, ohne auch für den Rest des Tages immer und überall erreichbar sein zu müssen. Abschalten fällt da sicher leichter als in einem Job wie meinem.

Harald: Ich bin bei vielem ganz bei dir, Roman. Aber wenn du eine Woche Spätschicht hast, eine Frühschicht, danach eine Nachtschicht, musst du trotzdem nachmittags die Betreuung bezahlen, auch wenn du sie nicht nutzt. Wenn mein Kind in die Musikschule gehen will und der Nahverkehr auf dem Land ist ein Debakel, dann ist der halbe Nachmittag mit Fahrdiensten belegt. Vieles klingt in der Theorie besser als in der Praxis. 

Zum Schluss ein Gedankenexperiment. Stellt euch vor, ihr seid 70 Jahre alt, eure Kinder erwachsen. Was sollen sie über euch sagen, wenn sie an ihre Kindheit denken?

Volker: Es wäre schön, wenn meine Töchter sagen: Er hatte immer dann Zeit für mich, wenn es wirklich wichtig war.

Marius: Da schließe ich mich an.

Roman: Man muss ja erstmal anwesend sein, um auch zum richtigen Zeitpunkt da zu sein. Meine Kinder sollen sich daran erinnern, dass sich nicht nur das Eis am Wochenende mit ihnen geteilt habe. Sondern auch ihre Probleme und Sorgen.

Harald: So ist es. Ständig gebraucht zu werden, das ist das Schlimmste am Vatersein. Und zugleich auch das Schönste.

Unsere Gesprächspartner:

ROMAN GAIDA, 40, lebt mit seiner Frau und vierjährigen Zwillingssöhnen in Düsseldorf und leitet den Geschäftsbereich CNC in der Niederlassung des Mitsubishi-Konzerns. In seinem aktuellen Buch erzählt er von seinem Weg zwischen Karriere und Vaterschaft und gibt Tipps für Männer, die beides wollen: „Working Dad“, Campus, 24 €

HARALD LÖFFLER, 52, ist mit Frau und drei Kindern (11, 9 und 5) im ländlichen Franken zu Hause. Der ausgebildete Elektrotechniker arbeitet zur Zeit in Teilzeit als Schreibkraft.

MARIUS KRONSBERGER, 41, wohnt mit Frau und Kindern (das ältere neun, die jüngeren Zwillinge vier) als Immobilienmakler an der Ostsee. Seine Erfahrungen aus der einjährigen Elternzeit sind nachzulesen in „Von einem der heimging, um bei seinen Kindern zu sein“ (im Selbstverlag, zu bestellen im Buchhandel, 14,90 €)

VOLKER BAISCH, Unternehmensberater, 55, hat mit seiner Frau zwei erwachsene Töchter und lebt in Hamburg. Seine Firma entwirft Konzepte zu Vereinbarkeitsfragen im Job, besonders im Hinblick auf Väter (conpadres.de)

Generation Hä?

20jährige ticken heute oft völlig anders als ihre Eltern im gleichen Alter, in Liebe, Job und Leben. Für die BRIGITTE Woman, Ausgabe 8/22, habe ich mich gefragt: Ist das ein Anlass, sich zu wundern – oder auch, sich ein paar frische Ideen abzuschauen?

Ich bin 52 und habe gute Gründe, mich jung zu fühlen. Nachmittage auf dem SUP-Board, ein Abendessen bei Freunden, das in eine spontane Tanzparty mündet, das Naturblond, das sich dank freundlicher Gene noch immer flächendeckend auf meinem Kopf befindet (danke, Papa). Aber manchmal werde ich auf einen Schlag auch ganz schön alt. Zum Beispiel neulich, als mir meine Nichte erklärte, sie wolle doch lieber Lehrerin werden als was mit Medien, „weil ich auf meine mentale Gesundheit achten will“. Echt, mit 19? Oder die Schulabgängerin von nebenan, die auf die Frage nach ihrem Beziehungsstatus so irritiert dreinschaute, als hätte ich gefragt, ob sie an Einhörner glaubt. War da nicht mal was, in dem Alter, mit Liebe und so? Zuletzt meine 16jährige Tochter, die von einer Netzbekanntschaft namens „River“ erzählte. Ein Junge, ein Mädchen? Weder noch: „Eine Person, der Pronomen nicht so wichtig sind.“ Ach so. Sozialforscher sprechen von Millennials. Ich nur noch von „Generation Hä?“.

Als vor ein paar Jahren die gesundheitsbewusste, sensible, sinnsuchende „Generation Y“ in aller Munde war, „y“ wie „why“, dachte ich noch: Jetzt macht mal halblang. Auch wir Älteren hatten nicht ständig Dollarzeichen in den Augen, Sex im Kopf und Caipirinha im Glas. Aber jetzt wird die nächste Altersgruppe erwachsen, und kratzt dabei an Dingen, die ich für die Basiseinstellung des Jungseins hielt. Sie wollen lieber Minecraft als Nightlife, lieber Selfcare als Karriereplan, lieber Kuscheln als Vögeln. Um es mit einem Top-Ten-Hit aus den Achtzigern zu sagen: Was soll das? Geht das wieder weg? Oder ist es am Ende zukunftsträchtig? 

Natürlich ist es immer schwierig, Menschen über einen Kamm zu scheren, nur weil sie ein ähnliches Geburtsjahr teilen. Schon gar nicht, wenn Individualismus großgeschrieben wird und nichts so uncool ist wie Herdentrieb. Nur ein Beispiel: Bei der letzten Bundestagswahl machten ähnlich viele Erstwähler:innen ihr Kreuz bei der FDP (23 Prozent) wie bei den Grünen (21 Prozent). Das heißt, unter 18jährigen sind konsumfreudige Porsche- und PS-Fans genauso vertreten wie die, die sich auf Durchgangsstraßen festkleben, um die Verkehrswende zu erzwingen. So wie sich in den Achtzigern Rick Astley- und The Cure-Hörer:innen dieselbe Raucherecke auf dem Schulhof teilten. Aber Gemeinsamkeiten unter Millennials gibt es eben doch, quer zur politischen Grundeinstellung. 

Anruf bei Ines Imdahl, Psychologin aus Köln und Gründerin des Rheingold-Salons. Die Sozialforscherin beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Werten und Befindlichkeiten, besonders die junger Frauen. „Anpassung ist die neue Rebellion“, so fasst sie das Lebensgefühl zusammen. Der fundamentale Unterschied zu uns, geboren um 1970: Während wir uns nach Entgrenzung gesehnt haben, Rausch, Ekstase, ob beim Interrail-Trip oder auf der Technoparty, hat sich bei den heute 20jährigen Ernüchterung breit gemacht. „Mama, Papa, Krise – so sind sie aufgewachsen“, sagt Imdahl. Klimastreik, Corona-Daueralarm, die fragmentierte, überdrehte Welt zwischen TikTok-Clip und Fast Fashion, als jüngstes Drama der Krieg in der Ukraine. Da ist die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit verständlich. War das ikonische Bild unserer Jugend die berstende Mauer aus Pink Floyds „The Wall“, sind es heute Insta-Posts unter dem Hashtag #cottagecore: Feldsteinmauer, Kletterrosen, Milchkanne. Nicht „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sondern die Suche nach heilen Orten. Selbst unter Berufsanfängern vor der Familienphase sinkt die Lust auf die Altbauwohnung im Szeneviertel und steigt die aufs Häuschen mit alten Apfelbäumen im Garten. 

Das kann man für spießig und biedermeierlich halten. Oder für eine ziemlich gesunde Reaktion auf eine ziemlich kranke Welt. Von Menschen, die in der Lage sind, sich besser zu schützen als wir. Sicher nicht zuletzt eine Erziehungsfrage. Unsere eigene Elterngeneration war zwar wohlmeinend, trug aber die Härte und Strenge der Kriegs- und Nachkriegszeit noch in den Knochen. Konformitätsdruck, Leistungsanspruch, so sind wir aufgewachsen. Unseren Kindern haben wir vielfach andere Werte mitgegeben. Kenn deine Grenzen, sag nein, deine Bedürfnisse sind wichtig. Das sorgt hier und da für Irritation. Kein Wunder, dass vor allem die sprichwörtlichen Alten, Weißen Männer den heutigen Berufsanfänger:innen das Label „Generation Schneeflocke“ verpassen. Weil diese weniger druckempfindlich, weniger leidensfähig sind. Das mag ein Problem für Chef:innen sein, ist aber auch ganz schön clever: Wer mit 25 auf sich achtet, braucht mit 45 eher keine Burnout-Klinik. Zu Ende gedacht, ist diese Haltung alles andere als angepasst. Sondern eine ziemlich radikale Forderung nach einer menschenfreundlicheren Arbeitswelt. 

Je mehr ich über das Thema nachdenke, desto klarer wird mir: Hinter der netten, sensiblen Fassade brennt jede Menge revolutionäres Feuer. Da wachsen Menschen nach, die vieles hinterfragen, bis zu unserem Konzept von Körper, Liebe, Familie. Nicht, dass gleich alle polyamor werden oder ihr Geburtsgeschlecht anzweifeln. Aber wenn in Studien sieben bis 15 Prozent aller befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeben, nicht rein heterosexuell zu sein oder nicht ausschließlich weiblich oder männlich, dann sind das ganz schön viele, ganz schön mutige Menschen auf der Suche nach sich selbst. Auch Beziehungen werden neu vermessen. In der preisgekrönten Young Adult-Serie „Druck“ (auf YouTube) zählt die verlässliche Clique mehr als wechselnde Knutsch- und Sexaffären. Deutlich anders als zu unserer Teeniezeit, als Mädchen die Suche nach „dem Richtigen“ als Lebensziel schon ins Poesiealbum geschrieben wurde. Zwar spielte bereits vor 20 Jahren Frauenfreundschaft eine tragende Rolle in „Sex and the City“, aber der Hauptgewinn war der ewige Traummann Mr. Big. Am Ende waren alle in festen Händen, selbst Sexgöttin Samantha. Ächz, stöhn, gähn. Im aktuellen Nachklapp „And just like that“ (läuft gerade auf Sky) fremdeln Carrie und ihre gealterten Freundinnen mit der woken, genderfluiden Gegenwart, und sind gleichzeitig davon fasziniert. Genau wie ich.

Vielleicht, so kommt es mir vor, tut unsere Nachfolgegeneration eben doch, was junge Leute halt so tun: Sie grenzt sich ab, mit ihrer Art zu lieben, mit ihrer Art zu leben. Nur auf andere Weise als wir. Einfach, weil wir eine ganze Menge Felder schon für uns besetzt haben, die heute nicht mehr zu Rebellion taugen. Wir tragen mit 50 immer noch dieselben Street Style-Klamotten, gehen auf Festivals, wenn die Covid-Zahlen es erlauben, lassen uns von Musiksoftware aktuelle Playlists zusammenstellen. Gut so. Also suchen sich unsere Töchter, Nichten, Kinder von Freunden andere Nischen. Treffen sich auf Discord im Netz statt nachts im Club, folgen online Streamern statt Filmstars, verlangen Hafermilch statt Kuh zum Cappuccino (vorbildlich!) und vegane Festmenüs. Im Extremfall machen sie mit ihren Eltern auf Best Buddys und weigern sich, zu Hause auszuziehen, bis sie 27 sind. An dieser Stelle ein Wort an meine Kinder: Falls ihr so etwas mit mir vorhabt, vergesst es! Rebellieren und mich abgrenzen, wenn mir was nicht passt – das kann ich schon seit über 30 Jahren.

„Krieg ist immer ein Backlash für die Sache der Frauen“

Aber ihre Rolle wird auch unterschätzt, sagt die Historikerin Hedwig Richter. Denn Frauen spielen eine Schlüsselrolle, wenn es um das Voranbringen der Demokratie geht – auch in der Ukraine. Für die BRIGITTE habe ich mit ihr gesprochen.

Seit Beginn von Putins Angriffen fühlt man sich oft wie um 100 Jahre zurückversetzt: Auf der einen Seite die männlichen Helden, die in Kiew kämpfen, während Mütter und Kinder verzweifelt fliehen – und in deutschen Talkshows sitzen Generäle. Ein gesellschaftlicher Backlash?

Hedwig Richter: Krieg und Gewalt sind entsetzlich und immer ein Rückschlag für den Feminismus, oft auf allen Seiten. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass wir Freiheit und Gleichheit auf Dauer nicht zurückdrehen werden. Wir sind nicht blind einem Schicksal ausgeliefert, sondern haben vieles selbst in der Hand.

Inwiefern?

Das wird beim Blick auf die Geschlechterordnung deutlich, die sich immer nur mit großen Mühen ändern lässt. Nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 bekamen Frauen das Wahlrecht, um das sie Jahrzehnte lang gekämpft hatten plus besseren Zugang zu Bildung und Berufsleben. Das war fortschrittlich. Die Nationalsozialisten sorgten für Rückkehr zu einer martialischen Männlichkeit, Frauen wurden aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Und nachdem sie im Krieg und in der direkten Nachkriegszeit fast alle Aufgaben der Männer selbst übernommen hatten, kamen die fünfziger Jahre mit ihrem Idealbild der Hausfrauenehe. Doch Stück um Stück ist die Offenheit unserer Gesellschaft gewachsen, die Demokratie hat an Stärke gewonnen. Putin greift genau diese Friedensordnung an: Freiheit, Gleichheit, Vielfalt. Und damit wächst auch das Bewusstsein, dass es sich lohnt, diese Werte zu verteidigen.

Notfalls auch gewaltsam? In der Ukraine kämpfen ja auch ein paar Frauen.

Eine Diskussion, die so alt ist wie der Feminismus selbst. Die eine Strömung sagt: Gleiche Rechte, gleiche Pflichten, also auch zur Waffe greifen wie die Männer. Die andere Strömung argumentiert: Frauen sind, aus welchen Gründen auch immer, die friedlicheren Menschen und brauchen deshalb mehr Macht, um auf unblutige Weise Lösungen zu finden. Ich habe selbst keine einfache Antwort auf diese Frage. Was man aber sagen kann: Frauen waren schon immer ein Motor friedlicher Transformation.

Woran machen Sie das fest?

Studien zeigen an vielen Beispielen: Wenn sich eine Gesellschaft demokratisiert, ist das nachhaltiger und dauerhafter, wenn es aus der Zivilgesellschaft kommt und nicht von einer kleinen Gruppe, die ihre Ziele gewaltsam durchsetzt. Und an friedlichen Übergängen sind immer mehr Frauen beteiligt als an gewaltsamen. Ihre Rolle wird immer unterschätzt, weil sie nicht so heroisch inszeniert und gewaltsam sind. Nehmen Sie die 68er-Bewegung – dominierend sind Bilder der Steine werfenden Männer, während die Frauen wenig glorios gesellschaftliche Veränderungen durchgesetzt haben, mehr Gleichheit, gewaltfreie Erziehung, Selbstbestimmungsrechte. Auch international ist demokratischer Wandel oft weiblich getrieben, etwa in Belarus oder in Afghanistan. Selbst wenn die Lage derzeit furchtbar ist, denke ich, auf Dauer wird sich das nicht unterdrücken lassen.

Was ist mit den Frauen auf der russischen Seite?

Ich bin keine Russlandexpertin. Aber auch hier sehen wir viele Frauen, die an den Protesten beteiligt sind. Autoritäre Regime wie in Syrien, Belarus und jetzt in Russland sind misogyn und homophob. Und sie schlagen mit voller Härte zu, weil sie wissen, dass ihre Stunde geschlagen hat. Weil die Demokratie, Menschenwürde für alle so attraktiv ist, geistig und materiell, hat sie eine große Anziehungskraft auf Bevölkerung in diesen Ländern. Vieles spricht dafür, dass sich diese Lebensweise am Ende durchsetzt. Und das werden wir ganz stark den Frauen zu verdanken haben.
Darf man sich angesichts des ganzen Leidens überhaupt so etwas wie Geschlechterfragen stellen? 

Unbedingt! Hier wird deutlich, dass unsere zivilen Reflexe funktionieren, und dass wir unsere Friedenslektion gelernt haben. Frauenrechte und Emanzipation, berühren den Kern demokratischer Werte: Freiheit und Gleichheit.

Mit leeren Händen

Möchte eine Frau ein Baby, kann sie Mittel und Wege finden, auch solo. Für Männer bleibt der Kinderwunsch dagegen unerfüllt, wenn ihre Partnerin nicht will oder kann. Und für Singles wird es ganz schwierig. Für ZEIT online habe ich im März 2022 mit einem Mann gesprochen, der nichts so gerne hätte wie ein Kind

Natürlich weiß Michael, dass es in Deutschland illegal wäre, Frauen dafür zu bezahlen, eine Schwangerschaft für ein Paar auszutragen. Erkundigt hat er sich trotzdem, bei einem Unternehmen in den USA und einem in Osteuropa. Er hat dann schnell wieder davon abgesehen, er will ja nichts Kriminelles, niemandem schaden. Er wünscht sich nur so sehr ein Kind. Aber Michael ist 37 Jahre alt und hat kein Kind. Eines Tages hat er im Streit zu seiner Partnerin gesagt: „Was, wenn ich eines Tages vor dir stünde, mit einem Baby? Wenn ich dich einfach vor vollendete Tatsachen stellen würde?“ 

Er hat versucht, sich eine Zukunft ohne Nachwuchs vorzustellen, sagt er, „aber da wird es in meinem Kopf zappenduster.“ Malt er sich ein Leben als Vater aus, hat er dagegen Kino im Kopf: Ausflüge, gemeinsam malen, basteln, Fragen beantworten, die Welt erklären. Schöne, helle Bilder, die heil machen könnten, was er mit sich herumträgt: Erinnerungen an eine schwierige Kindheit, mit einer Mutter, die eines Tages ging und einen Vater, der gebrochen zurückblieb. Er wollte es anders machen. Das wusste er schon mit 13.

Trifft man Michael im Park der kleinen Stadt, in deren Nähe er lebt, ist der erste Eindruck: Da kommt ein freundlicher Mann. Nicht groß, nicht breit, eher leise. Die Worte rollen in weichem Dialekt von seinen Lippen. Seine Sätze beginnt er häufig mit „man“ statt mit „ich“ – gerade dann, wenn es im Gespräch emotional wird. Er könnte gut einer von jenen sein, die zur selben Zeit mit einem Baby im Tragetuch zwischen Krokussen und Schneeglöckchen spazieren gehen oder einem Kleinkind auf dem Laufrad hinterhereilen. Die Rolle würde zu ihm passen. Einmal war er sogar ganz nah dran.

„Nachdem ich meine Lebensgefährtin kennengelernt habe, bin ich immer davon ausgegangen, dass wir eines Tages Kinder haben werden. Sie ist der totale Familienmensch, hat ein inniges Verhältnis zu ihren eigenen Eltern, schon eine Mahlzeit allein ist ihr zuwider.“ Als die Pläne für beide mit Mitte 30 schließlich konkreter wurden, so erzählt Michael es heute, war seine Partnerin sich plötzlich nicht mehr so sicher: Was würde eine Schwangerschaft mit ihrem Körper machen, was die Mutterschaft mit ihren beruflichen Plänen? Am Ende rang sie sich dennoch durch – ein wenig wohl auch ihm zuliebe. Er sagt, er wäre bereit gewesen, alles zu übernehmen: den Großteil der Elternzeit, nachts für das Baby aufstehen. Als 35-Jähriger wollte er Ernst machen mit neuen Rollenverteilungen.

Aber dazu kam es nicht. Statt einer Zeit der Hoffnung und Vorfreude war die Schwangerschaft ein Horrortrip. Zu Beginn litt Michaels Partnerin unter extremer Übelkeit, dann, im vierten Schwangerschaftsmonat, kam das Kind tot zur Welt. „Ich habe noch selten im Leben so geweint“, sagt Michael. Das Nachhausekommen aus dem Krankenhaus fühlte sich an wie eine grausame Parodie auf das, was er sich ausgemalt hatte: statt mit einem lebendigen Baby im Arm mit dem toten, kleinen Körper in einer verschlossenen, herzförmigen Spanschachtel, die sie schließlich dem Bestatter übergaben. Übrig blieben nur eine Geburts- und Sterbeurkunde mit dem Namen, den sie sich für den Jungen ausgesucht hatten, ein winziges Mützchen und ein taubes Gefühl. 

Für seine Trauer, seinen Schmerz, seine inneren Kämpfe war danach nur wenig Platz, so hat Michael es empfunden. „Ich hatte so sehr versucht, für meine Partnerin da zu sein in dieser schweren Zeit. Alles getragen, alles organisiert, mitgedacht, als sie nicht dazu in der Lage war. Aber als es passiert war, fragte kaum jemand danach, wie es mir geht, die Freunde, die Kollegen. Nur danach, wie sie es verarbeitet. Als beträfe mich das gar nicht.“

Es ist ein Paradox. Um ein Kind zu bekommen, braucht es zwei Personen, wenigstens ihre Keimzellen. Doch sobald es um Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Geburt geht, steht der Frauenkörper im Vordergrund. Naheliegend, denn die Gesundheit der Mutter, ihr Wohlergehen und auch Lebensplanung sind noch immer stärker mit einem Kind verknüpft als bei Männern, biologisch wie sozial, ob es einem gefällt oder nicht. Männer können Frauen nicht zwingen, schwanger zu werden oder es zu bleiben. Dafür können sie sich später leichter der Verantwortung entziehen. Frauen können dagegen zumindest beeinflussen, ob, wann und von wem sie ein Baby bekommen. Wenn sie Single sind oder in einer lesbischen Beziehung leben und einen unerfüllten Kinderwunsch haben, können sie die Hilfe einer entsprechenden Klinik in Anspruch nehmen. Männer haben diese Option nicht.

Die größere Ferne zwischen Vater und Kind schlägt sich sogar in der Statistik nieder. Während man recht genau weiß, ob eine Frau Kinder hat und wie viele, sind Erhebungen wie der amtliche Mikrozensus für Männer nur bedingt aussagekräftig. Erhoben wird zwar die Anzahl von minderjährigen Kindern pro Haushalt, nicht aber die familiäre Verbindung zu den Erwachsenen. So fallen Väter durchs Raster, die von ihren Kindern und der Mutter getrennt leben, und Väter, deren Vaterschaft beim Kind nicht eingetragen wurde. Das Berliner Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) geht davon aus, dass etwa jeder fünfte Mann in seinem Leben nicht Vater wird.

Was man genauer kennt, ist die Gefühlslage von Männern, die unfreiwillig kinderlos sind. Sie hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Der einsame Wolf ist out, der Neue Mann trägt Baby. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums, für die zweimal im Abstand von sieben Jahren kinderlose Männer zwischen 20 und 50 befragt wurden, zeigt: 2013 war ein Viertel unfreiwillig ohne Nachwuchs, 2020 ein Drittel. Der Aussage „Kein Kind zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Makel“ stimmten 2020 fast doppelt so viele Befragte zu wie zuvor (39 gegenüber 20 Prozent). Elternschaft prägt inzwischen nicht nur die Identität von Frauen, sondern zunehmend auch von Männern. „Vatersein gehört zum Mannsein dazu“, fanden 2013 50 Prozent der kinderlosen Männer, sieben Jahre später waren es 56 Prozent. 

Bleibt der Nachwuchs aus, kann das bei Männern eine ähnliche Sinnkrise auslösen wie bei Frauen, sagen Ärztinnen und Berater, die Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch helfen. Männer fühlten sich sogar besonders hilflos und litten noch stärker unter der aufgezwungenen Passivität, weil sie sonst gewohnt seien, die Macher zu sein. Zudem fänden Männer zu wenig Ventile für ihren eigenen Kummer. 

So ging es auch Michael. Vor allem, als ihm vergangenes Jahr, wenige Monate nach dem traurigen Ausgang der Schwangerschaft, klar wurde: Das war mehr als ein einmaliger Schicksalsschlag. „Ich saß im Homeoffice, meine Lebensgefährtin auch, und ständig habe ich mit angehört, wie sie zu Kollegen am Telefon sagte: Das war so furchtbar für mich, das will ich nie wieder erleben.“ Michael verzweifelte. „Ich habe irgendwann sogar angefangen, Männer im Bekanntenkreis zu beneiden, die fanden, man habe ihnen ein Kind angehängt. Die bekommen etwas geschenkt, das sie gar nicht wollten, – und ich kann nichts tun, um mir diesen Wunsch zu erfüllen.“

Es war auch der Anfang vom Ende der Partnerschaft. Michael sagt, er habe seine Partnerin stützen, auffangen, ermutigen wollen, aber eben auch selbst eine Perspektive gebraucht. Sie hingegen habe jeden Vorschlag für eine weitere Familienplanung als Druck empfunden, nicht nur die abwegige Idee von der Leihmutterschaft. „Sie hat mir vorgeworfen, es ginge mir gar nicht um sie. Sie fühlte sich von mir behandelt, als wäre ihr Körper eine Maschine, die nur repariert werden muss, um bereit zu sein für die nächste Schwangerschaft.“ Hat er niemals überlegt, seiner Partnerin zuliebe die eigenen Lebensziele zu überdenken? „Ja, aber es führte nirgends hin”, sagt Michael. Er ist nicht religiös, ein naturwissenschaftlich denkender Techniker, aber trotzdem fand er auf einmal die Vorstellung von Seelenwanderung plausibel. Vielleicht würde sich sein Kind einen anderen Körper suchen. Neu anfangen. Zurückkommen.

Die Geschichte von Michael und seiner Partnerin hat kein Happy End, vielleicht noch nicht einmal ein Ende, allenfalls ein vorläufiges. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen haben die Beziehung zerstört, im Streit ist die Liebe auf der Strecke geblieben. „Ich habe den Eindruck, es gibt dabei nur Verlierer. Sie ist traurig, ich bin traurig. Ich frage mich: Habe ich sie im Stich gelassen? Sie mich? Wir uns gegenseitig?“ Einfach loszuziehen und sich eine andere Partnerin zu suchen, wie es ihm manche leichthin raten, ist für Michael keine Option. Eine gemeinsame Geschichte wische man nicht einfach so weg.

Der unfreiwillig Kinderlose ist heute 37. Er könnte sich also mit seinem Kinderwunsch noch Zeit lassen, jedenfalls mehr als eine Frau im gleichen Alter. Noch so eine Unwucht zwischen den Geschlechtern. Aber die Biologie ist das eine, die Psyche das andere. Michael tröstet der Gedanke wenig, dass er vielleicht noch in zwanzig Jahren zeugungsfähig ist. „Selbst wenn ich von heute auf morgen jemanden kennenlernen würde – das dauert ja, bis man sich einig ist, ob man wirklich ein Kind haben will. Und was sollte ich mit einer 25-Jährigen, die völlig andere Interessen und Lebensvorstellungen hat?“

Seine Psychotherapeutin hat ihm geraten, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihm schon früher Freude bereitet haben. Damit er nicht in ein so tiefes Loch falle. Jetzt, wo der Frühling kommt, ist er viel draußen in der Natur, und zu Hause hat er sich eine Ecke für Modellbau eingerichtet. Dort bemalt er kleine Spielfiguren, grundiert sie, verziert sie mit feinen Pinseln. Er hat kein Kind, dem er zeigen könnte, wie das geht. Nur das Kind in ihm darf wieder einmal spielen. Das muss fürs erste reichen.

Sei kein Held

Bis zum 24. Februar 22 habe ich in einer Welt gelebt, in der Jungen weinen dürfen und pinke Tüllröcke tragen. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist das militärische Denken zurück, und als Mutter eines Sohnes frage ich mich: Kann Feigheit uns retten? Darüber habe ich für das Sinn-Ressort der ZEIT einen Text geschrieben, der in leichter redaktioneller Bearbeitung erschienen ist wie unten

Nun überschlagen sich die Ereignisse, dort wie hier. Wie ein Schneeball, der auf dem Weg den Hang hinab Fahrt aufnimmt, Volumen gewinnt und schließlich alles überrollt. In Kiew und Charkiw sind es die Menschen, ihr Leben, ihre Freiheitsrechte, die davon erstickt werden. In Berlin und Hamburg ersticken wir nur die Zweifel, das Unbehagen, die Widerrede. Von einem Tag auf den anderen befürworten wir mehrheitlich Milliardenpakete für die Bundeswehr, Waffenlieferungen, Unterstützung. Wir fühlen uns auf der richtigen, der gerechten Seite, und die Angst legt mir ihre kalten Finger in den Nacken. Was wird das für meinen Sohn bedeuten, nicht heute, aber vielleicht eines Tages, wenn das nur der Anfang einer neuen, unkontrollierbaren Kriegszeit ist? Was wäre schlimmer, demokratische Werte zu verlieren, Freiheit, Wohlstand – oder ein Kind? Was ist ein Leben wert? 

Darüber denke ich nach, eine Woche nach Putins Überfall, und schäme mich dafür. Ukrainische Eltern würde mit Handkuss meine theoretischen Überlegungen gegen ihre konkrete Angst tauschen. In Deutschland sitzen wir warm und trocken. Keiner, der uns auffordert, Molotowcocktails zu bauen und Schützengräben auszuheben. Dort kämpft nicht nur die Armee, auch männliche Zivilisten zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht mehr das Land verlassen, weil sie zur Verteidigung gebraucht werden. Ich kann verstehen, was sie treibt, ich bewundere ihren Mut. Und frage mich gleichzeitig: Hätte ich ein Sohn in Kiew oder Charkiw, würde ich ihm raten, sich einem übermächtigen Angreifer entgegenzustellen? Oder sagen: Renn weg, versteck dich, rette dich? Ich kann auf alles verzichten, Wohlstand, Freiheit, aber nicht auf dich? 

Mein Junge ist bald 14. Drei Jahre nach seiner Geburt hat Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr zur reinen Berufsarmee umgestaltet. Das war für mich ein Signal: Ob jemand bereit ist, den Kopf hinzuhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben, auch bereit sein, zu töten, das ist von nun an eine kühle Entscheidung. Keine staatsbürgerliche Pflicht mehr, der man sich nur aus Gründen der individuellen Moral entziehen kann. Doch nach dem Angriff auf die Ukraine hat es nur etwas mehr als 48 Stunden gedauert, bis die ersten Forderungen kamen, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Jedenfalls in Form einer allgemeinen Dienstpflicht, die auch zivile Bereiche umfasst. Fürsprecher sitzen nicht nur im Reservistenverband, auch der niedersächsische CDU-Chef Bernd Althusmann gehört dazu und der SPD-Sicherheitsexperte Wolfgang Hellmich. Drei Tage nach Kriegsbeginn fragte sich gar der Historiker Karl Schlögel im Talk bei Anne Will, warum junge Europäer nicht freiwillig an der Seite der Ukraine in den Kampf ziehen wie einst Hemingway in den Spanischen Bürgerkrieg. 

Wenn ich das höre, denke ich an meinen Sohn, wie er einen Volleyballaufschlag macht, Eintopf aus seinem „Herr der Ringe“-Kochbuch zubereitet, seinen Fischen im Aquarium Namen gibt, und mir wird schlecht. Er gehört zu einer Generation, die von der Krippe an gelernt hat, dass man Streit mit Worten regelt, nicht schlägt, nicht beißt, nicht haut. In der Jungen weinen dürfen, zärtlich sein und sogar pinke Tüllröcke anziehen. Gegner existieren nur auf dem Sportplatz, nach dem Match gibt man sich High Five. Sollen wir sie nun mit den Kindheitsidealen ihrer Großväter anfüttern, der Todesverachtung, der Tapferkeit, nur, weil es einer gerechten Sache dient? Ist nicht es nicht gerade dieses Männerbild, das in seiner extremen Form Wladimir Putin verkörpert, hart, herzlos, homophob? Wenn wir wieder militärisch denken, verlieren wir dann nicht zu viel von dem, was uns ausmacht – und geben damit denen recht, die alte Heldenbilder nicht vom Sockel stoßen, sondern als neue Rollenvorbilder aufstellen wollen?

In meiner Familie ist oft die Geschichte erzählt worden, wie meine Großmutter ihren Sohn davon abgehalten hat, den Helden zu spielen. Im Frühjahr 45 kam er eines Tages von der Schule nach Hause und erzählte, sie hätten mit der Panzerfaust geübt. Sie verließ mit ihm Hals über Kopf den Ort, damit er nicht aus dem Klassenzimmer heraus rekrutiert wurde. Sie stand auf der richtigen Seite der Geschichte, und sie wusste es. Der 15jährige, mein späterer Onkel, hätte für ein mörderisches Regime sterben können, das schon verloren hatte, dabei andere verletzen oder töten. Die Definition von Sinnlosigkeit. Der innere Widerspruch ist mir klar: Für ihn hat sie sich stark gemacht, für die Schwächeren nicht. Keine jüdische Familie versteckt, sich und ihre Nächsten nicht für andere in Gefahr gebracht. Warum sie nicht im Widerstand war, habe ich sie einmal gefragt. Was glaubst denn du?, hat sie gesagt, ich hatte drei Kinder. Das war vielleicht nur die halbe Wahrheit, aber wer wäre ich, ihr das vorzuwerfen? 

Alternativloser Pazifismus ist schön, bequem, aber auch denkfaul. An diesem Widerspruch arbeite ich mich ab. Ich will, dass meine Kinder frei wählen, frei lieben, frei denken dürfen, und ertrage gleichzeitig den Gedanken nicht, eines von beiden könnte sich dafür opfern. Dann wieder überlege ich: Was, wenn wir alle empfindsame Weicheier wären, weltweit? Wäre das nicht auf Dauer hilfreicher als eine neue Spirale von Verteidigungsbereitschaft, Gewalt, Eskalation? Es berührt mich, wenn russische Bekannte sich beschämt äußern über ihre autokratische Regierung. Wenn ich vom Komitee der Soldatenmütter in Moskau lese, einer Menschenrechtsorganisation, die sich bereits seit dem Afghanistan-Krieg vor 40 Jahren um Missstände in der russischen Armee kümmert. Eltern wenden sich an sie, die ihre Söhne vor der Einberufung schützen wollen. Die Vorsitzende Valentina Melnikowa hat am sechsten Tag des Ukrainekrieges eine Feuerpause gefordert, damit es zumindest einen Austausch von Toten und Gefangenen geben kann. „We share the same biology, regardless of ideology“, sang Sting 1984, in seinem Song „Russians“ – biologisch sind wir gleich, auch wenn wir unterschiedlich denken. Das war im Kalten Krieg, zu meiner eigenen Teenagerzeit. Wir sind alle auf gleiche Weise verletzlich und hängen an unserem kurzen und unbedeutenden Leben. Das zu wissen, könnte ein Anfang sein.

Entgiftet euch!

Von der missglückten Kurzliebe bis zum Nicht-ganz-so-Traumjob: vieles, was früher „blöd gelaufen“ hieß, heißt heute „toxisch“. In der BRIGITTE-Rubrik „Geht das nur mir so“ habe ich mich Anfang Februar 2022 über den steilen Aufstieg eines giftigen Wörtchens gewundert, das nur selten wirklich passt

Es gibt Begriffe, die kommen aus der Nische und machen innerhalb kürzester Zeit Karriere. Zum Beispiel vom Teenagersprech zum Business-Slang. Da schmettert dann ein Vertriebler dem anderen bei der Präsentation der Quartalszahlen ein launiges „Läuft bei dir!“ entgegen. Das finden Teenager natürlich voll cringe und canceln den Ausdruck, sprich: Sie sagen das dann nie wieder. Es geht aber auch anders herum. Auch wenn Jugendliche mit Wörtern um sich schmeißen, die man bislang eher aus dem Psycho- und Therapiekontext kannte, weiß man, dass sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Etwa, wenn ich mich bei meiner Tochter, 16, nach dem Beziehungsstatus ihrer besten Freundin erkundige und erfahre, dass es schon wieder aus ist mit der Flamme von neulich: „Das war nix, der war toxisch.“

Das ist auf den ersten Blick ganz lustig, weil es eine Drei-Wochen-Romanze verbal zu einem Lars-von-Trier-Trauerstück hochjazzt. Wahrscheinlich konnten sich die beiden Lovebirds einfach nicht auf die richtige Playlist einigen, eine*r hat siebzehn Minuten lang nicht auf eine WhatsApp des anderen reagiert oder sein neues TikTok nicht genügend geliked. Aber als ich meine Tochter so lässig dieses Wort benutzen hörte, das ich bisher eher aus Gesprächen über langjährige Ehen kannte, dachte ich auch: Irgendwas läuft hier falsch, vong Sprache her. Kurzzeitliebe, missglückt? Toxisch! Der neue Job, der sich als unerwartet stressig, unbefriedigend, schlecht bezahlt entpuppt? Toxisch! Genau so wie die anstrengende Freundin, die zu leicht ein Wort in den falschen Hals bekommt, der stoffelige Chef, die übergriffige Schwiegermutter.

Ich will gar nicht bestreiten, dass es Umstände und Beziehungen gibt, die im wahrsten Sinn des trendigen Wortes das Leben vergiften können, lähmen, Magenschmerzen bereiten. Spätestens, wenn seelische Grausamkeit im Spiel ist oder gar körperliche Gewalt. Wenn der Begriff irgendwo passt, dann da. Ich habe auch nichts gegen Anglizismen. Dem Wörtchen toxisch hört man seine schleichende Übernahme aus dem amerikanischen Englisch ja nicht einmal an, weil’s im Deutschen dasselbe Fremdwort gibt. Ich fände es nur besser, wenn man es nicht so inflationär gebrauchen würde. 

Denn zum einen tut ein wenig Detox immer auch der Sprache gut. Zum anderen ist es, wenn man’s genau nimmt, ein ganz schön harter Vorwurf, der da so nebenbei formuliert wird: Du Täter, ich Opfer. Du Giftspritze, ich hilflos vergiftet. Dabei gibt es in den allermeisten Beziehungen mehr Grautöne als Schwarzweiß, egal ob privat oder nicht. Wenn eine Liebe scheitert (ich meine nicht die Drei-Wochen-Teenagerknutscherei), liegt das möglicherweise eher an fehlender Kommunikation, ungestillten Sehnsüchten, unterschiedlichen Lebensvorstellungen, als daran, dass eine Seite der anderen über Jahre heimtückisch den Giftzahn in den Hals gerammt hat. Und beim Streit mit Kollegen vorschnell die Karte „toxische Männlichkeit“ zu ziehen, ist ungefähr so differenziert, wie wenn die Kollegen Konflikte mit weiblichen Team-Mitgliedern reflexhaft auf deren Menstruationszyklus schieben („Die hat doch bloß PMS.“) Außerdem ist es unfair denen gegenüber, die tatsächlich in einem Arbeitsumfeld tätig sind, in dem es zugeht wie bei Mad Men 1965. Oder in der „Bild“-Redaktion 2021 unter Julian Reichelt. Die haben nämlich wirklich Grund, sich über eine toxische Atmosphäre zu beklagen.

Alle anderen, die ihrem Gegenüber vorschnell das Label „toxisch“ auf die Stirn kleben, machen es sich also ganz schön einfach, und ziehen sich gleichzeitig aus der Verantwortung: „Ich bin nur das Opfer der Umstände!“ Uncooler Move. Oder, wie mein Dreizehnjähriger neuerdings ständig sagt: echt ranzig. Bleibt nur eine Hoffnung: dass die steile Karriere des Wortes „toxisch“ nicht allzu lange währt. Schließlich sagt auch niemand mehr oberaffentittengeil, etwa seit 1987. Besser ist das.

„Vergeben bedeutet, dass ich aufhöre, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“

Selten mussten wir mehr einstecken als im letzten Jahr. Das Virus hat Familien, Freunde und Paare vor riesige Herausforderungen gestellt und Gräben aufgerissen. Wenn wir die wieder zuschütten wollen, müssen wir verzeihen. Aber das passiert nicht einfach, sondern es ist eine Entscheidung – ein Essay aus der BRIGITTE, Heft 1/22

Als ich sie das letzte Mal zusammen sah, vor etwas über einem Jahr, da wirkten sie ziemlich zufrieden und erstaunlich aufgekratzt. Dabei hatte ich sie insgeheim immer ein wenig spießig gefunden: früh geheiratet, nie weggezogen vom eigenen Geburtsort, jung Eltern geworden. Jetzt waren sie Mitte 40, und es sah aus, als würden sie im demnächst leeren Nest nochmal so richtig aufdrehen. Reisepläne für die Zeit nach Corona standen im Raum, sogar ein Umzug. Aber während meine frühere Kollegin Katja sich auf den neuen Lebensabschnitt freute, hatte ihr Mann Philipp schon mit einem befreundeten Anwalt durchkalkuliert, ob er sich eine Trennung leisten konnte. Nicht, dass er ihr davon erzählt hätte – die säuberlich gefaltete Kostenaufstellung fand sie zufällig in seiner Hosentasche, ehe sie seine Jeans in die Wäschetrommel steckte. 

Kürzlich traf ich Katja wieder. Philipp lebte jetzt mit einer anderen Frau zusammen, und seinen Wunsch, man könnte doch trotzdem gelegentlich mal telefonieren oder ins Kino gehen, lehnte Katja ab. Trotzdem wirkte sie nicht voller Groll. „Ich kann und will nicht mit einem Mann befreundet sein, mit dem ich fast 20 Jahre verheiratet war“, sagte sie. „Das heißt aber nicht, dass ich ihm nicht verzeihen kann.“

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“ – das lässig hingeworfene Bonmot unseres Ex-Gesundheitsministers von 2020 ist aktueller denn je, in vielerlei Hinsicht. Auch wenn die Scheidungs-Statistiken noch kein klares Bild ergeben, erleben viele im Privaten, wie das Dauerkrisengefühl Beziehungen brüchig macht, gnadenlos Schwachstellen aufzeigt. Und auch sonst sind krasse Fronten entstanden, teils quer durch Freundeskreise, Familien, Arbeitsteams. Wo Shitstorms sich im Stundentakt abwechseln und die verbalen Waffen gefährlich locker sitzen, stehen viele vor der Frage: Wie machen wir Frieden, mit Einzelnen, die uns enttäuscht haben, mit der Politik, mit Andersdenkenden in der Impf-Frage? Und natürlich können uns auch ganz ohne Pandemie alter Groll und unverheilte Wunden zusetzen.

Die Kunst, Verletzungen zu verarbeiten und hinter sich zu lassen, lernt man nicht von selbst. Aber sie wächst mit der Lebenserfahrung, glaubt die „Spiegel“-Journalistin und Autorin Susanne Beyer. In ihrem aktuellen Buch* über eine neue, selbstbewusste Frauengeneration ab Anfang 40 hat sie ein ganzes Kapitel der „Kunst der Vergebung“ gewidmet. Und das Thema liegt wie eine Hintergrundmusik unter vielen ihrer Frauenporträts. „Es war für mich ein Aha-Erlebnis, zu sehen: Verzeihen können, verzeihen wollen, das verbindet viele Menschen, die sich als glücklich bezeichnen. Es geht um eine Lebenshaltung: Ein zufriedenes Leben zu führen, ist nicht nur ein Geschenk, auch eine bewusste Entscheidung“, sagt Susanne Beyer. Das klingt philosophisch, aber schon in Alltagsgesprächen merkt man meist schnell, zu welchem Team jemand gehört, Team „Verzeihung“ oder Team „Rache“: Ist er oder sie einer von denen, die nie zufrieden sind und immer sofort einen Schuldigen dafür benennen können? Die narzisstische Mutter oder den toxischen Ex fürs mangelnde Selbstbewusstsein, den Turbokapitalismus oder die fiese Chefin für die stockende Karriere? Oder kann er oder sie schlechte Erfahrungen ohne Bitterkeit hinter sich lassen, Tiefschläge als Lektion sehen und sich eher als Gestalter*in denn als Opfer betrachten – auch, wenn die Welt es nicht immer gut meint?

Beim Verzeihen geht es nicht um übermenschliche Milde oder gar Konfliktscheu. Sondern um einen souveränen Akt der Großzügigkeit. Ein Geschenk, das wir uns selbst machen können. „Verzeihen erweitert die Selbstbehauptung“, sagt Susanne Beyer, „es bedeutet: Der andere hat keine Macht mehr über mich.“ Eine Längsschnittstudie der Virginia Commonwealth und der Harvard Universität von 2020 belegt eindrucksvoll die wohltuende Wirkung auf Körper und Seele. Dabei wurden Antworten auf Fragen nach dem psychischen Befinden und Gesundheitsdaten von über 50.000 Befragten über 30 Jahre darauf hin untersucht, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Groll und Gesundheitsproblemen. Die Studie ergab eindeutig, dass Menschen mit höherer Bereitschaft zu Verzeihen seltener unter Depressionen und Angststörungen litten und sich insgesamt besser fühlten. Und ein anderer Datenabgleich, durchgeführt von einem südkoreanisch-amerikanischen Forschungsteam, legt sogar einen Zusammenhang nah zwischen unverarbeiteten Kränkungen und Autoimmunkrankheiten, Bluthochdruck und anderen weit verbreiteten Diagnosen. Dem folgt ein Therapieansatz, der vor einigen Jahren in den USA aufkam. In der „forgiveness therapy“ – also der „Vergebungs-Therapie“- lernen Opfer traumatischer Erfahrungen, anders mit ihrer Geschichte umzugehen. 

Klingt nach einer Lektion, die es sich zu lernen lohnt – auch wenn es nicht leicht fällt. Denn es geht ja nicht um ein lässiges „Schwamm drüber“, nicht um vergessen und verdrängen. Im Gegenteil, sagt Melanie Wolfers, Autorin, Theologin und Philosophin, die in den letzten Jahren bereits mehrere Bücher zum Thema geschrieben hat*: Wer wirklich verzeihen lernen möchte, gerade da, wo’s ans Eingemachte geht, muss erstmal zurück auf Los, dahin, wo es wehtut. „Im Schlamassel ankommen, die eigenen Gefühle erkennen und benennen: Scham, Angst, Ohnmacht, Wut. Eine Sprache dafür finden, etwa, indem man die Empfindungen aufschreibt oder mit Unbeteiligten darüber spricht“, das ist für Wolfers der erste Schritt. Der zweite ergibt sich daraus: Durch die Selbstreflexion einen Schritt von der eigenen Betroffenheit zurücktreten, Gefühle anders einordnen, schließlich der Perspektivwechsel. Warum hat die Gegenseite sich so verhalten, was war vielleicht mein eigener Anteil daran, etwa beim Ende einer Liebesbeziehung? Am Ende der bewusste Entschluss: Ich möchte die Sache hinter mir lassen. „Vergeben bedeutet, dass ich aufhöre, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“, bringt Melanie Wolfers das paradoxe Wesen der Unversöhnlichkeit auf den Punkt. „Denn wer nachträgt, trägt schwer.“ Stattdessen geht es darum, die eigene Geschichte anders weiterzuschreiben. Und dadurch inneren Frieden zu finden. 

Klar, das klappt nicht immer mit derselben Geschwindigkeit – eine verletzende Bemerkung im Netz lässt sich vielleicht in ein paar Stunden verarbeiten, um über den Vertrauensbruch eines langjährigen Lebenspartners hinweg zu kommen, kann es Monate oder sogar Jahre brauchen. Aber im Prinzip gilt die heilsame Reiseroute für alle Konflikte. Sogar, wenn die Vorwürfe nicht anderen gelten, sondern wir uns selbst mit Schuldgefühlen martern. Uns übelnehmen, dass wir unsere Kinder in Homeschoolingzeiten zu oft angeschrien haben, zu wenig Zivilcourage gezeigt, uns zum Horst gemacht haben vor anderen. „Viele Menschen sind emotional wohlwollender mit anderen als mit sich selbst“, hat Melanie Wolfers festgestellt. „Wenn ich mir selbst verzeihe, akzeptiere ich mich damit als unperfekten Menschen.“

Sich selbst und anderen zu vergeben, ist eine Sache – Versöhnung eine ganz andere. Und das eine zieht das andere nicht automatisch nach sich, als wären wir in einer Ausgabe der Neunziger-Spielshow „Verzeih mir!“ Manchmal, weil es gar nicht möglich ist – etwa, weil die alte Wut einem bereits verstorbenen Elternteil gilt – , manchmal, weil sich äußere Wege längst getrennt haben, etwa nach einer gescheiterten Liebe. „Es kann auch stimmig sein, den Kontakt zu einer Person abzubrechen, von der ich mich verletzt fühle“, sagt Melanie Wolfers. „Entscheidend ist, dass ich mich innerlich nicht im Groll gegen sie verbeiße.“ Verzeihung ohne Versöhnung ist also durchaus möglich – nicht aber Versöhnung ohne die grundsätzliche Bereitschaft, zu verzeihen. Unabhängig davon, ob der oder die Schuldige sich mit einem schlechten Gewissen quält oder im Gegenteil findet, er habe sich gar nichts vorzuwerfen. Etwa die Freundin, die gar nicht verstehen kann, warum ich übel nehme, wenn sie im Kollegenkreis privates von mir weitererzählt  – Kündigungspläne, ein Erbschaftsstreit. So stehen lassen oder ansprechen? Mut gehört in jedem Fall dazu: Erst, sich dem eigenen Schmerz, der eigenen Enttäuschung zu stellen, erst recht aber, das Gespräch zu suchen. Tun oder lassen? Da hilft nur, die Risiken gegeneinander abzuwägen: Was ist besser zu ertragen, der ungeklärte Konflikt, oder dass es möglicherweise nochmal laut wird zwischen uns? Und bin ich bereit, die Perspektive zu wechseln und die andere Seite zu sehen?

Allerdings hat beides Grenzen, das Verzeihenkönnen ebenso wie die Versöhnung. Was für die eine gut abzuhaken ist, ist für die andere eine bittere Pille, die sich beim besten Willen nicht schlucken lässt – vom „like“ meiner Freundin für einen Beitrag aus einer politischen Richtung, die ich für gefährlich halte, bis zu dem nagenden Gefühl, dass die eigenen Eltern immer die Schwester, den Bruder vorgezogen haben. Oder wenn der Partner mit einer anderen schläft, obwohl man sich doch Treue versprochen hatte. Wo die Grenze des Verzeihbaren liegt, ist individuell, schließlich haben wir alle ein unterschiedlich dickes Fell. „Sicher ist: Wir werden alle mit Kränkungen sterben, die nicht verheilt sind“, sagt Melanie Wolfers. „Entscheidend ist, sich immer wieder auf den Weg zu machen. Nicht steckenzubleiben in der Opferrolle.“ 

Auch meine Bekannte Katja hat das so gemacht. Sie ist nicht mehr die Alte, nicht die Frau mit dem unerschütterlichen Vertrauen ins Leben, die sich unbeschwert auf die nächste Etappe freute. Aber auch das gehört zum Älterwerden, zum Wachstum, so sieht sie das heute: „Wir haben alle unsere Päckchen, die sich nicht einfach ablegen lassen. Dafür muss man innerlich Platz schaffen. Das ist jetzt ein Teil von mir, ich kann damit leben, ohne dass es mich beherrscht.“ Sie hat getrauert, weil der Mann, den sie geliebt hat, nicht mehr da ist. Es wohl schon lange nicht mehr war, ohne dass sie es wahrhaben wollte. Der Schmerz ist nicht völlig weg, aber sie hat dabei jemanden kennen gelernt. Eine neue Katja, die keine Lust mehr hat, einem anderen die Hosen zu waschen. Oder am Mittelmeer Urlaub zu machen, obwohl sie’s lieber kühler mag. Für diese neue Bekanntschaft nimmt sie sich jetzt viel Zeit.

Zum Weiterlesen: 

Susanne Beyer, „Die Glücklichen – warum Frauen in der Lebensmitte so großartig sind“, Blessing, 22 € – 18 Porträts von Frauen zwischen Anfang 40 und Anfang 70, aus Kunst und Kultur, Mode und Sport, aber auch in bodenständigen Jobs und mit ungewöhnlichen Lebensentwürfen. Ein Blick auf das selbstbewusste Lebensgefühl einer neuen Frauengeneration

Melanie Wolfers, „Die Kraft des Vergebens“, Herder, Taschenbuch 14 € und „Freunde fürs Leben – die Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein“, adeo, 16,99 €: Von einem zum anderen Buch spinnt die Bestsellerautorin ihre Gedanken zu Selbstliebe und der positiven Wirkung von Großherzigkeit gegenüber unseren Mitmenschen. Auch in ihrem Podcast „ganz schön mutig“ widmet sie sich immer wieder dem Thema Verzeihenkönnen (abzurufen unter melaniewolfers.de)

„Jede Mutter hält ihr Kind für ein unschuldiges Lamm – keine fragt sich, ob es der Wolf ist“

Was ist schlimmer für Eltern: Wenn das eigene Kind zum Opfer wird oder zum Täter? Und macht Liebe blind für die Schattenseiten derer, die uns nahe stehen? Die israelische Psychotherapeutin und Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen stellt unbequeme Fragenich durfte sie für ZEIT online interviewen

Alle Eltern kennen die Angst, jemand könnte ihrem Kind etwas antun – von Ausgrenzung in der Schule bis zu Gewaltverbrechen. Für die Hauptfigur Ihres neuen Romans, eine israelische Mutter in Kalifornien, kippt diese Angst ins Gegenteil, als sie sich fragen muss, ob ihr Teenagersohn einen Mitschüler getötet hat. Was hat Sie an diesem Setting gereizt?

Als Autorin und Psychologin habe ich die Möglichkeit, Abgründe auszuloten, vor denen meine Figuren zurückscheuen. Aber auch persönliche Schlüsselmomente haben mich auf das Thema gebracht. Am ersten Kindergartentag meiner kleinen Tochter habe ich mich nervös gefragt: Was tun die anderen Kinder ihr möglicherweise an, wenn ich sie nicht mehr den ganzen Tag beschützen kann? Bis mir klar wurde: Mit mir stehen hier noch 20 andere Mütter, besorgt und mit Herzklopfen, in der Überzeugung, dass ihre eigenen Kinder unschuldige Lämmer sind, die in einen Wald voller Wölfe geschickt werden. Und keine fragt sich: Moment – könnte es sein, dass mein Kind selbst der Wolf ist? 

Aber brauchen Kinder nicht auch diesen verklärten Blick, das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden?

Klar. Als Eltern sehen wir unsere Kinder im besten Licht, das ist unser Job. Wir nehmen an, dass niemand sie so lieben kann wie wir, mit Recht. Aber das bedeutet auch, dass wir blind sind für manche ihrer Seiten. Auch, weil es unser Selbstbild stört.

Das Kind als kostbarer Besitz, als Objekt elterlicher Allmachtsphantasien?

Manche präsentieren ihre Kinder wir einen Leistungsnachweis: das Beste, das mir je gelungen ist! Mich macht das misstrauisch. Wenn eine Mutter sagt: „Mein Kind würde nie etwas Böses tun“, dann ist das wichtigste Wort in diesem Satz das Possessivpronomen: „mein“. Etwas, das aus mir entstanden ist, ist über jeden Zweifel erhaben. Dieser Narzissmus bringt ein bestimmtes Selbstverständnis mit sich: ich mache mich zur Anwältin meines Kindes in seiner Auseinandersetzung mit der Welt, unabhängig davon, wer im Recht ist, egal, ob es um Schulnoten geht oder um Konflikte mit anderen Kindern.

Als die Mutter in Ihrem Roman herausfindet, dass ihr Sohn ein Verbrechen begangen haben könnte, will sie es nicht wahrhaben, verdrängt es, hat Angst, ihn zu konfrontieren. Mord ist natürlich ein extremes Beispiel, aber vielleicht verhalten sich die eigenen Kinder aggressiv, verbal oder körperlich. Was wäre Ihr Rat als Psychotherapeutin: Wie können wir mit unseren Kindern ins Gespräch kommen, damit sie lernen, besser mit solchen Impulsen umzugehen?

Mein Rat wäre: Nicht wegsehen, nicht kleinreden, sondern versuchen, die Motivation des Kindes zu verstehen. Verstehen heißt aber nicht akzeptieren. Wir müssen ganz klar machen, dass sein Verhalten falsch war, dass es bessere Wege der Konfliktlösung gibt, sollten aber Kinder nicht für ihr Verhalten bestrafen. Denn Strafe führt nur zu Groll und Wut, und wir möchten ja ein zarteres Gefühl auslösen – Bedauern. Deshalb sollten wir dem Kind vor allem vermitteln: Ich glaube, dass du es beim nächsten Mal besser machen kannst. Du bist nicht böse, du hast etwas Böses getan, und du kannst es ändern.

Wahrscheinlich kommen viele Eltern gar nicht an diesen Punkt, weil sie so mit ihrer Angst beschäftigt sind, ihr Kind könnte selbst unter anderen leiden. Sie sagen, bei der Recherche für Ihren Roman haben ihnen einige erzählt: Wenn ich mich entscheiden müsste, ob mein Kind gemobbt wird oder andere mobbt, dann lieber zweiteres. Können Sie das nachvollziehen?

Ich hatte diese Diskussion sogar mit meinem eigenen Partner. Wie viele andere Eltern hat er gesagt: Natürlich möchte ich weder das eine noch das andere, aber im Zweifelsfall wünsche ich mir vor allem, dass mein Kind möglichst wenige Narben davonträgt, psychisch wie körperlich. Wenn es aggressiv ist gegen andere, kann ich es dazu bringen, sein Verhalten zu ändern, und es kann bereuen, was es getan hat – aber Opfer bleibt man ein Leben lang.

Ist das vielleicht eine spezifisch israelisch-jüdischen Erfahrung, eine Urangst: Alles, nur nie wieder Opfer sein?

Das dachte ich auch, als ich mich zuerst mit dem Thema beschäftigte. Der Holocaust ist unser kollektives Trauma, die Angst, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt zu werden. Ich kann mich gut erinnern, als ich ein kleines Mädchen war und wir im ersten Golfkrieg einen Angriff aus dem Irak befürchteten, dass mein Großvater verbittert sagte: Ich hätte niemals gedacht, dass ich noch einmal erlebe, wie jüdische Kinder Angst haben müssen vor Gas. Er wäre lieber in den Krieg gezogen und sogar gestorben, als passiv in einem Schutzraum zu sitzen und nichts tun zu können. Aus diesem unerträglichen Gefühl von Hilflosigkeit erwächst eine Art israelische Macho-Mentalität: Lieber jetzt Stärke zeigen und es später bereuen als umgekehrt. Aber auch in anderen Ländern reagierten Eltern ähnlich auf meine Frage nach ihren Kindern, etwa in Deutschland oder der Schweiz. Ich glaube, es hat mit wachsendem Individualismus zu tun. Mit der globalen Feelgood-Diktatur.

Was meinen Sie damit?

Zufriedenheit und Selbstwertgefühl des Einzelnen stehen ganz oben auf der Agenda, über allem anderen, in weiten Teilen der Welt. Googeln Sie mal Artikel zum Thema „Wie stärke ich das Selbstbewusstsein meines Kindes“ und zum Thema „Wie erziehe ich mein Kind zu einem guten Menschen“ – jede Wette, dass sie beim ersten Begriff deutlich mehr finden?

Dabei spricht ja erstmal nicht dagegen, zu sagen: Hauptsache, meinem Kind geht es gut und es ist glücklich.

Vor zwei, drei Generationen noch ging es Eltern weniger um Wohlbefinden als um Moral, um Sinn, ständig beurteilten sie das Benehmen ihres Kindes: Wird aus ihm ein guter Christ, ein guter Kibuzznik, ein guter Kommunist? Natürlich ist es ein Segen, dass diese starren Systeme heute nicht mehr in der Form existieren, dass gesellschaftliche Zwänge und Schuldgefühle uns nicht mehr die Luft abschnüren. Aber manchmal scheint mir, wir haben das Konzept von Schuld komplett über Bord geworfen, und das besorgt mich. Als Konsequenz daraus biegen wir als Eltern die Welt so zurecht, dass unser Kind sich nicht wehtun kann, und übersehen dabei andere.

Macht es das Leben nicht auch aus, dass es nicht immer diese klaren Fronten gibt, hier Täter, da Opfer?

Genau da wird es interessant. Denn wenn wir uns ein neugeborenes Kind anschauen, und zu welcher Grausamkeit Menschen später im Leben fähig sind, dann fragen wir uns doch: Was ist schiefgelaufen auf dem Weg dahin? Niemand wird als Mörder geboren, als Nazi, als Faschist. Wenn wir uns nicht nur fragen, was unserem Kind geschehen könnte, sondern auch, wozu es fähig sein könnte, dass es Potenzial in sich trägt zu Gutem wie zu Bösen, wäre das ein großer erster Schritt, um Gewalt zu verhindern. Persönlich, zwischen Kindern, in der Schule, aber auch Gewalt zwischen Gruppen oder Nationen. Ich weiß noch, wie ich nach der Geburt meiner Tochter ihre winzigen Fingerchen betrachtete, und plötzlich so einen Gedanken hatte: Was wird sie damit alles tun, vielleicht schreiben, vielleicht Klavier spielen – oder den Abzug einer Waffe betätigen? 

Aber warum ist es so schwer, sich den eigenen Abgründen zu stellen, und denen unserer Nächsten?

Weil uns die Vorstellung Sicherheit gibt: Das Böse ist irgendwo da draußen, hier drin, von mir und meiner Familie habe ich nichts zu befürchten. Wenn das Böse uns aber von außen bedroht, können wir es auch gemeinsam bekämpfen, können uns dabei auf der richtigen Seite fühlen, stark, wie in einem Thriller auf Netflix. Wenn wir merken, dass diese Sicherheit trügerisch ist, dann wird es dagegen unheimlich. Aber es wäre hilfreich, anzuerkennen: Das Monster ist nicht draußen, jenseits der Burgmauern, nicht hinter der Staatsgrenze, es ist nicht einmal in unserem Gegenüber, sondern in uns selbst. Deshalb ist es auch so wichtig, schon Kindern beizubringen, sich bei Konflikten in den anderen hineinzuversetzen: Wie würdest du dich fühlen, wenn das andere Kind dich ausgelacht oder gehauen hätte?

Heißt es auch, Verantwortung für unsere aggressiven Impulse zu übernehmen? 

Verantwortung ist ein wichtiges Stichwort. In der Psychologie neigen wir manchmal dazu, vor lauter Verständnis für den Aggressor seine Taten zu rechtfertigen. Auf einer persönlichen Ebene, aber auch auf einer gesellschaftlichen. Nehmen wir den ersten Mord der biblischen Geschichte: Kain tötet seinen Bruder Abel, weil er so eifersüchtig ist, dass Gottvater dessen Opfergabe seiner vorgezogen hat…

…und deshalb ist Gott der wahre Schuldige in der Geschichte?

Eben nicht, das wäre zu einfach. Als Therapeutin würde ich zu Kain sagen: Ja, du hast ein Recht dazu, traurig und wütend zu sein, dich zu beklagen, weil Gott deinen Bruder vorzieht – aber das gibt dir noch nicht das Recht, ihn umzubringen. Und die Schuld dafür auf deinen Vater abzuwälzen. Das gilt genau so, wenn argumentiert wird: Oh, Hitler war so eine charismatische Persönlichkeit, klar, dass die Deutschen ihm gefolgt sind, sie konnten nicht anders. Diese Sichtweise ist fatalistisch, dann können wir auch gleich sagen: C’est la vie, das kulturelle Klima ist an allem Übel Schuld, das Bildungssystem, die Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir uns mit unseren eigenen negativen Gefühlen, Wut und Kränkungen auseinandersetzen, verstehen, woher sie kommen. Aber am Ende müssen wir uns an unseren Taten messen lassen.

Als israelische Mutter betrifft Sie unser Gesprächsthema auch ganz existenziell: Auch Ihr Sohn könnte eines Tages vor der Entscheidung stehen, entweder selbst zu töten oder getötet zu werden, in der Armee. Wie gehen Sie damit um?

Mein Sohn ist fünf, mit 18 wird er eingezogen, mir bleiben also nur noch 13 Jahre, in denen ich dazu beitragen kann, dass die Situation in Israel friedlicher wird. Damit sich keiner mehr entscheiden muss, Opfer oder Täter zu sein. Ich war immer sehr politisch engagiert, und Muttersein hat das noch verstärkt. Genauso hat mich meine Tochter noch mehr zur Feministin gemacht, weil ich alles durch diese Brille sehe: In was für eine Welt habe ich mein Mädchen gesetzt? Sie ist jetzt sieben, was kann ich tun, damit sie nicht später an der Uni oder im Arbeitsleben sexuell belästigt wird? Dass wir unsere Kinder als Erweiterung von uns selbst sehen, ist eben nicht nur narzisstisch, es hat auch eine positive Kraft. Man denkt intensiver über den Zustand der Welt nach und gibt sich nicht einfach mit dem Status Quo zufrieden. Im besten Fall dient das nicht nur den eigenen Kindern, sondern allen.

ZUR PERSON: Ayelet Gundar-Goshen, Jahrgang 1982, gehört zu den profiliertesten Stimmen in der jungen israelischen Literatur und gewann zahlreiche Preise. Sie lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv, und arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Drehbuchautorin als Psychotherapeutin in einer Klinik. Ihr aktueller Roman „Wo der Wolf lauert“ erscheint in deutscher Übersetzung im Verlag Kein & Aber