„Queere Kinder“ – ein persönliches Vorwort

Ungefähr anderthalb Jahre hat es gedauert von der ersten Idee über die Recherche und die Zusammenarbeit mit meiner Mit-Autorin Christiane Kolb und dem Beltz Verlag, bis unser neuestes Buch erschienen ist: Report, Ratgeber, persönliche Reise aus verschiedenen Blickwinkeln zu der Frage, warum Jugendliche und junge Erwachsene heute anders mit dem Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt umgehen als wir, die „Generation X“. Und was Eltern wie ich (mittelalt, hetero, cisgeschlechtlich) am besten tun, wenn eines ihrer Kinder sich als queer outet, früher oder später, vehementer oder auch spielerischer. Das Buch soll aufklären und Empathie wecken, soll Verständnis für Jugendliche ebenso wie latent überforderte Eltern wecken, soll den Stand der Wissenschaft abbilden und ganz viel von den Menschen erzählen, die am besten wissen, wie sich Queersein anfühlt, nämlich Mitgliedern dieser Community. Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Eingangskapitel, in dem ich meine persönlichen Beweggründe schildere, dieses Buch zu machen.

Als meine Tochter etwa acht, neun Jahre alt war, hatten sie und ich einen gemeinsamen Lieblingsfilm. „Yentl“, eine Tragikomödie aus den Achtziger Jahren, erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem jüdischen „Schtetl“ in ländlichen Osteuropa lebt und davon träumt, auf die Thoraschule zu gehen und zu lernen. Das Hausfrauen- und Mutterdasein, das ihr vorherbestimmt ist, erscheint ihr eng, dumpf und geistlos. Schließlich gibt sie sich in ihrer Verzweiflung als Mann aus und wird als Student aufgenommen, was erwartungsgemäß zu einer Reihe von Irrungen und Wirrungen führt.

Heute weiß ich: Obwohl wir die DVD unzählige Male gemeinsam sahen, an denselben Stellen lachten und diskutierten, haben wir zwei verschiedene Filme gesehen. Ich sah die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die alles haben will, sowohl ein geistiges, intellektuelles Leben als auch eines als sinnliche Frau. Mein Kind sah die Geschichte eines Menschen, der relativ mühelos zwischen den Geschlechtern hin- und herwechselte, sich in einen Mann verliebte, aber auch erotische Spannung zu einer Frau spürte (auch wenn das nur sehr subtil angedeutet wird). Man kann den ganzen Film auch als Parabel lesen auf uneingestandene homosexuelle Liebe und Coming out.

Möglicherweise hätte ich da schon merken müssen, welche Saite (und Seite) das in ihr zum Klingen brachte. Stattdessen klopfte ich mir innerlich auf die Schulter, dass ich so cool mit diesem Thema umging und so selbstverständlich mit meinem Grundschulkind darüber sprach, dass Frauen alles erreichen können, und dass es neben Vater-Mutter-Kind-Modell viele Wege des Liebens gab: Männer, die Männer liebten, Frauen, die Frauen liebten, sogar Menschen, die sich keinem der mir bekannten Geschlechter zugehörig fühlten. Hätte man mich damals gefragt, ob es ein Problem für mich wäre, wenn eines meiner Kinder selbst zu einer dieser Gruppen gehören würde, ich hätte empört verneint. Aber die ganze Wahrheit ist: Als sich ebendiese Tochter einige Jahre später die die Haare abschnitt, nur noch Jungskleidung trug, sich erst als bisexuell outete und wenig später erklärte, dass sie sich zwischen den Geschlechtern fühlte, war ich doch nicht ganz so mit vollem Herzen dabei, wie ich es von mir erwartet hätte.

Ehe ich im nächsten Kapitel näher darauf eingehen werde, was es mit diesen Outings auf sich hatte (und wie und warum so viele Familien gerade ähnliche Erfahrungen machen), will ich einmal kurz erzählen, wo ich innerlich herkomme. Nicht, weil mein Leben so originell wäre, sondern im Gegenteil gerade deshalb, weil ich denke, dass viele Eltern aus der Generation der heute 40-, 50jährigen in derselben Gedankenwelt aufgewachsen sind. Denn das macht auch verständlich, warum es uns trotz äußerlich behaupteter Liberalität manchmal schwerfällt, aus unserer Haut zu kommen.

Eine kurze Zeitreise: Als ich so alt war wie meine Tochter heute, also 17, war es Mitte der Achtziger Jahre. Im Strafgesetzbuch der BRD stand noch immer der Paragraf 175, auch wenn schwuler Sex nicht mehr grundsätzlich strafbar war, sondern nur, wenn einer der Beteiligten unter 18 Jahre alt war. Und erst wenige Jahre danach, 1990, sollte Homosexualität aus dem Diagnosekatalog psychischer Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation WHO gestrichen werden.  Es scheint aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, aber ich selbst hatte erst durch die homophoben Schlagzeilen über Aids („Die Schwulenseuche!“) wenige Jahre zuvor überhaupt realisiert, dass manche Menschen anders liebten, Männer wie Frauen. 

In meiner Kindheit war das schlicht kein Thema gewesen, obwohl ich nicht in einem besonders konservativen oder verklemmten Haushalt groß geworden bin. Später, im Sexualkundeunterricht, war es, wenn überhaupt, Anlass für geschmacklose Witze und angeekelte Gesichter, bei Lehrer*innen genau so wie bei uns Schüler*innen. Dass auch unter uns jemand hätte sein können, der auf diese Weise begehrte, darauf kam ich gar nicht (und schäme mich heute, weil ich später auf diversen Abiturstreffen herausfand, dass es genau so war). Wenn das Thema in den Medien stattfand, die wir als Teenager im Prä-Tiktok-Zeitalter konsumierten, dann immer mit dem Dreh: Macht euch keine Sorgen, wenn ihr so fühlt, das geht vorbei. Egal, ob „Bravo“ oder „Mädchen“, homosexuelles Begehren war etwas, das auf keinen Fall mehr zu sein hatte als eine „Phase“. Meine Freundinnen und ich versicherten einander: Bei uns ist das nicht so, wir kennen auch niemanden, dem es so geht, aber falls wir je so jemanden treffen, werden wir tolerant sein. Sind ja auch nur Menschen.

Natürlich kannte ich damals Personen, die anders liebten, ich wusste nur nichts davon, weil viele damals ihre Neigung verheimlichten, oft sogar vor sich selbst. Einen von ihnen kannte ich sogar gut, und mehr als das. Denn es war der Junge, mit dem ich als Teenager jahrelang eine feste Beziehung führte. Als ich 20 war, 1990, outete er sich, etwa ein dreiviertel Jahr, nachdem ich zum Studium fast 500 Kilometer weit weggezogen war, damals hatten wir einvernehmlich Schluss gemacht. Ich war eine der ersten, der er sich endlich offenbarte. Er reiste dazu sogar eigens an, um sich mir nach vielen hektisch gerauchten Zigaretten und Rotwein an meinem WG-Küchentisch anzuvertrauen. Er hatte Angst, ich würde ihn anschreien oder weinend zusammenbrechen; stattdessen umarmte ich ihn spontan, weil ich so erleichtert war. Denn das erklärte im Nachhinein vieles.

In den Neunzigern wurde schwullesbisches Leben – das war damals noch die übliche Sammelbezeichnung – für mich wahrnehmbarer und selbstverständlicher. Auf den WG-Klos lagen Ralf-König-Comics, egal, wer da wohnte. Der erste Männer-Filmkuss im Vorabendprogramm, 1991 in der „Lindenstraße“, mochte die Nation noch in Wallung bringen, im Münchner Glockenbachviertel sah man Menschen gleichen Geschlechts schon recht unbekümmert Händchen halten, jedenfalls im Nachtleben. Ein einziges Mal habe ich eine Frau geküsst, nachts angeschickert auf einem Balkon, merkte, dass mir das nichts gab und beließ es dabei. 

In den Nuller Jahren lernte ich meinen späteren Mann kennen, der als Hetero in Hamburg mitten im regenbogenbunten St. Georg wohnte, ein paar Jahre später wurden wir Eltern. Erst eine Tochter, zweieinhalb Jahre später ein Sohn. Aus meiner Mainstream-Perspektive hatte ich damals den Eindruck: alle gesellschaftlichen Probleme sind mehr oder weniger gelöst, jede*r kann lieben und leben, wie er oder sie möchte. Ich fand es gut, dass zur Faschingszeit ein Junge in der Kita unserer Kinder ein pinkfarbenes Prinzessinnenkleid als Kostüm wählte. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich ganz froh war, dass es nicht mein Junge war, unser zweites Kind. Das ging genderkonform als Pirat und fiel damit natürlich weniger auf. Dafür fand er Glitzernagellack genau so toll wie seine große Schwester und ihre Freundinnen, und so verpasste ich der ganzen Bande immer wieder einen frischen Anstrich, den sie danach gemeinschaftlich auf dem Spielplatz ruinierten.

Als meine Tochter mit acht schüchtern gestand, dass sie für ihren älteren Cousin schwärmte, war da ein Moment der Rührung und des Wiedererkennens. Ältere, weit entfernt lebende Cousins sind ideal als erste Objekte platonischer Verliebtheitsgefühle, ich hatte gleich zwei davon. Ich muss zugeben, ich war auch ein bisschen beruhigt. Denn an anderer Stelle war sie deutlich weniger mädchenhaft, trug nur noch blau, grau und schwarz, wollte die Haare am liebsten kurz (wir einigten uns auf eine Art Longbob) und Kleider wenn, dann nur zu hohen Feiertagen. 

Ein paar Jahre später, als sie immer mehr zu dem stand, was sie war und ist, als sie ihre Role Models fand und die richtigen Worte für sich selbst, musste ich mir eingestehen: Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte vielleicht nicht von einem Mini-Me geträumt, das mich kopierte vom Kleidungsstil bis zum Gefühlshaushalt, aber ich hatte mit mehr Nähe gerechnet, mehr Momenten des Wiedererkennens. Stattdessen stand hier ein Mensch, der sagte: Bei mir ist das alles ganz, ganz anders. Und nein, das ist keine Phase, keine pubertäre Rebellion. Ich meine das ernst.

Gleichzeitig merkte ich, dass ich mit meiner Mischung aus Bewunderung, Irritation und Sorge um mein Kind – wird sie in ihrem Leben anecken, sich um Chancen bringen, oder sogar Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden? – sowie Stolz auf ihr Selbstbewusstsein nicht allein war. Denn fast egal, wem ich davon erzählte – die Leute waren weit weniger verwundert, als ich angenommen hatte. Viele Eltern hatten ähnliches zu berichten, mal von den eigenen Kindern, mal aus der Familie oder dem Freundeskreis: von Teenagern und jungen Erwachsenen, die gleichgeschlechtlich liebten (oder auch nur mit der Idee flirteten), die nicht oder nicht immer mit ihrem Geburtsgeschlecht konform gingen. Mal wirkte es eher spielerisch, wie ein Kostümball mit verschiedenen Identitätsangeboten. Manchmal war auch viel Leidensdruck dabei, vor allem bei Jugendlichen, die sich dauerhaft mit einem anderen als ihrem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht identifizieren. 

Gleichzeitig wird immer sichtbarer, wie breit das Spektrum ist, sowohl für sexuelle Orientierung als auch für Geschlechtsidentität: trans Personen sind gefragte Teilnehmende von Castingshows, von Plakatwänden lachen Menschen fluider Identität, werben für E-Zigaretten, Kaufhausketten, und als ich vor drei Jahren nach der Feier zum 30jährigen Abi-Jubiläum mit ein paar ehemaligen Mitschüler:innen in der letzten geöffneten Bar versackte, war auch eine frisch von ihrem Mann geschiedene Frau dabei, die hingebungsvoll ihre neue Partnerin küsste. Also alles bunt und gut? Jein. Denn die Eltern, mit denen ich sprach, waren sehr unterschiedlich in ihrer Einordnung. Manche richtiggehend begeistert von der neuen Freiheit jenseits rigider Zuschreibungen bei den Themen Sexualität und Geschlecht, andere ablehnend. „Die spinnen, aber sie kriegen sich schon wieder ein!“ Wieder andere waren voller Zweifel, wie sie richtig reagieren sollen. Also haben Christiane und ich uns aufgemacht, ein wenig aufzuräumen im Dickicht von Halbwissen, Vorurteilen, Befürchtungen und Ideologie. 

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Stadt, Land, Plus

Arsch der Heide? Von wegen: Jenseits überteuerter Großstädte finden Pionier*innen neue Freiräume für Kreativität und spinnen inspirierende Netzwerke. Und oft haben dabei Frauen die Nase vorn. Wie in Luckau und Perleberg, wo ich im Frühjahr 2023 für die BRIGITTE recherchiert habe

„Da muss jetzt mal was vorangehen“, sagt Katja Klugewitz, 53. An einem kalten Morgen steht sie mit ihrer Bauingenieurin im Flur eines fast 300 Jahren alten Stadthauses in Luckau, 10.000 Einwohner, knapp 100 Kilometer südöstlich von Berlin, und gleicht Pläne ab: Der Tischler muss noch seinen Termin bestätigen, der Elektriker ein Angebot machen. Denn wo jetzt noch rohes Mauerwerk ist, grob abgeschliffene Holztüren und eine Freitreppe unter einer dicken Schicht Baustaub, soll nach der Kernsanierung eine Mischung aus Wohnhaus und Kulturzentrum entstehen. „Kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen!“ Der Rundgang ist ein kurzer Ritt durch die Geschichte: Im 18. Jahrhundert wurden in den beiden Hinterhäusern Teppiche geknüpft und Zigarren gedreht, im Vorderhaus gingen im 19. Jahrhundert „Kolonialwaren“ über die Ladentheke. Nach dem Mauerfall stand das Haus zwischen Marktplatz und Altstadtgraben für 30 Jahre leer, bis es vor zwei Jahren eine neue Besitzerin fand.

Wobei, was heißt schon leer. „Das war wie eine Zeitkapsel“, erinnert Katja Klugewitz sich, „beim Ausräumen haben wir noch alle möglichen DDR-Produkte gefunden, etwa eine Kiste Cola mit der Aufschrift ‚VEB Getränke Drehna‘.“ Und weil sich die energische Frau nicht nur für ihren Beruf als Ärztin begeistert, Fachbereich Innere Medizin, sondern auch fürs Fotografieren, war im Herbst 2022 rasch die erste Idee für eine Popup-Ausstellung im Rohbau geboren, zur „Altstadtnacht Luckau“. Mit Fotos der Zufallsfunde, dazu Zeichnungen einer örtlichen Künstlerin und Musik von einem Jazzgitarristen. Unplugged, denn Strom gab es noch keinen, dafür Solarlaternen und Kerzenlicht. „Eine Wahnsinnsstimmung“, erinnert sie sich, „die Leute tanzten im Schaufenster, auf der Straße, kamen und gingen bis spät in die Nacht. Mich hat das an die Atmosphäre im Berlin der 90er erinnert, wo ich studiert habe: ständig gab es neue Kneipen und Clubs in Wohnungen oder leerstehenden Gebäuden, man erfuhr durch Mundpropaganda davon. Ich mag dieses Unfertige, Raue.“

Katja Klugewitz gehört zu einer wachsenden Anzahl von Menschen, die nach Orten suchen, an denen sowas geht: Kulturprojekte, oder neue Formen des Zusammenlebens, oder Startups. Raum für Ideen, die angesichts der Immobilienpreise und der Wohnungsnot in Großstädten kaum noch finanzierbar sind. Denn in Berlin, Hamburg, Leipzig, in West wie Ost sind die Freiräume abhandengekommen, fast jedes ehemals alternative Viertel durchgentrifiziert. Gleichzeitig macht es die Digitalisierung möglich, in mehreren Welten zugleich zu leben.

Das bringt Aufwind für Gegenden wie den Landkreis Dahme-Spree, die Prignitz zwischen Berlin und Hamburg, das Dreieck Görlitz-Zittau in der Lausitz, aber auch für das niedersächsische Emsland westlich von Bremen. Alles Entdecker-Ecken, an denen es brodelt. Teils ganz von selbst, teils angelockt von Zuzugs- und Rückkehrer*innen und ihre Initiativen wie elblandwerker.de oder raumpioniere-oberlausitz.de. Orte, an denen man bei der Suche nach Wohn- und Büroräumen nicht zuerst den Immobilienmakler anruft, sondern die Leerstandsmanagerin.

Wer hierher kommt, sucht meist nicht nur Ruhe, Platz für die eigenen Tomatenstauden und bezahlbaren Wohnraum. Sondern will sich auch einbringen, manchmal nur für eine Weile, manchmal dauerhaft. Die Schönheiten abseits der Ballungszentren aus dem Dornröschenschlaf küssen. Es mag Zufall sein, dass die wichtigsten Personen bei Katja Klugewitz‘ Sanierung alle weiblich sind, eine Bauingenieurin, eine Statikerin eine Vermessungsingenieurin. Aber es ist ein sprechender Zufall. Dabei geht es auch um ganz Handfestes. Klugewitz, die in Lüneburg aufwuchs, hat Ideen, wie man Nachwuchsmediziner*innen anlocken könnte. „In Zukunft wird es nicht mehr nötig sein, ständig in einer Praxis präsent zu sein“, glaubt sie. Dann könnte man pendeln, mal Luckau, mal Homeoffice mit Videocall-Sprechstunde in Berlin, Magedeburg, Dresden. Und alle hätten etwas davon.

Nächste Station: Perleberg, auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg. Fährt man auf der B 5 hinein in die 13.000-Seelen-Stadt, fühlt man sich erstmal wie in einem Juli-Zeh-Roman – die Windräder, der Landhandel, das Gasthaus namens „Kuhstall“, Tagesangebot: Currywurst. Schließlich werden die Kirchtürme der Altstadt sichtbar. Außer dem Griechen am Marktplatz hat Sonntag mittags kein Café geöffnet, kaum jemand lässt sich draußen zwischen den Fachwerkhäusern blicken. Und hier soll ein Nest von Menschen sein, die vor Ideen sprühen? Doch, jede Menge, hat man mir bei der Initiative Elblandwerker versichert: „Du solltest als erstes die beiden Marias fragen.“

Auftritt Maria Pegelow, 46, Landschaftsarchitektin, die das Coworking-Space am Marktplatz organisiert, die „Perle“. Das Büro in einem ehemaligen Ladengeschäft mit seinen Tapeziertischen, den Kaffeetassen vom Trödel und dem Konferenzraum, in dem ein Fahrrad lehnt, könnte genauso auch in Hamburg-Ottensen oder Köln-Ehrenfeld stehen. Inklusive denen, die hier tageweise arbeiten: eine Journalistin, ein israelisch-isländisches Paar, er Musiker, sie Therapeutin, und den Macher*innen einer Biolandwirtschaftskooperative mit dem schönen Namen „Gemüslichkeit“. Plus Maria, angestellt bei der brandenburgischen Architektenkammer, Dienstort: remote. 

Eine Corona-Fluchtgeschichte mit Happy End: Im zweiten Pandemiesommer mieteten sie und ihr damaliger Partner für schmales Geld ein besonderes Gebäude, einen mittelalterlichen Wehrturm mit vier Stockwerken, um ihn als Wochenend- und Ferienhaus zu nutzen oder dort im Homeoffice zu arbeiten. Mit Blick auf die Enten auf dem Flüsschen Stepenitz, als Kontrast zu ihrer Berliner Hinterhofwohnung. Die Liebe ist mittlerweile Geschichte, Maria immer noch da. 

Für immer – oder jedenfalls fürs erste. „Ich bin ein ungebundener Typ, habe keine Kinder, keine Verpflichtungen. Ich reise gern mit leichtem Gepäck“, sagt die Frau mit dem lässigen Haarknoten. Dennoch hat sie hier eine Art von Verbindung und Freundschaft gefunden, die sie in Berlin vermisst hat, beinahe, ohne es zu merken. „Perleberg zieht Gleichgesinnte an, Träumer, Sehnsüchtige, die sich noch austoben wollen“, so beschreibt sie den Spirit. „Ich habe in meiner ganzen Zeit in Berlin nicht halb so viele interessante und witzige Menschen getroffen wir hier.“ 

Längst ist sie Teil der Gemeinschaft und Anlaufstelle nicht nur für die Coworking-Räume, die die Stadt gratis zur Verfügung stellt. Eine Gruppe von zugezogenen Südtiroler*innen renoviert ein leerstehendes Gebäude und eröffnet darin den „Knödelclub“, mit Alpenküche und einem Hinterhofbiergarten im Shabby Chic? Maria steht aushilfsweise hinter dem Tresen. Die Stadt überlegt, was man aus den aufgelassenen Kasernen aus der Kaiserzeit machen könnte? Maria berät mit Architektur-Knowhow. Jemand sucht nach Investoren, die das frühere „Hoffmanns Hotel“ neben dem ehemaligen Postamt sanieren? Maria plant eine Aktion, bei der Anwohner Luftballons mit Wunschzetteln in den Himmel steigen lassen, Projektname „Hoffnungshotel.“

Der Investor fehlt noch, aber Teile des Areals sind bereits zu neuem Leben erwacht – dank Maria Nummer zwei, Nachname Kwaschik. Die 36-jährige Musiktheaterregisseurin aus Potsdam lebt seit knapp drei Jahren in Perleberg, eigentlich, weil sie nach einem Ort suchte, wo ihr kleiner Sohn unbeschwert aufwachsen kann. Und für sich selbst als Ruhepol zwischen ihren Reisen von Regieprojekt zu Regieprojekt. Auch sie kam, sah und blieb, angezogen vom Charme des Unfertigen, und weil sie spürte, dass sie hier etwas bewegen konnte: „Als Regisseurin bespiele ich gern unübliche Orte: ein Foyer, ein privates Wohnzimmer, ein ehemaliges Kühlhaus. Als ich von diesem alten Hotel erfuhr und den Hof sah, dachte ich sofort: Daraus könnte man einen Veranstaltungsort machen!“ 

So entstand das „Kulturkombinat“, bestehend aus Hof, Remise und Ausschank in einem Seitenflügel der Ruine. Und Maria Kwaschik lernte ganz nebenbei, wie man Pflaster verlegt, eine Bühne baut, Decken herausreißt und freiwillige Helfer*innen bei Laune hält („hinterher grillen, und gute Musik!“). In der schönen Jahreszeit  finden Open-air-Veranstaltungsabende statt – Konzert, Kino, Gesprächspodien. Und weil das Kulturkombinat ein Ort für alle sein soll, laden die Betreiber*innen auch zum Fußball-Public Viewing oder zum Flohmarkt.

Denn das ist wohl entscheidend dafür, dass es läuft zwischen Alteingesessenen und Neuzuzügler*innen, auch wenn das Tempo manchmal unterschiedlich ist, die Mentalität. Gesten, die zeigen: Wir, die Neuen, betrachten eure Stadt nicht als unseren Spielplatz, wollen uns nicht in unserer eigenen Blase abschotten. Kwaschik ist seit Kurzem auch „Innenstadtagentin“, vermittelt zwischen Stadt, Bürger*innen, Vereinen und Investoren. Etwa, wenn es um die neue Nutzung leerstehender Häuser geht. Geben statt nehmen – so wie Maria Pegelow das Coworking-Büro managt. Oder Katja Klugewitz in Luckau: Sie singt dort nicht nur im Chor, sondern stellte nach dem Hauskauf erstmal gemeinsam mit dem Bürgermeister („ein quirliger, lebendiger, offener Typ“) eine Corona-Impfaktion im Rathaus auf die Beine.

Wunschlos glücklich ist keine der Neu-Kleinstädterinnen, noch nicht. Die Wunschlisten gleichen sich: Ein paar mehr Cafés, mit Tischen zum Draußensitzen, für einen Kaffee im Vorbeigehen, das wäre schön. Ein paar Läden, ein Kino, das mehr zeigt als zwei Blockbuster. Radwege, ein Bus, der nicht nur alle zwei Stunden fährt. Aber dafür haben sie hier alle etwas gefunden, das ihnen mehr wert ist. Maria Pegelow sagt es so: „In Berlin ist vieles Show, man kann einander eine Menge vorgaukeln. Das Leben hier fühlt sich echter an. Purer. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ich kann so sein, wie ich bin.“ 

Alles bunt und gut?

Wenn sich das eigene Kind als queer outet, ist das heute keine große Sache mehr. Oder? Das dachte auch ich, ehe ich selbst als Mutter erlebte: Ganz so einfach ist es nicht. Das liegt an der eigenen Prägung – und an einer aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte. Mein Beitrag für die BRIGITTE, August 2023

Als meine beiden Kinder klein waren, vor zehn, fünfzehn Jahren, hatte ich einen Plan. Ich wollte sie zu maximal offenen und toleranten Menschen erziehen. Frauen, die Frauen liebten, Männer, die Männer liebten, all das sollte für sie so selbstverständlich sein wie die Tatsache, dass Menschen einen anderen Hautton haben als sie oder Rollstuhl fahren, statt zu Fuß zu gehen. Ich erwähnte auch, dass es Menschen gab, deren Geschlechtsempfinden nicht zu ihren körperlichen Merkmalen passte. Damit fühlte ich mich ganz weit vorn. Als ich selbst Kind war, habe ich kein Wort zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt gehört. Ich war geschockt, als ich mit zehn oder elf zum ersten Mal von schwulen Männern erfuhr. So etwas gibt es?

Ich dichtete also in Vorlesebüchern manchmal ein Vater-Mutter-Kind-Trio zu einer Regenbogenfamilie um, feierte einen kleinen Jungen, der als Prinzessin zum Kita-Fasching kam und klopfte mir innerlich auf die Schulter. Super, Mama, alles richtig gemacht. Nur eine Möglichkeit hatte ich nicht bedacht: Dass queere Menschen nicht „die anderen“ sein könnten. Sondern ein Teil unserer Familie, von Anfang an. Auch wenn ich es lange übersah. Vielleicht übersehen wollte, aus Unsicherheit, Berührungsangst, Konformitätsdruck. Bis es nicht mehr anders ging.

Meine Tochter war acht, als sie sämtliche mädchenhafte Kleidung aus ihrem Schrank verbannte und bei Schulhof-Rollenspielen am liebsten die Jungsrolle übernahm. Zwölf, als sie sich die Haare raspelkurz schneiden ließ. Mit 13 verliebte sie sich – wenngleich unerwidert – in ein Mädchen und outete sich: Mama, Papa, ich bin bi. Mit 14 gab sie auf Instagram ihre Pronomen mit sie/er/they an. In allen Geschlechtern zu Hause. Wir bestärkten sie: Du weißt selbst am besten, wer und was du bist. 

Meinem Mann fiel das erstaunlich leicht, seine Liebe zu seinem Kind kam mir bedingungsloser vor als meine eigene. Ich tat mich schwerer, auch wenn ich es vor ihr zu verbergen versuchte. Ich erkannte mein kleines Mädchen nicht wieder, das ging tiefer als pubertäre Entfremdung. Aber Moment mal: War sie das überhaupt jemals gewesen, mein kleines Mädchen? „Ich bin genderfluid“, erklärte sie schließlich, „ich fühle mich manchmal weiblich, manchmal männlich, manchmal weder noch.“ Jedenfalls völlig anders als ich, und auch ganz anders, als ich mir eine heranwachsende Tochter vorgestellt hatte. Das musste ich erst einmal schlucken.

Mit diesen Wachstumsschmerzen bin ich nicht allein. In der Generation der Millennials finden sich deutlich mehr Menschen unter dem LGBTQI+-Label als in der Generation X. Laut dem „Global Survey“ des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos von 2021 mit 20.000 Befragten definieren sich weltweit 18 Prozent der heute 18- bis 25jährigen als homo- oder bisexuell, das sind doppelt so viele wie unter den heute 50jährigen. Und vier Prozent der Jüngeren ordnen sich nicht dem binären Männlein-oder-Weiblein-Schema zu, oder nicht dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurden. Vier Mal mehr als in der Elterngeneration. 

Andere Studien kommen zu anderen Zahlen, teils etwas niedrigeren, aber die Tendenz ist dieselbe: Sowohl die sexuelle Orientierung, also die Richtung von Lust und Liebe, also auch die geschlechtliche Identität werden heute stärker hinterfragt, Varianten offener gelebt. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass es mehr junge Schwule, Lesben oder trans Menschen gibt als früher. Nur, dass zumindest in der westlichen Welt heute vielerorts leichter möglich ist, dazu zu stehen. Gerade dann, wenn sich Menschen – wie meine Tochter – irgendwo in der Mitte verorten: Nicht lesbisch, nicht hetero, weder trans Mann noch „ganz Frau“. 

Diese Uneindeutigkeit zu akzeptieren, war eine Herausforderung. Nicht nur für mein Kind, auch für mich. Lange dachte ich, dass dieses Pendel irgendwann zum Stillstand kommen würde. Dass es sich um eine „Phase“ handeln würde, so wie das Thema in den Teeniezeitschriften meiner Achtziger-Jahre-Jugend abgehandelt wurde. Aber so wie es aussieht, gehört das zu ihr. Genauso wie der kleine Leberfleck neben ihrer Nase oder ihre Füße mit den knubbeligen Zehen, die genau so aussehen wie meine. Ich musste mich von einer Vorstellung lösen, die wohl tiefer saß als erahnt: Hier wir, die „Normalen“, dort „die anderen.“ Erst 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Homosexualität aus der Liste psychischer Krankheiten entfernt, erst 2018 Transidentität als normale Variante der geschlechtlichen Entwicklung anerkannt.

Ich habe sie einmal gefragt, wie sie sich wohl definiert hätte vor 30, 40 Jahren, als ein Begriff wie „genderfluid“ noch nicht im Umlauf war. „Wahrscheinlich hätte ich als Frau gelebt und auch heterosexuelle Beziehungen gehabt“, hat sie überlegt, „aber immer das Gefühl gehabt, das etwas nicht ganz stimmt.“ Das hat mich berührt. „Sei du selbst, finde deinen Platz in der Welt“ – ist es nicht das, was man seinen Kindern mit auf den Weg gibt? Oder will man Konformität um jeden Preis? So wie die kleine Mehrjungfrau im Märchen, die ihre Stimme opfert, um Teil der Menschenwelt zu werden? 

Irgendwann habe ich auch überlegt, ob meine frühen Toleranz-Lektionen meine Tochter zu der Person gemacht haben, die sie ist. Und gleichzeitig geahnt, dass der Gedanke absurd ist. So wichtig, so mächtig sind Eltern nicht. Woher genau sexuelle Orientierung und Geschlechtsempfinden kommen, das kann die Wissenschaft Stand heute noch nicht eindeutig sagen. Vielleicht wird sie es nie können, es ist ein komplexes Puzzle aus Genetik und Prägung. Sicher ist nur: Man kann weder das eine noch das andere anerziehen. Aberziehen auch nicht – nur unterdrücken. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ergab: 28 Prozent aller trans Jugendlichen wussten „schon immer“ über ihre geschlechtliche Besonderheit Bescheid, bei weiteren 33 Prozent war die Findung mit dem 16. Geburtstag abgeschlossen. Darunter Personen, die eine hormonelle und operative Geschlechtsangleichung wünschten, aber auch Menschen wie meine Tochter, die sich jenseits der gängigen Geschlechtszuschreibungen eingerichtet hat. Bei homo- und bisexuellen Jugendlichen kommt die Selbsterkenntnis oft etwas später, aber auch unter ihnen wissen zwei Drittel gegen Ende der Pubertät, wo die Reise hingeht.

Einfach zu sich selbst stehen, offen und frei, das ist aber nicht für jede*n möglich. Leider. Denn noch etwas habe ich als Heterofrau gelernt: Es ist längst nicht alles so bunt und gut, wie ich dachte. Nur weil Konzerne ausgeklügelte Diversity-Strategien vorlegen und die Fußball-Nationalmannschaft in Katar beinahe so etwas wie eine „One-love“-Armbinde getragen hätte, ist Akzeptanz keinesfalls selbstverständlich. Auch nicht in unserem vermeintlich aufgeklärten Land. Jede*r zweite der Jugendlichen erlebt während seiner oder ihrer Schulzeit Mobbing und Diskriminierung. 

Claudia Krell, die früher am DJI geforscht hat und heute bei der Münchner Beratungsstelle LeTra arbeitet, sagt: „Ich höre immer wieder, dass Hetero-Menschen den Eindruck haben: Das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Damit wird aber suggeriert, Menschen dürften kein Problem mehr damit haben, wenn sie queer sind. Die Unsicherheit, der Stress wird ihnen abgesprochen.“ Und der kann riesig sein. Das Bundesinnenministerium registrierte 2021 zum ersten Mal mehr als 1000 queerfeindliche Straftaten. Hass und Gewalt. Und wenn die AfD ausgerechnet im Juni, dem traditionellen „Pride Month“ für queere Sichtbarkeit, einen „Stolzmonat“ ausruft, dann ist das eine verbale Kampfansage, kombiniert mit dem Slogan „schwarz rot gold ist bunt genug.“ Wenn ich so etwas lese und an meine Tochter und ihre Freund*innen denke, wird mir himmelangst. In ihrer Schule, der Verwandtschaft, unserem Großstadtviertel ist sie – bisher! – sicher. Aber es gibt Gegenden, auch in Deutschland, da sollte sie mit ihrer bunten Clique besser nicht zum Zelten fahren. 

Und weil Teile der Gesellschaft das Gegenteil von empowernd sind, ist es umso wichtiger, dass Eltern queeren Kindern den Rücken stärken. Manchmal sogar lebenswichtig, sagt Claudia Krell: „Eltern müssen nicht immer alles richtig machen. Sie dürfen sich ihre Zeit nehmen, mit der unerwarteten sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ihres heranwachsenden Kindes klarzukommen. Aber wenn sie sagen: Ich stehe zu dir, wir schaffen das, geben sie einen unschätzbaren Rückhalt. Wir wissen aus Studien über Resilienz: Wenn es wenigstens eine Person gibt, an die sich Jugendliche vertrauensvoll wenden können, ist das Risiko für Suizid deutlich verringert.“ Das gilt ebenso für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen. 

Klar, es gibt es auch Kinder und Jugendliche, die in einer Selbstfindungsphase ihre Sexualität oder ihr Geschlecht hinterfragen, als Erwachsene aber fühlen und lieben wie die Mehrheit. Aber Empathie, Zuhören, vielleicht professionelle Beratung suchen – das schadet nie. Nicht ernst nehmen, ignorieren, eigene Vorstellungen in das Kind projizieren – das schadet immer.

Nächstes Jahr macht meine Tochter Abitur und wird volljährig. Oder sollte ich lieber sagen: Tochter*, mit Gendersternchen? Menschen wie sie bringen nicht nur die Verhältnisse zum Tanzen, auch die Sprache. Sie ist ein schillernder Mensch, trägt mal Herrenhemd, mal Kleid, und ich bin sehr stolz auf sie. Auf ihre Klarheit, ihr oft hart erkämpftes Selbstbewusstsein. Ihren Weg, der so anders ist als der meines jüngeren Kindes, männlich, hetero, auf einer straighten Linie vom Jungen zum Mann. 

Einen Plan? Den habe ich schon lang nicht mehr. Nur einen Wunsch. Dass sie mich beide noch ein Stück mitnehmen auf ihren Wegen. Dass es ihnen gut ergehen möge. Und dass ich weiter an ihnen wachsen kann.

Queere Kinder – wenn die Gen Z über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nachdenkt

Wen wir lieben, mit welchem Geschlecht wir uns identifizieren – für Heranwachsende ist das heute vielfach ein selbstverständlicher Bestandteil der eigenen Identitätssuche. Sei es auf eher spielerische Weise, beim Ausloten der eigenen Sexualität mit der Pubertät, oder sei es als lebenslanger Bestandteil der eigenen Person, wie es bei Kindern auf dem trans Spektrum häufig früh im Leben der Fall ist. Doch wie gehen wir als Elterngeneration damit um, vor allem, wenn wir selbst hetero und cisgeschlechtlich sind? Wie können wir unsere Kinder gut unterstützen, ihnen bei der Suche nach ihrem geschlechtlichen und sexuellen Selbst liebevoll zur Seite stehen? Auf welchen dieser Wege brauchen sie uns, welche können sie allein gehen?

Mit diesem Thema, das viele Menschen unserer Altersgruppe betrifft, habe ich mich gemeinsam mit meiner Freundin und Kollegin Christiane in einer Mischung aus Ratgeber und Sachbuch auseinandergesetzt. Christiane arbeitet in der sexuellen Bildung und ist durch ihren Masterabschluss in Sexualwissenschaften auf dem neuesten Stand, ich als Mutter einer queeren Tochter* habe mich vor allem auf den Weg gemacht, die Menschen hinter den Geschichten zu erleben: Wie geht eine Familie mit der Transition ihres Kindes um, wie reagiert ein Vater auf das lesbische Coming-out seiner Tochter? Welche Hürden werden queeren Kindern in Schule, Ausbildung, Freizeit in den Weg gelegt, wie kommen sie klar, wo ist die Gesellschaft gefragt? Und was erzählen erwachsene LGBTQIA+-Personen, wenn man sie fragt, was sie selbst als Jugendliche gebraucht hätten? Eine Deutschlandreise, und eine Reise zum Ursprung der eigenen Elterngefühle. Eine Brücke in einer hitzig und oft aggressiv geführten Debatte.

Christiane und ich stehen gern für Veranstaltungen zur Verfügung, gemeinsam oder einzeln, sowohl für Eltern-Workshops als auch zu Vorträgen bei Fachveranstaltungen oder für Firmen, die mehr über diesen Aspekt von Diversity erfahren möchten. Den Link zum Buch finden Sie hier.

Ein guter Rat: Führ dich!

Ich hab es beruflich super getroffen – als Selbständige bin ich Chefin und Angestellte in einer Person. Aber Ahnung, wie man sich selbst gut anleitet, habe ich nicht.
Kann man das lernen? Das habe ich mich im Sommer 2022 für die BARBARA gefragt.
Das Foto ist beim Shooting entstanden: „Verena, guck mal chefig!“

Meine Chefin so? Ich sag mal: tagesformabhängig. Sie hat schon ihre Momente. Zeichnet mir jeden Urlaubsantrag ab, teilt mir nichts zu, worauf ich so gar keinen Bock habe. Aber dann wieder knallt sie mir ohne Vorwarnung einen Stapel Papiere auf den Schreibtisch und kreischt etwas von Planänderung. Weil plötzlich etwas wichtiger ist als das, woran ich gerade sitze. Das versteht sie wohl unter agiler Führung. Sie geizt mit Lob und meckert viel. Ihre Idee von New Work ist auch nur halb ausgereift: Arbeit im Bett ist okay, aber einen Kicker habe ich noch immer nicht. Außerdem warte ich seit 2004 auf ein Gespräch über berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei ist ein Termin eigentlich nicht schwer zu bekommen: Meine Chefin bin ich. 

Als freiberufliche Journalistin gehöre ich zu den zwei Millionen Soloselbständigen, die niemanden beschäftigen außer sich selbst. Die an niemanden berichten, außer wenn sie unter der Dusche Selbstgespräche führen. Die Vorteile sind klar, die Nachteile auch: Wenn ich mir das bisschen Leadership selbst machen muss, bleibt alles ziemlich handgestrickt, Motivation, Richtung, Struktur. Kann ich mir irgendwo eine Schulung abholen? Und hilft mir das vielleicht sogar in meinem Zweitjob, als Mutter zügelloser Teenager? 

ALS SCHREIBENDER MENSCH ist mein erster Impuls: etwas zum Thema lesen. In der Buchhandlung scanne ich anderthalb Regalmeter „Führung und Management“. Die eine Hälfte hört sich an wie ein Youtube-Motivationsvideo, schon im Titel: 
Do Epic Stuff!The Mind of the Leader! In der anderen spricht man deutsch („Die ersten hundert Tage in der Führungsrolle“), und auf den Titelfotos beugen sich Männer mit offenem Hemdkragen über Frauen in weißen Blusen, als suchten sie gerade ihr nächstes MeToo-Opfer. Diese Art Ratgeber haben auf mich eine schwer sedierende Wirkung. Beim Anblick endloser Checklisten für Zielvereinbarungen und Konfliktgespräche sehne ich mich nach tiefem ungestörten Büroschlaf. Die mit den englischen Titeln machen dagegen hibbelig wie Koks auf dem Konzernklo: Bei so viel disruptiven, game-changing Ansätzen bekomme ich schon beim Blättern Bluthochdruck. Aber wie ich als Chefin mehr aus mir heraushole und gleichzeitig wertschätzender mit mir umgehe, sagt mir keiner. Auch nicht, wie ich meinen 13-Jährigen effektiv dazu bewege, seine Socken im Wäschekorb zu deponieren. Statt unter seinem Bett. 

Auf dem Heimweg vom Buchladen bin ich nervös: Wird mich meine Chefin wegen Zeitverschwendung abmahnen? Da erreicht mich ein Anruf von Kollegin Bea, Autorin wie ich. Seit neuestem verbringt sie drei Nachmittage pro Woche auf dem Land bei ihrem neuen Freund. Ein Spanier namens Dio, gut gebaut, elegant und blutjung. Der Vierjährige steht in einem Reitstall 50 Kilometer nördlich von Hamburg, und gemeinsam mit Trainerin Franzi bringt sie ihm bei, wie Tier und Mensch gut zusammenarbeiten. Vielleicht kann ich mir da etwas abgucken. 

„Soso, Führung“, sagt Pferdeflüsterin Franzi, während sie Dio an die Longe nimmt, „was verstehst du denn darunter?“ Ich stammle etwas von Respekt verschaffen, Durchsetzen, klaren Ansagen. „Aha“, gibt sie zurück und verzieht keine Miene, „und ich dachte, wir hätten dieses autoritäre Denken endlich hinter uns gelassen.“ Es ist klar, dass sie nicht nur von Reiterhöfen spricht. Peinlich berührt trotte ich hinterher und beobachte, wie sie Dio seine Aufwärmrunden laufen lässt, ihn lobt, ihn schon durch das zarte Anheben ihrer Longierpeitsche dazu bringt, einen Zahn zuzulegen. Mehr Zwiegespräch als Zwang. „Ich habe immer eine Vorstellung, wie ich das Bewusstsein meines Gegenübers anheben kann“, erklärt sie, „und im besten Fall ist das Gegenüber daran interessiert.“

Das klingt etwas esoterisch, hat aber einen handfesten Kern. Ich verstehe: Auch mir würde im Selbstgespräch mehr Schulterklopfen und Ansporn guttun. Dann könnte ich mir mehr zutrauen, die Latte etwas höher legen. Das wichtigste an der Führung, sagt Franzi, ist Freude. „Ich gebe nicht nur ein Ziel vor, ich möchte vor allem, dass der Funke überspringt.“ Auf mich bezogen heißt das: Mehr „Wow, wo willst du heute hin?“, weniger „Na, Frau Carl, kommen wir heute noch mal in die Hufe?“  

Das Pferd ist jetzt warm. Longe ab, Bea in den Sattel. Sie wechselt wie von Zauberhand Gangarten, Tempo, Richtung, ohne Drohen, Schimpfen oder Schreien. Wäre ich nicht selbst ein Ex-Pferdemädchen, würde ich nicht mal erkennen, wie sie das macht: leichter Schenkeldruck hier, minimaler Zügelzug da. Die beste Führung ist unsichtbar. Invisible Leadership. Hey: Das wäre mal ein guter Titel für ein Buch! Oder für einen Podcast. Gleich notieren. Später, während Bea Dio in den Stall führt, erzählt sie, dass pferdegestütztes Training für Manager seit Jahren gut gebucht ist. Dabei sollen Leute, die sonst Umsatzvorgaben erarbeiten oder Zielmärkte erschließen, beispielsweise einen Parcours in der Reithalle aufbauen. Und begreifen dabei, warum die Stimmung in ihrem Büro so mies ist. Wer zu viel Druck ausübt oder seine Wünsche nicht klar zum Ausdruck bringt, macht nicht nur sein Team wuschig, sondern bringt auch kein Pferd dazu, über Balken zu steigen und um Tonnen herumzugehen

Bald schon kann ich das Learning anwenden, in meinem kleinen, gelegentlich erfolgreichen Familienunternehmen. Die Challenge: eine aufgelöste 16-Jährige, die versucht, innerhalb von zwei Stunden für eine Klassenarbeit nachzuholen, was sie in zwei Monaten verschlafen hat. Normalerweise sind mein Liebster und ich eine gute Doppelspitze, aber heute ist Papa mit seinen Skills am Ende: Weder Negativ-Feed-back („Habe ich dir nicht schon vor drei Tagen gesagt …“) noch der Verweis auf digitale Organisationstools („Ich richte dir jetzt ein Trello-Board ein“) helfen weiter. Dafür komme jetzt ich, mit der richtigen Mischung aus Liebe und Struktur, wie bei jungen Pferden. Aufs Wesentliche konzentrieren, aufhören, ehe nichts mehr geht. Töchterchen und ich einigen uns auf eine niedrigschwellige Zielvorgabe. Eine Vier ist gut genug, eine Fünf lässt sich ausgleichen. Ich muss daran denken, was meine Freundin Jasmin, Co-Chefin einer mittelständischen Pharmafirma, einmal gesagt hat: „Führung heißt nicht, Kontrolle ausüben, sondern Kontrolle abgeben. Vertrauen. Zügel lang lassen.“ Weil ich gerade so 
einen Lauf habe, plane ich abends eine Teambuilding-Maßnahme, beim Familienessen: Der warme Stuhl. Jeder sagt den anderen, was er toll an ihnen findet. Den Tipp habe ich von einer Lehrerin. Die habe ich auch gefragt, wie sie mit Problemschülern, Störern, Saboteuren umgeht. Ganz ähnlich: Loben, bis der Arzt kommt. Jedes noch so kleinste Fitzelchen erwähnen, das gut läuft, statt über den Berg Bockmist daneben zu schimpfen. Das probiere ich gleich bei meinem Sohn aus: „Oh, super, unter dem Kopfende liegt nur ein einziges Bonbonpapierchen“ statt „Was ist mit den sieben Socken unter dem Fußende – und ist das daneben etwa dein verlorenes Biobuch?!“ Das irritiert ihn so, dass er später freiwillig die Spülmaschine ausräumt. 

WENN MITARBEITER ETWAS GUT MACHEN, bekommen sie je nach Gehaltsklasse eine kleine Prämie oder die Champions-of-the-year-Golfreise nach Malle spendiert. Ich finde, ich habe auch einen Bonus verdient und schenke mir zum Abschluss Konzertkarten, inklusive Schaumwein in der Pause. Der Dirigent ist ein attraktiv ergrauter Finne, und was er am Pult macht, ist mehr Ausdruckstanz als Einsatzplanung. Es sieht aus, als wäre das gesamte Orchester, die Hornistinnen, Geigerinnen, Paukisten, seine Klaviatur, auf der er virtuos spielt. Am Ende applaudieren sich die Bläser gegenseitig, die Streicher wedeln mit ihren Bögen, das Publikum flippt auf hanseatische Art aus. Und ich merke: Dasselbe passiert an guten Tagen in meinem Kopf. Wenn plötzlich alle inneren Stimmen harmonisch zusammenklingen, dann komme ich am weitesten, egal, ob beim Arbeiten oder mit meinen Kindern. Ich habe ja jetzt ein paar Ideen gesammelt, wie ich mir mehr solche Momente schaffen kann. Nur meiner Chefin muss ich noch Bescheid sagen. 

„Gebraucht werden ist das Schönste am Vatersein – und das Schlimmste“

Die große Mehrheit aller jungen Eltern findet, ein Vater solle so viel Zeit wie möglich mit seinen Kindern verbringen. Aber die Quote derer, die länger Elternzeit nehmen oder ihre Arbeitszeit dauerhaft reduzieren, spricht eine andere Sprache. Wie kann sich das ändern? Fürs ELTERN-Magazin, Dezember 2022, habe ich mich mit vier Männern unterhalten, die Ernst machen

Treffen sich vier Väter auf Zoom und wollen mal reden. Darüber, wie Kind und Karrieremachen zusammenpassen, wie man Liebe, Abwasch und Jobprojekte zusammenbringt und woran es eigentlich liegt, dass zwischen Müttern und Vätern die Aufgaben immer noch so ungleich verteilt sind. Einer sitzt vor einem an die Wand gehängten Surfboard, einer ein Kellerbüro, zwei haben virtuelle Hintergründe eingeblendet; zwei sind älter, zwei jünger. Aber, kein Witz, eines haben sie alle gemeinsam…

ELTERN FAMILY: Roman, Marius, Harald, Volker: Ihr habt insgesamt zehn Kinder, seid alle verheiratet und angetreten, aktive Väter zu sein. Wie läuft‘s?

Roman: Ich habe nach der Geburt unserer Zwillinge nur zwei Monate Elternzeit genommen, rückblickend würde ich sagen, das war viel zu wenig. Aber ich glaube, am Ende macht nicht die Dauer der Auszeit einen guten Vater aus, sondern vor allem das normale Alltagsleben, das Teilen der Carearbeit, für 18 Jahre oder mehr. Es ist perfekt, ein halbes Jahr zu Hause zu sein, aber nicht, wenn man danach mehr oder weniger abwesend ist.

Wie sieht das konkret bei dir aus?

Roman: Unsere Kinder sind von etwa 8.30 bis 16 Uhr in der Kita, meine Frau und ich teilen uns Erwerbs- und Familienarbeit. Das muss nicht jeden Tag die gleiche Stundenzahl sein, aber am Ende des Monats, des Jahres muss man sich in die Augen schauen können und sagen: Ja, das hat für uns gepasst. Glücklich-glücklich kann gleichbedeutend sein mit Fifty-Fifty, muss aber nicht. Meine Erfahrung ist, je aktiver man als Vater ist, desto schöner wird es, desto mehr vermisst man seine Kinder, wenn man ihnen mal nicht nah ist. Viele Väter, gerade solche in Führungspositionen wie ich, haben das nie erlebt.

Marius: Bei meinem älteren Sohn, jetzt neun, habe ich auch nur die zwei Vätermonate gemacht, ohne groß nachzudenken – das war halt Standard. Später wurde auch ich Papa von Zwillingen, und habe ein ganzes Jahr lang ausgesetzt. Meine Frau ist Ärztin mit eigener Praxis, ich war damals angestellt in einem großen Konzern. Danach bin ich in Teilzeit zurückgegangen, mittlerweile habe ich mich selbständig gemacht und halte außerdem den Laden zu Hause am Laufen. Das heißt, wenn in der Kita ein Kind hinfällt, dann bin ich derjenige, der angerufen wird. Das musste ich denen erst mal beibringen!

Harald: Ich bin hier in der Runde der Hardcore-Elternzeitler: Ingesamt elf Jahre mit einem Pflegekind und später zwei leiblichen Kindern. Das lag aber auch daran, dass mein früherer Arbeitgeber, ein Mittelständler aus dem Technikbereich, mich mit allen Mitteln loswerden wollte. Heute arbeite ich 14 Stunden die Woche als Schreibkraft, was gut in unser Leben passt, aber wenn man ehrlich ist, bin ich formal total überqualifiziert. 

Volker, du berätst seit über 15 Jahren Firmen zu Vereinbarkeitsthemen, speziell im Hinblick auf Väter. Welche Erfahrungen bringst du selbst mit?

Volker: Meine Frau und ich haben mit unserer älteren Tochter schon vor 22 Jahren ein Fifty-Fifty-Modell gelebt, das war damals noch viel schwieriger zu organisieren, es gab ja kaum Betreuungsplätze für jüngere Kinder. Auch mir hat mein Arbeitgeber damals für eine Vater-Auszeit die Rote Karte gezeigt – das war der Anstoß für meine Selbständigkeit. Heute haben wir Kunden vom Großkonzern SAP bis zu den Stadtwerken Lübeck, und überall rumort es in den Unternehmen. Auch durch den Homeoffice-Boom während Corona sind gerade jüngere Väter zunehmend nicht mehr bereit, alte Muster weiterzustricken. 

Und doch ist der Fortschritt eine Schnecke, und Beispiele wie die euren bleiben die Ausnahme. Woran liegt das: die Wirtschaft, die Männer, die Frauen…?

Marius: Als ich meinem Vorgesetzten gesagt habe, dass ich über ein Jahr pausieren will, wusste ich, dass meine Expertise nicht so schnell zu ersetzen ist und habe das auch so angekündigt – „Chef, jetzt versau ich Ihnen den Tag!“. Er hat es trotzdem cool aufgenommen, da kann ich nicht klagen. Unangenehm waren eher die Spitzen aus der obersten Führungsebene. Die trifft man auf dem Flur, unterhält sich nett, „Mensch, Sie gehen in Elternzeit, freuen Sie sich?“, und im Gehen kommt dann eine Bemerkung wie: „Na, Sie werden schon wissen, was Sie tun“. Da ist noch viel altes Denken in den Köpfen.

Roman: Diese Haltung zieht sich noch immer quer durch die Gesellschaft, bei Männern wie Frauen, im Privaten wie im Beruflichen. Wenn ich Interviews gebe, kommentieren auch manche Frauen online: Aber Kinder gehören doch zur Mutter! Andererseits begreifen auch manche Männer nicht, warum sich überhaupt etwas ändern sollte. Dabei ist für mich eines klar, moderne Unternehmenskulturen brauchen nicht nur Frauen im Vorstand, sondern auch Väter, die für ihre Kinder da sein können.

Gehst du als Chef mit gutem Beispiel voran?

Roman: Ich gehe auf Mitarbeitende zu und sage: Ich hab gehört, du wirst Papa, oder du wirst Mama, wie können wir dich unterstützen? In meinem Führungsteam sind alle Männer in Elternzeit gegangen, auch mehr als zwei Monate. Denn wenn ein Chef, eine Chefin das aktiv angeht und kein Tabu aus Vereinbarkeitsfragen macht, erzählen Männer im Unternehmen früher und offener, dass sie Vater werden. Nach dem dritten Monat, wenn sie es auch ihren Freunden sagen. Das wiederum gibt dem Arbeitgeber fast ein halbes Jahr Puffer, um zu planen.

Harald: Klingt gut, aber ich habe genau das Gegenteil erlebt. Man hat ja als werdender Vater nicht denselben Kündigungsschutz wie eine werdende Mutter, ob es also schlau ist, frühzeitig eine Ankündigung zu machen, hängt also sehr von der Unternehmenskultur ab. Für meinen Vorgesetzen war ich sofort abgeschrieben, als ich gesagt habe, ich möchte aussetzen.

Roman: Aber meiner Meinung nach macht es der derzeitige Fachkräftemangels einfacher, einen neuen Arbeitgeber zu finden, der Vereinbarkeit ermöglicht. Es wäre doch jetzt genau die richtige Zeit für Väter, selbstbewusster aufzutreten!

Harald: Ich habe mich vielfach in Teilzeit beworben, sowohl im Bereich Einkauf und Beschaffung, wo ich vor meiner Elternzeit gearbeitet habe, als auch mit meiner Basisqualifikation als Elektriker und Elektrotechniker. Aber wenn die sehen, da will ein Mann weniger als 30, 40 Wochenstunden arbeiten, kommt innerhalb von drei Tagen eine Absage!

Volker: Es gibt Riesenunterschiede zwischen den Milieus, zwischen Stadt und Land. Zwar nehmen in Bayern die meisten Väter die zwei so genannten Vätermonate, mehr als in allen anderen Bundesländern, aber danach heißt es, vor allen in ländlichen Gebieten: Jetzt bringst du bitte wieder 120 Prozent, für Familie ist deine Frau zuständig. In Metropolregionen mit mehr Fachkräftemangel, mehr Konkurrenz, mehr Vielfalt ist die Situation oft günstiger. Aber es gibt auch eine aktuelle Studie der Antidiskriminierungsstelle, die sagt: Nicht nur jede zweite Frau erfährt im Arbeitsleben Diskriminierung, wenn sie Mutter wird, auch jeder dritte Vater. Bei den Frauen ist es eher die Rückkehr in den Job, bei den Vätern beginnt es bei der Ankündigung, dass sie reduzieren möchten, weil ein Kind kommt. Da ist die Politik gefragt, Rahmenbedingungen zu ändern, das können wir nicht nur im Privaten lösen.

Marius: Bin ich total bei dir. Wir müssen aber aufpassen, nicht in so einen Tenor abzugleiten: Hilfe, Familie, Riesenbelastung! Ich habe total davon profitiert, in der Elternzeit einen Schritt zurückzumachen vom Arbeitsleben, Dinge anders zu denken. Ich habe eine andere Perspektive auf das Leben, einen anderen Fokus. Das bringt mich persönlich weiter, im Berufsleben, in der Paarbeziehung.

Volker: Gutes Stichwort, Paarbeziehung. Entscheidend ist, dass man es schafft, nicht nur Familienarbeit, sondern auch den Mental Load gerecht aufzuteilen: Wer besorgt das Geschenk für die Schwiegermutter oder organisiert den Kindergeburtstag? Da entsteht nämlich schon in der Elternzeit ein Ungleichgewicht, weil das zu wenig besprochen wird. Ich würde mir auch wünschen, dass die neuen, jungen Väter die älteren fragen, Mensch, wie habt ihr das denn eigentlich gemacht? Wann habt ihr euch wie aufgeteilt? 

Marius: Die haben sich doch solche Gedanken größtenteils gar nicht gemacht! 

Harald: Also, ich bin in den Siebzigern, Achtzigern in kleinbäuerlichen Strukturen groß geworden, da hat zu Hause jeder angepackt. Wenn mein Vater im Schichtdienst war, saß meine Mutter auf dem Traktor, und wenn sie beim Arbeiten war, dann hat mein Vater mir das Schulbrot geschmiert. Für mich ein gutes Vorbild. Als ich selbst Vater wurde, habe ich jedenfalls viel positives Feedback bekommen, vom Freundeskreis bis zur Krabbelgruppe.

Marius: Ja, dieses Positive habe ich auch erlebt, aber nicht nur. Es gab auch total absurde Situationen. Etwa, wenn man Bekannte trifft und erzählt, wir haben Zwillinge, da kommt vor allem von älteren Frauen gerne so ein Spruch: „Oh, die arme Mutter.“

Roman (lacht): Ja, hier auch: „Das ist aber anstrengend für Ihre Frau.“ 

Marius: Dabei freuen wir uns doch darüber, dass wir diese Kinder haben, da ist niemand arm. Zweitens bin ich derjenige, der zu Hause alles wuppt. Drittens, bring dein Weltbild in die Altstofftonne. Aber auch bei Babytreffen gab es solche, die sich keinen Reim auf mich machen konnten. Einmal habe ich zwischen zwei Müttern gesessen, die sich lang und breit über meinen Kopf hinweg über meine Kinder unterhielten, als wäre ich gar nicht da: „Oh, süß, Zwillinge, welches ist wohl das ältere….“ Dabei hätten sie mich nur fragen müssen, sie wussten ja, dass die Kinder zu mir gehören.

Über eine Sache haben wir noch nicht gesprochen, das Geld. Es gibt Paare, da können sich weder Mütter noch Väter längere Auszeiten leisten….

Harald: Stimmt, Elternzeit ist Luxus. Wir sind es pragmatisch angegangen: Was gibt unsere Konstellation her, jenseits von Männer- und Frauenrolle? Meine Frau war erst fünf Jahre in ihrem Beruf als Lehrerin und wollte vorankommen, ich bin zehn Jahre älter und hatte dafür mehr Rentenpunkte. Logisch, dass ich zu Hause bleibe.

Marius: Wir haben für meine Elternzeit bei den Zwillingen hart gespart. Wir hätten sie auch früher in die Krippe geben können, aber das wollten wir nicht, weil wir bei unserem Großen nicht so gute Erfahrungen gemacht hatten. Danach was das Geld komplett aufgebraucht, aber das war es uns wert. Mein Punkt ist, in vielen Familien findet dieser Planungsprozess gar nicht statt. Der Mann denkt, er muss die Kohle anschaffen, die Mutter denkt, sie müsste zu Hause bleiben, und damit wird das Thema so weggewischt. 

Volker: Wir wissen, dass 77 Prozent der Väter den Löwenanteil des Geldes nach Hause bringen, es sagen aber auch 70 Prozent der Mütter, dass es wichtig für sie ist, in den ersten Jahren Zeit mit dem Kind zu verbringen. Das emotionale steht noch vor dem finanziellen. Und ich gebe Marius recht: Wir haben noch keine gesellschaftlichen Rituale dafür, wie und wo Paare sich darüber austauschen könnten! Väter gehen heute mit zum Geburtsvorbereitungskurs und reden über Ängste vor der Geburt – aber nicht darüber, was danach kommt. Unsere Idee als Beratungsunternehmen ist, Vereinbarkeitscoaches in Firmen zu installieren, die mit werdenden Eltern ins Gespräch kommen, auch wenn einer von beiden gar nicht dort arbeitet. Es braucht eine andere Gesprächs- und Arbeitskultur, quer durch die Branchen – auf dem Bau, in Rechtsanwaltskanzleien, im Gesundheitswesen….

Roman: Ganz wichtig! In der Chirurgie kannst du auch nicht einfach hinwerfen, wenn vor dir einer auf dem Tisch liegt, nur weil die Kita anruft, dass dein Kind Fieber hat. Anders als in anderen Berufen. Es gibt aber schon New Work-Modelle für Gesundheitswesen oder Industrie, mit denen man zum Beispiel per App flexibel Schichten tauschen kann, das hilft sehr. Aus meiner eigenen, früheren Erfahrung als Schichtarbeiter würde ich sagen: Es hat auch Vorteile, wenn ein Vater am Ende des Arbeitstages den Hammer und die Feile fallen lassen kann und seine Kinder abholen, ohne auch für den Rest des Tages immer und überall erreichbar sein zu müssen. Abschalten fällt da sicher leichter als in einem Job wie meinem.

Harald: Ich bin bei vielem ganz bei dir, Roman. Aber wenn du eine Woche Spätschicht hast, eine Frühschicht, danach eine Nachtschicht, musst du trotzdem nachmittags die Betreuung bezahlen, auch wenn du sie nicht nutzt. Wenn mein Kind in die Musikschule gehen will und der Nahverkehr auf dem Land ist ein Debakel, dann ist der halbe Nachmittag mit Fahrdiensten belegt. Vieles klingt in der Theorie besser als in der Praxis. 

Zum Schluss ein Gedankenexperiment. Stellt euch vor, ihr seid 70 Jahre alt, eure Kinder erwachsen. Was sollen sie über euch sagen, wenn sie an ihre Kindheit denken?

Volker: Es wäre schön, wenn meine Töchter sagen: Er hatte immer dann Zeit für mich, wenn es wirklich wichtig war.

Marius: Da schließe ich mich an.

Roman: Man muss ja erstmal anwesend sein, um auch zum richtigen Zeitpunkt da zu sein. Meine Kinder sollen sich daran erinnern, dass sich nicht nur das Eis am Wochenende mit ihnen geteilt habe. Sondern auch ihre Probleme und Sorgen.

Harald: So ist es. Ständig gebraucht zu werden, das ist das Schlimmste am Vatersein. Und zugleich auch das Schönste.

Unsere Gesprächspartner:

ROMAN GAIDA, 40, lebt mit seiner Frau und vierjährigen Zwillingssöhnen in Düsseldorf und leitet den Geschäftsbereich CNC in der Niederlassung des Mitsubishi-Konzerns. In seinem aktuellen Buch erzählt er von seinem Weg zwischen Karriere und Vaterschaft und gibt Tipps für Männer, die beides wollen: „Working Dad“, Campus, 24 €

HARALD LÖFFLER, 52, ist mit Frau und drei Kindern (11, 9 und 5) im ländlichen Franken zu Hause. Der ausgebildete Elektrotechniker arbeitet zur Zeit in Teilzeit als Schreibkraft.

MARIUS KRONSBERGER, 41, wohnt mit Frau und Kindern (das ältere neun, die jüngeren Zwillinge vier) als Immobilienmakler an der Ostsee. Seine Erfahrungen aus der einjährigen Elternzeit sind nachzulesen in „Von einem der heimging, um bei seinen Kindern zu sein“ (im Selbstverlag, zu bestellen im Buchhandel, 14,90 €)

VOLKER BAISCH, Unternehmensberater, 55, hat mit seiner Frau zwei erwachsene Töchter und lebt in Hamburg. Seine Firma entwirft Konzepte zu Vereinbarkeitsfragen im Job, besonders im Hinblick auf Väter (conpadres.de)

Generation Hä?

20jährige ticken heute oft völlig anders als ihre Eltern im gleichen Alter, in Liebe, Job und Leben. Für die BRIGITTE Woman, Ausgabe 8/22, habe ich mich gefragt: Ist das ein Anlass, sich zu wundern – oder auch, sich ein paar frische Ideen abzuschauen?

Ich bin 52 und habe gute Gründe, mich jung zu fühlen. Nachmittage auf dem SUP-Board, ein Abendessen bei Freunden, das in eine spontane Tanzparty mündet, das Naturblond, das sich dank freundlicher Gene noch immer flächendeckend auf meinem Kopf befindet (danke, Papa). Aber manchmal werde ich auf einen Schlag auch ganz schön alt. Zum Beispiel neulich, als mir meine Nichte erklärte, sie wolle doch lieber Lehrerin werden als was mit Medien, „weil ich auf meine mentale Gesundheit achten will“. Echt, mit 19? Oder die Schulabgängerin von nebenan, die auf die Frage nach ihrem Beziehungsstatus so irritiert dreinschaute, als hätte ich gefragt, ob sie an Einhörner glaubt. War da nicht mal was, in dem Alter, mit Liebe und so? Zuletzt meine 16jährige Tochter, die von einer Netzbekanntschaft namens „River“ erzählte. Ein Junge, ein Mädchen? Weder noch: „Eine Person, der Pronomen nicht so wichtig sind.“ Ach so. Sozialforscher sprechen von Millennials. Ich nur noch von „Generation Hä?“.

Als vor ein paar Jahren die gesundheitsbewusste, sensible, sinnsuchende „Generation Y“ in aller Munde war, „y“ wie „why“, dachte ich noch: Jetzt macht mal halblang. Auch wir Älteren hatten nicht ständig Dollarzeichen in den Augen, Sex im Kopf und Caipirinha im Glas. Aber jetzt wird die nächste Altersgruppe erwachsen, und kratzt dabei an Dingen, die ich für die Basiseinstellung des Jungseins hielt. Sie wollen lieber Minecraft als Nightlife, lieber Selfcare als Karriereplan, lieber Kuscheln als Vögeln. Um es mit einem Top-Ten-Hit aus den Achtzigern zu sagen: Was soll das? Geht das wieder weg? Oder ist es am Ende zukunftsträchtig? 

Natürlich ist es immer schwierig, Menschen über einen Kamm zu scheren, nur weil sie ein ähnliches Geburtsjahr teilen. Schon gar nicht, wenn Individualismus großgeschrieben wird und nichts so uncool ist wie Herdentrieb. Nur ein Beispiel: Bei der letzten Bundestagswahl machten ähnlich viele Erstwähler:innen ihr Kreuz bei der FDP (23 Prozent) wie bei den Grünen (21 Prozent). Das heißt, unter 18jährigen sind konsumfreudige Porsche- und PS-Fans genauso vertreten wie die, die sich auf Durchgangsstraßen festkleben, um die Verkehrswende zu erzwingen. So wie sich in den Achtzigern Rick Astley- und The Cure-Hörer:innen dieselbe Raucherecke auf dem Schulhof teilten. Aber Gemeinsamkeiten unter Millennials gibt es eben doch, quer zur politischen Grundeinstellung. 

Anruf bei Ines Imdahl, Psychologin aus Köln und Gründerin des Rheingold-Salons. Die Sozialforscherin beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Werten und Befindlichkeiten, besonders die junger Frauen. „Anpassung ist die neue Rebellion“, so fasst sie das Lebensgefühl zusammen. Der fundamentale Unterschied zu uns, geboren um 1970: Während wir uns nach Entgrenzung gesehnt haben, Rausch, Ekstase, ob beim Interrail-Trip oder auf der Technoparty, hat sich bei den heute 20jährigen Ernüchterung breit gemacht. „Mama, Papa, Krise – so sind sie aufgewachsen“, sagt Imdahl. Klimastreik, Corona-Daueralarm, die fragmentierte, überdrehte Welt zwischen TikTok-Clip und Fast Fashion, als jüngstes Drama der Krieg in der Ukraine. Da ist die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit verständlich. War das ikonische Bild unserer Jugend die berstende Mauer aus Pink Floyds „The Wall“, sind es heute Insta-Posts unter dem Hashtag #cottagecore: Feldsteinmauer, Kletterrosen, Milchkanne. Nicht „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sondern die Suche nach heilen Orten. Selbst unter Berufsanfängern vor der Familienphase sinkt die Lust auf die Altbauwohnung im Szeneviertel und steigt die aufs Häuschen mit alten Apfelbäumen im Garten. 

Das kann man für spießig und biedermeierlich halten. Oder für eine ziemlich gesunde Reaktion auf eine ziemlich kranke Welt. Von Menschen, die in der Lage sind, sich besser zu schützen als wir. Sicher nicht zuletzt eine Erziehungsfrage. Unsere eigene Elterngeneration war zwar wohlmeinend, trug aber die Härte und Strenge der Kriegs- und Nachkriegszeit noch in den Knochen. Konformitätsdruck, Leistungsanspruch, so sind wir aufgewachsen. Unseren Kindern haben wir vielfach andere Werte mitgegeben. Kenn deine Grenzen, sag nein, deine Bedürfnisse sind wichtig. Das sorgt hier und da für Irritation. Kein Wunder, dass vor allem die sprichwörtlichen Alten, Weißen Männer den heutigen Berufsanfänger:innen das Label „Generation Schneeflocke“ verpassen. Weil diese weniger druckempfindlich, weniger leidensfähig sind. Das mag ein Problem für Chef:innen sein, ist aber auch ganz schön clever: Wer mit 25 auf sich achtet, braucht mit 45 eher keine Burnout-Klinik. Zu Ende gedacht, ist diese Haltung alles andere als angepasst. Sondern eine ziemlich radikale Forderung nach einer menschenfreundlicheren Arbeitswelt. 

Je mehr ich über das Thema nachdenke, desto klarer wird mir: Hinter der netten, sensiblen Fassade brennt jede Menge revolutionäres Feuer. Da wachsen Menschen nach, die vieles hinterfragen, bis zu unserem Konzept von Körper, Liebe, Familie. Nicht, dass gleich alle polyamor werden oder ihr Geburtsgeschlecht anzweifeln. Aber wenn in Studien sieben bis 15 Prozent aller befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeben, nicht rein heterosexuell zu sein oder nicht ausschließlich weiblich oder männlich, dann sind das ganz schön viele, ganz schön mutige Menschen auf der Suche nach sich selbst. Auch Beziehungen werden neu vermessen. In der preisgekrönten Young Adult-Serie „Druck“ (auf YouTube) zählt die verlässliche Clique mehr als wechselnde Knutsch- und Sexaffären. Deutlich anders als zu unserer Teeniezeit, als Mädchen die Suche nach „dem Richtigen“ als Lebensziel schon ins Poesiealbum geschrieben wurde. Zwar spielte bereits vor 20 Jahren Frauenfreundschaft eine tragende Rolle in „Sex and the City“, aber der Hauptgewinn war der ewige Traummann Mr. Big. Am Ende waren alle in festen Händen, selbst Sexgöttin Samantha. Ächz, stöhn, gähn. Im aktuellen Nachklapp „And just like that“ (läuft gerade auf Sky) fremdeln Carrie und ihre gealterten Freundinnen mit der woken, genderfluiden Gegenwart, und sind gleichzeitig davon fasziniert. Genau wie ich.

Vielleicht, so kommt es mir vor, tut unsere Nachfolgegeneration eben doch, was junge Leute halt so tun: Sie grenzt sich ab, mit ihrer Art zu lieben, mit ihrer Art zu leben. Nur auf andere Weise als wir. Einfach, weil wir eine ganze Menge Felder schon für uns besetzt haben, die heute nicht mehr zu Rebellion taugen. Wir tragen mit 50 immer noch dieselben Street Style-Klamotten, gehen auf Festivals, wenn die Covid-Zahlen es erlauben, lassen uns von Musiksoftware aktuelle Playlists zusammenstellen. Gut so. Also suchen sich unsere Töchter, Nichten, Kinder von Freunden andere Nischen. Treffen sich auf Discord im Netz statt nachts im Club, folgen online Streamern statt Filmstars, verlangen Hafermilch statt Kuh zum Cappuccino (vorbildlich!) und vegane Festmenüs. Im Extremfall machen sie mit ihren Eltern auf Best Buddys und weigern sich, zu Hause auszuziehen, bis sie 27 sind. An dieser Stelle ein Wort an meine Kinder: Falls ihr so etwas mit mir vorhabt, vergesst es! Rebellieren und mich abgrenzen, wenn mir was nicht passt – das kann ich schon seit über 30 Jahren.

Mit leeren Händen

Möchte eine Frau ein Baby, kann sie Mittel und Wege finden, auch solo. Für Männer bleibt der Kinderwunsch dagegen unerfüllt, wenn ihre Partnerin nicht will oder kann. Und für Singles wird es ganz schwierig. Für ZEIT online habe ich im März 2022 mit einem Mann gesprochen, der nichts so gerne hätte wie ein Kind

Natürlich weiß Michael, dass es in Deutschland illegal wäre, Frauen dafür zu bezahlen, eine Schwangerschaft für ein Paar auszutragen. Erkundigt hat er sich trotzdem, bei einem Unternehmen in den USA und einem in Osteuropa. Er hat dann schnell wieder davon abgesehen, er will ja nichts Kriminelles, niemandem schaden. Er wünscht sich nur so sehr ein Kind. Aber Michael ist 37 Jahre alt und hat kein Kind. Eines Tages hat er im Streit zu seiner Partnerin gesagt: „Was, wenn ich eines Tages vor dir stünde, mit einem Baby? Wenn ich dich einfach vor vollendete Tatsachen stellen würde?“ 

Er hat versucht, sich eine Zukunft ohne Nachwuchs vorzustellen, sagt er, „aber da wird es in meinem Kopf zappenduster.“ Malt er sich ein Leben als Vater aus, hat er dagegen Kino im Kopf: Ausflüge, gemeinsam malen, basteln, Fragen beantworten, die Welt erklären. Schöne, helle Bilder, die heil machen könnten, was er mit sich herumträgt: Erinnerungen an eine schwierige Kindheit, mit einer Mutter, die eines Tages ging und einen Vater, der gebrochen zurückblieb. Er wollte es anders machen. Das wusste er schon mit 13.

Trifft man Michael im Park der kleinen Stadt, in deren Nähe er lebt, ist der erste Eindruck: Da kommt ein freundlicher Mann. Nicht groß, nicht breit, eher leise. Die Worte rollen in weichem Dialekt von seinen Lippen. Seine Sätze beginnt er häufig mit „man“ statt mit „ich“ – gerade dann, wenn es im Gespräch emotional wird. Er könnte gut einer von jenen sein, die zur selben Zeit mit einem Baby im Tragetuch zwischen Krokussen und Schneeglöckchen spazieren gehen oder einem Kleinkind auf dem Laufrad hinterhereilen. Die Rolle würde zu ihm passen. Einmal war er sogar ganz nah dran.

„Nachdem ich meine Lebensgefährtin kennengelernt habe, bin ich immer davon ausgegangen, dass wir eines Tages Kinder haben werden. Sie ist der totale Familienmensch, hat ein inniges Verhältnis zu ihren eigenen Eltern, schon eine Mahlzeit allein ist ihr zuwider.“ Als die Pläne für beide mit Mitte 30 schließlich konkreter wurden, so erzählt Michael es heute, war seine Partnerin sich plötzlich nicht mehr so sicher: Was würde eine Schwangerschaft mit ihrem Körper machen, was die Mutterschaft mit ihren beruflichen Plänen? Am Ende rang sie sich dennoch durch – ein wenig wohl auch ihm zuliebe. Er sagt, er wäre bereit gewesen, alles zu übernehmen: den Großteil der Elternzeit, nachts für das Baby aufstehen. Als 35-Jähriger wollte er Ernst machen mit neuen Rollenverteilungen.

Aber dazu kam es nicht. Statt einer Zeit der Hoffnung und Vorfreude war die Schwangerschaft ein Horrortrip. Zu Beginn litt Michaels Partnerin unter extremer Übelkeit, dann, im vierten Schwangerschaftsmonat, kam das Kind tot zur Welt. „Ich habe noch selten im Leben so geweint“, sagt Michael. Das Nachhausekommen aus dem Krankenhaus fühlte sich an wie eine grausame Parodie auf das, was er sich ausgemalt hatte: statt mit einem lebendigen Baby im Arm mit dem toten, kleinen Körper in einer verschlossenen, herzförmigen Spanschachtel, die sie schließlich dem Bestatter übergaben. Übrig blieben nur eine Geburts- und Sterbeurkunde mit dem Namen, den sie sich für den Jungen ausgesucht hatten, ein winziges Mützchen und ein taubes Gefühl. 

Für seine Trauer, seinen Schmerz, seine inneren Kämpfe war danach nur wenig Platz, so hat Michael es empfunden. „Ich hatte so sehr versucht, für meine Partnerin da zu sein in dieser schweren Zeit. Alles getragen, alles organisiert, mitgedacht, als sie nicht dazu in der Lage war. Aber als es passiert war, fragte kaum jemand danach, wie es mir geht, die Freunde, die Kollegen. Nur danach, wie sie es verarbeitet. Als beträfe mich das gar nicht.“

Es ist ein Paradox. Um ein Kind zu bekommen, braucht es zwei Personen, wenigstens ihre Keimzellen. Doch sobald es um Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Geburt geht, steht der Frauenkörper im Vordergrund. Naheliegend, denn die Gesundheit der Mutter, ihr Wohlergehen und auch Lebensplanung sind noch immer stärker mit einem Kind verknüpft als bei Männern, biologisch wie sozial, ob es einem gefällt oder nicht. Männer können Frauen nicht zwingen, schwanger zu werden oder es zu bleiben. Dafür können sie sich später leichter der Verantwortung entziehen. Frauen können dagegen zumindest beeinflussen, ob, wann und von wem sie ein Baby bekommen. Wenn sie Single sind oder in einer lesbischen Beziehung leben und einen unerfüllten Kinderwunsch haben, können sie die Hilfe einer entsprechenden Klinik in Anspruch nehmen. Männer haben diese Option nicht.

Die größere Ferne zwischen Vater und Kind schlägt sich sogar in der Statistik nieder. Während man recht genau weiß, ob eine Frau Kinder hat und wie viele, sind Erhebungen wie der amtliche Mikrozensus für Männer nur bedingt aussagekräftig. Erhoben wird zwar die Anzahl von minderjährigen Kindern pro Haushalt, nicht aber die familiäre Verbindung zu den Erwachsenen. So fallen Väter durchs Raster, die von ihren Kindern und der Mutter getrennt leben, und Väter, deren Vaterschaft beim Kind nicht eingetragen wurde. Das Berliner Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) geht davon aus, dass etwa jeder fünfte Mann in seinem Leben nicht Vater wird.

Was man genauer kennt, ist die Gefühlslage von Männern, die unfreiwillig kinderlos sind. Sie hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Der einsame Wolf ist out, der Neue Mann trägt Baby. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums, für die zweimal im Abstand von sieben Jahren kinderlose Männer zwischen 20 und 50 befragt wurden, zeigt: 2013 war ein Viertel unfreiwillig ohne Nachwuchs, 2020 ein Drittel. Der Aussage „Kein Kind zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Makel“ stimmten 2020 fast doppelt so viele Befragte zu wie zuvor (39 gegenüber 20 Prozent). Elternschaft prägt inzwischen nicht nur die Identität von Frauen, sondern zunehmend auch von Männern. „Vatersein gehört zum Mannsein dazu“, fanden 2013 50 Prozent der kinderlosen Männer, sieben Jahre später waren es 56 Prozent. 

Bleibt der Nachwuchs aus, kann das bei Männern eine ähnliche Sinnkrise auslösen wie bei Frauen, sagen Ärztinnen und Berater, die Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch helfen. Männer fühlten sich sogar besonders hilflos und litten noch stärker unter der aufgezwungenen Passivität, weil sie sonst gewohnt seien, die Macher zu sein. Zudem fänden Männer zu wenig Ventile für ihren eigenen Kummer. 

So ging es auch Michael. Vor allem, als ihm vergangenes Jahr, wenige Monate nach dem traurigen Ausgang der Schwangerschaft, klar wurde: Das war mehr als ein einmaliger Schicksalsschlag. „Ich saß im Homeoffice, meine Lebensgefährtin auch, und ständig habe ich mit angehört, wie sie zu Kollegen am Telefon sagte: Das war so furchtbar für mich, das will ich nie wieder erleben.“ Michael verzweifelte. „Ich habe irgendwann sogar angefangen, Männer im Bekanntenkreis zu beneiden, die fanden, man habe ihnen ein Kind angehängt. Die bekommen etwas geschenkt, das sie gar nicht wollten, – und ich kann nichts tun, um mir diesen Wunsch zu erfüllen.“

Es war auch der Anfang vom Ende der Partnerschaft. Michael sagt, er habe seine Partnerin stützen, auffangen, ermutigen wollen, aber eben auch selbst eine Perspektive gebraucht. Sie hingegen habe jeden Vorschlag für eine weitere Familienplanung als Druck empfunden, nicht nur die abwegige Idee von der Leihmutterschaft. „Sie hat mir vorgeworfen, es ginge mir gar nicht um sie. Sie fühlte sich von mir behandelt, als wäre ihr Körper eine Maschine, die nur repariert werden muss, um bereit zu sein für die nächste Schwangerschaft.“ Hat er niemals überlegt, seiner Partnerin zuliebe die eigenen Lebensziele zu überdenken? „Ja, aber es führte nirgends hin”, sagt Michael. Er ist nicht religiös, ein naturwissenschaftlich denkender Techniker, aber trotzdem fand er auf einmal die Vorstellung von Seelenwanderung plausibel. Vielleicht würde sich sein Kind einen anderen Körper suchen. Neu anfangen. Zurückkommen.

Die Geschichte von Michael und seiner Partnerin hat kein Happy End, vielleicht noch nicht einmal ein Ende, allenfalls ein vorläufiges. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen haben die Beziehung zerstört, im Streit ist die Liebe auf der Strecke geblieben. „Ich habe den Eindruck, es gibt dabei nur Verlierer. Sie ist traurig, ich bin traurig. Ich frage mich: Habe ich sie im Stich gelassen? Sie mich? Wir uns gegenseitig?“ Einfach loszuziehen und sich eine andere Partnerin zu suchen, wie es ihm manche leichthin raten, ist für Michael keine Option. Eine gemeinsame Geschichte wische man nicht einfach so weg.

Der unfreiwillig Kinderlose ist heute 37. Er könnte sich also mit seinem Kinderwunsch noch Zeit lassen, jedenfalls mehr als eine Frau im gleichen Alter. Noch so eine Unwucht zwischen den Geschlechtern. Aber die Biologie ist das eine, die Psyche das andere. Michael tröstet der Gedanke wenig, dass er vielleicht noch in zwanzig Jahren zeugungsfähig ist. „Selbst wenn ich von heute auf morgen jemanden kennenlernen würde – das dauert ja, bis man sich einig ist, ob man wirklich ein Kind haben will. Und was sollte ich mit einer 25-Jährigen, die völlig andere Interessen und Lebensvorstellungen hat?“

Seine Psychotherapeutin hat ihm geraten, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihm schon früher Freude bereitet haben. Damit er nicht in ein so tiefes Loch falle. Jetzt, wo der Frühling kommt, ist er viel draußen in der Natur, und zu Hause hat er sich eine Ecke für Modellbau eingerichtet. Dort bemalt er kleine Spielfiguren, grundiert sie, verziert sie mit feinen Pinseln. Er hat kein Kind, dem er zeigen könnte, wie das geht. Nur das Kind in ihm darf wieder einmal spielen. Das muss fürs erste reichen.

Sei kein Held

Bis zum 24. Februar 22 habe ich in einer Welt gelebt, in der Jungen weinen dürfen und pinke Tüllröcke tragen. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist das militärische Denken zurück, und als Mutter eines Sohnes frage ich mich: Kann Feigheit uns retten? Darüber habe ich für das Sinn-Ressort der ZEIT einen Text geschrieben, der in leichter redaktioneller Bearbeitung erschienen ist wie unten

Nun überschlagen sich die Ereignisse, dort wie hier. Wie ein Schneeball, der auf dem Weg den Hang hinab Fahrt aufnimmt, Volumen gewinnt und schließlich alles überrollt. In Kiew und Charkiw sind es die Menschen, ihr Leben, ihre Freiheitsrechte, die davon erstickt werden. In Berlin und Hamburg ersticken wir nur die Zweifel, das Unbehagen, die Widerrede. Von einem Tag auf den anderen befürworten wir mehrheitlich Milliardenpakete für die Bundeswehr, Waffenlieferungen, Unterstützung. Wir fühlen uns auf der richtigen, der gerechten Seite, und die Angst legt mir ihre kalten Finger in den Nacken. Was wird das für meinen Sohn bedeuten, nicht heute, aber vielleicht eines Tages, wenn das nur der Anfang einer neuen, unkontrollierbaren Kriegszeit ist? Was wäre schlimmer, demokratische Werte zu verlieren, Freiheit, Wohlstand – oder ein Kind? Was ist ein Leben wert? 

Darüber denke ich nach, eine Woche nach Putins Überfall, und schäme mich dafür. Ukrainische Eltern würde mit Handkuss meine theoretischen Überlegungen gegen ihre konkrete Angst tauschen. In Deutschland sitzen wir warm und trocken. Keiner, der uns auffordert, Molotowcocktails zu bauen und Schützengräben auszuheben. Dort kämpft nicht nur die Armee, auch männliche Zivilisten zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht mehr das Land verlassen, weil sie zur Verteidigung gebraucht werden. Ich kann verstehen, was sie treibt, ich bewundere ihren Mut. Und frage mich gleichzeitig: Hätte ich ein Sohn in Kiew oder Charkiw, würde ich ihm raten, sich einem übermächtigen Angreifer entgegenzustellen? Oder sagen: Renn weg, versteck dich, rette dich? Ich kann auf alles verzichten, Wohlstand, Freiheit, aber nicht auf dich? 

Mein Junge ist bald 14. Drei Jahre nach seiner Geburt hat Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr zur reinen Berufsarmee umgestaltet. Das war für mich ein Signal: Ob jemand bereit ist, den Kopf hinzuhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben, auch bereit sein, zu töten, das ist von nun an eine kühle Entscheidung. Keine staatsbürgerliche Pflicht mehr, der man sich nur aus Gründen der individuellen Moral entziehen kann. Doch nach dem Angriff auf die Ukraine hat es nur etwas mehr als 48 Stunden gedauert, bis die ersten Forderungen kamen, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Jedenfalls in Form einer allgemeinen Dienstpflicht, die auch zivile Bereiche umfasst. Fürsprecher sitzen nicht nur im Reservistenverband, auch der niedersächsische CDU-Chef Bernd Althusmann gehört dazu und der SPD-Sicherheitsexperte Wolfgang Hellmich. Drei Tage nach Kriegsbeginn fragte sich gar der Historiker Karl Schlögel im Talk bei Anne Will, warum junge Europäer nicht freiwillig an der Seite der Ukraine in den Kampf ziehen wie einst Hemingway in den Spanischen Bürgerkrieg. 

Wenn ich das höre, denke ich an meinen Sohn, wie er einen Volleyballaufschlag macht, Eintopf aus seinem „Herr der Ringe“-Kochbuch zubereitet, seinen Fischen im Aquarium Namen gibt, und mir wird schlecht. Er gehört zu einer Generation, die von der Krippe an gelernt hat, dass man Streit mit Worten regelt, nicht schlägt, nicht beißt, nicht haut. In der Jungen weinen dürfen, zärtlich sein und sogar pinke Tüllröcke anziehen. Gegner existieren nur auf dem Sportplatz, nach dem Match gibt man sich High Five. Sollen wir sie nun mit den Kindheitsidealen ihrer Großväter anfüttern, der Todesverachtung, der Tapferkeit, nur, weil es einer gerechten Sache dient? Ist nicht es nicht gerade dieses Männerbild, das in seiner extremen Form Wladimir Putin verkörpert, hart, herzlos, homophob? Wenn wir wieder militärisch denken, verlieren wir dann nicht zu viel von dem, was uns ausmacht – und geben damit denen recht, die alte Heldenbilder nicht vom Sockel stoßen, sondern als neue Rollenvorbilder aufstellen wollen?

In meiner Familie ist oft die Geschichte erzählt worden, wie meine Großmutter ihren Sohn davon abgehalten hat, den Helden zu spielen. Im Frühjahr 45 kam er eines Tages von der Schule nach Hause und erzählte, sie hätten mit der Panzerfaust geübt. Sie verließ mit ihm Hals über Kopf den Ort, damit er nicht aus dem Klassenzimmer heraus rekrutiert wurde. Sie stand auf der richtigen Seite der Geschichte, und sie wusste es. Der 15jährige, mein späterer Onkel, hätte für ein mörderisches Regime sterben können, das schon verloren hatte, dabei andere verletzen oder töten. Die Definition von Sinnlosigkeit. Der innere Widerspruch ist mir klar: Für ihn hat sie sich stark gemacht, für die Schwächeren nicht. Keine jüdische Familie versteckt, sich und ihre Nächsten nicht für andere in Gefahr gebracht. Warum sie nicht im Widerstand war, habe ich sie einmal gefragt. Was glaubst denn du?, hat sie gesagt, ich hatte drei Kinder. Das war vielleicht nur die halbe Wahrheit, aber wer wäre ich, ihr das vorzuwerfen? 

Alternativloser Pazifismus ist schön, bequem, aber auch denkfaul. An diesem Widerspruch arbeite ich mich ab. Ich will, dass meine Kinder frei wählen, frei lieben, frei denken dürfen, und ertrage gleichzeitig den Gedanken nicht, eines von beiden könnte sich dafür opfern. Dann wieder überlege ich: Was, wenn wir alle empfindsame Weicheier wären, weltweit? Wäre das nicht auf Dauer hilfreicher als eine neue Spirale von Verteidigungsbereitschaft, Gewalt, Eskalation? Es berührt mich, wenn russische Bekannte sich beschämt äußern über ihre autokratische Regierung. Wenn ich vom Komitee der Soldatenmütter in Moskau lese, einer Menschenrechtsorganisation, die sich bereits seit dem Afghanistan-Krieg vor 40 Jahren um Missstände in der russischen Armee kümmert. Eltern wenden sich an sie, die ihre Söhne vor der Einberufung schützen wollen. Die Vorsitzende Valentina Melnikowa hat am sechsten Tag des Ukrainekrieges eine Feuerpause gefordert, damit es zumindest einen Austausch von Toten und Gefangenen geben kann. „We share the same biology, regardless of ideology“, sang Sting 1984, in seinem Song „Russians“ – biologisch sind wir gleich, auch wenn wir unterschiedlich denken. Das war im Kalten Krieg, zu meiner eigenen Teenagerzeit. Wir sind alle auf gleiche Weise verletzlich und hängen an unserem kurzen und unbedeutenden Leben. Das zu wissen, könnte ein Anfang sein.

„Vergeben bedeutet, dass ich aufhöre, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“

Selten mussten wir mehr einstecken als im letzten Jahr. Das Virus hat Familien, Freunde und Paare vor riesige Herausforderungen gestellt und Gräben aufgerissen. Wenn wir die wieder zuschütten wollen, müssen wir verzeihen. Aber das passiert nicht einfach, sondern es ist eine Entscheidung – ein Essay aus der BRIGITTE, Heft 1/22

Als ich sie das letzte Mal zusammen sah, vor etwas über einem Jahr, da wirkten sie ziemlich zufrieden und erstaunlich aufgekratzt. Dabei hatte ich sie insgeheim immer ein wenig spießig gefunden: früh geheiratet, nie weggezogen vom eigenen Geburtsort, jung Eltern geworden. Jetzt waren sie Mitte 40, und es sah aus, als würden sie im demnächst leeren Nest nochmal so richtig aufdrehen. Reisepläne für die Zeit nach Corona standen im Raum, sogar ein Umzug. Aber während meine frühere Kollegin Katja sich auf den neuen Lebensabschnitt freute, hatte ihr Mann Philipp schon mit einem befreundeten Anwalt durchkalkuliert, ob er sich eine Trennung leisten konnte. Nicht, dass er ihr davon erzählt hätte – die säuberlich gefaltete Kostenaufstellung fand sie zufällig in seiner Hosentasche, ehe sie seine Jeans in die Wäschetrommel steckte. 

Kürzlich traf ich Katja wieder. Philipp lebte jetzt mit einer anderen Frau zusammen, und seinen Wunsch, man könnte doch trotzdem gelegentlich mal telefonieren oder ins Kino gehen, lehnte Katja ab. Trotzdem wirkte sie nicht voller Groll. „Ich kann und will nicht mit einem Mann befreundet sein, mit dem ich fast 20 Jahre verheiratet war“, sagte sie. „Das heißt aber nicht, dass ich ihm nicht verzeihen kann.“

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“ – das lässig hingeworfene Bonmot unseres Ex-Gesundheitsministers von 2020 ist aktueller denn je, in vielerlei Hinsicht. Auch wenn die Scheidungs-Statistiken noch kein klares Bild ergeben, erleben viele im Privaten, wie das Dauerkrisengefühl Beziehungen brüchig macht, gnadenlos Schwachstellen aufzeigt. Und auch sonst sind krasse Fronten entstanden, teils quer durch Freundeskreise, Familien, Arbeitsteams. Wo Shitstorms sich im Stundentakt abwechseln und die verbalen Waffen gefährlich locker sitzen, stehen viele vor der Frage: Wie machen wir Frieden, mit Einzelnen, die uns enttäuscht haben, mit der Politik, mit Andersdenkenden in der Impf-Frage? Und natürlich können uns auch ganz ohne Pandemie alter Groll und unverheilte Wunden zusetzen.

Die Kunst, Verletzungen zu verarbeiten und hinter sich zu lassen, lernt man nicht von selbst. Aber sie wächst mit der Lebenserfahrung, glaubt die „Spiegel“-Journalistin und Autorin Susanne Beyer. In ihrem aktuellen Buch* über eine neue, selbstbewusste Frauengeneration ab Anfang 40 hat sie ein ganzes Kapitel der „Kunst der Vergebung“ gewidmet. Und das Thema liegt wie eine Hintergrundmusik unter vielen ihrer Frauenporträts. „Es war für mich ein Aha-Erlebnis, zu sehen: Verzeihen können, verzeihen wollen, das verbindet viele Menschen, die sich als glücklich bezeichnen. Es geht um eine Lebenshaltung: Ein zufriedenes Leben zu führen, ist nicht nur ein Geschenk, auch eine bewusste Entscheidung“, sagt Susanne Beyer. Das klingt philosophisch, aber schon in Alltagsgesprächen merkt man meist schnell, zu welchem Team jemand gehört, Team „Verzeihung“ oder Team „Rache“: Ist er oder sie einer von denen, die nie zufrieden sind und immer sofort einen Schuldigen dafür benennen können? Die narzisstische Mutter oder den toxischen Ex fürs mangelnde Selbstbewusstsein, den Turbokapitalismus oder die fiese Chefin für die stockende Karriere? Oder kann er oder sie schlechte Erfahrungen ohne Bitterkeit hinter sich lassen, Tiefschläge als Lektion sehen und sich eher als Gestalter*in denn als Opfer betrachten – auch, wenn die Welt es nicht immer gut meint?

Beim Verzeihen geht es nicht um übermenschliche Milde oder gar Konfliktscheu. Sondern um einen souveränen Akt der Großzügigkeit. Ein Geschenk, das wir uns selbst machen können. „Verzeihen erweitert die Selbstbehauptung“, sagt Susanne Beyer, „es bedeutet: Der andere hat keine Macht mehr über mich.“ Eine Längsschnittstudie der Virginia Commonwealth und der Harvard Universität von 2020 belegt eindrucksvoll die wohltuende Wirkung auf Körper und Seele. Dabei wurden Antworten auf Fragen nach dem psychischen Befinden und Gesundheitsdaten von über 50.000 Befragten über 30 Jahre darauf hin untersucht, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Groll und Gesundheitsproblemen. Die Studie ergab eindeutig, dass Menschen mit höherer Bereitschaft zu Verzeihen seltener unter Depressionen und Angststörungen litten und sich insgesamt besser fühlten. Und ein anderer Datenabgleich, durchgeführt von einem südkoreanisch-amerikanischen Forschungsteam, legt sogar einen Zusammenhang nah zwischen unverarbeiteten Kränkungen und Autoimmunkrankheiten, Bluthochdruck und anderen weit verbreiteten Diagnosen. Dem folgt ein Therapieansatz, der vor einigen Jahren in den USA aufkam. In der „forgiveness therapy“ – also der „Vergebungs-Therapie“- lernen Opfer traumatischer Erfahrungen, anders mit ihrer Geschichte umzugehen. 

Klingt nach einer Lektion, die es sich zu lernen lohnt – auch wenn es nicht leicht fällt. Denn es geht ja nicht um ein lässiges „Schwamm drüber“, nicht um vergessen und verdrängen. Im Gegenteil, sagt Melanie Wolfers, Autorin, Theologin und Philosophin, die in den letzten Jahren bereits mehrere Bücher zum Thema geschrieben hat*: Wer wirklich verzeihen lernen möchte, gerade da, wo’s ans Eingemachte geht, muss erstmal zurück auf Los, dahin, wo es wehtut. „Im Schlamassel ankommen, die eigenen Gefühle erkennen und benennen: Scham, Angst, Ohnmacht, Wut. Eine Sprache dafür finden, etwa, indem man die Empfindungen aufschreibt oder mit Unbeteiligten darüber spricht“, das ist für Wolfers der erste Schritt. Der zweite ergibt sich daraus: Durch die Selbstreflexion einen Schritt von der eigenen Betroffenheit zurücktreten, Gefühle anders einordnen, schließlich der Perspektivwechsel. Warum hat die Gegenseite sich so verhalten, was war vielleicht mein eigener Anteil daran, etwa beim Ende einer Liebesbeziehung? Am Ende der bewusste Entschluss: Ich möchte die Sache hinter mir lassen. „Vergeben bedeutet, dass ich aufhöre, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“, bringt Melanie Wolfers das paradoxe Wesen der Unversöhnlichkeit auf den Punkt. „Denn wer nachträgt, trägt schwer.“ Stattdessen geht es darum, die eigene Geschichte anders weiterzuschreiben. Und dadurch inneren Frieden zu finden. 

Klar, das klappt nicht immer mit derselben Geschwindigkeit – eine verletzende Bemerkung im Netz lässt sich vielleicht in ein paar Stunden verarbeiten, um über den Vertrauensbruch eines langjährigen Lebenspartners hinweg zu kommen, kann es Monate oder sogar Jahre brauchen. Aber im Prinzip gilt die heilsame Reiseroute für alle Konflikte. Sogar, wenn die Vorwürfe nicht anderen gelten, sondern wir uns selbst mit Schuldgefühlen martern. Uns übelnehmen, dass wir unsere Kinder in Homeschoolingzeiten zu oft angeschrien haben, zu wenig Zivilcourage gezeigt, uns zum Horst gemacht haben vor anderen. „Viele Menschen sind emotional wohlwollender mit anderen als mit sich selbst“, hat Melanie Wolfers festgestellt. „Wenn ich mir selbst verzeihe, akzeptiere ich mich damit als unperfekten Menschen.“

Sich selbst und anderen zu vergeben, ist eine Sache – Versöhnung eine ganz andere. Und das eine zieht das andere nicht automatisch nach sich, als wären wir in einer Ausgabe der Neunziger-Spielshow „Verzeih mir!“ Manchmal, weil es gar nicht möglich ist – etwa, weil die alte Wut einem bereits verstorbenen Elternteil gilt – , manchmal, weil sich äußere Wege längst getrennt haben, etwa nach einer gescheiterten Liebe. „Es kann auch stimmig sein, den Kontakt zu einer Person abzubrechen, von der ich mich verletzt fühle“, sagt Melanie Wolfers. „Entscheidend ist, dass ich mich innerlich nicht im Groll gegen sie verbeiße.“ Verzeihung ohne Versöhnung ist also durchaus möglich – nicht aber Versöhnung ohne die grundsätzliche Bereitschaft, zu verzeihen. Unabhängig davon, ob der oder die Schuldige sich mit einem schlechten Gewissen quält oder im Gegenteil findet, er habe sich gar nichts vorzuwerfen. Etwa die Freundin, die gar nicht verstehen kann, warum ich übel nehme, wenn sie im Kollegenkreis privates von mir weitererzählt  – Kündigungspläne, ein Erbschaftsstreit. So stehen lassen oder ansprechen? Mut gehört in jedem Fall dazu: Erst, sich dem eigenen Schmerz, der eigenen Enttäuschung zu stellen, erst recht aber, das Gespräch zu suchen. Tun oder lassen? Da hilft nur, die Risiken gegeneinander abzuwägen: Was ist besser zu ertragen, der ungeklärte Konflikt, oder dass es möglicherweise nochmal laut wird zwischen uns? Und bin ich bereit, die Perspektive zu wechseln und die andere Seite zu sehen?

Allerdings hat beides Grenzen, das Verzeihenkönnen ebenso wie die Versöhnung. Was für die eine gut abzuhaken ist, ist für die andere eine bittere Pille, die sich beim besten Willen nicht schlucken lässt – vom „like“ meiner Freundin für einen Beitrag aus einer politischen Richtung, die ich für gefährlich halte, bis zu dem nagenden Gefühl, dass die eigenen Eltern immer die Schwester, den Bruder vorgezogen haben. Oder wenn der Partner mit einer anderen schläft, obwohl man sich doch Treue versprochen hatte. Wo die Grenze des Verzeihbaren liegt, ist individuell, schließlich haben wir alle ein unterschiedlich dickes Fell. „Sicher ist: Wir werden alle mit Kränkungen sterben, die nicht verheilt sind“, sagt Melanie Wolfers. „Entscheidend ist, sich immer wieder auf den Weg zu machen. Nicht steckenzubleiben in der Opferrolle.“ 

Auch meine Bekannte Katja hat das so gemacht. Sie ist nicht mehr die Alte, nicht die Frau mit dem unerschütterlichen Vertrauen ins Leben, die sich unbeschwert auf die nächste Etappe freute. Aber auch das gehört zum Älterwerden, zum Wachstum, so sieht sie das heute: „Wir haben alle unsere Päckchen, die sich nicht einfach ablegen lassen. Dafür muss man innerlich Platz schaffen. Das ist jetzt ein Teil von mir, ich kann damit leben, ohne dass es mich beherrscht.“ Sie hat getrauert, weil der Mann, den sie geliebt hat, nicht mehr da ist. Es wohl schon lange nicht mehr war, ohne dass sie es wahrhaben wollte. Der Schmerz ist nicht völlig weg, aber sie hat dabei jemanden kennen gelernt. Eine neue Katja, die keine Lust mehr hat, einem anderen die Hosen zu waschen. Oder am Mittelmeer Urlaub zu machen, obwohl sie’s lieber kühler mag. Für diese neue Bekanntschaft nimmt sie sich jetzt viel Zeit.

Zum Weiterlesen: 

Susanne Beyer, „Die Glücklichen – warum Frauen in der Lebensmitte so großartig sind“, Blessing, 22 € – 18 Porträts von Frauen zwischen Anfang 40 und Anfang 70, aus Kunst und Kultur, Mode und Sport, aber auch in bodenständigen Jobs und mit ungewöhnlichen Lebensentwürfen. Ein Blick auf das selbstbewusste Lebensgefühl einer neuen Frauengeneration

Melanie Wolfers, „Die Kraft des Vergebens“, Herder, Taschenbuch 14 € und „Freunde fürs Leben – die Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein“, adeo, 16,99 €: Von einem zum anderen Buch spinnt die Bestsellerautorin ihre Gedanken zu Selbstliebe und der positiven Wirkung von Großherzigkeit gegenüber unseren Mitmenschen. Auch in ihrem Podcast „ganz schön mutig“ widmet sie sich immer wieder dem Thema Verzeihenkönnen (abzurufen unter melaniewolfers.de)