„Jede Mutter hält ihr Kind für ein unschuldiges Lamm – keine fragt sich, ob es der Wolf ist“

Was ist schlimmer für Eltern: Wenn das eigene Kind zum Opfer wird oder zum Täter? Und macht Liebe blind für die Schattenseiten derer, die uns nahe stehen? Die israelische Psychotherapeutin und Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen stellt unbequeme Fragenich durfte sie für ZEIT online interviewen

Alle Eltern kennen die Angst, jemand könnte ihrem Kind etwas antun – von Ausgrenzung in der Schule bis zu Gewaltverbrechen. Für die Hauptfigur Ihres neuen Romans, eine israelische Mutter in Kalifornien, kippt diese Angst ins Gegenteil, als sie sich fragen muss, ob ihr Teenagersohn einen Mitschüler getötet hat. Was hat Sie an diesem Setting gereizt?

Als Autorin und Psychologin habe ich die Möglichkeit, Abgründe auszuloten, vor denen meine Figuren zurückscheuen. Aber auch persönliche Schlüsselmomente haben mich auf das Thema gebracht. Am ersten Kindergartentag meiner kleinen Tochter habe ich mich nervös gefragt: Was tun die anderen Kinder ihr möglicherweise an, wenn ich sie nicht mehr den ganzen Tag beschützen kann? Bis mir klar wurde: Mit mir stehen hier noch 20 andere Mütter, besorgt und mit Herzklopfen, in der Überzeugung, dass ihre eigenen Kinder unschuldige Lämmer sind, die in einen Wald voller Wölfe geschickt werden. Und keine fragt sich: Moment – könnte es sein, dass mein Kind selbst der Wolf ist? 

Aber brauchen Kinder nicht auch diesen verklärten Blick, das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden?

Klar. Als Eltern sehen wir unsere Kinder im besten Licht, das ist unser Job. Wir nehmen an, dass niemand sie so lieben kann wie wir, mit Recht. Aber das bedeutet auch, dass wir blind sind für manche ihrer Seiten. Auch, weil es unser Selbstbild stört.

Das Kind als kostbarer Besitz, als Objekt elterlicher Allmachtsphantasien?

Manche präsentieren ihre Kinder wir einen Leistungsnachweis: das Beste, das mir je gelungen ist! Mich macht das misstrauisch. Wenn eine Mutter sagt: „Mein Kind würde nie etwas Böses tun“, dann ist das wichtigste Wort in diesem Satz das Possessivpronomen: „mein“. Etwas, das aus mir entstanden ist, ist über jeden Zweifel erhaben. Dieser Narzissmus bringt ein bestimmtes Selbstverständnis mit sich: ich mache mich zur Anwältin meines Kindes in seiner Auseinandersetzung mit der Welt, unabhängig davon, wer im Recht ist, egal, ob es um Schulnoten geht oder um Konflikte mit anderen Kindern.

Als die Mutter in Ihrem Roman herausfindet, dass ihr Sohn ein Verbrechen begangen haben könnte, will sie es nicht wahrhaben, verdrängt es, hat Angst, ihn zu konfrontieren. Mord ist natürlich ein extremes Beispiel, aber vielleicht verhalten sich die eigenen Kinder aggressiv, verbal oder körperlich. Was wäre Ihr Rat als Psychotherapeutin: Wie können wir mit unseren Kindern ins Gespräch kommen, damit sie lernen, besser mit solchen Impulsen umzugehen?

Mein Rat wäre: Nicht wegsehen, nicht kleinreden, sondern versuchen, die Motivation des Kindes zu verstehen. Verstehen heißt aber nicht akzeptieren. Wir müssen ganz klar machen, dass sein Verhalten falsch war, dass es bessere Wege der Konfliktlösung gibt, sollten aber Kinder nicht für ihr Verhalten bestrafen. Denn Strafe führt nur zu Groll und Wut, und wir möchten ja ein zarteres Gefühl auslösen – Bedauern. Deshalb sollten wir dem Kind vor allem vermitteln: Ich glaube, dass du es beim nächsten Mal besser machen kannst. Du bist nicht böse, du hast etwas Böses getan, und du kannst es ändern.

Wahrscheinlich kommen viele Eltern gar nicht an diesen Punkt, weil sie so mit ihrer Angst beschäftigt sind, ihr Kind könnte selbst unter anderen leiden. Sie sagen, bei der Recherche für Ihren Roman haben ihnen einige erzählt: Wenn ich mich entscheiden müsste, ob mein Kind gemobbt wird oder andere mobbt, dann lieber zweiteres. Können Sie das nachvollziehen?

Ich hatte diese Diskussion sogar mit meinem eigenen Partner. Wie viele andere Eltern hat er gesagt: Natürlich möchte ich weder das eine noch das andere, aber im Zweifelsfall wünsche ich mir vor allem, dass mein Kind möglichst wenige Narben davonträgt, psychisch wie körperlich. Wenn es aggressiv ist gegen andere, kann ich es dazu bringen, sein Verhalten zu ändern, und es kann bereuen, was es getan hat – aber Opfer bleibt man ein Leben lang.

Ist das vielleicht eine spezifisch israelisch-jüdischen Erfahrung, eine Urangst: Alles, nur nie wieder Opfer sein?

Das dachte ich auch, als ich mich zuerst mit dem Thema beschäftigte. Der Holocaust ist unser kollektives Trauma, die Angst, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt zu werden. Ich kann mich gut erinnern, als ich ein kleines Mädchen war und wir im ersten Golfkrieg einen Angriff aus dem Irak befürchteten, dass mein Großvater verbittert sagte: Ich hätte niemals gedacht, dass ich noch einmal erlebe, wie jüdische Kinder Angst haben müssen vor Gas. Er wäre lieber in den Krieg gezogen und sogar gestorben, als passiv in einem Schutzraum zu sitzen und nichts tun zu können. Aus diesem unerträglichen Gefühl von Hilflosigkeit erwächst eine Art israelische Macho-Mentalität: Lieber jetzt Stärke zeigen und es später bereuen als umgekehrt. Aber auch in anderen Ländern reagierten Eltern ähnlich auf meine Frage nach ihren Kindern, etwa in Deutschland oder der Schweiz. Ich glaube, es hat mit wachsendem Individualismus zu tun. Mit der globalen Feelgood-Diktatur.

Was meinen Sie damit?

Zufriedenheit und Selbstwertgefühl des Einzelnen stehen ganz oben auf der Agenda, über allem anderen, in weiten Teilen der Welt. Googeln Sie mal Artikel zum Thema „Wie stärke ich das Selbstbewusstsein meines Kindes“ und zum Thema „Wie erziehe ich mein Kind zu einem guten Menschen“ – jede Wette, dass sie beim ersten Begriff deutlich mehr finden?

Dabei spricht ja erstmal nicht dagegen, zu sagen: Hauptsache, meinem Kind geht es gut und es ist glücklich.

Vor zwei, drei Generationen noch ging es Eltern weniger um Wohlbefinden als um Moral, um Sinn, ständig beurteilten sie das Benehmen ihres Kindes: Wird aus ihm ein guter Christ, ein guter Kibuzznik, ein guter Kommunist? Natürlich ist es ein Segen, dass diese starren Systeme heute nicht mehr in der Form existieren, dass gesellschaftliche Zwänge und Schuldgefühle uns nicht mehr die Luft abschnüren. Aber manchmal scheint mir, wir haben das Konzept von Schuld komplett über Bord geworfen, und das besorgt mich. Als Konsequenz daraus biegen wir als Eltern die Welt so zurecht, dass unser Kind sich nicht wehtun kann, und übersehen dabei andere.

Macht es das Leben nicht auch aus, dass es nicht immer diese klaren Fronten gibt, hier Täter, da Opfer?

Genau da wird es interessant. Denn wenn wir uns ein neugeborenes Kind anschauen, und zu welcher Grausamkeit Menschen später im Leben fähig sind, dann fragen wir uns doch: Was ist schiefgelaufen auf dem Weg dahin? Niemand wird als Mörder geboren, als Nazi, als Faschist. Wenn wir uns nicht nur fragen, was unserem Kind geschehen könnte, sondern auch, wozu es fähig sein könnte, dass es Potenzial in sich trägt zu Gutem wie zu Bösen, wäre das ein großer erster Schritt, um Gewalt zu verhindern. Persönlich, zwischen Kindern, in der Schule, aber auch Gewalt zwischen Gruppen oder Nationen. Ich weiß noch, wie ich nach der Geburt meiner Tochter ihre winzigen Fingerchen betrachtete, und plötzlich so einen Gedanken hatte: Was wird sie damit alles tun, vielleicht schreiben, vielleicht Klavier spielen – oder den Abzug einer Waffe betätigen? 

Aber warum ist es so schwer, sich den eigenen Abgründen zu stellen, und denen unserer Nächsten?

Weil uns die Vorstellung Sicherheit gibt: Das Böse ist irgendwo da draußen, hier drin, von mir und meiner Familie habe ich nichts zu befürchten. Wenn das Böse uns aber von außen bedroht, können wir es auch gemeinsam bekämpfen, können uns dabei auf der richtigen Seite fühlen, stark, wie in einem Thriller auf Netflix. Wenn wir merken, dass diese Sicherheit trügerisch ist, dann wird es dagegen unheimlich. Aber es wäre hilfreich, anzuerkennen: Das Monster ist nicht draußen, jenseits der Burgmauern, nicht hinter der Staatsgrenze, es ist nicht einmal in unserem Gegenüber, sondern in uns selbst. Deshalb ist es auch so wichtig, schon Kindern beizubringen, sich bei Konflikten in den anderen hineinzuversetzen: Wie würdest du dich fühlen, wenn das andere Kind dich ausgelacht oder gehauen hätte?

Heißt es auch, Verantwortung für unsere aggressiven Impulse zu übernehmen? 

Verantwortung ist ein wichtiges Stichwort. In der Psychologie neigen wir manchmal dazu, vor lauter Verständnis für den Aggressor seine Taten zu rechtfertigen. Auf einer persönlichen Ebene, aber auch auf einer gesellschaftlichen. Nehmen wir den ersten Mord der biblischen Geschichte: Kain tötet seinen Bruder Abel, weil er so eifersüchtig ist, dass Gottvater dessen Opfergabe seiner vorgezogen hat…

…und deshalb ist Gott der wahre Schuldige in der Geschichte?

Eben nicht, das wäre zu einfach. Als Therapeutin würde ich zu Kain sagen: Ja, du hast ein Recht dazu, traurig und wütend zu sein, dich zu beklagen, weil Gott deinen Bruder vorzieht – aber das gibt dir noch nicht das Recht, ihn umzubringen. Und die Schuld dafür auf deinen Vater abzuwälzen. Das gilt genau so, wenn argumentiert wird: Oh, Hitler war so eine charismatische Persönlichkeit, klar, dass die Deutschen ihm gefolgt sind, sie konnten nicht anders. Diese Sichtweise ist fatalistisch, dann können wir auch gleich sagen: C’est la vie, das kulturelle Klima ist an allem Übel Schuld, das Bildungssystem, die Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir uns mit unseren eigenen negativen Gefühlen, Wut und Kränkungen auseinandersetzen, verstehen, woher sie kommen. Aber am Ende müssen wir uns an unseren Taten messen lassen.

Als israelische Mutter betrifft Sie unser Gesprächsthema auch ganz existenziell: Auch Ihr Sohn könnte eines Tages vor der Entscheidung stehen, entweder selbst zu töten oder getötet zu werden, in der Armee. Wie gehen Sie damit um?

Mein Sohn ist fünf, mit 18 wird er eingezogen, mir bleiben also nur noch 13 Jahre, in denen ich dazu beitragen kann, dass die Situation in Israel friedlicher wird. Damit sich keiner mehr entscheiden muss, Opfer oder Täter zu sein. Ich war immer sehr politisch engagiert, und Muttersein hat das noch verstärkt. Genauso hat mich meine Tochter noch mehr zur Feministin gemacht, weil ich alles durch diese Brille sehe: In was für eine Welt habe ich mein Mädchen gesetzt? Sie ist jetzt sieben, was kann ich tun, damit sie nicht später an der Uni oder im Arbeitsleben sexuell belästigt wird? Dass wir unsere Kinder als Erweiterung von uns selbst sehen, ist eben nicht nur narzisstisch, es hat auch eine positive Kraft. Man denkt intensiver über den Zustand der Welt nach und gibt sich nicht einfach mit dem Status Quo zufrieden. Im besten Fall dient das nicht nur den eigenen Kindern, sondern allen.

ZUR PERSON: Ayelet Gundar-Goshen, Jahrgang 1982, gehört zu den profiliertesten Stimmen in der jungen israelischen Literatur und gewann zahlreiche Preise. Sie lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv, und arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Drehbuchautorin als Psychotherapeutin in einer Klinik. Ihr aktueller Roman „Wo der Wolf lauert“ erscheint in deutscher Übersetzung im Verlag Kein & Aber

Jetzt hängen sie wieder an der Nadel

Häkeln, Nähen und Co gelten nicht mehr nur als Hobby, sondern auch als Instrument der Selbstfürsorge. Und der Selbstdarstellung. Warum funktioniert die Masche bei mir nicht – und was für ein Frauenbild basteln wir uns da eigentlich? Das habe ich mich schon für mein aktuelles Sachbuch gefragt, das ich gerade mit Anne Otto veröffentlicht habe – und nochmal im Oktober 2021 für das „Sinnsuche“-Ressort auf ZEIT online

Auch in einer bis zum Anschlag polarisierten Welt gibt es immer mal wieder was, auf das sich alle einigen können. Na gut, vielleicht nicht alle, aber auch Menschen jenseits der eigenen Filterblase. So war das, als es plötzlich in größeren Städten mehr Yogastudios gab als Klempner, so ging es mir, als Leute anfingen, ihre Betonbalkons in grüne Wellnessoasen zu verwandeln (oder gleich aufs Land zu ziehen), und auch, als auf einmal ein Thema trendete, das zuletzt in meiner Kindheit populär war: stricken, häkeln, nähen. Meine Reaktion ist immer dieselbe: Erst Unglauben (Zopfmuster? Euer Ernst?), dann Trotz (Ihr habt doch einen an der Waffel!), gepaart mit Zerknirschung: Du bist ganz schön spät zur Party, meine Liebe. Schließlich Kapitulation: Probier’s halt wenigstens mal aus. 

Jahre, ach was, jahrzehntelang waren die Frauen in meiner Umgebung clean, jetzt hängen sie wieder an der Nadel. Doch nun geht es nicht mehr wie in den Siebzigern und Achtzigern nur um eine nette Freizeitbeschäftigung, nein, es geht um alles: Etwas mit den Händen zu machen, so heißt es, steigere das Gefühl der Selbstwirksamkeit, gebe Bodenhaftung in einer entgrenzten, digitalisierten Welt. Erleuchtung, selbstgestrickt, gewissermaßen Yoga für die Finger. 

Dass ich mir irgendwann einen Ruck gab, hatte mit der Suche nach Selbstfürsorge genauso zu tun wie mit Angst vor sozialer Ächtung. Natürlich kann man Jacken und Mützen auch weiterhin im gut sortierten Einzelhandel kaufen. Aber man fühlt sich dabei wie Cindy aus Marzahn, wenn sie beim veganen Schlemmerbüffet in Friedrichshain mit einer eingeschweißten Jägerwurst vom Discounter aufläuft. Irgendwie billig. Zum anderen ist das wollige Wohlgefühl mittlerweile gut erforscht, jenseits von Marketingumfragen à la „DIY-Verband: Stricken steigert Lebensglück um 27 Prozent!“ gibt es auch ernsthafte Studien zum Thema. So konnte die Psychologin Ann Futterman Collier von der Northern Arizona University vor einigen Jahren in einer Studie mit 435 Teilnehmerinnen nachweisen, dass Handarbeit langfristig und nachhaltig entspannt und erfrischt. Das Gewerkel soll den Stresspegel senken (messbar zum Beispiel über den Cortisolspiegel im Blut oder die Herzrate). Auch Patient:innen in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken häkeln und stricken zu therapeutischen Zwecken. Die Wirkung ist ebenfalls evaluiert. Psychiatrieprofessorin Rebecca Jane Park von der Universität Oxford befragte Patient:innen mit Magersucht, die von der stimmungsaufhellenden Wirkung berichten und außerdem angaben, dass sie durchs Handarbeiten weniger grübelten und weniger sorgenvoll aufs Thema Essen fixiert waren. Carrie Barron, Professorin der Dell Medical School (University of Austin, Texas), vergleicht die Effekte der repetitiven Bewegungen gar mit denen der Meditation. Passend dazu hat sie an einem Buch mit dem Titel „The Creative Cure – how to build happiness with your own two hands“ geschrieben. Das Streben nach Glück, ein simples Strickmuster. Wer will sich das schon entgehen lassen. 

Ich kaufte also Wolle, ein handschmeichelndes Bambus-Rundstrickset, und lud mir eine Anfänger-Anleitung für eine Beanie-Mütze aus dem Netz. Meine ersten Maschen seit 1978. Da war ich bei einem Strickversuch in der dritten Klasse krachend gescheitert. Ich habe heute noch das Geräusch im Ohr, mit dem die Lehrerin im Fach „Textiles Werken“ das Ding, das ein Schal werden wollte, bis auf die Grundfesten vernichtete. Nur, weil ich hier und da mal eine Masche hatte fallen lassen. Ein unbarmherziges „Rapp-rapp-rapp“, das sich mir bis heute ins Hirn gebrannt hat, als Gleichnis für die Vergeblichkeit menschlichen Strebens: Ihr, die ihr eintretet in den Werkraum der Grundschule Freiburg-Littenweiler, lasset alle Hoffnung fahren! Nun ließ ich mir per Youtube-Tutorial von einer schwäbelnden Frauenstimme Nachhilfe geben, wie ich den Faden zu führen hatte, und wartete auf das Wohlgefühl.

Um es vorwegzunehmen: Ich bin wieder gescheitert. Nicht etwa besser gescheitert, sondern abgrundtief. Diesmal nicht an einer unbarmherzigen Grundschullehrerin, sondern an meinen eigenen Minimalansprüchen. Vielleicht auch am inneren Widerstand. Schon beim Versuch, den Faden richtig zwischen den Fingern meiner linken Hand durchzufädeln, spürte ich, wie sich meine Stresshormone in gefährliche Höhen schraubten. Ganz ohne Labormessung. Ein Zustand zwischen renitenter Raserei, Selbstzweifeln, Trotz. Es wurde einfach nichts: mal zu fest, mal zu lose, und am Ende war ich hemmungslos verknäult im Hier und Jetzt. Nach Schulterstand und Balkonbepflanzung schon die dritte Challenge, bei der ich nicht mithalten kann. Bin ich wirklich zu blöd – oder habe ich mich selbst sabotiert?

Natürlich hat das eine ganz praktische Ebene. Die richtige Spannung zwischen Das-kann-ich-gut und Da-geht-noch-was, die zum Flow-Gefühl führt, setzt immer eine gewisse Grundfertigkeit voraus. Deshalb sucht man sich seine Herausforderungen auch passend zu seinen Begabungen. Geschicklichkeit ist jedenfalls nicht in meinen Top Three. Knopf annähen geht noch, jenseits wird es düster. Mit Handwerken habe ich es genau so wenig wie mit Handarbeiten, da bin ich ganz geschlechtergerecht. Mit 20 habe ich mal ein Jahr lang mit einem Kleiderschrank zusammengelebt, den ich selbst aufgebaut hatte. Weil ich die Bodenplatte falsch herum montiert hatte, war die Schiene für die Schiebetüren auf der falschen Seite, so dass ich die Türen nur lose in den Rahmen stellen und jedesmal per Hand herausnehmen musste, wenn ich mich umziehen wollte. Also etwa acht Mal am Tag (wie gesagt, ich war 20). Bis ein Freund sich erbarmte, das Ding auseinandernahm und neu zusammenbaute. Bye-bye, Self-Empowerment.

Aber ich glaube, es gibt noch tieferliegende Gründe, warum ich dem DIY-Trend so wenig abgewinnen kann wie diesem ganzen Neo-Biedermeier, wie Malbüchern und Marmeladekochen. Zum einen ist Muße auf eine verquere Art und Weise zu einem Statussymbol geworden, und Selbstgemachtes ist ihr sichtbarer Beweis, so wie früher die Ganzjahres-Gesichtsbräune. Nimm hin die selbstgestrickten Socken, liebe Schwester, beiß hinein ins krokodilförmig geschnitzte Gurkenstück, mein Kind, für dich habe ich stets genügend Zeit. Runterkommen, ja bitte, aber es soll auch etwas dabei rumkommen. Da möchte man allein aus Protest lieber völlig unproduktiv zwei Stunden lang Containerschiffe auf der Elbe anstarren. Oder den Inhalt des eigenen Weinglases.

Zum anderen hat das private Gestricke, Gebastel und Gewerke auch noch eine ungute politische Dimension. Wer die Hände beschäftigt hält und sich dazu noch komplexe Zopfmuster merken muss, kann nicht gleichzeitig lesen, denken, gar auf revolutionäre Ideen kommen. Nicht zufällig werden Stricknadeln in der Serie „The Handmaids‘ Tale“ (nach einem feministischen Roman aus den Achtzigern) immer wieder wie Waffen in Szene gesetzt. Das Gegenteil von entspannt, sondern eher ein Bild für die gedeckelte Wut von Frauen, die in einer dystopischen Zukunftswelt nicht mehr lesen, denken, arbeiten sollen. Sondern nur noch kochen, pflanzen und gebären. Reale Strickfreundinnen posten derweil auf Instagram und Pinterest Anleitungen für den roten Wollschal, den die fiktive Hauptfigur in der kalten Jahreszeit trägt. Sieht ja so cozy aus! 

Und, a propos „Freundinnen“: Es gibt wenige Tätigkeiten, bei denen mir der Gender Gap so tief erscheint. Eher gehen Frauen in den Baumarkt als Männer in den Bastelladen. Vielleicht ist es das milde Licht der Erinnerung, aber waren wir nicht schon einmal weiter? Auf frühen „Grünen“-Parteitagen stricken wenigstens auch die Männer ihre eigenen Norwegerpullis, die Fotos kennt jeder. Und im Bekanntenkreis meiner Mutter gab es damals einen Psychotherapeuten, der Motive aus den Träumen seiner Patient:innen zu textilen Kunstwerken verarbeitete. An seinem Auto-Innenspiegel soll deshalb ein prächtiger Häkelpenis gehangen haben. Ziemlich gaga, völlig nutzlos und garantiert untauglich für DIY-Podcasts. So gesehen: Ganz nach meiner Mütze.

„Nur in scharf geschnittener Kleidung kann man scharf denken“

Finden wir nach der Pandemie wieder aus Jogginghose und Schlabbershirt heraus? Sicher, sagt Modetheoretikerin Barbara Vinken, und hat mir für die BRIGITTE im Oktober 2021 ein Interview gegeben. Aber unser Styling wird ein anderes sein. Das sieht man jetzt schon (auch an meiner Herbstgarderobe oben)

BRIGITTE: Optisch war Corona, insbesondere im Lockdown, die Epoche der Jogginghose, des Hoodies und des Ganztagspyjamas. Auch für Sie?

BARBARA VINKEN: Nein, denn ich bin überzeugt: Nur in scharf geschnittener Kleidung kann man auch scharf denken.Damit meine ich nicht einengend, es gibt wunderbare Alternativen – mein Schrank enthält viel Kaschmir, weite, Marlene-Dietrich-artige Writers‘ Pants, und schwingende Röcke und Kleider im Lagenlook. 

Diese Wechselwirkung zwischen Outfit und Output haben im Homeoffice viele bemerkt. „Zieh dich richtig an, auch wenn dich keiner sieht“, habe ich selbst als Ratschlag verinnerlicht.

Unsere Geisteshaltung wird immer von unserer äußeren Haltung beeinflusst. Kleidung ist, linguistisch ausgedrückt, ein Sprechakt: Wir signalisieren damit, wer wir sind, selbst ohne dass jemand zusieht. Eine Jogginghose kann natürlich auch heißen: Pass auf, ich tue hier etwas so Ernsthaftes, ich habe keine Zeit für Oberflächlichkeiten. Auch das ist eine Form von Eitelkeit, ein Fetisch des Authentischen.

Sie glauben aber, man bringt darin trotzdem nichts Gutes zustande?

Jedenfalls ist man gleichzeitig sehr beschäftigt damit, nach außen zu signalisieren, wie unwichtig einem das Äußere ist. 

Als Romanistin haben Sie den Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich: Hier das Land der Funktionsjacke, dort das Land des unangestrengten Alltags-Schick – hat sich das auch in der Pandemie modisch ausgewirkt?

Meinem Eindruck nach fühlten sich Menschen in Frankreich stärker eingesperrt und wahrten eher die Form, gerade wenn sonst alles Baden ging. Zogen sich zu Essen um, auch wenn sie nur zu zweit waren. Eigentlich ganz clever, es heißt ja nicht ohne Grund „There is always lipstick on a rainy day“. Lebensschönheit und Glück lassen sich manchmal auch über die äußere Form herstellen. 

Manche prophezeien, dass wir uns auch nach Corona weiter leger kleiden werden. Die New York Times zeigte kürzlich Fotos von der Wall Street: Vor zwei Jahren sah man hier fast nur dunkle Anzüge und edle Lederschuhe. Jetzt sind auffallend viele Banker*innen in Sneakers, Jeans und bunten Sommerkleidern unterwegs.  

Wie in vielen Lebensbereichen ist das Virus auch hier eher Beschleuniger, Katalysator, als Auslöser. Den Trend zu Streetwear, zur Abkehr von formellen Dresscodes, sehen wir seit mindestens zehn Jahren. Interessant ist, wie sich Frauen- und Männermode aufeinander zubewegt haben. Und die Frage, ob Corona die Richtung ändert.

Das müssen Sie erklären.

Die Frauenmode hat schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine gradlinige Entwicklung hinter sich, von der rein weiblich markierten Mode zur männlichen. Das Korsett fiel, der Bubikopf kam, die Hose setzte sich durch. Seit den 80er-Jahren schwankt Frauenmode zwischen zwei Polen. Mal eine fast aggressive Weiblichkeit mit Highheels und engen Röcken, die signalisiert: Jungs, passt mal auf, hier kommt eine Frau. Und mal einem Unisex-Stil, der eher signalisiert: Jungs, ich bin wie ihr. Die Männermode hat sich viel weniger geändert, doch in den letzten Jahren vor der Pandemie hat sich die Einbahnstraße zum ersten Mal umgekehrt. Auf den Laufstegen gab es auch Männer-Looks, die mit Durchsichtigkeit spielten, Ausschnitten, Rüschen, Codes für Weiblichkeit. Corona hat dieser zaghaften Fluidität fürs Erste ein Ende gemacht. Vielleicht, weil alle das Gefühl haben: Wir leben in ernsten Zeiten, da sind seriöse, kühle Macher gefragt.

Zumindest für Frauen sind die aktuellen Herbst- und Wintertrends wieder exaltiert und sexy – teilweise aber auch das Gegenteil: Minis, Lack und Metallic neben gefütterten Overalls, die fast wirken wie Labor-Schutzanzüge. Hat das auch noch mit der Pandemie zu tun?

Mode hat immer auch eine schützende Funktion, fast wie eine Rüstung. Nicht nur vor der Kälte, auch vor den Blicken der anderen. Ich denke, dieses Cocooning-Gefühl aus der Corona-Zeit wird bleiben, der Rückzug in warme, weiche Kleider, in die wir uns tröstlich einkuscheln könnten. Die andere Seite ist kein Widerspruch, das gehört dazu: Der Wunsch, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, die Straßen, die Restaurants, und das Leben zu feiern, mit festlichen Stoffen und lauten Farben. So war es historisch gesehen fast immer nach Phasen von Seuchen, Kriegen, Katastrophen. Nach der Spanischen Grippe kamen in den 1920-ern Kleider mit Federn, Pailletten und Fransen, auf den Zweiten Weltkrieg folgte der „New Look“ mit schwingenden Röcken.

Das freut sicher die Modeindustrie, die hohe Verluste gemacht hat – laut einer McKinsey-Studie brachen die Umsätze 2020 um 15 bis 30 Prozent ein. Die höchsten Rückgänge gab es im Niedrigpreisbereich, stärker als in den gehobenen Segmenten. Geht der Trend auch langfristig weg von noch schneller, noch billiger?

Ja, und ich habe den Eindruck, viele in der Branche begrüßen das. Nach allem was ich höre, haben manche Modemacher das als Atempause gesehen, und sich gefragt: Brauchen wir ernsthaft sieben Kollektionen im Jahr, wollen wir wirklich weitermachen mit der massiven Ausbeutung von Umwelt und Arbeitskräften, mit Fast Fashion? Ich bin optimistisch, dass Corona unser Verhältnis zur Mode bewusster und nachhaltiger macht. Das aktuelle It-Piece ist auf jeden Fall ein Lieblingsstück, das vielleicht etwas teurer ist, aber gemeinsam mit uns älter wird, wie ein wertvoller Kunstgegenstand. Ich habe im Sommer ein Seidenkleid wiederentdeckt, sicher schon zehn Jahre alt, aber mit seinem Lagenlook wieder völlig passend zur Saison. Voilà!

Barbara Vinken, 61, ist Professorin für Romanistik an der Münchner LMU und macht immer wieder mit klugen Kommentaren zu ganz unterschiedlichen Themen von sich reden – sei es zur Mode, zum deutschen Mutterbild oder als Literaturkritikerin im Fernsehen.

„Wut ist eine Einladung, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen“

Schlechte Gefühle haben ein schlechtes Image – also versuchen wir sie wegzuatmen, wegzumeditieren, und suchen nach Harmonie um jeden Preis. Großer Fehler, findet Coach und Autorin Friederike von Aderkas: Wenn wir uns ärgern, steckt darin eine wichtige Botschaft und jede Menge Energie. Wir müssen nur lernen, sie klug umzusetzen (mein Interview stammt aus einem Brigitte-Dossier unter dem Motto „Los-Lassen“, veröffentlicht im Spätsommer 2021)

Was haben Greta Thunberg, Seenotretterin Carola Rackete und Schauspielerin und MeToo-Initiatorin Alyssa Milano gemeinsam? So unterschiedlich ihre Anliegen sind – den Klimawandel bekämpfen, unmenschliche Migrationspolitik oder toxische Männlichkeit – , ihr Treibstoff ist derselbe. Drei Wutbürgerinnen im allerbesten Sinne, die zu Role Models geworden sind. Weibliche Wut ist Talkshowthema, Bestsellertitel, Trendthema. Aber tut Wut wirklich gut? „Klar, sie kann auch zerstörerisch, gewalttätig und verletzend sein, aber das ist nur ihre Schattenseite. Wenn ich sie spüre, steckt darin zuerst eine Information: Hier stimmt etwas nicht für mich. Und diese Lebensenergie lädt mich ein, für meine Bedürfnisse einzustehen“, sagt Friederike von Aderkas, Pädagogin und systemischer Coach, die auch Seminare zum Thema gibt. Ihr aktuelles Buch* ist eine Ehrenrettung für jene Emotion, die wir häufig verdrängen, abspalten, die uns unheimlich ist. Mit schwerwiegenden Folgen, sagt von Aderkas: Sie ist überzeugt, dass sowohl körperliche Symptome wie Verspannungen, Kopfschmerzen und Auto-Immunkrankheiten als auch Depressionen häufig mit unterdrückter Wut zu tun haben. „Sie gibt uns eine Richtung vor. Wenn ich mich stattdessen wie mit angezogener Handbremse durchs Leben bewege, werde ich gedämpft und lethargisch.“ Aber wie geht das, die Handbremse lösen? Fünf Situationen, fünf Tipps von der Expertin.

Im Job: Kurz vor Feierabend knallt Ihnen die Kollegin einen Stapel Vorgänge auf den Schreibtisch: „Sorry, die Kita schließt in einer halben Stunde und das muss heute noch raus. Könntest du so lieb sein?“ Kein einmaliger Notfall, so geht das schon seit Monaten.

Was meistens passiert: Fast in jedem Team gibt es die eine, die für alle die Kohlen aus dem Feuer holt. Vielleicht, weil sie als Kinderlose vermeintlich weniger private Aufgaben hat, oder weil sie als besonders effizient gilt. Sie sind das? Dann wissen Sie ja, wie sich das anfühlt. Sie ballen die Faust in der Tasche und schweigen. Vielleicht laden Sie Ihren Frust beim Partner ab, aber wehren sich nicht, schließlich brauchen Sie den Job noch. Vielleicht gefallen Sie sich auch in der Rolle als „verantwortungsvolles Opfer“, als stille Heldin. Schlimmstenfalls bis zum Burnout.

Was besser wäre: Beim nächsten Mal Stellung beziehen und sich abgrenzen: „Ich sehe deine Not, aber mir wird es gerade auch zu viel. Lass uns das ins nächste Teammeeting einbringen, ich unterstütze dich gern.“ Das ist solidarisch und gibt den Druck dorthin zurück, wo er entsteht – nach oben. Aber bitte nicht gleich voller Aktionismus voranmarschieren („Ich formuliere schon mal eine Mail an die Chefin!“), denn auch die permanente Retter-Rolle tut nicht gut. 

Im Alltag: Der neue Drucker steht, hat Papier, den richtigen Treiber, und ist ans W-LAN angeschlossen. Er blinkt freundlich. Was er nicht tut: drucken. Und das, obwohl wir in zwei Stunden ein Papierdokument brauchen.

Was wir häufig tun: Wenn Technik unsere Pläne durchkreuzt, macht uns das hilflos – und wütend. Typische Reaktionen: meckern (laut oder leise), jammern (bis jemand aufmerksam wird, der Partner, die Kollegin), aggressive Selbstbefragung: Wer spinnt, der neue Drucker/Staubsauger/das Internet, oder ich? Bei etwas robusteren Geräten auch: Draufhauen. Bringt in den seltensten Fällen eine Lösung, klar.

Was wir lieber tun sollten: Uns fragen, woher die Wut kommt (zweifle ich an mir und meinen Fähigkeiten?) und gegen wen sie sich richtet: den Hersteller, die Verkäuferin im Elektronikmarkt, mich selbst? Verstehen, was uns so aufregt, überlegen, wer uns helfen kann, unser Nachbar, der Kundendienst, das Handbuch. So bringt Ärger uns in Aktion, ohne dass etwas zu Bruch geht.

In der Liebe: „Wollen wir nicht am Sonntag in diese neue Fotokunstausstellung?“, hat sie gefragt, und er hat irgendwie zustimmend gebrummelt. Am Sonntag sieht sie ihm fassungslos zu, wie er sein Rennrad aus der Garage holt: Und ihr schöner Vorschlag?

Plan A, leider typisch: Weil wir in der Liebe besonders verletzlich sind, sprechen wir häufig in verschlüsselten Botschaften. Ein Verhalten, das wir oft schon als Kinder eingeübt haben, um Konflikte mit den Eltern zu vermeiden. Kommt die Message nicht so an, wie wir es gerne hätten, nörgeln wir danach oft anlasslos an unserem Partner herum, oder schmollen („Ob was los ist mit mir? Nein, wieso?“)

Plan B, leider selten: Klare Kommunikation macht den Kanal zwischen den Beteiligten frei – vorausgesetzt, es handelt sich wirklich um einen Vorschlag und nicht um eine Forderung (die eigentlich lauten müsste: „Ich will ins Museum, und wehe, du sagst nein!“). Wer Verantwortung übernimmt für das, was er oder sie in der Partnerschaft will, ob beim Sonntagsausflug, in der Lebensplanung oder im Bett, legt die Karten auf den Tisch und bereitet den Weg: zu Einigkeit, zu einem Kompromiss, oder auch zu getrennten Wegen hier und da. Das kann auch mal wehtun, ist aber ehrlich.

In Freundschaften: Wenn Sie die Nummer Ihrer Freundin auf dem Display sehen, ist fast immer Not am Mann. Beziehungsprobleme, die schwierige Mutter, Der Job. Allmählich fühlen Sie sich wie Alexa, nur aus Fleisch und Blut: Egal, was Sie sagen oder wie es Ihnen geht, Ihre Freundin redet, Sie hören zu und versuchen zu helfen. Nervt.

Beim nächsten Mal: Vielleicht werden Sie irgendwann laut: „Merkst du eigentlich, dass ich nur dein Seelenmüllplatz bin?“ Vielleicht gefallen Sie sich in der Rolle der Heiligen: Die Arme, sie hat es ja auch schwer. Oder Sie greifen zu Zynismus. „Oh, hallo, da ist ja das Traumpaar!“, wenn Sie sie innig mit dem Typen im Straßencafé sehen, über den sie sich gestern noch bitter beklagt hat.

Beim übernächsten Mal: Klartext reden: Ich fühle mich nicht gesehen, ich wünsche mir unsere Freundschaft anders, fällt dir eigentlich auf, wie sich die Gespräche im Kreis drehen? Gut möglich, dass die Aussprache die Freundschaft entgiftet, sie hat ja kaum aus Berechnung so gehandelt. Übrigens: Kann es sein, dass auch sie ein verkorkstes Verhältnis zu Wut hat, wenn sie lieber mit Ihnen über ihren Partner, ihre Mutter oder ihren Chef lästert, als denen gleich reinen Wein einzuschenken?

In der Politik: Sie sind der Souverän, schließlich leben wir in einer Demokratie. Praktisch fühlen Sie sich aber nicht so: ob Kohleausstieg, Maskenpflicht oder Vermögenssteuer, ständig werden Entscheidungen getroffen, die Sie sauer machen.

Wohin mit der Wut? Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sich Luft zu machen: eine Fülle von Social Networks, Freund*innen, Kolleg*innen. Problem: Wir fühlen uns danach häufig nicht besser. Wut mobilisiert Energie, sie kommt aber nirgends an.

Wohin mit der Wut – aber richtig? Erstmal schauen, woher das Gefühl kommt: Habe ich generell ein Problem mit Autorität, oder geht es wirklich um Sachfragen? Dann weitersehen: Inwieweit betrifft mich das Problem, und was beendet das Gefühl der Ohnmacht? Ich kann mich einer Initiative anschließen, Unterschriften sammeln, mich an meine*n Abgeordnete*n wenden. Aber auch beschließen: Nicht mein Zirkus, das sind nicht meine Affen, ich bleibe lieber als Beobachterin im Energiesparmodus. Keine Feigheit, sondern auch mal gesunder Selbstschutz. 

*“Wutkraft – Energie gewinnen, Beziehungen beleben, Grenzen setzen“, Beltz, 17,95 €

Endlich wieder Schule. Endlich wieder Schule?

Am ersten Tag im Schuljahr 21/22 kommt vieles in die Tüte, für alle: eine Portion Vorfreude auf den Alltag, eine Prise Nervosität. Wie normal wird das neue Normal? Wie gehen wir, unsere Kinder und ihre Lehrer mit dem Aufholdruck um? Und wer sollte jetzt eigentlich nachsitzen – die Politik, die Schüler, das Schulsystem? Das habe ich für die September-Ausgabe von ELTERN FAMILY recherchiert und aufgeschrieben

Das schönste Ferienerlebnis meiner Kinder fiel auf einen Freitag, den Dreizehnten. Das war im März 2020, wir saßen im Auto auf der Urlaubsrückfahrt und verfolgten im Radio die News aus den Nord-Bundesländern: Schulschließungen reihum, wegen dieses neuartigen Virus, Covid irgendwas. Kurz vor den Hamburger Elbbrücken war es offiziell, als letzter hatte auch unser Stadtstaat beschlossen, die Frühjahrsferien zu verlängern. Jubel auf der Rückbank, als wäre in Minute 119 ein entscheidendes Tor gefallen. 

Denn keiner konnte ahnen, was elf Millionen Erst- bis Zwölftklässlern landesweit noch blühen würde: Bis Mai 2021, so sagt der Deutsche Lehrerverband, sind pro Kind 350 bis 800 Stunden Präsenzunterricht ersatzlos ausgefallen. Den Negativrekord mit 900 halten Hamburger Mittelstufenschüler, darunter die beiden auf meiner Autorückbank. Auch sämtliche Highlights waren gestrichen: Praktika, Klassenreisen, Tischtennisrunden. Was blieb, waren Homeschooling, W-LAN-Krisen, hilflose Hilfslehrerversuche. Jetzt, im Spätsommer 21, sind hoffentlich die letzten Kilometer des Marathons erreicht. Schule bleibt uns als AHA-Erlebnis am Küchentisch in Erinnerung.

Und jetzt beim Schulanfang ist die Vorfreude bei allen fast so groß wie die Begeisterung über die Dauerferien im Frühjahr 20. Doch Wut und Ängste sind es auch: Wie tief sind Wissenslücken, wie groß soziale Verwerfungen? Wie schaffen die Kleinen das Rein- und die Großen das Weiterkommen? Was müssen, was können wir nachholen – und wie? 

Schule und Bildungspolitik: Klassenziel verfehlt

Die Schule hat in der Krise ihr Bestes gegeben – leider war das nicht genug. Und das liegt weniger an den Lehrern oder Schulleitungen, sondern vielmehr am Gesamtsystem, das ungefähr so agil ist wie ein schwerer Hochseetanker. „Soziale Systeme haben hohe Beharrungskräfte, zu lange setzt man auf Althergebrachtes. So ist leider auch gerade wenig Wirkungsvolles von der Politik zu erwarten, um die Folgen der Corona-Schuljahre abzumildern. Die Bundesländer verkörpern nicht einen Wettbewerb der Ideen, sondern agieren auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.“: Kein gutes Zeugnis, das der Sozialforscher Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ausstellt. Seine Erkenntnis: Die größten Rückstände haben oft diejenigen, die ohnehin schon den schwersten Rucksack tragen. Auf dem Land, wo es kein schnelles W-LAN fürs Homeschooling gibt; in sozialen Brennpunkten, in denen mehr Kinder aus prekären Verhältnissen stammen, die zu Hause kein Deutsch sprechen oder beides; in Grundschulen, wo die Neugier der Schulanfänger oft in einem Haufen kopierter Arbeitsblätter erstickt wurde. „Aber die einzige Lösung, die uns einfällt, ist: Ferienkurse für die aus dem Boden stampfen, die ohnehin besonders belastet sind. Statt einen großen Wurf zu wagen und allen Akteuren, also Schülern, Eltern und Lehrkräften, mehr Zeit zu geben“, ärgert sich Helbig. Dabei gibt es genügend Vorschläge aus verschiedenen Richtungen, etwa, den Stoff für die nächsten zwei Schuljahre auf drei zu strecken.

Zu einem ähnlichen Urteil kommt Ali El-Mafaalani, Soziologe an der Universität Osnabrück. Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie hat er das Buch „Mythos Bildung“ (Kiwi, 20 Euro) veröffentlicht, und auch er sagt: Die letzten anderthalb Schuljahre haben die soziale Spaltung noch vertieft, den Leistungsabstand zwischen dem Gymnasium im Villenviertel und einer Gesamtschule in der Hochhaussiedlung noch größer gemacht. Er schätzt, dass etwa die Hälfte aller Schüler mit gravierenden Wissenslücken ins neue Schuljahr startet. Andere Experten sehen die Lage nicht ganz so pessimistisch. Aber dass es zu viele sind, daran zweifelt niemand. 

Mit Schuld daran, sagt El-Mafaalani, hat auch die oft überbordende Bürokratie. Stichwort „Digitalpakt“: Schon vor dem Corona-Ausbruch hatte Vater Staat einen milliardenschweren Topf für eine bessere digitale Ausstattung der Schulen bereitgestellt, doch abgerufen wurde, Stand Frühjahr 21, nur etwa ein Viertel der Gelder. Obwohl das Thema plötzlich noch an Dringlichkeit gewann  – so hätten zum Beispiel, Tablets das Homeschooling gerade für solche Kinder erleichtert, die zu Hause weder Laptop noch Drucker besitzen. Aber um an die Gelder zu kommen, braucht es einen Antrag und ein detailliertes Digital-Konzept. Das kostet Zeit – Zeit, die viele Schulen angesichts der neuen Herausforderungen nicht hatten. Vor allem die ohnehin belasteten. Und nach dem einmaligen Segen bleibt die dauerhafte Finanzierung aus Landesmitteln oft ungewiss. 

Ein engagierter Lehrer (oder eine Lehrerin) allein kann solche strukturellen Probleme nicht lösen, sagt El-Mafaalani, der selbst lange Jahre in Nordrhein-Westfalen unterrichtet hat: „Der Lehrberuf belohnt Innovation nicht.“ Wenn sie sich trotzdem durchsetzt (siehe Interview Seite x), ist das die Ausnahme.

Also alles verloren? Das nun auch nicht, es gibt ja Ideen fürs Krisenmanagement. El-Mafaalani schlägt vor: Wenn schon keine Schuljahresverlängerung, dann wenigstens die ersten vier Wochen nach den Ferien zur Wiederholung von Vorjahresstoff nutzen, wie es Mecklenburg-Vorpommern angekündigt hat. Den Lehrplan reduzieren – aber nach verbindlichen Kriterien. Und nicht so wie im letzten Schuljahr, als Lehrkräfte nach Gutdünken wegließen, was ihnen nicht machbar erschien. Mehr Fortbildung für Lehrer, mehr Präsenzzeit für Schüler – aber nicht Mathe-Nachhilfe und Extra-Vokabeltests, sondern Sportangebote, Musikkurse, Projekte für das soziale Miteinander: „Seien wir doch ehrlich: Es fehlt den Kindern im Moment an allem!“

Kinder und Jugendliche: Gemeinschaft, wie ging das noch?

Eines immerhin hatten Schülerinnen und Schüler reichlich, nämlich Freizeit. Verbrachten sie nach einer Erhebung des Münchner Ifo-Institutes vor der Pandemie an jedem Werktag durchschnittlich 7,4 Stunden mit Schule und Hausaufgaben, waren es im Frühjahrs-Lockdown nur 4,3 Stunden. Etwa ein Viertel hat sogar nur rund zwei Stunden am Tag gelernt, darunter besonders Leistungsschwächere und Nicht-Akademikerkinder. Stattdessen: mehr Fernsehen, Computerspiele, Handy. „In der Pandemie hat so gut wie kein Kind begonnen, ein Instrument zu lernen, oder ist einem Sportverein beigetreten“, sagt El-Mafaalani. „Und wenn zu Hause nicht auf gesunde Ernährung geachtet wird, auf Bewegung, auf geistige Anregung, fehlt die Schule, um einen Ausgleich zu schaffen.“ Ein Kind, das täglich ein frisch gekochtes Mittagessen in der Schulmensa bekommt, fragt vielleicht auch zu Hause mal nach Gemüse. Oder nimmt ein Buch in die Hand, das die Lieblingslehrerin empfohlen hat. 

Kinder am oberen Ende der Bildungs- und Einkommensskala sind da meist von Haus aus besser dran. Geschlossene Schulen sind verringerte Lebenschancen.

Vor allem die jüngeren Kinder haben oft nicht nur kaum etwas dazugelernt, sondern sogar Entscheidendes verlernt. Das gilt nicht nur für anderssprachige, denen das Deutschtraining beim Spielen auf dem Schulhof fehlt, sondern für alle: die motorische Entwicklung ist bei vielen auf der Strecke geblieben, das soziale Miteinander auch. Heutige Zehntklässler haben über Jahre eingeübt, wie man gemeinsam Referate erarbeitet. Oder sich einigt, wer wann aufs Fußballfeld darf. Die Erstklässler haben dagegen echte Erfahrungslücken – denn auch die Kita fiel ja flächendeckend aus.

Wir Eltern: Druck machen, aber den Richtigen 

Wir Mütter und Väter haben dagegen tatsächlich einiges (wieder) gelernt: schriftlich teilen, Passivformen erklären, Hauptstädte aufsagen. Manchen war der Hilfslehrerjob unangenehm vertraut, anderen weniger. Eine Ost-West-Lücke sieht Bildungsforscher Marcel Helbig, selbst gebürtiger Thüringer: „Im Süden sind die Familienstrukturen und weiblichen Erwerbsmuster meist anders als in den Neuen Bundesländern.“ Das heißt: Während leidgeprüfte Münchner Mütter neben Halbtagsjobs und Hausaufgabencoaching jetzt eben den vollen Schulstoff mitschulterten, fanden sich Erfurter Eltern oft zum ersten Mal in der Situation. Denn in Thüringen arbeitet die Mehrheit der Eltern doppelt Vollzeit, 95 Prozent der Kinder werden im Grundschulhort betreut. Ein Grund, glaubt Helbig, warum das Bundesland die gesetzliche Corona-Notbremse deutlich weniger streng durchzog als Bayern – Homeschooling, made by Mama, war dort einfach keine Option. 

Bei allen Unterschieden ähnelt sich unsere Gefühlslage aber landesweit. Wir sind halb ausgelaugt, halb hoffnungsvoll, und latent besorgt: Müssen wir jetzt auch noch versäumten Stoff mit unseren Kindern nachpauken, am Wochenende, in den Ferien? Helbig hat dazu eine klare Meinung: „Eltern sollten Druck machen – aber nicht etwa ihren Kindern, sondern der Politik.“ 

Also: lieber eine Mail an den Bundestagsabgeordneten oder das Kultusministerium schreiben, als den eigenen Nachwuchs mit Extralektionen triezen. Das findet auch Aladin El-Mafaalani: „Ansprüche anmelden, durchdachte Konzepte fordern, und zwar jetzt. Denn viele andere Gruppen fordern auch Unterstützung, völlig zurecht, von Altenpflegern bis zu Kulturschaffenden. Bleiben Eltern zu still, werden ihre Belange und die ihrer Kinder übersehen.“ 

Zweite, vielleicht noch wichtigere Hausaufgabe für uns: den Blick weniger auf Schulnoten fixieren als auf Gesundheit, körperlich und seelisch. Der aktuellen Copsy-Studie am Hamburger UKE zufolge leidet ein Jahr nach Pandemiebeginn fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten, etwa depressiven Verstimmungen, Ängsten oder körperlichen Symptomen, die Wartezeiten auf Therapieplätze lassen sich eher in Jahren als in Monaten messen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, ist es wichtig, zuzuhören, gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen. Basteln, Paddeltour, Party mit Freunden. Unsere Kinder entlasten statt belasten. Und uns auch.

Fazit, oder: Was jetzt auf dem Lehrplan steht

Ein düsteres Bild, leider. Aber nicht ohne Hoffnungsschimmer. Stichwort „Aufholpaket“: Zwei Milliarden Euro nimmt der Bund in die Hand, nicht nur für klassische Nachhilfe, sondern auch etwa für Sportkurse, Sozial- und Kreativangebote. Das ist zwar nur ein Viertel von dem, was beispielsweise unser kleiner Nachbar Niederlande ausgibt, aber auch nicht nichts, findet El-Mafaalani: „Immerhin gibt es eine gewisse Aufbruchstimmung, die Schulpolitik ist nicht mehr ganz so veränderungsresistent.“ Engagierte Lehrerinnen und Lehrer nutzen die Gunst der Stunde und stellen Forderungen, etwa Susanne Lin-Klitzing für den Deutschen Philologenverband: eine bessere Gesprächskultur, die alle einbezieht, Eltern, Schüler und Lehrer, und feste Stellen für psychologische Fachkräften; klare Richtlinien für digitale Plattformen und Datenschutz; bessere Räumlichkeiten. Schon jetzt setzen sich dafür einige private Initiativen ein, auch finanziell. Etwa Bielefelder und Dortmunder Geschäftsleute, die in der Krise erschrocken festgestellt haben, wie marode viele Schulgebäude sind.

Und: Bei allem Leid haben Kinder aus der Krise auch gelernt. Auch meine beiden gehören zu den 56 Prozent, die laut einer Ifo-Studie an Eigenständigkeit gewonnen haben. Und zu den 66 Prozent, die heute deutlich besser mit digitalen Techniken umgehen können als vor der Pandemie. Improvisieren, sich durchwursteln und trotzdem ankommen: Manches, das man im Leben wirklich braucht, steht eben auf keinem Lehrplan. Und diese Lektion macht Hoffnung. Trotz alledem.

Interview:

„Es geht nicht so sehr darum, wer ein Lehrer ist, sondern, was er tut“

Ob Kinder und Jugendliche (wieder) gern zur Schule gehen, steht und fällt oft damit, wer ihnen im Klassenzimmer gegenübersteht. Aber was macht einen guten Lehrer, eine gute Lehrerin aus? Vier Fragen an Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, und Beate Heraeus, Vorstandsvorsitzende der Heraeus-Bildungsstiftung. Sie vergeben jährlich den „Deutschen Lehrerpreis – Unterricht innovativ“

ELTERN Family: In der Coronazeit hat sich wieder einmal gezeigt, was der neuseeländische Pädagoge John Hattie schon vor gut zehn Jahren nachgewiesen hat: Wie gut Schule ist, hängt in erster Linie vom Lehrer, von der Lehrerin ab. Aber was genau ist es, das Ausnahmepädagogen drauf haben?

Susanne Lin-Klitzing: Natürlich kommt es darauf an, wie die Lehrkraft als Person ist, aber genauso wichtig ist, was sie tut. Drei Bereiche machen den Unterschied, für alle Altersgruppen und Schulformen: klare Klassenführung, also sowohl den Einzelnen als auch die Gruppe mit einer klaren Regelorientierung im Blick zu haben; ein Gespür dafür, wer was in der Gruppe braucht; kognitive Aktivierung, sprich: die Schüler mit anspruchsvollem, innovativem Unterricht zu fordern und zu fördern. 

Zum Stichwort Innovation gibt es beim „Deutschen Lehrerpreis“ sogar eine eigene Kategorie. Wie kann das aussehen?

Beate Heraeus: Ich denke spontan an eine Preisträgerin, die im Chemieunterricht die Aufgabe gestellt hat, aus natürlichen Stoffen wie Kartoffelstärke Folien herzustellen. Das hat nicht nur einen Bezug zum wichtigen Thema Ökologie, es fördert auch die Fehlerkultur: Scheitern war ausdrücklich erlaubt! Solche Projekte fördern nicht nur das Verständnis, sondern erzeugen eine Bindung zwischen allen Beteiligten.

Susanne Lin-Klitzing: Mir fällt die Fremdsprachenlehrerin ein, die sich einen Kooperationspartner aus der Wirtschaft gesucht hat, der einen Klassensatz Tablets zur Verfügung stellte. Jedes Kind bekam einen Tandempartner von einer Partnerschule, mit dem es sprechen sollte, per Skype. Ein gutes Beispiel, wie man Digitalisierung sinnvoll einsetzt und nicht um ihrer selbst willen. Und dabei absolut lebensnah.

Beeindruckend, aber trotzdem: „Schule“ und „Innovation“, passt das wirklich zusammen, nicht nur in Einzelfällen? 

Beate Heraeus: Es gibt sicherlich einen Unterschied im Denken, etwa zur freien Wirtschaft, und mehr Vorschriften. Aber im Interesse der Schülerinnen und Schüler stehen Schulleitungen häufig vor der Notwendigkeit, dagegen zu verstoßen. Etwa, wenn es um den Einsatz digitaler Plattformen im Homeschooling ging. Gerade von engagierten, pflichtbewussten Lehrerinnen und Lehrern habe ich in der Pandemie gehört: Erreichen wir die Kinder nicht, verlieren wir den Kontakt, verlieren wir sie!

Susanne Lin-Klitzing: Wir brauchen Rechtssicherheit, Standards, damit die Kollegen eben nicht den Datenschutzbeauftragten fürchten müssen. Wir brauchen digitale Endgeräte für Lehrer wie für Schüler, zumindest in der weiterführenden Schule. Und wir brauchen Entlastung. Wir wissen, dass zwei Drittel aller Lehrpersonen überdurchschnittlich motiviert und engagiert sind, und das wird zu wenig gesehen. Etwa, wenn der Mathe-Kollege gerade mal zwei Wochenstunden Ermäßigung bekommt, um die Digitalisierung für eine ganze Schule zu wuppen.

Was wäre denn Ihre Vision für die Schule der Zukunft: digital, analog, beides?

Susanne Lin-Klitzing: Ein digital unterstützter Präsenzunterricht. Der Schulalltag der Zukunft wird mehr online-Elemente haben können, idealerweise werden Lehrer so fortgebildet, dass sie diese Tools je nach Fach und Lerngruppe optimal einsetzen können. Aber den Präsenzunterricht ersetzt das nicht: Nur wenn Kinder und Jugendliche lernen, vor andern zu sprechen und zu argumentieren, üben sie ihre geistigen und sozialen Fähigkeiten gleichzeitig. Und damit die Fähigkeit, demokratisch zu handeln.

Mein eingerostetes Leben

Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown ist…? Weil gerade (Stand Juli 2021) die Infektionszahlen wieder steigen, hier noch ein Text aus dem Mai, zur Wiedervorlage. Da schrieb ich in der BRIGITTE: „Die Pandemie hat unsere Pläne radikal ausgebremst. Paradoxer Effekt: Je länger der Stillstand anhält, desto träger werden wir. Warum stresst uns plötzlich ein einziger Termin am Tag, und wie kommen wir da wieder raus?“

„Was werden das für großartige Partys irgendwann mal wieder! Ich werde euch alle ständig umarmen!“ So lautete der Facebook-Post meines Freundes Sebastian, und ich dachte sehnsüchtig: Feiern, yes! Auch mir fehlten die regelmäßigen Freitag Abende bei ihm und seiner Frau Tara, das Gedränge in der Souterrain-Küche, die flirrende Energie, die aus einer Dosis Tiefsinn, einer Prise gehobenem Blödsinn und einem Kühlschrank voller Weißwein entsteht. Das war im März 2020. 

Ein Jahr später erscheint mir Feiern absurder denn je. Und das Schlimme: ich vermisse es nicht einmal mehr. Schon der Gedanke strengt mich eher an. Eine Abend-Einladung? Was soll ich da, was soll ich anziehen, muss man dazu tatsächlich erst vor die Tür und später im Dunkeln wieder zurück, und wie geht das: mit Leuten reden, einfach so?

Und ich bin nicht alleine mit dieser Trägheit. Ich höre von Freundinnen, die sagen: Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, mich häufiger als einmal die Woche zu verabreden. Die Ehrgeizigen haben wenig Motivation, an einer Karriere zu schrauben, Sportausrüstung verstaubt hinten im Schrank, Singles verlieren die Lust an online-Dates. Nach langer Kontaktfastenzeit sind wir schneller überfüttert und sozial ungeübter. Das gilt nicht nur in Sachen Corona, sondern auch wenn wir aus anderen Gründen zum Herunterschalten gezwungen sind. Etwa durch eine längere Krankheit, in einer Phase der Arbeitslosigkeit, oder wenn eine ausgedehnte Babypause zu Ende geht.

Warum ist das so? Warum büßen wir unseren Drive ein, wenn wir doch gleichzeitig so viel nachzuholen haben? Nicole Strüber, Neurowissenschaftlerin und Wissenschaftsautorin, sagt: Weil wir von der Evolution auf Couch Potato gepolt sind – aus gutem Grund. Das gilt vor allem für unsere Körperfunktionen. „Über Jahrtausende hat sich unsere Spezies an ein Leben angepasst, das geprägt war von Nahrungsmittelknappheit und hoher körperlicher Anstrengung“, erklärt Strüber. „Da ist Energiesparen die beste Überlebensstrategie.“ Der Anblick unseres Sofas (Ruhe und Entspannung), gerne kombiniert mit einer Tüte Chips (fetthaltige Nahrung), bringt unseren Körper dazu, Dopamin auszuschütten, das Hirn signalisiert: Schön, hier winkt eine Belohnung. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Verhalten als „Exercise Paradox“: Wir wissen, dass Aktivität gut für uns ist, körperlich wie geistig, aber der Schweinehund ist stärker. „In einer Studie wurde die Hirnaktivität von Probanden am Bildschirm verglichen: zuerst sollten sie einen Avatar von Bewegung in den Ruhezustand versetzen, dann umgekehrt. Im EEG sieht man, dass für den zweiten Durchgang mehr kognitive Kontrolle notwendig ist“, erzählt Nicole Strüber. 

Die archaische Programmierung auf Faulsein kann in manchen Phasen durchaus hilfreich sein, etwa um halbwegs unbeschadet durch Lockdownzeiten zu kommen. Doch je länger unsere Systeme lahmgelegt sind, desto schwerer fahren sie wieder hoch. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, unser Hirn auszutricksen, sagt Nicole Strüber. Sowohl körperlich als auch geistig. „Je häufiger wir uns bewegen und dabei registrieren, dass wir uns hinterher besser fühlen, desto mehr verbindet das Hirn Aktivität mit Belohnung“, sagt die Expertin – und wir fühlen uns unausgelastet, wenn wir das Lauftraining zu lang schleifen lassen. Oder uns nicht mal zu einem Spaziergang aufraffen. Und wenn der Jobstammtisch oder der Literaturkreis ausfallen muss, dann halten uns Kontakte per Telefon, Videocall oder Clubhouse-App kommunikativ geschmeidig. Bei angenehmen Begegnungen wird das „Bindungshormon“ Oxytocin ausgeschüttet, und je mehr wir davon bekommen, desto mehr wollen wir auch haben. Beides eine gute Vorbereitung für die Zeit, wenn wieder mehr möglich ist.

Eine andere Frage ist: Wollen wir unser altes Leben nach einer Krise, ob Corona oder anderweitig, überhaupt eins zu eins zurück? Oder kann der erzwungene Stillstand auch eine Chance sein, das Hamsterrad hinter sich zu lassen und sich neu zu sortieren? Julia Städtler hat in ihrer Coachingpraxis in der Nähe von München und in Online-Beratungen (juliastaedtler.com) viel mit Menschen zu tun, die sich nach beruflichen und privaten Umbrüchen neu sortieren. Sie sieht die aktuelle Zäsur als Möglichkeit zur Kurskorrektur: „Wir hatten viel Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen: Welche neuen Rituale habe ich in den vergangenen Monaten gefunden, die mir guttun? Wo war mir mein altes Leben mir zu schnell, mehr fremd- als selbstbestimmt? Wo ist weniger mehr?“  Das Zurückgeworfensein auf uns selbst hat uns im besten Fall sensibler gemacht, glaubt Städtler. Kann schon sein, dass wir auch nach dem Ende aller Kontaktbeschränkungen lieber in Ruhe einem interessanten Gespräch mit einer Freundin nachspüren, statt nahtlos zur nächsten Verabredung überzugehen. Dass wir uns auf einem Musikfestival überfordert fühlen von zu viel Phonstärke und zu viel körperlicher Nähe. Kein Zeichen, dass etwas mit uns nicht stimmt, im Gegenteil: „Es ist eine Chance für Selbstfürsorge, dafür, eigene Ziele und Bedürfnisse neu zu justieren: Will ich gern wieder auf ein Konzert, aber buche ich mir lieber einen Sitzplatz, erlaube ich mir, früher zu gehen, wenn es mir zu viel wird?“ „Fun of missing out“ statt „fear of missing out“. 

Auch die Philosophin und Autorin Barbara Bleisch sieht die momentane Phase als Chance, die eigene Wahrnehmung zu schulen: „Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern.“ Eine menschenfreundliche Haltung, die auch über Corona hinaus Bestand haben könnte. Und schließlich führt die Rückbesinnung auf den Moment, auf das Innen fast von selbst zu einer nachhaltigeren Lebensweise. Die tut nicht nur uns gut, sondern auch unserer Umwelt: Wollen wir wirklich zurück zu jährlichen Fernreisen, Dauer-Powershopping und zu wenig Zeit für Menschen, die uns wirklich brauchen?

Aber natürlich fällt es nicht jedem gleichermaßen leicht, den Stillstand als Chance zur Neuorientierung zu begreifen. Und manche von uns hätten gerne solch harmlosen Sorgen wie die, ob sie in den letzten Monaten zum Nerd geworden sind. Oder wie sie beim Lauftraining wieder in den Tritt kommen. Weil sie nicht einfach anschließen können an den Status Quo von davor, sondern weil ihr Leben in Stücke gehauen wurde durch Pleite, Arbeitslosigkeit, den Verlust geliebter Menschen. „Da gibt es keinen einfachen Ratschlag, da hilft nur Zeit, Raum für Trauer, Begleitung“, sagt Coach Julia Städtler. „Am hilfreichsten ist, sich auf innere Stärken, auf Wurzeln zu besinnen. Das Gefühl: Egal, wie es um mich herum aussieht, ich bin immer noch ich.“ Wer sich erlaubt, durch das Tal der Tränen zu gehen, zu hadern, wütend zu sein, der kommt irgendwann wieder an einen Punkt, an dem Neues denkbar scheint. Etwa: Will ich wirklich einen ähnlichen Job in einer ähnlichen Firma? Stimmen meine alten Ziele noch? Oder ist jetzt die Zeit für ein Herzensprojekt, eine Kurskorrektur, etwas, das mir neuen Schwung gibt? 

Wenn ich selbst Bilanz ziehen sollte, würde ich sagen: Auch ich habe aussortiert in den letzten Monaten. Mich auf einige Dinge besonnen, die mir schon früher im Leben Freude gemacht haben. Stundenlange Telefonate mit Freundinnen, dicke Romane lesen, kochen. Seit selbst Ost- und Nordsee zu vorübergehend unerreichbaren Sehnsuchtszielen geworden sind, habe ich sogar mehr Lust bekommen, in die Nähe zu schweifen, und muss so schnell weder nach Spanien noch nach Thailand. Selbst wenn die Welt wieder offensteht. Was allerdings die nächste Party bei Sebastian angeht, das Gedränge in der Souterrainküche und die Gespräche: Die kann ich kaum erwarten.

Die Stunde der Väter

Die Frauenbewegung, die deutsche Vereinigung, die Elterngeld-Gesetzgebung – das alles hat die Vaterrolle verändert, aber im Schneckentempo. Bringt die Pandemie den Turbo? Mit dieser Frage habe ich mich für die Mai-Ausgabe 21 des ELTERN-Magazins beschäftigt. Hier eine gekürzte Fassung.

Wann genau spürt ein Mann, was Vatersein bedeutet: Wenn er zum ersten Mal sein Kind im Arm hält? Das erste Familienselfie in die Welt hinaus schickt? Bei Ricardo Liesig, 39, passierte es schon ein paar Minuten vor der Geburt seines ersten Babys, im Kreißsaal. „Der Oberarzt sagte zu mir: Wenn ich Ihnen etwas raten darf, bleiben Sie dran an Ihrem Kind. Denn wenn der Faden einmal ab ist, ist er ab.“ Zehn Jahre ist das her, aber die Worte von Mann zu Mann, die hat er nie vergessen: „Meine Kinder stehen in meinem Leben immer an erster Stelle.“

Vom „Neuen Vater“ war schon vor ein paar Jahrzehnten die Rede, als die ersten sich nicht mehr damit zufriedengaben, ihren Neugeborenen hinter der Glasscheibe der Säuglingsstation zuzuwinken oder beim Einschulungsfoto einmal kurz durchs Bild zu huschen. Aber häufig war der Wunsch Vater des Gedankens, dann kam nicht viel nach. „Verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre“ nannte das der Soziologe Ulrich Beck in den Achtzigern. Was sich seither bewegt hat, zeigt eindrücklich eine Studie des Allensbach-Instituts im Auftrag des Bundesfamilienministeriums von 2019: 84 Prozent aller Eltern minderjähriger Kinder finden, ein Vater solle so viel Zeit wie möglich mit seinem Nachwuchs verbringen. Nur 30 Prozent sind der Meinung, das sei auch schon in ihrer eigenen Kindheit erstrebenswert gewesen. Und junge Väter halten Wort: Während vor Einführung des Elterngeldes 2007 nur vier Prozent in Elternzeit gingen, nimmt heute etwa jeder zweite eine Babypause. 

Selbst wenn es meist nicht mehr sind als die zwei „Partnermonate“, hat das tiefgreifende Folgen. Väter sind von Anfang an selbstbewusster in ihrer Rolle, und die Kinder erleben: Wenn ich mit dem Laufrad hingefallen bin, Krach mit meiner Kitafreundin habe oder einen Basteltipp brauche, ist Papa nicht minder zuständig als Mama. Harald Rost, Soziologe und Väterforscher am Staatsinstitut für Familienforschung der Universität Bamberg, sagt: „Die gesellschaftliche Entwicklung braucht viel Zeit. Aber sie geht stetig in dieselbe Richtung.“ Antreiber dafür, sagt Rost, waren ursprünglich vor allem die Mütter: Die erste Generation gut ausgebildeter Frauen in den Siebzigern und Achtzigern, die von ihren Partnern Engagement und Unterstützung forderten. Die deutsche Vereinigung tat ihren Teil dazu, weil in der DDR viel mehr Mütter erwerbstätig waren als in der alten Bundesrepublik. Der gesellschaftliche Vorsprung zeichnet sich noch heute in der Statistik ab: Vergleicht man, wo Väter am häufigsten und am längsten Elterngeld beziehen, liegt die 100.000-Einwohner-Stadt Jena regelmäßig vor westdeutschen Metropolen wie Hamburg und München. 

Eine gute Nachricht mit einem kleinen Schönheitsfehler. Denn oft hält die innere Überzeugung auf Dauer nicht der Realität stand. Etwa, weil Väter im Durchschnitt vor dem ersten Kind besser verdienen – eine Folge des üblichen Altersunterschiedes und des Gender Pay Gaps – , weshalb sich längere Job-Auszeiten bei ihnen stärker aufs Familieneinkommen durchschlagen. Zwar steigt die Anzahl der männlichen Teilzeitbeschäftigten mit Kindern, aber auf niedrigem Niveau, in den letzten Jahren auf etwa sieben Prozent. Und als uns die Pandemie überrollte, mit Lockdown und Schulschließungen, fürchteten vor allem weibliche Wissenschaftlerinnen: Es wird die Gleichberechtigung um Jahrzehnte zurückwerfen, weil Mütter das ausbaden!

Ein Jahr später zeigt sich ein Bild, das nicht so schwarzweiß ist wie befürchtet. Martin Bujard, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, fasst zusammen: „Unter dem Strich hat die Coronakrise in manchen Gruppen zu mehr Gleichberechtigung geführt.“ Zwar tragen Mütter messbar die Hauptlast, aber die Pandemie ist teils auch eine Chance für die Beziehung zwischen Vätern und Kindern. Details sieht man, wenn man die Daten nach Berufsgruppen aufschlüsselt. Am allerschwersten haben es solche, in denen der Vater einen „systemrelevanten“ Beruf hat, etwa als Intensivpfleger oder Supermarktleiter, die Mutter aber nicht. Denn das führt eher zu einer noch traditionelleren Rollenverteilung. Anders im umgekehrten Fall: „Wenn die Mutter außer Haus arbeitet, etwa als Ärztin oder im Labor, sind Väter viel mehr gefragt“, so Bujard. Auch Phasen von Kurzarbeit entpuppten sich für viele als Segen auf den zweiten Blick: Dort, wo Männer wenig oder gar nicht arbeiteten, dabei aber einen Großteil ihres Gehalts bezogen, übernahmen sie 41 Prozent der Erziehungs- und Haushaltsarbeit. Rekord! Und während sich der Anteil regelmäßiger Homeoffice-Arbeiter und -arbeiterinnen im ersten Lockdown 2020 von fünf auf 25 Prozent erhöht hat, ergab sich neben allem Stress oft auch mehr Verständnis: „Arbeiten beide zu Hause, kann man nicht nur Zuständigkeiten gerechter verteilen, sondern auch besser würdigen, was der jeweils andere leistet“, bilanziert Bujard. 

Besonders engagiert in der Krise waren übrigens Väter auf mittlerem Bildungsniveau: Sie haben die Akademiker nicht nur eingeholt, sondern überholt. Vor der Pandemiezeit brachten es die Studierten auf dreieinhalb Stunden Familienarbeit täglich, seither sind es vier – sie überlassen ihren Partnerinnen oft die Mehrarbeit. Dagegen bringen es Handwerker, Facharbeiter oder Verkäufer jetzt auf täglich sechs Stunden – vorher waren es zwei Stunden und fünfzehn Minuten. 

Doch was wird von diesen Verschiebungen bleiben, wenn Corona geht? Bujard ist zuversichtlich: „Erfahrungen prägen Entscheidungen!“ Es macht langfristig einen Unterschied, wenn Väter einmal einen Fuß in der Tür haben, aber auch, wenn Paare in die Traditionalisierungsfalle tappen. Außerdem, glaubt der Experte, haben die Krisenerfahrungen Kollegen und Chefs auch ein anderes Bild vermittelt, vor allem in Homeoffice-Jobs: „Wenn man täglich im Videocall sieht, dass Kinder durchs Bild laufen oder ein Spielzeug herumliegt, macht es die Arbeitskultur bestenfalls menschlicher, verständnisvoller. Einfach, weil man sich gegenseitig in einer anderen Rolle wahrnimmt.“

Die Steilvorlage ist da, man muss sie nur verwandeln? Skeptischer sieht das Jutta Rump, Betriebswirtschafts-Professorin und Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) in Ludwigshafen: „Corona hat viele Entwicklungen enorm beschleunigt, aber nicht nur zum Guten. Auf der Habenseite: Mobiles Arbeiten ist zu einer akzeptierten Variante geworden, Kommunikation funktioniert zunehmend digital, virtuell, hybrid. Auf der anderen Seite haben auch wieder andere Führungsfiguren Konjunktur, etwa der hierarchisch denkende, meist männliche Krisenmanager. Und weiche Themen wie Vereinbarkeit könnten hinten runterfallen – vor allem, wenn Unternehmen sparen müssen.“ Klar: Ist die eigene Firma coronabedingt in Schräglage, dann ist man froh, wenn man seinen Job noch hat, und äußert lieber keine Sonderwünsche. Und dann sind da auch noch jene Eltern, die kaum von den Veränderungen profitieren: In 43 Prozent aller Paarfamilien kann keiner von beiden Eltern mobil arbeiten. Kita-Erzieherin und LKW-Fahrer, Chefärztin und Buchhändler. Wie also schaffen wir die Grundlage für ein Lebens- und Arbeitsmodell, in dem mehr Wahlfreiheit möglich ist und mehr Zeit für Väter und Kinder – zum Toben, ins Bett bringen, Inlineskates fahren, Playstation-Duell?

Jutta Rump glaubt: Veränderung geschieht nur, wenn sie von mehreren Seiten angeschoben wird. Zum einen, wenn der Staat Gleichberechtigung auch finanziell attraktiv macht, etwa durch das gemeinsame Elterngeld Plus. So wie es bereits passiert. Zum anderen psychologisch, durch die richtigen Vorbilder. Ältere Kollegen, die Verständnis äußern, wenn man lieber zur Schulaufführung der Tochter geht als auf ein Feierabendbier; männliche Chefs, die ein paar Monate Elternzeit nehmen, sich Führungsjobs teilen. Jüngstes Beispiel: Rubin Ritter, der 2020 öffentlichkeitswirksam seinen Job als Finanzchef beim Online-Riesen Zalando an den Nagel hängte, damit seine Frau nach der Geburt des zweiten Kindes wieder in ihrem Beruf als Richterin arbeiten kann. Klar, dass sich eine Familie in dieser Preisklasse keine Sorgen machen muss, wie sie mit einem Gehalt die Miete für die Dreizimmerwohnung stemmen soll – als Rollenmodell taugen diese Geschichten trotzdem, findet Rump: „Je mehr schon Kinder bei ihren Eltern gleichberechtigte Lebens- und Arbeitsmodelle sehen, desto selbstverständlicher werden sie später selbst übernehmen.“ Und das ist vielleicht eines der schönsten Geschenke, die Väter machen können. Ihren Töchtern wie ihren Söhnen.

INTERVIEW

„Starke Väter brauchen auch starke Mütter“

Volker Baisch ist Geschäftsführer der „Väter gGmbH“, die seit zehn Jahren Arbeitgeber zum Thema „väterfreundliche Personalpolitik“ berät. Er sagt: Veränderung ist auch eine Frage des Selbstverständnisses – und da sind Frauen fast ebenso gefragt wie Männer

ELTERN FAMILY: Durch Ihre Tätigkeit kennen Sie ganz unterschiedliche Arbeitsfelder, vom Handwerksbetrieb bis zum Großkonzern. Wo hat sich durch die Pandemie am meisten für arbeitende Väter verändert, und eher zum Guten oder eher zum Schlechten?

Volker Baisch: Natürlich haben große Konzerne oft andere Möglichkeiten zur Arbeitsumgestaltung als Mittelständler. Aber das Thema Vereinbarkeit, sowohl für Männer als auch für Frauen, hat an Fahrt aufgenommen und wird auch nicht verschwinden. Denn die Firmen sind teils besser durch die Krise gekommen als befürchtet und stehen vor der Herausforderung, Beschäftigte zu halten oder sogar neu zu gewinnen.

Das klingt nach einer Chance für Elternpaare – aber man hört in der Pandemie auch von viel Frust, Streit, Trennungen…..

Corona ist ein Lackmustest fürs eigene Rollenverständnis. Nach meiner Beobachtung sind am besten solche Paare durch die Krise gekommen, die sich schon davor bewusst um Gerechtigkeit bemüht haben. Probleme hatten eher die, die einfach hineingeschlittert sind und all diese Auseinandersetzungen nachholen mussten. Dabei kann es eine Riesenchance sein, sich zusammenzusetzen und zu reflektieren: Was lief gut, was wollen wir dauerhaft ändern? Zwölf Monate und länger, das ist ja eine Zeitspanne, in der sich neue Muster gründlich üben lassen.

Praktisch gefragt: Tun sich Männer im Homeoffice leichter – einfach, weil sie mit professionellem Tunnelblick den Wäscheberg übersehen?

Das ist sicherlich so, denn wer üblicherweise acht bis zehn Stunden nicht zu Hause ist, nimmt diese Haltung auch mit an den Heimarbeitsplatz. Der so genannte Mental Load bleibt häufig an den Müttern hängen. Umgekehrt haben viele Väter zum ersten Mal bewusst wahrgenommen: Ah, das ist auch alles noch zu tun! Dabei ist es nicht sinnvoll, wenn sich beide für alles zuständig fühlen, besser ist es, klar zu verteilen: Wer macht den Wocheneinkauf, wer die Wäsche, wer bringt die Kinder in die Kita.

Also private Verhandlungssache?

Nicht nur! Die Arbeitgeber sind gefragt, in dem sie mehr Flexibilität schaffen, zum Beispiel anordnen, dass montags und freitags nach Möglichkeit keine wichtigen Konferenzen stattfinden, oder glaubhaft vermitteln: Die Angst vor einem Karriereknick ist unbegründet, wenn Männer sich familiär mehr engagieren! Das sollten die Angestellten auch aktiv einfordern. Zur Wahrheit gehört aber ebenso: Wo die Kultur im Unternehmen dem widerspricht, haben es Einzelkämpfer schwer.

Und was ist mit Jobs, die Präsenz erfordern – im Gesundheitswesen, im Handwerk, im Handel? 

Man kann auch ein aktiver Vater sein, wenn Homeoffice keine Option ist. Das Elternzeit Plus-Modell ist eine gute Basis, um zum Beispiel für ein halbes Jahr auf eine Vier-Tage-Woche zu reduzieren, wenn Kinder klein sind. Und wir sehen immer wieder, dass auch Branchen mit Schichtbetrieb auf die Bedürfnisse von Eltern Rücksicht nehmen können, etwa bei der Polizei.

Als Mutter würde ich gern noch wissen: Wenn wir uns als Frauen aktivere Väter wünschen, was können wir dazu tun?

Erstens: So früh wie möglich das Thema Aufgabenverteilung und Lebensplanung aufs Tapet bringen, am besten schon in der ersten Schwangerschaft. Denn nur so haben beide Partner auch die Chance, die Elternrolle einzuüben. Zweitens: Keine doppelten Botschaften senden. Denn eine Mutter, die sich völlig zu recht einen aktiven Vater wünscht, muss ihrerseits auch bereit sein, den gegenteiligen Part zu übernehmen, also engagiert im Beruf zu sein und nicht den Anspruch haben, einfach versorgt zu werden. Nur so wird ein Schuh daraus.

Essen ist Macht

Liebe, Stellenwert, Zugehörigkeit – hinter dem, was wir zu uns nehmen, stecken jede Menge geheime Botschaften. Denn: Die Psyche sitzt immer mit am Tisch … (mein Text aus BRIGITTE LEBEN, Frühjahr 2021)

Stellen Sie sich für einen Moment vor, Essen wäre nichts als Treibstoff und Überlebensnotwendigkeit, und wir würden uns einfach ab und zu einen Löffel geschmacklose, hochkonzentrierte Astronautennahrung reinziehen. In dieser Welt gäbe es weder Foodblogs noch komplizierte Bestellungen („bitte den Salat ohne Essig, und die Gurken auf einem Extrateller“), weder Kohlrabiprobierzwang in der Kita noch diplomatische Krisen am Partybüffet. Wir würden eine Menge Zeit, Geld und Nerven sparen. Aber, ganz ehrlich: Würde uns das schmecken?

Lebensmittel sind Transportmittel für Gefühle, Werte und Hierarchien. Im Guten kennen wir das alle. Essen als Alltags-Versüßer, zur Belohnung und als Geselligkeits-Kitt – wahrscheinlich sind Rohkost-Dipps auch deshalb so beliebt, weil man sich mit ihnen gut durch eine langweile Abendeinladung knabbern kann. Und Liebe geht sowieso durch den Magen. Doch beim Essen wird auch sichtbar, wer das Sagen hat. Oder, so drückt es der Kassler Ernährungssoziologe Daniel Kofahl aus: „Ernährung dient dem Verhandeln von Machtfragen wie kaum ein anderes Thema.“ Weil wir damit buchstäblich am eigenen Leib erfahren, wo wir in der Rangordnung stehen. Wenn Oma beim Familientreffen dem Sohn statt der Tochter die Geflügelschere in die Hand drückt, damit er den Gänsebraten  zerteilt, dann sagt das etwas über ihr Verständnis innerfamiliärer Wichtigkeit aus.

Wenn uns verweigert wird, was wir gern hätten, gilt das genauso. Das kann durchaus aus den besten Absichten heraus geschehen, etwa, wenn die Eltern dem kleinen Finn-Luca die Gummibärchen wegnehmen, weil er sonst Bauchweh bekommt. Oder, als die Grünen vor einigen Jahren einen Shitstorm ernteten wegen ihrer „Veggie-Day“-Initiative für einen fleischlosen Kantinentag. Dabei wollten sie ja nicht das Fleischessen verbieten, nicht mal an einem Tag der Woche. Sondern damit Alternativen schmackhaft machen. Aber Menschen lassen sich ungern bevormunden bei der Frage, was sie sich in den Mund stecken. Auch nicht von gewählten Volksvertretern.

Manchmal steckt auch Ignoranz dahinter. Etwa, wenn der Chef beim Sommerfest Schweinshaxen für alle serviert und damit ein Signal setzt, gewollt oder auch ungewollt: Die Bedürfnisse seiner muslimischen Mitarbeiter*innen spielen für ihn keine Rolle.

Wo Diskussionen ums Essen zum Machtkampf werden, wehrt sich die Gegenseite mit Verweigerung. Auch damit kann man mächtig Druck ausüben: Vom Kleinkind, das konsequent das Gemüse ausspuckt, bis zum Häftling im Hungerstreik. Denselben Mechanismus, nur sehr viel subtiler, hat eine Freundin von mir erlebt, die ihren Schwarm beim ersten Hausbesuch bei ihr mit Champagner und Spargel beglücken wollte. Sein uncharmanter Kommentar: „Von Champagner muss ich aufstoßen, und Spargel mag ich nicht.“ Vielleicht sachlich richtig, aber diese Zurückweisung klang auch nach: Nicht nur dein Menü schmeckt mir nicht, auch unsere angehende Romanze. Ein deutliches Machtgefälle also. Es wurde dann auch nichts aus den beiden.

Und schließlich kann Essen auch ein Mittel der Selbstermächtigung sein. Das gilt für ein gutgemachtes Dinner for One nach einer Trennung genauso wie für Heranwachsende, die ihren Platz im Leben suchen: Den Beginn der Pubertät hört man heute nicht mehr an lauter Musik aus dem Kinderzimmer, man sieht ihn eher am Esstisch. Plötzlich wollen größer werdende Kinder nicht mehr beim ehemaligen Lieblingsgericht zulangen, sondern werden von heute auf morgen Veganer, um sich von den Eltern abzugrenzen. Oder krümeln lieber das eigene Bett mit Chips voll, als länger als zehn Minuten mit Mama und Papa Eintopf zu löffeln. Zumindest für eine Weile.

Doch Essen als Machtfaktor ist keine moderne Erfindung, sagt Wissenschaftler Kofahl. Und zählt auf: keine Weltreligion ohne Speisevorschriften, keine geschichtliche Epoche ohne Konflikte um Anbaugebiete, Vorräte oder die Frage, wie viel der Bauer von seiner Ernte an die Obrigkeit abzugeben hat. Die mittelalterliche Ständegesellschaft wurde auch durch strenge Essensregeln aufrecht erhalten – das weiße Fleisch, die guten Vögel standen dem Adel zu; und im 19. Jahrhundert wurde das neu entstandene Bürgertum am heimischen Herd gefestigt. Mit ihrem „praktischen Kochbuch“ half die Autorin Henriette Davidis (1801-1876) jungen Ehefrauen, ihren Mann ans Haus zu binden, auf dass er seine Fleischeslust nicht außerhalb stillen möge. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Kein kleiner Machtfaktor in einer Beziehung, in der Frauen enorm abhängig waren. Und „ohne Essen ins Bett“ war noch vor einer Generation eine allgemein angesehene Erziehungsmethode, verewigt etwa im Kinderbuchklassiker „Wo die Wilden Kerle wohnen“ von 1963.

Seitdem ist allerdings etwas Neues dazugekommen und macht der Macht die Pole Position streitig, sagt Daniel Kofahl: Der Drang nach Individualität. „Wir grenzen uns auf allen Ebenen voneinander ab und betonen unsere Eigenheiten, sei es in der Mode, im persönlichen Geschmack und Lebensstil – warum sollte es beim Essen anders sein?“ Weiß jeder, der schon einmal bei einer Einladung versucht hat, es allen seinen Freund*innen recht zu machen – auf einmal hat jede und jeder seinen eigenen Stil, inklusive realer oder gefühlter Unverträglichkeiten.

So kann das Thema uns spalten, aber es kann uns auch zusammenbringen, sagt Kofahl: „Essen ist bestenfalls ein Angebot, dazuzugehören, ein Signal, das jeder einzelne ernst genommen wird, auch in seiner Unterschiedlichkeit.“ Klar: Würden wir morgens und abends hochkonzentrierte Astronautennahrung zu uns nehmen, dann könnten wir uns den ganzen Zauber auch sparen. Aber will man das wirklich? Na, eben.

Mein schönster Fehler

Irrtümer, Versäumnisse und Scheitern machen uns menschlicher, lebendiger und mitfühlender. Und nicht nur das: Sie sind auch Hinweisschilder auf dem Weg zu uns selbst. Eine Ehrenrettung für unperfekte Entscheidungen und krumme Pfade (aus: Brigitte WOMAN, 2020)

Sie war 17, fast 18, eine Klassenstufe über mir, und sie wusste, wo es lang ging. Bei den Männern, im Nachtleben unserer Heimatstadt, in punkto Bands und Zigarettenmarken. Eines Tages, nach einem Streit mit ihrem Vater, packte Susanne ihren Rucksack und beschloss, in die WG einer Freundin zu ziehen. Bei Cappuccino mit Sahne in unserem Stammcafé fielen jene Worte, die für mich damals der Inbegriff von Lebensweisheit waren: „Ich bin alt genug, meine eigenen Fehler zu machen.“

Das war 1988, und heute nehme ich an, Susanne hatte den Satz im Kino aufgeschnappt. Teenager-Pathos, mehr Binse als Weisheit – aber dennoch mit einem wahren Kern. Denn je mehr Lebensjahre wir im Schleppnetz hinter uns herziehen, desto mehr zweifelhafter Beifang ist dabei. Fehlerfreie, bruchlose Biographien gibt es nicht. Jedenfalls, wenn wir das Leben wörtlich nehmen, uns bewegen, etwas wagen, in das ein oder andere kalte Wasser springen, statt uns dauerhaft in der eigenen Komfortzone einzuigeln.

Im Kleinen hilft uns eine Art psychisches Immunsystem, damit die blauen Flecken weniger schmerzen. So sagt es der Harvard-Psychologe und Entscheidungsforscher Daniel Gilbert. Manche Wahl reden wir uns später schön (der verregnete Wohnmobilurlaub hat uns als Familie enger zusammengebracht), manches Scheitern adeln wir, in dem wir ihm rückblickend einen Sinn verleihen. Etwa: Erst nach einer kräftezehrenden On-an-off-Affäre weiß ich, was mir emotional wirklich guttut. Manche Menschen brauchen für die Einordnung länger, andere sind schneller damit bei der Hand – reine Typfrage, sagt ein Forscher*innenteam der Uni Erlangen. Aber generell können wir kleinere Fehlentscheidungen ganz gut abpuffern.

Weniger gepolstert ist unsere Seele, wenn es ans Eingemachte geht, an wichtige Entscheidungen wie die für eine dauerhafte Beziehung, einen Beruf, einen 40 Jahre laufenden Immobilienkredit. Denn das unperfekte Leben passt nur schwer zum Zeitgeist, sagt die Münchner Philosophin, Rednerin und Autorin Rebekka Reinhard: „Wir erwarten von uns und unserem Leben die gleiche Funktionalität wie von unseren elektronischen Geräten, wir haben das binäre System verinnerlicht.“ Also: Schalter ein, Schalter aus, Erfolg oder Misserfolg, richtig oder falsch. Und nehmen in unserer Ungeduld viel zu kurze Abschnitte unter die Lupe: das erste Jahr in einem neuen Job, die ersten Monate einer neuen Liebe. „Das macht uns kurzsichtig“, warnt Reinhard.

Sie setzt ein Konzept dagegen, das zweieinhalbtausend Jahre auf dem Buckel hat, aber uns auch heute die Augen öffnen kann: Aristoteles’ Vorstellung vom „gelungenen Leben.“

Inspiriert von dem antiken Vordenker können wir festhalten: Der Mensch ist von Geburt an ein Mängelwesen, und ein gelungenes Leben schließt Fehler mit ein. Nicht nur, weil sich manche davon erst viel später als Segen erweisen. Etwa der jobbedingte Umzug an einen Ort, der überhaupt nicht zu uns passt, aber an dem wir wichtige berufliche Kontakte knüpfen. Nicht nur, weil sie uns motivieren, zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Sondern auch weil sie uns menschlicher und empathischer werden lassen. Denn wenn wir genau so fehlbar sind wie unsere Mitmenschen, dann können wir auch uns selbst und anderen Trost spenden, einander helfen und aufrichten.

Diese Weitsicht fällt uns aber oft schwer, weil in unsere geistige DNA verschiedene Denktraditionen eingeschrieben sind –und zwar unabhängig von unseren bewussten Überzeugungen. Die älteste davon stammt aus dem Christentum: Wir sind als Sünder geboren, nur göttliche Gnade kann uns retten. Diese Vorstellung steckt selbst dem härtesten Atheisten in den Knochen, die göttliche Nachsicht weniger. Folge: Wir urteilen oft unbarmherzig über uns und andere. Die Kollegin wird ernsthaft krank? Dann hat sie wohl ihre Work-Life-Balance vernachlässigt. Ihr Fehler. Wir sind bei der Beförderung leer ausgegangen? Haben wir uns eben zu wenig reingehängt. Verstärkt wird dieser Gedanke noch durch die Ideale der Aufklärung: Philosophen wie Kant und Co erklärten im achtzehnten Jahrhundert den Menschen zum Herren seines eigenen Schicksals. Das ist ermutigend. Aber die Kombination von beidem ist auch ein fatales Vierer-Pack: Sünde minus Gnade plus Selbstwirksamkeit minus Demut.

Kommt dann noch unser modernes Leistungsethos dazu, setzen wir uns ganz schön unter Druck. Dabei führt der Weg zu einem zufriedenen Leben durch den Abgrund, glaubt Reinhard: „Erst durch Straucheln und Irren können wir das Glück schätzen und unsere Werte definieren.“ Denn neben dem Lerneffekt – etwa: eine gesundheitliche Krise lehrt uns ein neues Verhältnis zu unserem Körper – stellen uns Fehler auch noch vor eine wichtige, grundsätzliche Frage: Was für ein Mensch will ich sein?

An dieser Stelle zitiert Reinhard gerne die chinesisch-amerikanische Philosophin Ruth Chang. Die sagt: schwere Entscheidungen, etwa die für oder gegen Lebenspartner*innen, Babys, Immobilienkredite, treffen wir nicht durch mathematisches Abwägen. Sondern am besten, in dem wir eine Antwort auf genau diese Frage suchen. Denn wenn wir im Nachhinein den Eindruck haben, falsch abgebogen zu sein, dann liegt das häufig daran, dass wir uns selbst nicht gut genug kennen. Und so gegen unsere fundamentalen „inneren Gründe“ handeln: gegen unseren Freiheitsdrang oder unser Sicherheitsbedürfnis, unsere Spontaneität oder unser Bedürfnis nach Bindung. Eine spätere Kurskorrektur ist dann vor allem eines: ein Schritt mehr zu unserem wahren Ich. „Fehler helfen, eines unserer wichtigsten Lebensziele zu erreichen: Uns besser kennen lernen, mit uns selbst befreundet sein“, sagt Rebekka Reinhard.

Und deshalb sind wir selbst auch die einzige Instanz, die darüber entscheidet, was eigentlich ein Fehler ist – und was genau richtig. Auch wenn das nicht dem Mainstream entspricht. Es ist zum Beispiel wirtschaftlich nicht schlau, eine lange Babypause zu machen und dem Partner das Geldverdienen zu überlassen. Vor allem wenn die Ehe später scheitert. Trotzdem kann es die beste Entscheidung sein – wenn uns die gemeinsame Zeit mit unseren Kindern mehr wert ist als jeder Rentenpunkt. Es ist auch nicht vernünftig, für eine überteuerte Großstadtwohnung Miete zu zahlen statt ein Reihenendhaus im Speckgürtel abzubezahlen. Aber das einzig richtige, wenn wir nicht der Typ sind für Grillfeste mit den Nachbarn und Sonntagsspaziergänge. Selbst wenn wir dann im Alter ein Zimmer untervermieten müssen, um den Mietzins zu stemmen. An jeder Entscheidung klebt ein Preis, finanziell oder ideell. Es liegt an uns, ob wir bereit sind, ihn zu zahlen.

„Egal, wie wir uns im Leben entschieden haben – wichtig ist, Verantwortung dafür zu übernehmen, statt sie auf unsere Familie, unsere Herkunft, unser Umfeld abzuschieben“, so drückt es Ursula Ohse aus. Ohse arbeitet als Coach in Pforzheim und ist spezialisiert auf Biographiearbeit. Die meisten ihrer Klient*innen kommen in Krisen- und Entscheidungssituationen zu ihr, und sie kennt deren innere Kämpfe – nicht nur, wenn Menschen mit dem hadern, was sie getan haben, vor allem, wenn sie mit dem hadern was sie versäumt haben.

Auch Ohse stellt die Wertefrage, wenn ihr Gegenüber meint, sich verrannt zu haben. Etwa der Schmerz, wenn ein Kinderwunsch unerfüllt geblieben ist. „Was steckt hinter dem Gefühl des Bedauerns? Und wie kann ich heute verwirklichen, was damals zu kurz gekommen ist?“ Vielleicht gab es mit 35 gute Gründe, eine Beziehung zu beenden, statt mit dem falschen Partner Kinder zu bekommen. Aber auch wer nie ein Baby zur Welt gebracht hat, kann seine fürsorgliche Seite leben: ob bei den eigenen Neffen und Nichten, in einem Beruf, der das fördert, oder als Vorlesepatin in der Kita nebenan. Ohne diese ganz tiefe Bindung, dafür auch ohne Schmerz und Ängste, die auch zum Elternsein gehören. Klar: Nicht jede vermeintliche Fehlentscheidung lässt sich einfach schmerzfrei entsorgen. Aber auch das ist ja ein Wert an sich: der Trauer über verpasste Chancen einen Platz im Leben zu geben. Liebevoll sein mit dem eigenen, jüngeren Ich, das gute Gründe hatte, so zu handeln.

Susanne, übrigens, ist 1988 schon nach drei Tagen wieder nach Hause zurückgekehrt. Und nicht nur, weil der Kühlschrank dort besser gefüllt war als in der WG ihrer Freundin. Was seither aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Letztes Jahr muss sie ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert haben. Ich hoffe, sie hat in all den Jahren noch eine Menge Fehler gemacht. Und wünsche ihr, es waren genau die richtigen.

Die Blauen Reiterinnen

Geliebt und gefördert, aber auch unterschätzt und ausgenutzt: Die Künstlerinnen des „Blauen Reiters“ standen lange Zeit im Schatten der männlichen Stars Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Franz Marc. Zu Unrecht (veröffentlicht in Merian Bayern, Sommer 2016, aber immer noch schön…)                                       

Alles hätte so schön sein können. Der Himmel über dem Murnauer Moos leuchtete blau, als hätte der Sommer zum Abschied noch einmal einen vollen Farbtopf auf einer riesigen Leinwand ausgekippt. Die Sonne verzierte den Staffelsee mit Lichttupfen, die Frühherbstkühle erfrischte die Körper und machte die Gedanken leicht. Oktober 1911 war es, als sich die Künstlerclique um Wassily Kandinsky, Franz Marc und August Macke im Murnauer Sommerhaus zur Redaktionssitzung für ihren neuen Almanach „Der Blaue Reiter“ traf. „Es waren unvergessliche Stunden, als jeder der Männer sein Manuskript ausarbeitete, feilte, änderte, und wir Frauen es dann getreulich abschrieben“, so schwärmt August Mackes Frau Elisabeth in ihren Lebenserinnerungen. Aber dann geschah etwas, das Elisabeth die Stimmung verhagelte. Gründlich. „Wir fanden es nicht sehr geschmackvoll, dass Marc und Kandinsky jeder mit seiner Amazone auf dem Plan erschienen, während von August keine vollwertige Reproduktion eines Bildes gebracht werden sollte“, notierte sie pikiert.

Die „Amazonen“, das waren Franz Marcs Frau Maria und Kandinskys Lebensgefährtin Gabriele Münter, der das Sommerhaus gehörte. Nicht, dass Frau Macke ein Problem mit kreativen Frauen gehabt hätte. Diese so genannten „Malweiber“ drängten ja schon seit Jahren in die Klassen privater Kunstschulen, weil die Kunstakademien keine weiblichen Studentinnen aufnahmen. Aber ihre Bilder an prominenter Stelle im Jahrbuch? Später kam’s dann doch anders: Macke rein, Maria Marc raus, Münter blieb. Als hätte man vorausgesehen, wie sich der Kunst-Kanon der klassischen Moderne entwickeln würde.

Mit ihrem biederen Frauenbild stand Künstlergattin Elisabeth selbstredend nicht alleine, sondern entsprach völlig dem Zeitgeist. Ob im niedersächsichen Worpswede, im mecklenburgischen Ahrenshoop oder im bayerischen Bermudadreieck zwischen Tegernsee, Murnau und Sindelsdorf: Überall, wo sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Künstler trafen, um in ländlicher Abgeschiedenheit das Spiel mit Licht und Farbe neu zu erfinden, spielten die Männer die erste Geige. Zwar waren die Herren der Schöpfung sich grundsätzlich einig, dass auch Frauen zu Innerlichkeit und kreativem Ausdruck befähigt wären – aber zu viel Selbstentfaltung wirkte auch auf einige Mitglieder des Blauen Reiters befremdlich. „Der Lebensberuf der Frau und Mutter ist so ungleich heilig und hoch, dass es geradezu lächerlich ist, wie die Emanzipierten noch dazu das Feld des Mannes haben wollen“, tönte August Macke. Bis heute sind Namen wie Kandinsky, Macke und Marc als Vertreter der klassischen Moderne weltberühmt, dagegen kennt man ihre Frauen oft weniger als Künstlerinnen denn als dekoratives Bildmotiv.

Immerhin: Das postkartenbekannte Porträt Marianne Werefkins, der exaltierten Förderin und Muse Alexej Jawlenskys, hat kein Mann gemalt. Sondern ihre Freundin Gabriele Münter. Münter, die wohl bekannteste weibliche Vertreterin des blauen Reiters, geboren 1877 in Berlin, gilt heute als Künstlerin von Weltrang, ist aber dennoch vor allem in Deutschland und Skandinavien ein Begriff. Ganz anders als ihr langjähriger Lebensgefährte Wassily Kandinsky, dessen abstrakte Farb-Explosionen weltweit bekannt sind. „Münter hat immer wieder neu experimentiert, mit Farben, Formen, Bildausschnitten. Ihre Stillleben, ihre Interieurs, die charakteristischen Porträts ihrer Künstlerfreunde, ihre Neuinterpretation volkstümlicher Hinterglasmalerei machen sie einzigartig und unverwechselbar – vor allem aber auch ihre Bereitschaft, sich ständig neu zu erfinden und den eigenen Stil in Frage zu stellen“,  urteilt Annegret Hoberg, die als Kuratorin am Münchner Lenbachhaus schon für die große Münter-Retrospektive von 1992 verantwortlich war und ihre Expertise für eine Münter-Schau im Jahr 2017 mit 60 bis 70 bislang ungezeigten Werken zur Verfügung stellte.

Ein Ausnahmetalent, das auch Wassily Kandinsky früh erkannte. In beinahe komischer Verzweiflung schrieb er seiner Malschülerin und späteren Geliebten: „Du bist hoffnungslos als Schüler – man kann dir nichts beibringen. Du hast alles von Natur. Was ich für dich tun kann ist dein Talent so zu hüten und zu pflegen, das nichts falsches dazukommt.“ Um so mehr ärgert es Isabelle Jansen, Kunsthistorikerin, Geschäftsführerin der Münter-Eichner-Stiftung und Kuratorin des Münter-Hauses, wenn Gabriele Münter bis heute zu sehr aufs Private reduziert wird: „In der Rezeption von Künstlerinnen spielt die eigene Biographie eine überdimensionale Rolle, und so gilt Münter vielfach völlig zu Unrecht als Anhängsel von Kandinsky. Bei männlichen Malern fragt niemand zuerst nach ihren Liebschaften und Familienverhältnissen!“

Interessant sind sie aber durchaus, diese neuen Liebes- und Beziehungsvarianten, die sich damals vor allem in der Bohème deutscher Großstädte herausbildeten, gerade in München-Schwabing. Ein früher Hauch von 1968, aber auch eine Andeutung von Emanzipation, die sich da neben dem bürgerlichen Mackertum eines August Macke Bahn brach. Man schätzte Frauen eben nicht nur als Kaffeekocherinnen und Schreibkräfte, sondern auch als Gesprächspartnerinnen und als Künstlerinnen, lud sie zu gemeinsamen Ausstellungen ein, und natürlich ergaben sich daraus auch Liebesbeziehungen. Dass die junge Malschülerin Gabriele und der elf Jahre alte, verheiratete Lehrer Wassily während eines Malkurses in Kochel am See im Sommer 1902 schließlich mehr tauschten als Bildkompositionstipps, lag auch daran, dass Gabriele für die damalige Zeit ausgesprochen freiheitliche Vorstellungen hatte: Auf Fotos dieser Zeit ist sie in lockerer „Reformkleidung“ zu sehen, und seit ihrer Jugend fuhr sie Fahrrad, was damals als höchst unschicklich für eine junge Dame galt. Kandinsky hatte auch eines, und so bekamen die Malausflüge in die Natur wohl bald eine erotische Note.

Dabei waren Gabrieles Vorstellungen auch durchaus geprägt von einem traditionellen Rollenbild: „Meine Idee von Glück ist eine Häuslichkeit, so gemütlich und harmonisch, wie ich sie eben bereiten könnte“, schrieb sie nach dem Sommer 1902 sehnsüchtig an Kandinsky. Andere Künstlerinnen der Gruppe nahmen sich sogar noch mehr zurück, stellten eigene Ambitionen in den Schatten ihrer vermeintlich größeren Lebensaufgabe: Die russische Großbürgerstochter Marianne Werefkin sah sich lange Jahre fast ausschließlich als Muse ihres jüngeren Protegés und Geliebten Alexej Jawlensky, den sie mit Geld und Beziehungen unterstützte, und für den sie die Miete der herrschaftlichen Wohnung in der Münchner Giselastraße bezahlte. Sogar dann noch, als er das minderjährige Hausmädchen Helene schwängerte. „Ich bin Frau, bin bar jeder Schöpfung, ich kann alles verstehen und nichts schaffen“, so stapelte sie in ihrem Tagebuch tief. Erst im Alter etwa 50 Jahren entstand ihr künstlerisches Hauptwerk, das allerdings nach Expertenmeinung nicht an die Begabung und Innovationsbereitschaft Gabriele Münters heranreicht. Und Maria Marc? Ähnlich wie Gabriele Münter hatte sie einen Mann an ihrer Seite, der sie künstlerisch förderte, aber ihr dafür einiges zumutete. Den Sommer 1906 verbrachten die beiden in Kochel, in Begleitung von Franz Marcs Kunstlehrerin Marie Schnür, die sich dort auch nicht nur aus künstlerischen Gründen auszog. Als „Thränenhügel“ bezeichnete Maria Marc später einen Berghang bei Kochel, auf dem sich manche unschönen Szenen des amourösen Dreiergespanns abgespielt haben müssen. Erst spät fand Maria Marc ihre ganz persönliche künstlerische Ausdrucksform in Form von Webteppichen mit abstrakten Mustern. 1952, bei ihrer ersten und einzigen Solo-Ausstellung in einer Münchner Galerie, war sie 76 Jahre alt.

So unterschiedlich die Stile der Künstler und Künstlerinnen, so sehr zieht sich ein immer wiederkehrendes Motiv durch ihre Bilder: die oberbayerische Landschaft. Sindelsdorf, Lenggries, Kochel, Ried, so hießen die Sehnsuchts- und zeitweiligen Lebensorte der Gruppe – und immer wieder Murnau. Ohne die Atmosphäre und Lichtstimmung der Voralpenlandschaft wäre die Kunst des Blauen Reiters kaum denkbar, erklärt Lenbachhaus-Kuratorin Annegret Hoberg: „Die häufig changierende Beleuchtung, die klaren, starken Farben, die Föhnstimmung, in der die Konturen noch deutlicher hervortreten, das findet man nirgends so wie dort.“ „Das Blaue Land“, so taufte Franz Marc die Voralpenlandschaft, und auch die sonst eher nüchterne Gabriele Münter kam ins Schwärmen: „Weiße dünne Windwolken, die Berge im Schatten so dunkelblau!“ Die Künstler fanden dort auch das Volkstümliche, das Einfache, den Stoff, nachdem die Expressionisten so sehr gierten. Besonders Gabriele Münter interessierte sich für die traditionelle Glasmalerei und fand in Murnau Meister, die sie in das alte Kunsthandwerk einführen konnten.

Den Sommer 1908 hatten Münter und Kandinsky gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky dort verbracht, eine Phase explosiver Kreativität. Im August 1909 erwarb Gabriele Münter auf Kandinskys Drängen hin zum Preis von 12.500 Reichsmark das Haus in der Kottmüllerallee, damals das einzige Gebäude außerhalb der Bahnlinie. Endlich ein Ort, um ihre Liebe mit Kandinsky zu leben und Zeit mit den Künstlerfreunden zu verbringen. Die Einheimischen tauften es auf den Spitznamen „Russenhaus“, was keineswegs liebevoll gemeint war: Diese kreative Clique mit ihren wilden Verhältnissen, teilweise auch noch begleitet von unehelichen Kindern, wurde misstrauisch beäugt.

Dem Glück tat das keinen Abbruch. Liest man Briefe und Tagebucheintragungen und sieht man sich Fotos aus den Murnauer Schaffensperioden an, hat man den Eindruck: Hier stehen ein paar frühe Vertreter der „Generation Landlust.“ Detailliert beschreibt Gabriele Münter, in welche Reihen Pflücksalat am besten gedeiht, und auf den Bildern sieht man Kandinsky in Lederhose im eigenen Beet. Murnau erdete die verkopften Künstler, der Föhn pustete ihre Gedanken frei, und die unmittelbare Nähe zur Natur ermöglichte es ihnen gleichzeitig, den Schritt zu machen von kunstvoller Wiedergabe zu einer ganz persönlichen Handschrift: „Durch die malerische Auseinandersetzung mit dieser Landschaft fanden die Mitglieder der Gruppe ihre jeweils eigene, reduzierte und zugleich ausdrucksstarke Bildsprache “, erklärt Kunsthistorikerin Isabelle Jansen. „Bei Kandinsky führte der Weg schließlich in die Abstraktion.“ Ein Weg voller spannender Zwischenstationen: So zeigt etwa Kandinskys Bild „Improvisation Klamm“ von 1914 auf den ersten Blick eine dynamische Farben- und Formenkomposition, nur wer genau hinsieht, entdeckt das winzige Paar in alpenländischem Outfit in seinem Zentrum.

Heute hängt dieses Bild im Münchner Lenbachhaus. Dass dieses Museum über eine derart beeindruckende Sammlung von Kunstwerken des Blauen Reiters verfügt, ja, dass überhaupt so eine große Zahl dieser Bilder die Nazizeit und ihre Jagd auf „entartete Kunst“ überstanden hat – das ist neben den eigenen Werken wohl der größte Verdienst der Blaue-Reiter-Frauen. Maria Marc versteckte Gemälde ihres im ersten Weltkrieg gefallenen Mannes jahrelang hinter einem Wandpaneel im Schlafzimmer des Hauses in Ried, Gabriele Münter hortete Kandinsky-Werke in einem trockenen Kellerraum. Zwar hatte ihr langjähriger Gefährte sie zwischenzeitlich verlassen und eine jüngere Frau in zweiter Ehe geheiratet. Aber ihrer künstlerischen Wertschätzung für ihn konnte diese Enttäuschung nichts anhaben.

Münter engagierte sich auch dafür, dass die Bilder des Blauen Reiters schon in den ersten Nachkriegsjahren wieder in München gezeigt wurden, und schenkte der Stadt 1957 über 90 Ölgemälde und zahlreiche Temperabilder, Aquarelle, Zeichnungen, Grafiken und Hinterglasbilder Kandinskys. Die Frauen des „Blauen Reiters“ hielten auch als Freundinnen lebenslang zusammen: vor allem Gabriele Münter und Maria Marc blieben stets in Kontakt, zu ihrem Kreis gehörte auch Elisabeth Macke, die sich als junge Frau noch über die Ambitionen der „Amazonen“ mokiert hatte. Vergeben und vergessen.

Im Alter von beinahe achtzig Jahren erhielt Gabriele Münter den Kunstpreis der Stadt München. „Es ist nun eingetreten, was Kandinsky mir schon früh prophezeit hatte, wenn ich als Frau immer zurückgesetzt und übersehen wurde, dass spät, aber sicher die allgemeine Anerkennung kommen würde“, sagte sie in ihrer Preisrede voller Genugtuung. 1962 starb sie in ihrem Schlafzimmer im „Russenhaus“. An einem Maimorgen, unter einem Himmel, der sich so mächtig ins Zeug legte, als wollte er einen strahlenden Sommer vorwegnehmen.