Endlich wieder Schule. Endlich wieder Schule?

Am ersten Tag im Schuljahr 21/22 kommt vieles in die Tüte, für alle: eine Portion Vorfreude auf den Alltag, eine Prise Nervosität. Wie normal wird das neue Normal? Wie gehen wir, unsere Kinder und ihre Lehrer mit dem Aufholdruck um? Und wer sollte jetzt eigentlich nachsitzen – die Politik, die Schüler, das Schulsystem? Das habe ich für die September-Ausgabe von ELTERN FAMILY recherchiert und aufgeschrieben

Das schönste Ferienerlebnis meiner Kinder fiel auf einen Freitag, den Dreizehnten. Das war im März 2020, wir saßen im Auto auf der Urlaubsrückfahrt und verfolgten im Radio die News aus den Nord-Bundesländern: Schulschließungen reihum, wegen dieses neuartigen Virus, Covid irgendwas. Kurz vor den Hamburger Elbbrücken war es offiziell, als letzter hatte auch unser Stadtstaat beschlossen, die Frühjahrsferien zu verlängern. Jubel auf der Rückbank, als wäre in Minute 119 ein entscheidendes Tor gefallen. 

Denn keiner konnte ahnen, was elf Millionen Erst- bis Zwölftklässlern landesweit noch blühen würde: Bis Mai 2021, so sagt der Deutsche Lehrerverband, sind pro Kind 350 bis 800 Stunden Präsenzunterricht ersatzlos ausgefallen. Den Negativrekord mit 900 halten Hamburger Mittelstufenschüler, darunter die beiden auf meiner Autorückbank. Auch sämtliche Highlights waren gestrichen: Praktika, Klassenreisen, Tischtennisrunden. Was blieb, waren Homeschooling, W-LAN-Krisen, hilflose Hilfslehrerversuche. Jetzt, im Spätsommer 21, sind hoffentlich die letzten Kilometer des Marathons erreicht. Schule bleibt uns als AHA-Erlebnis am Küchentisch in Erinnerung.

Und jetzt beim Schulanfang ist die Vorfreude bei allen fast so groß wie die Begeisterung über die Dauerferien im Frühjahr 20. Doch Wut und Ängste sind es auch: Wie tief sind Wissenslücken, wie groß soziale Verwerfungen? Wie schaffen die Kleinen das Rein- und die Großen das Weiterkommen? Was müssen, was können wir nachholen – und wie? 

Schule und Bildungspolitik: Klassenziel verfehlt

Die Schule hat in der Krise ihr Bestes gegeben – leider war das nicht genug. Und das liegt weniger an den Lehrern oder Schulleitungen, sondern vielmehr am Gesamtsystem, das ungefähr so agil ist wie ein schwerer Hochseetanker. „Soziale Systeme haben hohe Beharrungskräfte, zu lange setzt man auf Althergebrachtes. So ist leider auch gerade wenig Wirkungsvolles von der Politik zu erwarten, um die Folgen der Corona-Schuljahre abzumildern. Die Bundesländer verkörpern nicht einen Wettbewerb der Ideen, sondern agieren auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.“: Kein gutes Zeugnis, das der Sozialforscher Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ausstellt. Seine Erkenntnis: Die größten Rückstände haben oft diejenigen, die ohnehin schon den schwersten Rucksack tragen. Auf dem Land, wo es kein schnelles W-LAN fürs Homeschooling gibt; in sozialen Brennpunkten, in denen mehr Kinder aus prekären Verhältnissen stammen, die zu Hause kein Deutsch sprechen oder beides; in Grundschulen, wo die Neugier der Schulanfänger oft in einem Haufen kopierter Arbeitsblätter erstickt wurde. „Aber die einzige Lösung, die uns einfällt, ist: Ferienkurse für die aus dem Boden stampfen, die ohnehin besonders belastet sind. Statt einen großen Wurf zu wagen und allen Akteuren, also Schülern, Eltern und Lehrkräften, mehr Zeit zu geben“, ärgert sich Helbig. Dabei gibt es genügend Vorschläge aus verschiedenen Richtungen, etwa, den Stoff für die nächsten zwei Schuljahre auf drei zu strecken.

Zu einem ähnlichen Urteil kommt Ali El-Mafaalani, Soziologe an der Universität Osnabrück. Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie hat er das Buch „Mythos Bildung“ (Kiwi, 20 Euro) veröffentlicht, und auch er sagt: Die letzten anderthalb Schuljahre haben die soziale Spaltung noch vertieft, den Leistungsabstand zwischen dem Gymnasium im Villenviertel und einer Gesamtschule in der Hochhaussiedlung noch größer gemacht. Er schätzt, dass etwa die Hälfte aller Schüler mit gravierenden Wissenslücken ins neue Schuljahr startet. Andere Experten sehen die Lage nicht ganz so pessimistisch. Aber dass es zu viele sind, daran zweifelt niemand. 

Mit Schuld daran, sagt El-Mafaalani, hat auch die oft überbordende Bürokratie. Stichwort „Digitalpakt“: Schon vor dem Corona-Ausbruch hatte Vater Staat einen milliardenschweren Topf für eine bessere digitale Ausstattung der Schulen bereitgestellt, doch abgerufen wurde, Stand Frühjahr 21, nur etwa ein Viertel der Gelder. Obwohl das Thema plötzlich noch an Dringlichkeit gewann  – so hätten zum Beispiel, Tablets das Homeschooling gerade für solche Kinder erleichtert, die zu Hause weder Laptop noch Drucker besitzen. Aber um an die Gelder zu kommen, braucht es einen Antrag und ein detailliertes Digital-Konzept. Das kostet Zeit – Zeit, die viele Schulen angesichts der neuen Herausforderungen nicht hatten. Vor allem die ohnehin belasteten. Und nach dem einmaligen Segen bleibt die dauerhafte Finanzierung aus Landesmitteln oft ungewiss. 

Ein engagierter Lehrer (oder eine Lehrerin) allein kann solche strukturellen Probleme nicht lösen, sagt El-Mafaalani, der selbst lange Jahre in Nordrhein-Westfalen unterrichtet hat: „Der Lehrberuf belohnt Innovation nicht.“ Wenn sie sich trotzdem durchsetzt (siehe Interview Seite x), ist das die Ausnahme.

Also alles verloren? Das nun auch nicht, es gibt ja Ideen fürs Krisenmanagement. El-Mafaalani schlägt vor: Wenn schon keine Schuljahresverlängerung, dann wenigstens die ersten vier Wochen nach den Ferien zur Wiederholung von Vorjahresstoff nutzen, wie es Mecklenburg-Vorpommern angekündigt hat. Den Lehrplan reduzieren – aber nach verbindlichen Kriterien. Und nicht so wie im letzten Schuljahr, als Lehrkräfte nach Gutdünken wegließen, was ihnen nicht machbar erschien. Mehr Fortbildung für Lehrer, mehr Präsenzzeit für Schüler – aber nicht Mathe-Nachhilfe und Extra-Vokabeltests, sondern Sportangebote, Musikkurse, Projekte für das soziale Miteinander: „Seien wir doch ehrlich: Es fehlt den Kindern im Moment an allem!“

Kinder und Jugendliche: Gemeinschaft, wie ging das noch?

Eines immerhin hatten Schülerinnen und Schüler reichlich, nämlich Freizeit. Verbrachten sie nach einer Erhebung des Münchner Ifo-Institutes vor der Pandemie an jedem Werktag durchschnittlich 7,4 Stunden mit Schule und Hausaufgaben, waren es im Frühjahrs-Lockdown nur 4,3 Stunden. Etwa ein Viertel hat sogar nur rund zwei Stunden am Tag gelernt, darunter besonders Leistungsschwächere und Nicht-Akademikerkinder. Stattdessen: mehr Fernsehen, Computerspiele, Handy. „In der Pandemie hat so gut wie kein Kind begonnen, ein Instrument zu lernen, oder ist einem Sportverein beigetreten“, sagt El-Mafaalani. „Und wenn zu Hause nicht auf gesunde Ernährung geachtet wird, auf Bewegung, auf geistige Anregung, fehlt die Schule, um einen Ausgleich zu schaffen.“ Ein Kind, das täglich ein frisch gekochtes Mittagessen in der Schulmensa bekommt, fragt vielleicht auch zu Hause mal nach Gemüse. Oder nimmt ein Buch in die Hand, das die Lieblingslehrerin empfohlen hat. 

Kinder am oberen Ende der Bildungs- und Einkommensskala sind da meist von Haus aus besser dran. Geschlossene Schulen sind verringerte Lebenschancen.

Vor allem die jüngeren Kinder haben oft nicht nur kaum etwas dazugelernt, sondern sogar Entscheidendes verlernt. Das gilt nicht nur für anderssprachige, denen das Deutschtraining beim Spielen auf dem Schulhof fehlt, sondern für alle: die motorische Entwicklung ist bei vielen auf der Strecke geblieben, das soziale Miteinander auch. Heutige Zehntklässler haben über Jahre eingeübt, wie man gemeinsam Referate erarbeitet. Oder sich einigt, wer wann aufs Fußballfeld darf. Die Erstklässler haben dagegen echte Erfahrungslücken – denn auch die Kita fiel ja flächendeckend aus.

Wir Eltern: Druck machen, aber den Richtigen 

Wir Mütter und Väter haben dagegen tatsächlich einiges (wieder) gelernt: schriftlich teilen, Passivformen erklären, Hauptstädte aufsagen. Manchen war der Hilfslehrerjob unangenehm vertraut, anderen weniger. Eine Ost-West-Lücke sieht Bildungsforscher Marcel Helbig, selbst gebürtiger Thüringer: „Im Süden sind die Familienstrukturen und weiblichen Erwerbsmuster meist anders als in den Neuen Bundesländern.“ Das heißt: Während leidgeprüfte Münchner Mütter neben Halbtagsjobs und Hausaufgabencoaching jetzt eben den vollen Schulstoff mitschulterten, fanden sich Erfurter Eltern oft zum ersten Mal in der Situation. Denn in Thüringen arbeitet die Mehrheit der Eltern doppelt Vollzeit, 95 Prozent der Kinder werden im Grundschulhort betreut. Ein Grund, glaubt Helbig, warum das Bundesland die gesetzliche Corona-Notbremse deutlich weniger streng durchzog als Bayern – Homeschooling, made by Mama, war dort einfach keine Option. 

Bei allen Unterschieden ähnelt sich unsere Gefühlslage aber landesweit. Wir sind halb ausgelaugt, halb hoffnungsvoll, und latent besorgt: Müssen wir jetzt auch noch versäumten Stoff mit unseren Kindern nachpauken, am Wochenende, in den Ferien? Helbig hat dazu eine klare Meinung: „Eltern sollten Druck machen – aber nicht etwa ihren Kindern, sondern der Politik.“ 

Also: lieber eine Mail an den Bundestagsabgeordneten oder das Kultusministerium schreiben, als den eigenen Nachwuchs mit Extralektionen triezen. Das findet auch Aladin El-Mafaalani: „Ansprüche anmelden, durchdachte Konzepte fordern, und zwar jetzt. Denn viele andere Gruppen fordern auch Unterstützung, völlig zurecht, von Altenpflegern bis zu Kulturschaffenden. Bleiben Eltern zu still, werden ihre Belange und die ihrer Kinder übersehen.“ 

Zweite, vielleicht noch wichtigere Hausaufgabe für uns: den Blick weniger auf Schulnoten fixieren als auf Gesundheit, körperlich und seelisch. Der aktuellen Copsy-Studie am Hamburger UKE zufolge leidet ein Jahr nach Pandemiebeginn fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten, etwa depressiven Verstimmungen, Ängsten oder körperlichen Symptomen, die Wartezeiten auf Therapieplätze lassen sich eher in Jahren als in Monaten messen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, ist es wichtig, zuzuhören, gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen. Basteln, Paddeltour, Party mit Freunden. Unsere Kinder entlasten statt belasten. Und uns auch.

Fazit, oder: Was jetzt auf dem Lehrplan steht

Ein düsteres Bild, leider. Aber nicht ohne Hoffnungsschimmer. Stichwort „Aufholpaket“: Zwei Milliarden Euro nimmt der Bund in die Hand, nicht nur für klassische Nachhilfe, sondern auch etwa für Sportkurse, Sozial- und Kreativangebote. Das ist zwar nur ein Viertel von dem, was beispielsweise unser kleiner Nachbar Niederlande ausgibt, aber auch nicht nichts, findet El-Mafaalani: „Immerhin gibt es eine gewisse Aufbruchstimmung, die Schulpolitik ist nicht mehr ganz so veränderungsresistent.“ Engagierte Lehrerinnen und Lehrer nutzen die Gunst der Stunde und stellen Forderungen, etwa Susanne Lin-Klitzing für den Deutschen Philologenverband: eine bessere Gesprächskultur, die alle einbezieht, Eltern, Schüler und Lehrer, und feste Stellen für psychologische Fachkräften; klare Richtlinien für digitale Plattformen und Datenschutz; bessere Räumlichkeiten. Schon jetzt setzen sich dafür einige private Initiativen ein, auch finanziell. Etwa Bielefelder und Dortmunder Geschäftsleute, die in der Krise erschrocken festgestellt haben, wie marode viele Schulgebäude sind.

Und: Bei allem Leid haben Kinder aus der Krise auch gelernt. Auch meine beiden gehören zu den 56 Prozent, die laut einer Ifo-Studie an Eigenständigkeit gewonnen haben. Und zu den 66 Prozent, die heute deutlich besser mit digitalen Techniken umgehen können als vor der Pandemie. Improvisieren, sich durchwursteln und trotzdem ankommen: Manches, das man im Leben wirklich braucht, steht eben auf keinem Lehrplan. Und diese Lektion macht Hoffnung. Trotz alledem.

Interview:

„Es geht nicht so sehr darum, wer ein Lehrer ist, sondern, was er tut“

Ob Kinder und Jugendliche (wieder) gern zur Schule gehen, steht und fällt oft damit, wer ihnen im Klassenzimmer gegenübersteht. Aber was macht einen guten Lehrer, eine gute Lehrerin aus? Vier Fragen an Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, und Beate Heraeus, Vorstandsvorsitzende der Heraeus-Bildungsstiftung. Sie vergeben jährlich den „Deutschen Lehrerpreis – Unterricht innovativ“

ELTERN Family: In der Coronazeit hat sich wieder einmal gezeigt, was der neuseeländische Pädagoge John Hattie schon vor gut zehn Jahren nachgewiesen hat: Wie gut Schule ist, hängt in erster Linie vom Lehrer, von der Lehrerin ab. Aber was genau ist es, das Ausnahmepädagogen drauf haben?

Susanne Lin-Klitzing: Natürlich kommt es darauf an, wie die Lehrkraft als Person ist, aber genauso wichtig ist, was sie tut. Drei Bereiche machen den Unterschied, für alle Altersgruppen und Schulformen: klare Klassenführung, also sowohl den Einzelnen als auch die Gruppe mit einer klaren Regelorientierung im Blick zu haben; ein Gespür dafür, wer was in der Gruppe braucht; kognitive Aktivierung, sprich: die Schüler mit anspruchsvollem, innovativem Unterricht zu fordern und zu fördern. 

Zum Stichwort Innovation gibt es beim „Deutschen Lehrerpreis“ sogar eine eigene Kategorie. Wie kann das aussehen?

Beate Heraeus: Ich denke spontan an eine Preisträgerin, die im Chemieunterricht die Aufgabe gestellt hat, aus natürlichen Stoffen wie Kartoffelstärke Folien herzustellen. Das hat nicht nur einen Bezug zum wichtigen Thema Ökologie, es fördert auch die Fehlerkultur: Scheitern war ausdrücklich erlaubt! Solche Projekte fördern nicht nur das Verständnis, sondern erzeugen eine Bindung zwischen allen Beteiligten.

Susanne Lin-Klitzing: Mir fällt die Fremdsprachenlehrerin ein, die sich einen Kooperationspartner aus der Wirtschaft gesucht hat, der einen Klassensatz Tablets zur Verfügung stellte. Jedes Kind bekam einen Tandempartner von einer Partnerschule, mit dem es sprechen sollte, per Skype. Ein gutes Beispiel, wie man Digitalisierung sinnvoll einsetzt und nicht um ihrer selbst willen. Und dabei absolut lebensnah.

Beeindruckend, aber trotzdem: „Schule“ und „Innovation“, passt das wirklich zusammen, nicht nur in Einzelfällen? 

Beate Heraeus: Es gibt sicherlich einen Unterschied im Denken, etwa zur freien Wirtschaft, und mehr Vorschriften. Aber im Interesse der Schülerinnen und Schüler stehen Schulleitungen häufig vor der Notwendigkeit, dagegen zu verstoßen. Etwa, wenn es um den Einsatz digitaler Plattformen im Homeschooling ging. Gerade von engagierten, pflichtbewussten Lehrerinnen und Lehrern habe ich in der Pandemie gehört: Erreichen wir die Kinder nicht, verlieren wir den Kontakt, verlieren wir sie!

Susanne Lin-Klitzing: Wir brauchen Rechtssicherheit, Standards, damit die Kollegen eben nicht den Datenschutzbeauftragten fürchten müssen. Wir brauchen digitale Endgeräte für Lehrer wie für Schüler, zumindest in der weiterführenden Schule. Und wir brauchen Entlastung. Wir wissen, dass zwei Drittel aller Lehrpersonen überdurchschnittlich motiviert und engagiert sind, und das wird zu wenig gesehen. Etwa, wenn der Mathe-Kollege gerade mal zwei Wochenstunden Ermäßigung bekommt, um die Digitalisierung für eine ganze Schule zu wuppen.

Was wäre denn Ihre Vision für die Schule der Zukunft: digital, analog, beides?

Susanne Lin-Klitzing: Ein digital unterstützter Präsenzunterricht. Der Schulalltag der Zukunft wird mehr online-Elemente haben können, idealerweise werden Lehrer so fortgebildet, dass sie diese Tools je nach Fach und Lerngruppe optimal einsetzen können. Aber den Präsenzunterricht ersetzt das nicht: Nur wenn Kinder und Jugendliche lernen, vor andern zu sprechen und zu argumentieren, üben sie ihre geistigen und sozialen Fähigkeiten gleichzeitig. Und damit die Fähigkeit, demokratisch zu handeln.

Mein eingerostetes Leben

Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown ist…? Weil gerade (Stand Juli 2021) die Infektionszahlen wieder steigen, hier noch ein Text aus dem Mai, zur Wiedervorlage. Da schrieb ich in der BRIGITTE: „Die Pandemie hat unsere Pläne radikal ausgebremst. Paradoxer Effekt: Je länger der Stillstand anhält, desto träger werden wir. Warum stresst uns plötzlich ein einziger Termin am Tag, und wie kommen wir da wieder raus?“

„Was werden das für großartige Partys irgendwann mal wieder! Ich werde euch alle ständig umarmen!“ So lautete der Facebook-Post meines Freundes Sebastian, und ich dachte sehnsüchtig: Feiern, yes! Auch mir fehlten die regelmäßigen Freitag Abende bei ihm und seiner Frau Tara, das Gedränge in der Souterrain-Küche, die flirrende Energie, die aus einer Dosis Tiefsinn, einer Prise gehobenem Blödsinn und einem Kühlschrank voller Weißwein entsteht. Das war im März 2020. 

Ein Jahr später erscheint mir Feiern absurder denn je. Und das Schlimme: ich vermisse es nicht einmal mehr. Schon der Gedanke strengt mich eher an. Eine Abend-Einladung? Was soll ich da, was soll ich anziehen, muss man dazu tatsächlich erst vor die Tür und später im Dunkeln wieder zurück, und wie geht das: mit Leuten reden, einfach so?

Und ich bin nicht alleine mit dieser Trägheit. Ich höre von Freundinnen, die sagen: Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, mich häufiger als einmal die Woche zu verabreden. Die Ehrgeizigen haben wenig Motivation, an einer Karriere zu schrauben, Sportausrüstung verstaubt hinten im Schrank, Singles verlieren die Lust an online-Dates. Nach langer Kontaktfastenzeit sind wir schneller überfüttert und sozial ungeübter. Das gilt nicht nur in Sachen Corona, sondern auch wenn wir aus anderen Gründen zum Herunterschalten gezwungen sind. Etwa durch eine längere Krankheit, in einer Phase der Arbeitslosigkeit, oder wenn eine ausgedehnte Babypause zu Ende geht.

Warum ist das so? Warum büßen wir unseren Drive ein, wenn wir doch gleichzeitig so viel nachzuholen haben? Nicole Strüber, Neurowissenschaftlerin und Wissenschaftsautorin, sagt: Weil wir von der Evolution auf Couch Potato gepolt sind – aus gutem Grund. Das gilt vor allem für unsere Körperfunktionen. „Über Jahrtausende hat sich unsere Spezies an ein Leben angepasst, das geprägt war von Nahrungsmittelknappheit und hoher körperlicher Anstrengung“, erklärt Strüber. „Da ist Energiesparen die beste Überlebensstrategie.“ Der Anblick unseres Sofas (Ruhe und Entspannung), gerne kombiniert mit einer Tüte Chips (fetthaltige Nahrung), bringt unseren Körper dazu, Dopamin auszuschütten, das Hirn signalisiert: Schön, hier winkt eine Belohnung. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Verhalten als „Exercise Paradox“: Wir wissen, dass Aktivität gut für uns ist, körperlich wie geistig, aber der Schweinehund ist stärker. „In einer Studie wurde die Hirnaktivität von Probanden am Bildschirm verglichen: zuerst sollten sie einen Avatar von Bewegung in den Ruhezustand versetzen, dann umgekehrt. Im EEG sieht man, dass für den zweiten Durchgang mehr kognitive Kontrolle notwendig ist“, erzählt Nicole Strüber. 

Die archaische Programmierung auf Faulsein kann in manchen Phasen durchaus hilfreich sein, etwa um halbwegs unbeschadet durch Lockdownzeiten zu kommen. Doch je länger unsere Systeme lahmgelegt sind, desto schwerer fahren sie wieder hoch. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, unser Hirn auszutricksen, sagt Nicole Strüber. Sowohl körperlich als auch geistig. „Je häufiger wir uns bewegen und dabei registrieren, dass wir uns hinterher besser fühlen, desto mehr verbindet das Hirn Aktivität mit Belohnung“, sagt die Expertin – und wir fühlen uns unausgelastet, wenn wir das Lauftraining zu lang schleifen lassen. Oder uns nicht mal zu einem Spaziergang aufraffen. Und wenn der Jobstammtisch oder der Literaturkreis ausfallen muss, dann halten uns Kontakte per Telefon, Videocall oder Clubhouse-App kommunikativ geschmeidig. Bei angenehmen Begegnungen wird das „Bindungshormon“ Oxytocin ausgeschüttet, und je mehr wir davon bekommen, desto mehr wollen wir auch haben. Beides eine gute Vorbereitung für die Zeit, wenn wieder mehr möglich ist.

Eine andere Frage ist: Wollen wir unser altes Leben nach einer Krise, ob Corona oder anderweitig, überhaupt eins zu eins zurück? Oder kann der erzwungene Stillstand auch eine Chance sein, das Hamsterrad hinter sich zu lassen und sich neu zu sortieren? Julia Städtler hat in ihrer Coachingpraxis in der Nähe von München und in Online-Beratungen (juliastaedtler.com) viel mit Menschen zu tun, die sich nach beruflichen und privaten Umbrüchen neu sortieren. Sie sieht die aktuelle Zäsur als Möglichkeit zur Kurskorrektur: „Wir hatten viel Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen: Welche neuen Rituale habe ich in den vergangenen Monaten gefunden, die mir guttun? Wo war mir mein altes Leben mir zu schnell, mehr fremd- als selbstbestimmt? Wo ist weniger mehr?“  Das Zurückgeworfensein auf uns selbst hat uns im besten Fall sensibler gemacht, glaubt Städtler. Kann schon sein, dass wir auch nach dem Ende aller Kontaktbeschränkungen lieber in Ruhe einem interessanten Gespräch mit einer Freundin nachspüren, statt nahtlos zur nächsten Verabredung überzugehen. Dass wir uns auf einem Musikfestival überfordert fühlen von zu viel Phonstärke und zu viel körperlicher Nähe. Kein Zeichen, dass etwas mit uns nicht stimmt, im Gegenteil: „Es ist eine Chance für Selbstfürsorge, dafür, eigene Ziele und Bedürfnisse neu zu justieren: Will ich gern wieder auf ein Konzert, aber buche ich mir lieber einen Sitzplatz, erlaube ich mir, früher zu gehen, wenn es mir zu viel wird?“ „Fun of missing out“ statt „fear of missing out“. 

Auch die Philosophin und Autorin Barbara Bleisch sieht die momentane Phase als Chance, die eigene Wahrnehmung zu schulen: „Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern.“ Eine menschenfreundliche Haltung, die auch über Corona hinaus Bestand haben könnte. Und schließlich führt die Rückbesinnung auf den Moment, auf das Innen fast von selbst zu einer nachhaltigeren Lebensweise. Die tut nicht nur uns gut, sondern auch unserer Umwelt: Wollen wir wirklich zurück zu jährlichen Fernreisen, Dauer-Powershopping und zu wenig Zeit für Menschen, die uns wirklich brauchen?

Aber natürlich fällt es nicht jedem gleichermaßen leicht, den Stillstand als Chance zur Neuorientierung zu begreifen. Und manche von uns hätten gerne solch harmlosen Sorgen wie die, ob sie in den letzten Monaten zum Nerd geworden sind. Oder wie sie beim Lauftraining wieder in den Tritt kommen. Weil sie nicht einfach anschließen können an den Status Quo von davor, sondern weil ihr Leben in Stücke gehauen wurde durch Pleite, Arbeitslosigkeit, den Verlust geliebter Menschen. „Da gibt es keinen einfachen Ratschlag, da hilft nur Zeit, Raum für Trauer, Begleitung“, sagt Coach Julia Städtler. „Am hilfreichsten ist, sich auf innere Stärken, auf Wurzeln zu besinnen. Das Gefühl: Egal, wie es um mich herum aussieht, ich bin immer noch ich.“ Wer sich erlaubt, durch das Tal der Tränen zu gehen, zu hadern, wütend zu sein, der kommt irgendwann wieder an einen Punkt, an dem Neues denkbar scheint. Etwa: Will ich wirklich einen ähnlichen Job in einer ähnlichen Firma? Stimmen meine alten Ziele noch? Oder ist jetzt die Zeit für ein Herzensprojekt, eine Kurskorrektur, etwas, das mir neuen Schwung gibt? 

Wenn ich selbst Bilanz ziehen sollte, würde ich sagen: Auch ich habe aussortiert in den letzten Monaten. Mich auf einige Dinge besonnen, die mir schon früher im Leben Freude gemacht haben. Stundenlange Telefonate mit Freundinnen, dicke Romane lesen, kochen. Seit selbst Ost- und Nordsee zu vorübergehend unerreichbaren Sehnsuchtszielen geworden sind, habe ich sogar mehr Lust bekommen, in die Nähe zu schweifen, und muss so schnell weder nach Spanien noch nach Thailand. Selbst wenn die Welt wieder offensteht. Was allerdings die nächste Party bei Sebastian angeht, das Gedränge in der Souterrainküche und die Gespräche: Die kann ich kaum erwarten.

Die Stunde der Väter

Die Frauenbewegung, die deutsche Vereinigung, die Elterngeld-Gesetzgebung – das alles hat die Vaterrolle verändert, aber im Schneckentempo. Bringt die Pandemie den Turbo? Mit dieser Frage habe ich mich für die Mai-Ausgabe 21 des ELTERN-Magazins beschäftigt. Hier eine gekürzte Fassung.

Wann genau spürt ein Mann, was Vatersein bedeutet: Wenn er zum ersten Mal sein Kind im Arm hält? Das erste Familienselfie in die Welt hinaus schickt? Bei Ricardo Liesig, 39, passierte es schon ein paar Minuten vor der Geburt seines ersten Babys, im Kreißsaal. „Der Oberarzt sagte zu mir: Wenn ich Ihnen etwas raten darf, bleiben Sie dran an Ihrem Kind. Denn wenn der Faden einmal ab ist, ist er ab.“ Zehn Jahre ist das her, aber die Worte von Mann zu Mann, die hat er nie vergessen: „Meine Kinder stehen in meinem Leben immer an erster Stelle.“

Vom „Neuen Vater“ war schon vor ein paar Jahrzehnten die Rede, als die ersten sich nicht mehr damit zufriedengaben, ihren Neugeborenen hinter der Glasscheibe der Säuglingsstation zuzuwinken oder beim Einschulungsfoto einmal kurz durchs Bild zu huschen. Aber häufig war der Wunsch Vater des Gedankens, dann kam nicht viel nach. „Verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre“ nannte das der Soziologe Ulrich Beck in den Achtzigern. Was sich seither bewegt hat, zeigt eindrücklich eine Studie des Allensbach-Instituts im Auftrag des Bundesfamilienministeriums von 2019: 84 Prozent aller Eltern minderjähriger Kinder finden, ein Vater solle so viel Zeit wie möglich mit seinem Nachwuchs verbringen. Nur 30 Prozent sind der Meinung, das sei auch schon in ihrer eigenen Kindheit erstrebenswert gewesen. Und junge Väter halten Wort: Während vor Einführung des Elterngeldes 2007 nur vier Prozent in Elternzeit gingen, nimmt heute etwa jeder zweite eine Babypause. 

Selbst wenn es meist nicht mehr sind als die zwei „Partnermonate“, hat das tiefgreifende Folgen. Väter sind von Anfang an selbstbewusster in ihrer Rolle, und die Kinder erleben: Wenn ich mit dem Laufrad hingefallen bin, Krach mit meiner Kitafreundin habe oder einen Basteltipp brauche, ist Papa nicht minder zuständig als Mama. Harald Rost, Soziologe und Väterforscher am Staatsinstitut für Familienforschung der Universität Bamberg, sagt: „Die gesellschaftliche Entwicklung braucht viel Zeit. Aber sie geht stetig in dieselbe Richtung.“ Antreiber dafür, sagt Rost, waren ursprünglich vor allem die Mütter: Die erste Generation gut ausgebildeter Frauen in den Siebzigern und Achtzigern, die von ihren Partnern Engagement und Unterstützung forderten. Die deutsche Vereinigung tat ihren Teil dazu, weil in der DDR viel mehr Mütter erwerbstätig waren als in der alten Bundesrepublik. Der gesellschaftliche Vorsprung zeichnet sich noch heute in der Statistik ab: Vergleicht man, wo Väter am häufigsten und am längsten Elterngeld beziehen, liegt die 100.000-Einwohner-Stadt Jena regelmäßig vor westdeutschen Metropolen wie Hamburg und München. 

Eine gute Nachricht mit einem kleinen Schönheitsfehler. Denn oft hält die innere Überzeugung auf Dauer nicht der Realität stand. Etwa, weil Väter im Durchschnitt vor dem ersten Kind besser verdienen – eine Folge des üblichen Altersunterschiedes und des Gender Pay Gaps – , weshalb sich längere Job-Auszeiten bei ihnen stärker aufs Familieneinkommen durchschlagen. Zwar steigt die Anzahl der männlichen Teilzeitbeschäftigten mit Kindern, aber auf niedrigem Niveau, in den letzten Jahren auf etwa sieben Prozent. Und als uns die Pandemie überrollte, mit Lockdown und Schulschließungen, fürchteten vor allem weibliche Wissenschaftlerinnen: Es wird die Gleichberechtigung um Jahrzehnte zurückwerfen, weil Mütter das ausbaden!

Ein Jahr später zeigt sich ein Bild, das nicht so schwarzweiß ist wie befürchtet. Martin Bujard, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, fasst zusammen: „Unter dem Strich hat die Coronakrise in manchen Gruppen zu mehr Gleichberechtigung geführt.“ Zwar tragen Mütter messbar die Hauptlast, aber die Pandemie ist teils auch eine Chance für die Beziehung zwischen Vätern und Kindern. Details sieht man, wenn man die Daten nach Berufsgruppen aufschlüsselt. Am allerschwersten haben es solche, in denen der Vater einen „systemrelevanten“ Beruf hat, etwa als Intensivpfleger oder Supermarktleiter, die Mutter aber nicht. Denn das führt eher zu einer noch traditionelleren Rollenverteilung. Anders im umgekehrten Fall: „Wenn die Mutter außer Haus arbeitet, etwa als Ärztin oder im Labor, sind Väter viel mehr gefragt“, so Bujard. Auch Phasen von Kurzarbeit entpuppten sich für viele als Segen auf den zweiten Blick: Dort, wo Männer wenig oder gar nicht arbeiteten, dabei aber einen Großteil ihres Gehalts bezogen, übernahmen sie 41 Prozent der Erziehungs- und Haushaltsarbeit. Rekord! Und während sich der Anteil regelmäßiger Homeoffice-Arbeiter und -arbeiterinnen im ersten Lockdown 2020 von fünf auf 25 Prozent erhöht hat, ergab sich neben allem Stress oft auch mehr Verständnis: „Arbeiten beide zu Hause, kann man nicht nur Zuständigkeiten gerechter verteilen, sondern auch besser würdigen, was der jeweils andere leistet“, bilanziert Bujard. 

Besonders engagiert in der Krise waren übrigens Väter auf mittlerem Bildungsniveau: Sie haben die Akademiker nicht nur eingeholt, sondern überholt. Vor der Pandemiezeit brachten es die Studierten auf dreieinhalb Stunden Familienarbeit täglich, seither sind es vier – sie überlassen ihren Partnerinnen oft die Mehrarbeit. Dagegen bringen es Handwerker, Facharbeiter oder Verkäufer jetzt auf täglich sechs Stunden – vorher waren es zwei Stunden und fünfzehn Minuten. 

Doch was wird von diesen Verschiebungen bleiben, wenn Corona geht? Bujard ist zuversichtlich: „Erfahrungen prägen Entscheidungen!“ Es macht langfristig einen Unterschied, wenn Väter einmal einen Fuß in der Tür haben, aber auch, wenn Paare in die Traditionalisierungsfalle tappen. Außerdem, glaubt der Experte, haben die Krisenerfahrungen Kollegen und Chefs auch ein anderes Bild vermittelt, vor allem in Homeoffice-Jobs: „Wenn man täglich im Videocall sieht, dass Kinder durchs Bild laufen oder ein Spielzeug herumliegt, macht es die Arbeitskultur bestenfalls menschlicher, verständnisvoller. Einfach, weil man sich gegenseitig in einer anderen Rolle wahrnimmt.“

Die Steilvorlage ist da, man muss sie nur verwandeln? Skeptischer sieht das Jutta Rump, Betriebswirtschafts-Professorin und Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) in Ludwigshafen: „Corona hat viele Entwicklungen enorm beschleunigt, aber nicht nur zum Guten. Auf der Habenseite: Mobiles Arbeiten ist zu einer akzeptierten Variante geworden, Kommunikation funktioniert zunehmend digital, virtuell, hybrid. Auf der anderen Seite haben auch wieder andere Führungsfiguren Konjunktur, etwa der hierarchisch denkende, meist männliche Krisenmanager. Und weiche Themen wie Vereinbarkeit könnten hinten runterfallen – vor allem, wenn Unternehmen sparen müssen.“ Klar: Ist die eigene Firma coronabedingt in Schräglage, dann ist man froh, wenn man seinen Job noch hat, und äußert lieber keine Sonderwünsche. Und dann sind da auch noch jene Eltern, die kaum von den Veränderungen profitieren: In 43 Prozent aller Paarfamilien kann keiner von beiden Eltern mobil arbeiten. Kita-Erzieherin und LKW-Fahrer, Chefärztin und Buchhändler. Wie also schaffen wir die Grundlage für ein Lebens- und Arbeitsmodell, in dem mehr Wahlfreiheit möglich ist und mehr Zeit für Väter und Kinder – zum Toben, ins Bett bringen, Inlineskates fahren, Playstation-Duell?

Jutta Rump glaubt: Veränderung geschieht nur, wenn sie von mehreren Seiten angeschoben wird. Zum einen, wenn der Staat Gleichberechtigung auch finanziell attraktiv macht, etwa durch das gemeinsame Elterngeld Plus. So wie es bereits passiert. Zum anderen psychologisch, durch die richtigen Vorbilder. Ältere Kollegen, die Verständnis äußern, wenn man lieber zur Schulaufführung der Tochter geht als auf ein Feierabendbier; männliche Chefs, die ein paar Monate Elternzeit nehmen, sich Führungsjobs teilen. Jüngstes Beispiel: Rubin Ritter, der 2020 öffentlichkeitswirksam seinen Job als Finanzchef beim Online-Riesen Zalando an den Nagel hängte, damit seine Frau nach der Geburt des zweiten Kindes wieder in ihrem Beruf als Richterin arbeiten kann. Klar, dass sich eine Familie in dieser Preisklasse keine Sorgen machen muss, wie sie mit einem Gehalt die Miete für die Dreizimmerwohnung stemmen soll – als Rollenmodell taugen diese Geschichten trotzdem, findet Rump: „Je mehr schon Kinder bei ihren Eltern gleichberechtigte Lebens- und Arbeitsmodelle sehen, desto selbstverständlicher werden sie später selbst übernehmen.“ Und das ist vielleicht eines der schönsten Geschenke, die Väter machen können. Ihren Töchtern wie ihren Söhnen.

INTERVIEW

„Starke Väter brauchen auch starke Mütter“

Volker Baisch ist Geschäftsführer der „Väter gGmbH“, die seit zehn Jahren Arbeitgeber zum Thema „väterfreundliche Personalpolitik“ berät. Er sagt: Veränderung ist auch eine Frage des Selbstverständnisses – und da sind Frauen fast ebenso gefragt wie Männer

ELTERN FAMILY: Durch Ihre Tätigkeit kennen Sie ganz unterschiedliche Arbeitsfelder, vom Handwerksbetrieb bis zum Großkonzern. Wo hat sich durch die Pandemie am meisten für arbeitende Väter verändert, und eher zum Guten oder eher zum Schlechten?

Volker Baisch: Natürlich haben große Konzerne oft andere Möglichkeiten zur Arbeitsumgestaltung als Mittelständler. Aber das Thema Vereinbarkeit, sowohl für Männer als auch für Frauen, hat an Fahrt aufgenommen und wird auch nicht verschwinden. Denn die Firmen sind teils besser durch die Krise gekommen als befürchtet und stehen vor der Herausforderung, Beschäftigte zu halten oder sogar neu zu gewinnen.

Das klingt nach einer Chance für Elternpaare – aber man hört in der Pandemie auch von viel Frust, Streit, Trennungen…..

Corona ist ein Lackmustest fürs eigene Rollenverständnis. Nach meiner Beobachtung sind am besten solche Paare durch die Krise gekommen, die sich schon davor bewusst um Gerechtigkeit bemüht haben. Probleme hatten eher die, die einfach hineingeschlittert sind und all diese Auseinandersetzungen nachholen mussten. Dabei kann es eine Riesenchance sein, sich zusammenzusetzen und zu reflektieren: Was lief gut, was wollen wir dauerhaft ändern? Zwölf Monate und länger, das ist ja eine Zeitspanne, in der sich neue Muster gründlich üben lassen.

Praktisch gefragt: Tun sich Männer im Homeoffice leichter – einfach, weil sie mit professionellem Tunnelblick den Wäscheberg übersehen?

Das ist sicherlich so, denn wer üblicherweise acht bis zehn Stunden nicht zu Hause ist, nimmt diese Haltung auch mit an den Heimarbeitsplatz. Der so genannte Mental Load bleibt häufig an den Müttern hängen. Umgekehrt haben viele Väter zum ersten Mal bewusst wahrgenommen: Ah, das ist auch alles noch zu tun! Dabei ist es nicht sinnvoll, wenn sich beide für alles zuständig fühlen, besser ist es, klar zu verteilen: Wer macht den Wocheneinkauf, wer die Wäsche, wer bringt die Kinder in die Kita.

Also private Verhandlungssache?

Nicht nur! Die Arbeitgeber sind gefragt, in dem sie mehr Flexibilität schaffen, zum Beispiel anordnen, dass montags und freitags nach Möglichkeit keine wichtigen Konferenzen stattfinden, oder glaubhaft vermitteln: Die Angst vor einem Karriereknick ist unbegründet, wenn Männer sich familiär mehr engagieren! Das sollten die Angestellten auch aktiv einfordern. Zur Wahrheit gehört aber ebenso: Wo die Kultur im Unternehmen dem widerspricht, haben es Einzelkämpfer schwer.

Und was ist mit Jobs, die Präsenz erfordern – im Gesundheitswesen, im Handwerk, im Handel? 

Man kann auch ein aktiver Vater sein, wenn Homeoffice keine Option ist. Das Elternzeit Plus-Modell ist eine gute Basis, um zum Beispiel für ein halbes Jahr auf eine Vier-Tage-Woche zu reduzieren, wenn Kinder klein sind. Und wir sehen immer wieder, dass auch Branchen mit Schichtbetrieb auf die Bedürfnisse von Eltern Rücksicht nehmen können, etwa bei der Polizei.

Als Mutter würde ich gern noch wissen: Wenn wir uns als Frauen aktivere Väter wünschen, was können wir dazu tun?

Erstens: So früh wie möglich das Thema Aufgabenverteilung und Lebensplanung aufs Tapet bringen, am besten schon in der ersten Schwangerschaft. Denn nur so haben beide Partner auch die Chance, die Elternrolle einzuüben. Zweitens: Keine doppelten Botschaften senden. Denn eine Mutter, die sich völlig zu recht einen aktiven Vater wünscht, muss ihrerseits auch bereit sein, den gegenteiligen Part zu übernehmen, also engagiert im Beruf zu sein und nicht den Anspruch haben, einfach versorgt zu werden. Nur so wird ein Schuh daraus.

Essen ist Macht

Liebe, Stellenwert, Zugehörigkeit – hinter dem, was wir zu uns nehmen, stecken jede Menge geheime Botschaften. Denn: Die Psyche sitzt immer mit am Tisch … (mein Text aus BRIGITTE LEBEN, Frühjahr 2021)

Stellen Sie sich für einen Moment vor, Essen wäre nichts als Treibstoff und Überlebensnotwendigkeit, und wir würden uns einfach ab und zu einen Löffel geschmacklose, hochkonzentrierte Astronautennahrung reinziehen. In dieser Welt gäbe es weder Foodblogs noch komplizierte Bestellungen („bitte den Salat ohne Essig, und die Gurken auf einem Extrateller“), weder Kohlrabiprobierzwang in der Kita noch diplomatische Krisen am Partybüffet. Wir würden eine Menge Zeit, Geld und Nerven sparen. Aber, ganz ehrlich: Würde uns das schmecken?

Lebensmittel sind Transportmittel für Gefühle, Werte und Hierarchien. Im Guten kennen wir das alle. Essen als Alltags-Versüßer, zur Belohnung und als Geselligkeits-Kitt – wahrscheinlich sind Rohkost-Dipps auch deshalb so beliebt, weil man sich mit ihnen gut durch eine langweile Abendeinladung knabbern kann. Und Liebe geht sowieso durch den Magen. Doch beim Essen wird auch sichtbar, wer das Sagen hat. Oder, so drückt es der Kassler Ernährungssoziologe Daniel Kofahl aus: „Ernährung dient dem Verhandeln von Machtfragen wie kaum ein anderes Thema.“ Weil wir damit buchstäblich am eigenen Leib erfahren, wo wir in der Rangordnung stehen. Wenn Oma beim Familientreffen dem Sohn statt der Tochter die Geflügelschere in die Hand drückt, damit er den Gänsebraten  zerteilt, dann sagt das etwas über ihr Verständnis innerfamiliärer Wichtigkeit aus.

Wenn uns verweigert wird, was wir gern hätten, gilt das genauso. Das kann durchaus aus den besten Absichten heraus geschehen, etwa, wenn die Eltern dem kleinen Finn-Luca die Gummibärchen wegnehmen, weil er sonst Bauchweh bekommt. Oder, als die Grünen vor einigen Jahren einen Shitstorm ernteten wegen ihrer „Veggie-Day“-Initiative für einen fleischlosen Kantinentag. Dabei wollten sie ja nicht das Fleischessen verbieten, nicht mal an einem Tag der Woche. Sondern damit Alternativen schmackhaft machen. Aber Menschen lassen sich ungern bevormunden bei der Frage, was sie sich in den Mund stecken. Auch nicht von gewählten Volksvertretern.

Manchmal steckt auch Ignoranz dahinter. Etwa, wenn der Chef beim Sommerfest Schweinshaxen für alle serviert und damit ein Signal setzt, gewollt oder auch ungewollt: Die Bedürfnisse seiner muslimischen Mitarbeiter*innen spielen für ihn keine Rolle.

Wo Diskussionen ums Essen zum Machtkampf werden, wehrt sich die Gegenseite mit Verweigerung. Auch damit kann man mächtig Druck ausüben: Vom Kleinkind, das konsequent das Gemüse ausspuckt, bis zum Häftling im Hungerstreik. Denselben Mechanismus, nur sehr viel subtiler, hat eine Freundin von mir erlebt, die ihren Schwarm beim ersten Hausbesuch bei ihr mit Champagner und Spargel beglücken wollte. Sein uncharmanter Kommentar: „Von Champagner muss ich aufstoßen, und Spargel mag ich nicht.“ Vielleicht sachlich richtig, aber diese Zurückweisung klang auch nach: Nicht nur dein Menü schmeckt mir nicht, auch unsere angehende Romanze. Ein deutliches Machtgefälle also. Es wurde dann auch nichts aus den beiden.

Und schließlich kann Essen auch ein Mittel der Selbstermächtigung sein. Das gilt für ein gutgemachtes Dinner for One nach einer Trennung genauso wie für Heranwachsende, die ihren Platz im Leben suchen: Den Beginn der Pubertät hört man heute nicht mehr an lauter Musik aus dem Kinderzimmer, man sieht ihn eher am Esstisch. Plötzlich wollen größer werdende Kinder nicht mehr beim ehemaligen Lieblingsgericht zulangen, sondern werden von heute auf morgen Veganer, um sich von den Eltern abzugrenzen. Oder krümeln lieber das eigene Bett mit Chips voll, als länger als zehn Minuten mit Mama und Papa Eintopf zu löffeln. Zumindest für eine Weile.

Doch Essen als Machtfaktor ist keine moderne Erfindung, sagt Wissenschaftler Kofahl. Und zählt auf: keine Weltreligion ohne Speisevorschriften, keine geschichtliche Epoche ohne Konflikte um Anbaugebiete, Vorräte oder die Frage, wie viel der Bauer von seiner Ernte an die Obrigkeit abzugeben hat. Die mittelalterliche Ständegesellschaft wurde auch durch strenge Essensregeln aufrecht erhalten – das weiße Fleisch, die guten Vögel standen dem Adel zu; und im 19. Jahrhundert wurde das neu entstandene Bürgertum am heimischen Herd gefestigt. Mit ihrem „praktischen Kochbuch“ half die Autorin Henriette Davidis (1801-1876) jungen Ehefrauen, ihren Mann ans Haus zu binden, auf dass er seine Fleischeslust nicht außerhalb stillen möge. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Kein kleiner Machtfaktor in einer Beziehung, in der Frauen enorm abhängig waren. Und „ohne Essen ins Bett“ war noch vor einer Generation eine allgemein angesehene Erziehungsmethode, verewigt etwa im Kinderbuchklassiker „Wo die Wilden Kerle wohnen“ von 1963.

Seitdem ist allerdings etwas Neues dazugekommen und macht der Macht die Pole Position streitig, sagt Daniel Kofahl: Der Drang nach Individualität. „Wir grenzen uns auf allen Ebenen voneinander ab und betonen unsere Eigenheiten, sei es in der Mode, im persönlichen Geschmack und Lebensstil – warum sollte es beim Essen anders sein?“ Weiß jeder, der schon einmal bei einer Einladung versucht hat, es allen seinen Freund*innen recht zu machen – auf einmal hat jede und jeder seinen eigenen Stil, inklusive realer oder gefühlter Unverträglichkeiten.

So kann das Thema uns spalten, aber es kann uns auch zusammenbringen, sagt Kofahl: „Essen ist bestenfalls ein Angebot, dazuzugehören, ein Signal, das jeder einzelne ernst genommen wird, auch in seiner Unterschiedlichkeit.“ Klar: Würden wir morgens und abends hochkonzentrierte Astronautennahrung zu uns nehmen, dann könnten wir uns den ganzen Zauber auch sparen. Aber will man das wirklich? Na, eben.

Mein schönster Fehler

Irrtümer, Versäumnisse und Scheitern machen uns menschlicher, lebendiger und mitfühlender. Und nicht nur das: Sie sind auch Hinweisschilder auf dem Weg zu uns selbst. Eine Ehrenrettung für unperfekte Entscheidungen und krumme Pfade (aus: Brigitte WOMAN, 2020)

Sie war 17, fast 18, eine Klassenstufe über mir, und sie wusste, wo es lang ging. Bei den Männern, im Nachtleben unserer Heimatstadt, in punkto Bands und Zigarettenmarken. Eines Tages, nach einem Streit mit ihrem Vater, packte Susanne ihren Rucksack und beschloss, in die WG einer Freundin zu ziehen. Bei Cappuccino mit Sahne in unserem Stammcafé fielen jene Worte, die für mich damals der Inbegriff von Lebensweisheit waren: „Ich bin alt genug, meine eigenen Fehler zu machen.“

Das war 1988, und heute nehme ich an, Susanne hatte den Satz im Kino aufgeschnappt. Teenager-Pathos, mehr Binse als Weisheit – aber dennoch mit einem wahren Kern. Denn je mehr Lebensjahre wir im Schleppnetz hinter uns herziehen, desto mehr zweifelhafter Beifang ist dabei. Fehlerfreie, bruchlose Biographien gibt es nicht. Jedenfalls, wenn wir das Leben wörtlich nehmen, uns bewegen, etwas wagen, in das ein oder andere kalte Wasser springen, statt uns dauerhaft in der eigenen Komfortzone einzuigeln.

Im Kleinen hilft uns eine Art psychisches Immunsystem, damit die blauen Flecken weniger schmerzen. So sagt es der Harvard-Psychologe und Entscheidungsforscher Daniel Gilbert. Manche Wahl reden wir uns später schön (der verregnete Wohnmobilurlaub hat uns als Familie enger zusammengebracht), manches Scheitern adeln wir, in dem wir ihm rückblickend einen Sinn verleihen. Etwa: Erst nach einer kräftezehrenden On-an-off-Affäre weiß ich, was mir emotional wirklich guttut. Manche Menschen brauchen für die Einordnung länger, andere sind schneller damit bei der Hand – reine Typfrage, sagt ein Forscher*innenteam der Uni Erlangen. Aber generell können wir kleinere Fehlentscheidungen ganz gut abpuffern.

Weniger gepolstert ist unsere Seele, wenn es ans Eingemachte geht, an wichtige Entscheidungen wie die für eine dauerhafte Beziehung, einen Beruf, einen 40 Jahre laufenden Immobilienkredit. Denn das unperfekte Leben passt nur schwer zum Zeitgeist, sagt die Münchner Philosophin, Rednerin und Autorin Rebekka Reinhard: „Wir erwarten von uns und unserem Leben die gleiche Funktionalität wie von unseren elektronischen Geräten, wir haben das binäre System verinnerlicht.“ Also: Schalter ein, Schalter aus, Erfolg oder Misserfolg, richtig oder falsch. Und nehmen in unserer Ungeduld viel zu kurze Abschnitte unter die Lupe: das erste Jahr in einem neuen Job, die ersten Monate einer neuen Liebe. „Das macht uns kurzsichtig“, warnt Reinhard.

Sie setzt ein Konzept dagegen, das zweieinhalbtausend Jahre auf dem Buckel hat, aber uns auch heute die Augen öffnen kann: Aristoteles’ Vorstellung vom „gelungenen Leben.“

Inspiriert von dem antiken Vordenker können wir festhalten: Der Mensch ist von Geburt an ein Mängelwesen, und ein gelungenes Leben schließt Fehler mit ein. Nicht nur, weil sich manche davon erst viel später als Segen erweisen. Etwa der jobbedingte Umzug an einen Ort, der überhaupt nicht zu uns passt, aber an dem wir wichtige berufliche Kontakte knüpfen. Nicht nur, weil sie uns motivieren, zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Sondern auch weil sie uns menschlicher und empathischer werden lassen. Denn wenn wir genau so fehlbar sind wie unsere Mitmenschen, dann können wir auch uns selbst und anderen Trost spenden, einander helfen und aufrichten.

Diese Weitsicht fällt uns aber oft schwer, weil in unsere geistige DNA verschiedene Denktraditionen eingeschrieben sind –und zwar unabhängig von unseren bewussten Überzeugungen. Die älteste davon stammt aus dem Christentum: Wir sind als Sünder geboren, nur göttliche Gnade kann uns retten. Diese Vorstellung steckt selbst dem härtesten Atheisten in den Knochen, die göttliche Nachsicht weniger. Folge: Wir urteilen oft unbarmherzig über uns und andere. Die Kollegin wird ernsthaft krank? Dann hat sie wohl ihre Work-Life-Balance vernachlässigt. Ihr Fehler. Wir sind bei der Beförderung leer ausgegangen? Haben wir uns eben zu wenig reingehängt. Verstärkt wird dieser Gedanke noch durch die Ideale der Aufklärung: Philosophen wie Kant und Co erklärten im achtzehnten Jahrhundert den Menschen zum Herren seines eigenen Schicksals. Das ist ermutigend. Aber die Kombination von beidem ist auch ein fatales Vierer-Pack: Sünde minus Gnade plus Selbstwirksamkeit minus Demut.

Kommt dann noch unser modernes Leistungsethos dazu, setzen wir uns ganz schön unter Druck. Dabei führt der Weg zu einem zufriedenen Leben durch den Abgrund, glaubt Reinhard: „Erst durch Straucheln und Irren können wir das Glück schätzen und unsere Werte definieren.“ Denn neben dem Lerneffekt – etwa: eine gesundheitliche Krise lehrt uns ein neues Verhältnis zu unserem Körper – stellen uns Fehler auch noch vor eine wichtige, grundsätzliche Frage: Was für ein Mensch will ich sein?

An dieser Stelle zitiert Reinhard gerne die chinesisch-amerikanische Philosophin Ruth Chang. Die sagt: schwere Entscheidungen, etwa die für oder gegen Lebenspartner*innen, Babys, Immobilienkredite, treffen wir nicht durch mathematisches Abwägen. Sondern am besten, in dem wir eine Antwort auf genau diese Frage suchen. Denn wenn wir im Nachhinein den Eindruck haben, falsch abgebogen zu sein, dann liegt das häufig daran, dass wir uns selbst nicht gut genug kennen. Und so gegen unsere fundamentalen „inneren Gründe“ handeln: gegen unseren Freiheitsdrang oder unser Sicherheitsbedürfnis, unsere Spontaneität oder unser Bedürfnis nach Bindung. Eine spätere Kurskorrektur ist dann vor allem eines: ein Schritt mehr zu unserem wahren Ich. „Fehler helfen, eines unserer wichtigsten Lebensziele zu erreichen: Uns besser kennen lernen, mit uns selbst befreundet sein“, sagt Rebekka Reinhard.

Und deshalb sind wir selbst auch die einzige Instanz, die darüber entscheidet, was eigentlich ein Fehler ist – und was genau richtig. Auch wenn das nicht dem Mainstream entspricht. Es ist zum Beispiel wirtschaftlich nicht schlau, eine lange Babypause zu machen und dem Partner das Geldverdienen zu überlassen. Vor allem wenn die Ehe später scheitert. Trotzdem kann es die beste Entscheidung sein – wenn uns die gemeinsame Zeit mit unseren Kindern mehr wert ist als jeder Rentenpunkt. Es ist auch nicht vernünftig, für eine überteuerte Großstadtwohnung Miete zu zahlen statt ein Reihenendhaus im Speckgürtel abzubezahlen. Aber das einzig richtige, wenn wir nicht der Typ sind für Grillfeste mit den Nachbarn und Sonntagsspaziergänge. Selbst wenn wir dann im Alter ein Zimmer untervermieten müssen, um den Mietzins zu stemmen. An jeder Entscheidung klebt ein Preis, finanziell oder ideell. Es liegt an uns, ob wir bereit sind, ihn zu zahlen.

„Egal, wie wir uns im Leben entschieden haben – wichtig ist, Verantwortung dafür zu übernehmen, statt sie auf unsere Familie, unsere Herkunft, unser Umfeld abzuschieben“, so drückt es Ursula Ohse aus. Ohse arbeitet als Coach in Pforzheim und ist spezialisiert auf Biographiearbeit. Die meisten ihrer Klient*innen kommen in Krisen- und Entscheidungssituationen zu ihr, und sie kennt deren innere Kämpfe – nicht nur, wenn Menschen mit dem hadern, was sie getan haben, vor allem, wenn sie mit dem hadern was sie versäumt haben.

Auch Ohse stellt die Wertefrage, wenn ihr Gegenüber meint, sich verrannt zu haben. Etwa der Schmerz, wenn ein Kinderwunsch unerfüllt geblieben ist. „Was steckt hinter dem Gefühl des Bedauerns? Und wie kann ich heute verwirklichen, was damals zu kurz gekommen ist?“ Vielleicht gab es mit 35 gute Gründe, eine Beziehung zu beenden, statt mit dem falschen Partner Kinder zu bekommen. Aber auch wer nie ein Baby zur Welt gebracht hat, kann seine fürsorgliche Seite leben: ob bei den eigenen Neffen und Nichten, in einem Beruf, der das fördert, oder als Vorlesepatin in der Kita nebenan. Ohne diese ganz tiefe Bindung, dafür auch ohne Schmerz und Ängste, die auch zum Elternsein gehören. Klar: Nicht jede vermeintliche Fehlentscheidung lässt sich einfach schmerzfrei entsorgen. Aber auch das ist ja ein Wert an sich: der Trauer über verpasste Chancen einen Platz im Leben zu geben. Liebevoll sein mit dem eigenen, jüngeren Ich, das gute Gründe hatte, so zu handeln.

Susanne, übrigens, ist 1988 schon nach drei Tagen wieder nach Hause zurückgekehrt. Und nicht nur, weil der Kühlschrank dort besser gefüllt war als in der WG ihrer Freundin. Was seither aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Letztes Jahr muss sie ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert haben. Ich hoffe, sie hat in all den Jahren noch eine Menge Fehler gemacht. Und wünsche ihr, es waren genau die richtigen.

Die Blauen Reiterinnen

Geliebt und gefördert, aber auch unterschätzt und ausgenutzt: Die Künstlerinnen des „Blauen Reiters“ standen lange Zeit im Schatten der männlichen Stars Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Franz Marc. Zu Unrecht (veröffentlicht in Merian Bayern, Sommer 2016, aber immer noch schön…)                                       

Alles hätte so schön sein können. Der Himmel über dem Murnauer Moos leuchtete blau, als hätte der Sommer zum Abschied noch einmal einen vollen Farbtopf auf einer riesigen Leinwand ausgekippt. Die Sonne verzierte den Staffelsee mit Lichttupfen, die Frühherbstkühle erfrischte die Körper und machte die Gedanken leicht. Oktober 1911 war es, als sich die Künstlerclique um Wassily Kandinsky, Franz Marc und August Macke im Murnauer Sommerhaus zur Redaktionssitzung für ihren neuen Almanach „Der Blaue Reiter“ traf. „Es waren unvergessliche Stunden, als jeder der Männer sein Manuskript ausarbeitete, feilte, änderte, und wir Frauen es dann getreulich abschrieben“, so schwärmt August Mackes Frau Elisabeth in ihren Lebenserinnerungen. Aber dann geschah etwas, das Elisabeth die Stimmung verhagelte. Gründlich. „Wir fanden es nicht sehr geschmackvoll, dass Marc und Kandinsky jeder mit seiner Amazone auf dem Plan erschienen, während von August keine vollwertige Reproduktion eines Bildes gebracht werden sollte“, notierte sie pikiert.

Die „Amazonen“, das waren Franz Marcs Frau Maria und Kandinskys Lebensgefährtin Gabriele Münter, der das Sommerhaus gehörte. Nicht, dass Frau Macke ein Problem mit kreativen Frauen gehabt hätte. Diese so genannten „Malweiber“ drängten ja schon seit Jahren in die Klassen privater Kunstschulen, weil die Kunstakademien keine weiblichen Studentinnen aufnahmen. Aber ihre Bilder an prominenter Stelle im Jahrbuch? Später kam’s dann doch anders: Macke rein, Maria Marc raus, Münter blieb. Als hätte man vorausgesehen, wie sich der Kunst-Kanon der klassischen Moderne entwickeln würde.

Mit ihrem biederen Frauenbild stand Künstlergattin Elisabeth selbstredend nicht alleine, sondern entsprach völlig dem Zeitgeist. Ob im niedersächsichen Worpswede, im mecklenburgischen Ahrenshoop oder im bayerischen Bermudadreieck zwischen Tegernsee, Murnau und Sindelsdorf: Überall, wo sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Künstler trafen, um in ländlicher Abgeschiedenheit das Spiel mit Licht und Farbe neu zu erfinden, spielten die Männer die erste Geige. Zwar waren die Herren der Schöpfung sich grundsätzlich einig, dass auch Frauen zu Innerlichkeit und kreativem Ausdruck befähigt wären – aber zu viel Selbstentfaltung wirkte auch auf einige Mitglieder des Blauen Reiters befremdlich. „Der Lebensberuf der Frau und Mutter ist so ungleich heilig und hoch, dass es geradezu lächerlich ist, wie die Emanzipierten noch dazu das Feld des Mannes haben wollen“, tönte August Macke. Bis heute sind Namen wie Kandinsky, Macke und Marc als Vertreter der klassischen Moderne weltberühmt, dagegen kennt man ihre Frauen oft weniger als Künstlerinnen denn als dekoratives Bildmotiv.

Immerhin: Das postkartenbekannte Porträt Marianne Werefkins, der exaltierten Förderin und Muse Alexej Jawlenskys, hat kein Mann gemalt. Sondern ihre Freundin Gabriele Münter. Münter, die wohl bekannteste weibliche Vertreterin des blauen Reiters, geboren 1877 in Berlin, gilt heute als Künstlerin von Weltrang, ist aber dennoch vor allem in Deutschland und Skandinavien ein Begriff. Ganz anders als ihr langjähriger Lebensgefährte Wassily Kandinsky, dessen abstrakte Farb-Explosionen weltweit bekannt sind. „Münter hat immer wieder neu experimentiert, mit Farben, Formen, Bildausschnitten. Ihre Stillleben, ihre Interieurs, die charakteristischen Porträts ihrer Künstlerfreunde, ihre Neuinterpretation volkstümlicher Hinterglasmalerei machen sie einzigartig und unverwechselbar – vor allem aber auch ihre Bereitschaft, sich ständig neu zu erfinden und den eigenen Stil in Frage zu stellen“,  urteilt Annegret Hoberg, die als Kuratorin am Münchner Lenbachhaus schon für die große Münter-Retrospektive von 1992 verantwortlich war und ihre Expertise für eine Münter-Schau im Jahr 2017 mit 60 bis 70 bislang ungezeigten Werken zur Verfügung stellte.

Ein Ausnahmetalent, das auch Wassily Kandinsky früh erkannte. In beinahe komischer Verzweiflung schrieb er seiner Malschülerin und späteren Geliebten: „Du bist hoffnungslos als Schüler – man kann dir nichts beibringen. Du hast alles von Natur. Was ich für dich tun kann ist dein Talent so zu hüten und zu pflegen, das nichts falsches dazukommt.“ Um so mehr ärgert es Isabelle Jansen, Kunsthistorikerin, Geschäftsführerin der Münter-Eichner-Stiftung und Kuratorin des Münter-Hauses, wenn Gabriele Münter bis heute zu sehr aufs Private reduziert wird: „In der Rezeption von Künstlerinnen spielt die eigene Biographie eine überdimensionale Rolle, und so gilt Münter vielfach völlig zu Unrecht als Anhängsel von Kandinsky. Bei männlichen Malern fragt niemand zuerst nach ihren Liebschaften und Familienverhältnissen!“

Interessant sind sie aber durchaus, diese neuen Liebes- und Beziehungsvarianten, die sich damals vor allem in der Bohème deutscher Großstädte herausbildeten, gerade in München-Schwabing. Ein früher Hauch von 1968, aber auch eine Andeutung von Emanzipation, die sich da neben dem bürgerlichen Mackertum eines August Macke Bahn brach. Man schätzte Frauen eben nicht nur als Kaffeekocherinnen und Schreibkräfte, sondern auch als Gesprächspartnerinnen und als Künstlerinnen, lud sie zu gemeinsamen Ausstellungen ein, und natürlich ergaben sich daraus auch Liebesbeziehungen. Dass die junge Malschülerin Gabriele und der elf Jahre alte, verheiratete Lehrer Wassily während eines Malkurses in Kochel am See im Sommer 1902 schließlich mehr tauschten als Bildkompositionstipps, lag auch daran, dass Gabriele für die damalige Zeit ausgesprochen freiheitliche Vorstellungen hatte: Auf Fotos dieser Zeit ist sie in lockerer „Reformkleidung“ zu sehen, und seit ihrer Jugend fuhr sie Fahrrad, was damals als höchst unschicklich für eine junge Dame galt. Kandinsky hatte auch eines, und so bekamen die Malausflüge in die Natur wohl bald eine erotische Note.

Dabei waren Gabrieles Vorstellungen auch durchaus geprägt von einem traditionellen Rollenbild: „Meine Idee von Glück ist eine Häuslichkeit, so gemütlich und harmonisch, wie ich sie eben bereiten könnte“, schrieb sie nach dem Sommer 1902 sehnsüchtig an Kandinsky. Andere Künstlerinnen der Gruppe nahmen sich sogar noch mehr zurück, stellten eigene Ambitionen in den Schatten ihrer vermeintlich größeren Lebensaufgabe: Die russische Großbürgerstochter Marianne Werefkin sah sich lange Jahre fast ausschließlich als Muse ihres jüngeren Protegés und Geliebten Alexej Jawlensky, den sie mit Geld und Beziehungen unterstützte, und für den sie die Miete der herrschaftlichen Wohnung in der Münchner Giselastraße bezahlte. Sogar dann noch, als er das minderjährige Hausmädchen Helene schwängerte. „Ich bin Frau, bin bar jeder Schöpfung, ich kann alles verstehen und nichts schaffen“, so stapelte sie in ihrem Tagebuch tief. Erst im Alter etwa 50 Jahren entstand ihr künstlerisches Hauptwerk, das allerdings nach Expertenmeinung nicht an die Begabung und Innovationsbereitschaft Gabriele Münters heranreicht. Und Maria Marc? Ähnlich wie Gabriele Münter hatte sie einen Mann an ihrer Seite, der sie künstlerisch förderte, aber ihr dafür einiges zumutete. Den Sommer 1906 verbrachten die beiden in Kochel, in Begleitung von Franz Marcs Kunstlehrerin Marie Schnür, die sich dort auch nicht nur aus künstlerischen Gründen auszog. Als „Thränenhügel“ bezeichnete Maria Marc später einen Berghang bei Kochel, auf dem sich manche unschönen Szenen des amourösen Dreiergespanns abgespielt haben müssen. Erst spät fand Maria Marc ihre ganz persönliche künstlerische Ausdrucksform in Form von Webteppichen mit abstrakten Mustern. 1952, bei ihrer ersten und einzigen Solo-Ausstellung in einer Münchner Galerie, war sie 76 Jahre alt.

So unterschiedlich die Stile der Künstler und Künstlerinnen, so sehr zieht sich ein immer wiederkehrendes Motiv durch ihre Bilder: die oberbayerische Landschaft. Sindelsdorf, Lenggries, Kochel, Ried, so hießen die Sehnsuchts- und zeitweiligen Lebensorte der Gruppe – und immer wieder Murnau. Ohne die Atmosphäre und Lichtstimmung der Voralpenlandschaft wäre die Kunst des Blauen Reiters kaum denkbar, erklärt Lenbachhaus-Kuratorin Annegret Hoberg: „Die häufig changierende Beleuchtung, die klaren, starken Farben, die Föhnstimmung, in der die Konturen noch deutlicher hervortreten, das findet man nirgends so wie dort.“ „Das Blaue Land“, so taufte Franz Marc die Voralpenlandschaft, und auch die sonst eher nüchterne Gabriele Münter kam ins Schwärmen: „Weiße dünne Windwolken, die Berge im Schatten so dunkelblau!“ Die Künstler fanden dort auch das Volkstümliche, das Einfache, den Stoff, nachdem die Expressionisten so sehr gierten. Besonders Gabriele Münter interessierte sich für die traditionelle Glasmalerei und fand in Murnau Meister, die sie in das alte Kunsthandwerk einführen konnten.

Den Sommer 1908 hatten Münter und Kandinsky gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky dort verbracht, eine Phase explosiver Kreativität. Im August 1909 erwarb Gabriele Münter auf Kandinskys Drängen hin zum Preis von 12.500 Reichsmark das Haus in der Kottmüllerallee, damals das einzige Gebäude außerhalb der Bahnlinie. Endlich ein Ort, um ihre Liebe mit Kandinsky zu leben und Zeit mit den Künstlerfreunden zu verbringen. Die Einheimischen tauften es auf den Spitznamen „Russenhaus“, was keineswegs liebevoll gemeint war: Diese kreative Clique mit ihren wilden Verhältnissen, teilweise auch noch begleitet von unehelichen Kindern, wurde misstrauisch beäugt.

Dem Glück tat das keinen Abbruch. Liest man Briefe und Tagebucheintragungen und sieht man sich Fotos aus den Murnauer Schaffensperioden an, hat man den Eindruck: Hier stehen ein paar frühe Vertreter der „Generation Landlust.“ Detailliert beschreibt Gabriele Münter, in welche Reihen Pflücksalat am besten gedeiht, und auf den Bildern sieht man Kandinsky in Lederhose im eigenen Beet. Murnau erdete die verkopften Künstler, der Föhn pustete ihre Gedanken frei, und die unmittelbare Nähe zur Natur ermöglichte es ihnen gleichzeitig, den Schritt zu machen von kunstvoller Wiedergabe zu einer ganz persönlichen Handschrift: „Durch die malerische Auseinandersetzung mit dieser Landschaft fanden die Mitglieder der Gruppe ihre jeweils eigene, reduzierte und zugleich ausdrucksstarke Bildsprache “, erklärt Kunsthistorikerin Isabelle Jansen. „Bei Kandinsky führte der Weg schließlich in die Abstraktion.“ Ein Weg voller spannender Zwischenstationen: So zeigt etwa Kandinskys Bild „Improvisation Klamm“ von 1914 auf den ersten Blick eine dynamische Farben- und Formenkomposition, nur wer genau hinsieht, entdeckt das winzige Paar in alpenländischem Outfit in seinem Zentrum.

Heute hängt dieses Bild im Münchner Lenbachhaus. Dass dieses Museum über eine derart beeindruckende Sammlung von Kunstwerken des Blauen Reiters verfügt, ja, dass überhaupt so eine große Zahl dieser Bilder die Nazizeit und ihre Jagd auf „entartete Kunst“ überstanden hat – das ist neben den eigenen Werken wohl der größte Verdienst der Blaue-Reiter-Frauen. Maria Marc versteckte Gemälde ihres im ersten Weltkrieg gefallenen Mannes jahrelang hinter einem Wandpaneel im Schlafzimmer des Hauses in Ried, Gabriele Münter hortete Kandinsky-Werke in einem trockenen Kellerraum. Zwar hatte ihr langjähriger Gefährte sie zwischenzeitlich verlassen und eine jüngere Frau in zweiter Ehe geheiratet. Aber ihrer künstlerischen Wertschätzung für ihn konnte diese Enttäuschung nichts anhaben.

Münter engagierte sich auch dafür, dass die Bilder des Blauen Reiters schon in den ersten Nachkriegsjahren wieder in München gezeigt wurden, und schenkte der Stadt 1957 über 90 Ölgemälde und zahlreiche Temperabilder, Aquarelle, Zeichnungen, Grafiken und Hinterglasbilder Kandinskys. Die Frauen des „Blauen Reiters“ hielten auch als Freundinnen lebenslang zusammen: vor allem Gabriele Münter und Maria Marc blieben stets in Kontakt, zu ihrem Kreis gehörte auch Elisabeth Macke, die sich als junge Frau noch über die Ambitionen der „Amazonen“ mokiert hatte. Vergeben und vergessen.

Im Alter von beinahe achtzig Jahren erhielt Gabriele Münter den Kunstpreis der Stadt München. „Es ist nun eingetreten, was Kandinsky mir schon früh prophezeit hatte, wenn ich als Frau immer zurückgesetzt und übersehen wurde, dass spät, aber sicher die allgemeine Anerkennung kommen würde“, sagte sie in ihrer Preisrede voller Genugtuung. 1962 starb sie in ihrem Schlafzimmer im „Russenhaus“. An einem Maimorgen, unter einem Himmel, der sich so mächtig ins Zeug legte, als wollte er einen strahlenden Sommer vorwegnehmen.

Von Menschen und Möwen

Der Hamster braucht ein weites Feld für sich allein, Seevögel hocken dicht an dicht mit ihrer Brut, Menschenfamilien halten es unterschiedlich mit dem Abstand. Schon während des ersten Lockdowns habe ich mich im Namen des ELTERN-Magazins gefragt: Woran liegt das eigentlich – und wie findet jeder seinen Wohlfühl-Platz? Aus aktuellem Anlass hier nochmal mein Text.

Als ich noch jünger, kinderloser und acht Kilo leichter war, führte ich eine innige Beziehung mit einem Sofa. Es war rot, plüschig, und stand mitten in einer Zwei-Zimmer-Maisonettewohnung. Der Kernbereich meines Reviers, zwei Etagen, 50 Quadratmeter. Alles meins. Seitdem hat rund um mich die Bevölkerungsdichte zugenommen – erst ein Mann, dann ein Kind, dann ein zweites -, während mein eigener Platz weniger wurde. Obwohl wir schon lang in einer deutlich größeren Wohnung wohnen. Eigenes Zimmer? Nicht für mich. Eigenes Sofa? Negativ. Das dient heute Helen (14) und Henri (11) als Wohnzimmer-Stammplatz. Außerdem ihren Chipstüten, Controllern und dreckigen Socken. Wie ich das finde, hängt von der Tagesform ab. Manchmal schaue ich sie dabei an wie eine verliebte Vogelmutter ihre Jungen im Nest. Manchmal fauche ich wie eine Raubkatze: Wozu habt ihr Betten, Sessel, Sitzsäcke! Chillt woanders!

Familien unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Burger oder Biopastinake, Multiplayer oder Mau-Mau, und auch in der Frage: Wie hältst du’s mit der Nähe? Unsere Freunde schwärmen vom Urlaub im VW-Bus, von Team-Spirit und großer Freiheit – ich bekomme schon bei dem Gedanken einen Lagerkoller, zu viert die Nacht in so einem rollenden Kasten zu verbringen. Anderes Extrem: eine Mutter im Bekanntenkreis braucht überall ihr eigenes Schlafzimmer, zu Hause wie im Urlaub. Trotzdem ist sie glücklich verheiratet, oder vielleicht deshalb. Wir befinden uns in der Mitte der Skala. Verbrachten jahrelang Nacht für Nacht im Kleinkindergewühl, machten aber auch eine Flasche Crémant auf, als endlich keins mehr bei uns schlafen wollte. Die Kinder wiederum haben unterschiedliche Vorlieben. Helen ist der kuschelige Typ, Team VW-Bus, Henri eher Team Einhandsegler. Zog sich schon als Kleinkind immer mal aus Gruppenspielen heraus, um sein Solo-Ding zu machen. Auf den ersten Corona-Lockdown  – Eltern im Home Office, Teenager in der Home School – haben wir allerdings alle vier ähnlich reagiert: mit verstärktem social distancing. An den Kinderzimmertüren hingen „Keep out“-Schilder. Sogar mein Sofa hatte ich manchmal wieder für mich.

Warum sind Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Alleinsein so unterschiedlich – unsere, aber auch die der anderen? Zum Teil ist es Veranlagung. Wir brauchen Bindung genau wie Autonomie, nur in unterschiedlichem Mischungsverhältnis. „Bindungstypen suchen Sicherheit durch Nähe“, sagt die Psychotherapeutin und Buchautorin Stefanie Stahl („Das Kind in dir muss Heimat finden“), „bei den Autonomietypen ist es genau umgekehrt. Die verlassen sich am liebsten auf sich selbst und haben eher Angst, sich im anderen zu verlieren.“ Darin erkenne ich mich wieder: Ich brauche meine eigene Ecke und mein eigenes Bankkonto, um mich wohlzufühlen. Dazu kommt, was uns geprägt hat. Ich wuchs als Einzelkind auf, mit großem Zimmer plus Balkon. Mich haben schon die Doppelstockbetten auf Klassenreisen gestresst. Eine Kollegin, die in einer fröhlichen Späthippiekommune groß geworden ist, liebt dagegen das Gewusel, hat vier Kinder bekommen und in den letzten dreizehn Jahren kaum ein paar Tage am Stück ohne sie verbracht. Ich weiß nicht genau, was auf ihrer Wunschliste ans Leben steht, aber: ein Zimmer für sich allein ist es nicht.

Es gibt auch noch eine zweite Möglichkeit, unsere Unterschiede zu ergründen: biologisch. Auch Tiere zeige ja ganz unterschiedliches Territorialverhalten. Norbert Sachser ist Professor für Verhaltensbiologie an der Uni Münster und Experte für diese Frage. Während er mir erklärt, wie einzelne Spezies ihr Gebiet und ihre Ressourcen aufteilen, möchte ich ständig dazwischenrufen: solche Leute kenne ich auch! Die treusorgenden Vogel-Eltern, die monogam leben und gemeinsam ihr Revier verteidigen, genau so wie den nerdigen Feldhamster, der Weibchen nur zur Paarung in seiner Nähe duldet und auf jeden losgeht, der in seinem Feld nach Nahrung wildert. Die Schimpansensippe, die gerne eng aufeinander hockt, aber regelrechte Kriege gegen andere Gruppen anzettelt. Die Silbermöwen, die gemeinsam ihr Nest beschützen, aber im weiten Umkreis Fische fangen, oder die Stare, die mit höflichem Abstand auf Stromleitungen hocken. Alles Typfrage? „Ob Säuger, Vögel oder Fische, in allen Klassen gibt es Beispiele für Kontakttiere und für Distanztiere“, fasst Sachser zusammen.

Allerdings ist auch das nicht in Stein gemeißelt. In den letzten Jahren hat sich unter Biologen die Erkenntnis durchgesetzt: Ähnlich wie Menschen werden Tiere individuell von Erfahrungen und Umwelt geprägt – von mütterlichen Hormonen während der Tragezeit bis zu den Lebensumständen in der Zeit des Heranwachsens. Am Beispiel von Meerschweinchen hat Sachser erforscht, wie Tiere mit höherer Dichte umgehen – eine Erfahrung, die auch Menschenfamilien in der Corona-Krise machen. Die überraschende Erkenntnis: Wer enger aufeinander hockt, wird nicht zwangsläufig aggressiv. Sondern jetzt schlägt die Stunde der Diplomaten. Wer Kontaktpflege und Sozialverhalten gelernt hat, gerät auch weniger unter Stress als machtbewusste Alphatypen, die unter anderen Lebensumständen die Nase vorn haben.

In der Familie bleibt nur eins: Immer wieder aufs Neue aushandeln, wie man Nähe schafft, aber auch Grenzen wahrt. Und respektieren, dass sich die Wohlfühldistanz von Erwachsenem und Erwachsenem und Kind zu Kind unterscheidet – genauso wie Schmerzempfindlichkeit, Essensvorlieben und Musikgeschmack. Außerdem ist Raum nicht nur eine Frage von Quadratmetern, sondern auch Kopfsache. Es muss ja nicht das eigene Sofa sein, ich kann mir auch mit einem Sessel ein Stück Privatsphäre sichern. Oder das Revier nicht räumlich, sondern zeitlich abstecken. Etwa: Das eigene Schlafzimmer ist erwachsene Zone – aber erst nach 21 Uhr. Und, a propos Zeit: Jedes Nest, das sich im Lauf der Jahre füllt, wird auch irgendwann wieder leerer. Sollte meine Tochter im gleichen Alter von zu Hause ausziehen wie ich damals, dann bleiben uns nur noch fünf Jahre unter einem Dach. Dann könnte ein Zimmer für mich wieder drin sein. Ich fürchte aber, es wird sich ziemlich leer anfühlen….

Schluss mit lustig?

Internationale Erhebungen kommen zu einem ähnlichen, irritierenden Ergebnis: Jüngere Menschen haben heute deutlich weniger Sex als vor einigen Jahrzehnten. Für das April-Heft (2021) der BRIGITTE WOMAN habe ich nachgefragt: Woran liegt das? Hier der etwas längere Ursprungstext, im Heft ist der leicht gekürzt.

Neulich, kurz vor meinem einundfünfzigsten Geburtstag, las ich ein paar Zahlen, die mich alt aussehen ließen. Es war weder mein BMI im Fünfjahresvergleich noch die zunehmende Länge der täglichen Joggingstrecken, die coronamüde Mitmenschen auf Social Media teilen. Sondern die aktuelle Statistik der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BzgA), die besagt: Für Jugendliche ist Sex deutlich weniger attraktiv als zu Dr. Sommers Glanzzeiten. Noch vor zehn Jahren hatte jedes fünfte Mädchen bis zum 15. Geburtstag bereits sein „erstes Mal“ hinter sich, 2019 nur jedes zehnte. Und auch die Älteren warten lieber ab. Top-Gründe: „Ich habe den Richtigen noch nicht gefunden“ und „Ich fühle mich zu jung.“ Noch erstaunlicher fand ich eine drei Jahre alte Erhebung der Uni Leipzig. Danach ist vor allem die Gruppe lendenlahm, von der man es am wenigsten erwarten würde: die 18- bis 30jährigen Singles. Fast jeder und jede Dritte von ihnen gibt an, in den zwölf Monaten vor der Befragung nicht einen einzigen intimen Kontakt gehabt zu haben – 2005 waren dies nur zehn Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen. Der Sex des 21. Jahrhunderts: gar kein Sex.

Das zeigt: Es braucht keine staatlichen Kontaktbeschränkungen, um bei Millenials und ihren älteren Geschwistern die unbeschwerte Neugier aufeinander zu drosseln. Die sind auch sonst anders drauf als meine eigene Alterskohorte in dieser Lebensphase war. Und ich weiß nicht, wie ich das finden soll: erwachsen und verantwortungsbewusst – oder vor allem bedauerlich? Auch wenn ich mir meine eigenen Zwanziger nicht zurückwünsche, mit all ihren Unsicherheiten, überzogenen Konten und ungeputzten WG-Klos, eines waren sie für meine Freundinnen und mich ganz sicher: eine Love Parade in wechselnder Besetzung. Wochenenden, an denen man seinen Zweier-Futon nur verließ, um tanzen zu gehen oder Zigaretten zu kaufen. Mal war’s nur für eine Nacht, mal folgten drei bis zwölf Monate wahre Liebe. Woher dieser grundlegende Wandel? Oder, wie meine Großmutter formuliert hätte: Was ist nur mit den jungen Leuten los?

Ich weiß, bei solchen Vergleichen lacht das Labor. Fallzahl n = 1, eine einzelne Biographie aus den Neunzigern taugt nicht für empirische Erhebungen. Vergleicht man aber weitere aktuelle Statistiken, bestätigt sich: die Jugend der westlichen Welt hat einen Durchhänger. Auch schon vor 2020, als weltweit außer Herstellern von Sextoys und Videokonferenzanbietern kaum jemand Grund zum Feiern hatte. Von einer „Sex-Rezession“ schreibt das US-Magazin „The Atlantic“, Dänen und Skandinavier klagen über Frust im Bett, Niederländer, US-Amerikaner und Deutsche machen ihre ersten Erfahrungen später, auch Großbritannien probt den Sexit. Am schnellsten schreitet die erotische Versteppung in Japan voran. 2005 war ein Drittel der 20-somethings komplett unberührt, 2015 schon fast jeder zweite.

Why, Generation Y? Zelebrieren Millennials vor dem Aufstehen lieber ein Power-Morning-Ritual, statt vor dem Zähneputzen übereinander herzufallen? Haben sie zu viel Angst vor Kontrollverlust in ihrem durchgecoachten, durchgetakteten Leben? Schlagen Twenty-Something-Männer im Zeitalter von MeToo eingeschüchtert die Augen nieder, weil sie fürchten, schon ein falscher Blick könnte im Shitstorm enden? Oder sind das nur die kulturpessimistischen Mutmaßungen einer alten, weißen Frau?

Eine, die es wissen könnte, heißt Theresa Lachner. Die 34jährige ist systemische Sexualberaterin, und dazu so etwas wie die Erica Jong der Gegenwart: Kaum eine schreibt so klug über den Zusammenhang von Sex und Gesellschaft, Seele und Frausein, per Podcast, Blog und in Buchform. „Klar ist auch Corona ein Game Changer“, sagt sie. „Es zwingt Menschen zu einer neuen Ernsthaftigkeit, schon früh stellt sich die Frage: Was sind wir – ein oder zwei Haushalte? Das macht wählerischer, es entschleunigt auch. Man geht lieber einmal mehr spazieren, ehe man Körperflüssigkeiten austauscht.“ Das Gegenteil von „Gamification“ im Stil von: Erst per App eine Pizza bestellen, dann per Tinder den Pizzapartner für eine Nacht dazu. Voll 2019.

Aber auch ehe Covid19 unser Alltagsleben auf Links gedreht hat, wurden die Weichen für das Liebesleben auf viele Weise neu gestellt. Stichwort: Porno und Körperbild. Vom „Selfie-Blick beim Sex“ spricht der Kölner Forscher und Psychologe Stephan Grünewald. Frauen fragen sich häufiger, was im Bett gut aussieht als was sich gut anfühlt, Männern kommen nicht nur unrealistische Sehgewohnheiten aus Hechel-Clips in die Quere, sie leiden selbst unter Attraktivitätsdruck. Das weiß auch Lachner aus erster Hand: „Fitness und Muskelaufbau sind ein Riesenthema, ‚Lauch’ das schlimmste denkbare Schimpfwort.“ Dazu passt eine Studie des Deutschen Sportlehrerverbandes, die besagt: keine Teenagergeneration zuvor war so schamhaft. Nackt vor anderen duschen? Krasse Vorstellung, für Boys wie Girls. Body Positivity? Vielleicht werden die Breithüftigen und Kurzbeinigen, die Schmalbrüstigen und Untrainierten auf Instagram gefeiert, deshalb aber noch lange nicht im Real Life begehrt. Hohe Ansprüche sowohl an sich selbst wie an mögliche Liebespartner. Und es macht die Sache nicht besser, wenn sich seit Monaten zusätzlich die Erkenntnis in den Köpfen breitmacht: Jeder Körper, ob schön oder nicht, kann eine fiese Virenschleuder sein. Und Sex ist irgendwie bäh.

Aber die wirkliche Überraschung in unserem Gespräch ist: Trotz all dieser Tristesse zieht Theresa Lachner ein optimistisches Fazit. Sie ist überzeugt: Kein Sex – oder weniger Sex – ist nicht nur ein Teil eines Problems, sondern auch Teil der Lösung. Gerade, wenn wir uns hoffentlich bald wieder freier bewegen können. „Die Geschlechterdebatte hat junge Frauen selbstbewusster gemacht. Wenn sie seltener mit Männern schlafen, heißt das auch: Sie versäumen nur selten eine großartige Nacht – aber dafür jede Menge schlechte.“ Eine coole Gourmet-Haltung: sich lieber aus dem Büffet der Möglichkeiten das herauspicken, was wirklich schmeckt, als fade Kost zu akzeptieren. Moderne Sexgöttinnen fordern nicht nur mehr Einfühlsamkeit und Respekt während des Aktes, auch drum herum. Etwa bei der Verhütung: Allein in den letzten sechs Jahren ist die Nutzung der Pille bei jungen Mädchen von 45 auf 30 Prozent zurückgegangen, so die BzgA. Lieber eine Nacht ohne Sex als 365 Tage pro Jahr künstliche Hormone.

Diese Haltung kann zu längeren Single-Phasen führen, aber diese streifen auch ihr Loser-Image ab. 20 Jahre nach „Sex and the City“ gilt Mr. Big nicht mehr als einzig möglicher Hauptgewinn. Die Schauspielerin Emma Watson bezeichnete sich 2019 in einem Interview als „self-partnered“ – mehr Ich-bin-mir-selbst-genug geht nicht. Und wenn sich dann noch der Sextoyhersteller „Wow Tech“ auf die Fahnen schreibt, den „Gender Masturbation Gap“ zu schließen, könnte man angesichts der Statistiken noch auf eine andere Idee kommen. Nämlich: Ein Viertel der jungen Single-Frauen hat durchaus erfüllenden Sex, aber mit sich selbst. Für alle anderen Körper als den eigenen gilt: Sorry, we’re closed. Wenigstens vorübergehend. Die Verkaufszahlen von Hightech-Vibratoren sprechen dafür.

Ist die sinkende Sexfrequenz also auch ein Zeichen von Empowerment? Kombiniert mit hohen Erwartungen: Wenn ich mich schon ernsthaft auf jemanden einlasse, muss es auch rundum perfekt sein, körperlich, seelisch, geistig? Und was ist mit den Männern – müssten die uns eigentlich Leid tun, weil die Regeln für Begegnungen ständig umgeschrieben werden und immer neu verhandelt? „Natürlich ist das ständige Diskutieren anstrengend“, weiß Lachner, „anstrengender jedenfalls, als sich allein in seine Pornowelt zurück zu ziehen.“ Männlicher Sexstreik als Preis dafür, dass zwischen den Geschlechtern etwas ins Rutschen gekommen ist.

Das unterschreibt auch Anja Henningsen, Professorin für Soziale Arbeit und Gesundheit an der FH Kiel. „Sexualität wird demokratischer, weiblicher. Im besten Fall zum Verhandlungsgegenstand, im schlechteren zur Kampfzone der Geschlechter. Wo es kein nonverbales Skript mehr gibt, kein inneres Drehbuch, wie eine Begegnung abzulaufen hat, hilft nur Kommunikation.“ Ob sich Befriedigung und Begehren tatsächlich in Beischlafzahlen ausdrückt, daran zweifelt sie: „Die Lust ist ja nicht weniger geworden. Sie sucht sich nur zunehmend andere Kanäle.“ Auch wenn die Effizienz dabei auf mich ein wenig erschreckend wirkt: Orgasmus als Wellness, lieber zehn Minuten mit dem Hightech-Vibrator (sie) oder bei Pornhub (er) als ein Wochenende im Lotterbett.

Henningsen kritisiert aber auch den Begriff von Sex und Partnerschaft, der manchen Studien zugrunde liegt. Und das in Zeiten, in denen so viel Raum entsteht jenseits des Mainstreams. Meine Schulfreundin, die auf dem 30jährigen Abitreffen erzählte, dass sie ihre Hetero-Ehe beendet hat und jetzt eine Frau liebt, passt nicht so leicht in klar definierte Schubladen. Oder Fetisch-Liebhaber, die auf Partys lässig einen Satz wie „penetrative Sexualität ist nicht so mein Ding“ raushauen.

Insgesamt ist die Geschichte also doch nicht so trostlos wie befürchtet. Und als Mutter einer Teenagertochter finde ich das beruhigend – sie und ihre Freundinnen haben das ja alles noch vor sich. Selbst wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass all diese Verhandlungsrunden Platz lassen für Hingabe, Überwältigung, Ekstase. Ein Problem, das auch Henningsen sieht: „Erfüllende sexuelle Erfahrungen haben auch mit Grenzüberschreitung zu tun.“ Nicht immer verträgt sich das mit Selbstermächtigung. Wie wohl alles weitergeht, im Jahr zwei nach Corona und danach? Theresa Lachner sieht zwei Szenarien: „Kann schon sein, dass wir uns auf ein neues Biedermeier zubewegen, in dem Genuss ohne feste Bindung verpönt ist. Genau so gut ist es möglich, dass der Hedonismus, die Lust sich neue Ventile suchen: etwa auf Sexpartys, auf denen nur reinkommt, wer einen negativen PCR-Schnelltest vorweisen kann. Vielleicht passiert auch beides parallel.“

Die eingangs zitierte Studie aus Leipzig brachte übrigens noch ein zweites, nicht minder überraschendes Ergebnis. Die Babyboomer haben deutlich mehr Sex als die Kriegskindergeneration. 1994 ging nur ein Drittel der gebundenen Frauen zwischen 60 und 70 noch regelmäßig mit dem Partner ins Bett, heute sind es 42 Prozent dieser Altersgruppe. Bei den Singles ist es jede zehnte Frau, vor 25 Jahren war es nur jede zwanzigste. Und laut der Befragung einer Dating-App sind vier von fünf Ü-50-Singles spielerisch im digitalen Raum unterwegs. Auch das sagt noch nichts darüber aus, wie glücklich und befriedigt sie sind, und ob die Suche erfolgreich ist. Aber ich finde, die nackten Zahlen machen Lust – vor allem aufs Älterwerden.

Es lebe die gut-genug-Mutter

Mach dich doch mal locker! Kinder brauchen keine perfekten Mütter! Wissen wir alles, entlastet uns aber trotzdem nicht richtig. Weil wir in der Zwickmühle zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, privaten Vergleichen und widersprüchlichen Idealen feststecken. Wie kommen wir da raus – und was ist eigentlich mit den Vätern? Das habe ich für ein Titelthema der ELTERN im Januar 2021 recherchiert.

Vielleicht fing alles mit dieser TV-Werbung an, Mitte der Nuller Jahre. Junges Paar trifft auf Party eiskalte Zicke, Zicke mustert Frau abschätzig: „Und, was machen Sie beruflich?“ Film ab: Staubsaugen, kranke Kinder pflegen, Hausaufgabenhilfe, dem Gatten ein Stäubchen vom Hemd zupfen. Immer mit einem Lächeln auf den Lippen, ist ja ein schöner Job. Ihre Antwort: „Ich leite ein gutgehendes, kleines Familienunternehmen.“

Klar war das schlagfertig, cool und sympathisch. Aber es war auch ein neues Etikett: die Mutter als menschliche Aktie mit Top-Kursentwicklung. Im Nachfolge-Werbeclip zählte eine frische Blonde beim Vorstellungsgespräch ihre Qualifikationen auf, die sie im „Familienunternehmen“ erworben hat. Die Karrierezicke als Feindbild hatte ausgedient, jetzt waren beide zu einer Person verschmolzen. Die (un-)heimliche Botschaft: Mütter können alles (und müssen alles können!), im Job performen, ohne dabei im Kinderzimmer nachzulassen. Schon beim Zuschauen bekam man Schnappatmung. Irgendwie logisch, dass 2019 vier von fünf Frauen, die zu einer Kur des „Müttergenesungswerkes“ antraten, mindestens eine psychische Belastung mitbrachten: von Angstzuständen, Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen bis zum Burnout. Diagnose: akute Perfektionitis.

Nicht etwa die Schuld des Haushaltsgeräteherstellers, auch nicht die der Werbeagentur. Die hatten nur den Zeitgeist auf den Punkt gebracht.

Natürlich gibt es gute oder wenigstens gut gemeinte Tipps für die gestresste Wonder Woman: Versuch’s doch mal mit Yoga/Meditation/Sauna, fahr ein Wochenende weg, lass mal Fünfe gerade sein. Wenn das nur so einfach wäre, sagt Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften, die in der Schweiz zu Fragen von Familie und Gesellschaft forscht und gerade ein Buch* über den Perfektionswahn veröffentlicht hat. Sie ist überzeugt: „Entlastung ist im Einzelfall sicher hilfreich – aber mit solchen Ratschlägen wird ein gesellschaftliches Problem auf die einzelne Mutter abgewälzt, als Selbsttherapie. Sie soll funktionieren, statt ein System zu hinterfragen, das immer neuen Druck schafft.“ Doch wodurch entsteht dieser Druck genau?

Druckmacher Nummer eins: Der neoliberale Zeitgeist

Wie wir im Privaten leben, ist immer auch Spiegel der Gesellschaft. Die US-amerikanische Anthropologin Wednesday Martin berichtet in ihrem Sachbuch „Die Primaten von der Park Avenue“, wie New Yorker Millionärs-Ehemänner ihren Frauen einen Jahresbonus für erfolgreiches Familienmanagement zahlten, sprich: gepflegtes Haus, repräsentatives Äußeres, gute Noten der Kinder…

Eine kuriose Blüte aus dem Biotop der Reichen und Schönen? Vielleicht. Aber wenn wir ehrlich sind, gilt das in abgeschwächter Form auch in der Mietwohnung in Münster oder im Reihenhaus in Rosenheim. Welcher After-Baby-Body als erstes aussieht wie ein Before-Baby-Body, und welches Schulkind später bei der Mathe-Olympiade aufs Treppchen klettert, wird zum stillen Wettbewerb. Der perfide Glaubenssatz dahinter: Wer es nur richtig anstellt, kann in unserer Gesellschaft alles schaffen.  Und wer die Kinder nicht zu Höchstleistungen bringt, hat eben was falsch gemacht als Mutter.

Frage an Frau Stamm …

In ihrem Buch schreiben Sie: „Weil bei vielen Müttern die Fäden zusammenlaufen, sind erfolgreiche Kinder ein Zeichen mütterlicher Ernsthaftigkeit. Erfolgreiche Mütter haben erfolgreiche Kinder….“ Haben nicht auch früher Mütter und Väter ihren Ehrgeiz auf ihre Kinder projiziert, etwa: Der Kleine soll später in Vaters Fußstapfen treten?

Margrit Stamm: Ja, aber mit einem Unterschied: Früher war die Vaterrolle quasi das Außenministerium der Familie, die Mutterrolle das Innenministerium. Jetzt sind die Mütter für alles zuständig: Das Kind soll erfolgreich sein, die eigene Karriere laufen, und auch noch der Geburtstagskuchen selbst gebacken. Der Feminismus, so begrüßenswert er war und ist, hat ungewollt seinen Teil dazu beigetragen. Weil er das Leitbild der berufstätigen Frau befördert hat, Mutterschaft aber sehr randständig behandelt hat.

Bei so vielen Ansprüchen ist es doch auch verständlich, wenn Frauen sich nach einer kuscheligen Gegenwelt sehnen, in der Liebe mehr zählt als Leistung.

Sogar sehr. Ein emotionsgesteuerter Gegenentwurf zur Wettbewerbsgesellschaft, in dem das Muttersein aus dem Bauch kommt und die Aufgabenteilung in der Partnerschaft ganz von selbst klappt, weil die Liebe so groß ist. Kommt dann der Realitätsschock, klinken sich gerade höher gebildete Frauen eher aus dem Beruf aus, weil sie lieber als Mutter perfekt sein wollen als den schwierigen Spagat zu versuchen. Aber das muss man sich leisten können, und es ist ja nicht die Lösung, gesellschaftlich gesehen.

Druckmacher Nummer zwei: Medien, Lehrer, Ärztinnen und Co.

Mütter stehen ständig unter Beobachtung, schon vor der Geburt bringt sich ein Team von Schiedsrichtern in Stellung, die sich nicht selten widersprechen. Die eine Fachbuchautorin macht sich für Langzeitstillen und Familienbett stark, der andere prangert in seinen Büchern Helikoptereltern an. Einerseits lernen wir: Die wichtigste Basis unserer Kinder ist eine glückliche Kindheit, in der auch mal Zeit zum Nichtstun ist. Andererseits wird uns suggeriert: Ohne eine optimale Förderung und später einen guten Schulabschluss hat unser Kind keine Chance. Also üben Mütter mit ihren Kindern für U-Untersuchungen das Rückwärtshüpfen, als könnten sie sonst schlechte Noten kassieren.

ELTERN FAMILY: Eltern und vor allem Mütter stehen heute auch deshalb unter Druck, weil sie mehr falsch machen können. Nicht zuletzt hängt das auch mit den Erkenntnissen der modernen Bindungsforschung und Entwicklungspsychologie zusammen. Durch sie wissen wir: Kinder sind verletzlich, in vielerlei Hinsicht.

Margrit Stamm: Ja, wir nehmen die Bedürfnisse der Kinder ernster und erwarten nicht, dass sie einfach nur funktionieren. Das ist prinzipiell gut.

Andererseits erwächst daraus aber auch schnell ein Konflikt: Denn mit einer Erziehung, die sich stark an den Bedürfnissen der Kinder orientiert, gerät eine Mutter mit ihren Bedürfnissen schnell ins Hintertreffen.

Das stimmt, wobei man sich mit Blick auf die Kinder wirklich auch fragen muss, ob die Latte nicht zu hoch liegt. Und Fachleute sich zu sehr an möglichen Defiziten orientieren. Der englische Kinderarzt Donald Winnicott hat in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Begriff der „good enough mother“, der „ausreichend guten Mutter“ geprägt. Er hat recht. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, um zu glücklichen, selbstbewussten Menschen heranzuwachsen.

Sollten wir uns also innerlich unabhängig machen von allen Expertenstimmen?

Jedenfalls das eigene Urteil nicht weniger wichtig nehmen als das der anderen. Immerhin wird das Problem erkannt. Der Chefarzt einer großen Frauenklinik schrieb mir kürzlich: Es stimmt, auch Ärztinnen und Ärzte sollten den mütterlichen Perfektionismus nicht noch mehr verstärken. Sondern Frauen den Rücken stärken.

Bei älteren Kindern trägt ja auch die Schule ihren Teil zum Druck auf die Mütter bei – nicht erst beim Homeschooling in der Corona-Krise. Oft sind auch hier die Erwartungen widersprüchlich: Einerseits soll man das Kind im eigenen Tempo lernen lassen, aber die ein oder andere Zusatzübung kann schon nicht schaden.

Ich denke, das wichtigste ist, das eigene Bewusstsein zu schärfen. Optimierte Kinder sind eine unrealistische Erwartung. Man sollte sich von niemandem weismachen lassen, dass es nur die richtige Diagnose, Therapie, Lernmethode braucht, um das Kind zum Überflieger zu machen. Vieles hat man schlicht nicht in der Hand.

Druckmacher Nummer drei: Der lange Atem der Vergangenheit

Wie eine ideale Mutter zu sein hat, darüber haben sich im deutschsprachigen Raum schon Menschen Gedanken gemacht, ehe die moderne Psychologie auf den Plan trat. Martin Luther (16. Jahrhundert) erklärte Hausarbeit und Kinderbetreuung zum „Heimgottesdienst“, der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi sah 200 Jahre später in der „Wohnstubenerziehung“ die Basis des Lernens und der Liebesfähigkeit. Und seine Zeitgenössin, die Preußenkönigin Luise, wurde zum Role Model, weil sie ihre Kinder selbst erzog. Ganz anders die Vorbilder in Frankreich, wo Fremdbetreuung immer eine Selbstverständlichkeit war – bei Hof und in Adelskreisen machten Ammen diesen Job, heute werden schon die Allerjüngsten selbstverständlich in der Krippe abgegeben. Nur ein Beispiel von vielen, wie uns kulturelle Vorbilder langfristig beeinflussen, selbst wenn die tapfere Luise heute den meisten Müttern kein Begriff mehr ist. Auch Margrit Stamm ist überzeugt: Diese Prägungen machen es Müttern hierzulande schwer, Verantwortung abzugeben.

ELTERN FAMILY: In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen „intensiver“ und „extensiver“ Mutterschaft. Das zweite Modell bedeutet: Eine Mutter hat gar nicht den Anspruch, die einzige und jederzeit beste Bezugsperson für ihr Kind zu sein.

Margit Stamm: Ja, ich spreche dabei auch von „Schattenmüttern“ – also Kita-Erzieherinnen und -Erzieher, Tagesmütter, Nannys, Großeltern. Im besten Fall gelingt es, einen Teil der Verantwortung zu delegieren, ohne dass sich eine Seite dabei schlecht fühlt. Allerdings kommt es gerade hierzulande häufig zu einer versteckten Konkurrenz: Mütter fürchten, dass die Helferinnen ihnen ihre Position als Nummer eins streitig machen, oder versuchen, deren Arbeit stark zu überwachen.

Das hat wahrscheinlich aber nicht nur psychologische, sondern auch praktische Gründe: Viele Mütter fürchten, dass Erzieherinnen ihren Job oft nicht optimal machen können, weil sie unterbezahlt und Kitas unterbesetzt sind und alle miteinander das ausbaden.

Wobei wir aus Schweizer Perspektive finden: Deutschland und auch Österreich sind auf einem richtigen Weg, Betreuung ist dort besser, diversifizierter und bezahlbarer. In den allermeisten Einrichtungen kann man sein Kind guten Gewissens lassen – und selbst mal loslassen. Natürlich gibt es auch Kinder, die nicht so pflegeleicht sind, die sich mit ihrem Temperament nicht einfach in ein Leben mit zwei berufstätigen Eltern einfügen, selbst wenn die Kita perfekt ist. Aber warum definieren wir das als Problem der Mutter, und nicht als Herausforderung an Politik und Wirtschaft? Die sind genauso gefragt!

Druckmacher Nummer vier: Die Macht der perfekten Bilder

„Als vor neun Jahren mein erstes Kind geboren wurde, steckte Social Media noch in den Kinderschuhen“, erinnert sich Nathalie (siehe Seite x), Autorin und Bloggerin aus Lübeck (ganznormalemama.com). „Seitdem ist die Vergleichbarkeit rasant gewachsen. Weil man nicht mehr nur den Rückbildungskurs um sich hat, sondern tausende vermeintlich perfekter Instagram-Familien.“ Folge: „Man stellt das eigene Leben dar wie ein pastellfarbenes Kinderzimmer.“ Auch wenn man ahnt, dass vieles bei den anderen auch nur Fassade ist. So wird man beim „Mom-Blaming“ Opfer und Täterin zugleich.

ELTERN FAMILY: Bringt die Netzkommunikation und der Wettbewerb auf Social Media manchmal das Schlechteste in uns hervor?

Margit Stamm: Ich glaube, unsere Vergleichs- und Rankingmentalität ist nicht die Ursache des steigenden Drucks, eher ein Symptom davon. Jeder meint, sich von seiner Schokoladenseite zeigen zu müssen, um zu beweisen, dass er oder sie alles richtig macht, ob im Fitnessstudio oder auf Instagram.

Aber immer ist irgendwer besser als wir…

Genau. Und so entsteht ein anstrengender Teufelskreis.

Problem erkannt – und jetzt?

Wir können den gesellschaftlichen Druck nicht im Alleingang abschalten – aber wir können uns besser wappnen, wenn wir verstehen, woher er kommt. Vier Leitsätze, die dabei helfen, die inneren Daumenschrauben zu lockern:

Zusammen ist man weniger allein: Ehrlichkeit entlastet. Egal, ob auf dem Instagram-Account, beim Treffen mit der Schwester oder auf dem Elternabend: Zuzugeben, dass man selbst manchmal nicht weiter weiß oder frustriert ist, sorgt für Verständnis und Aha-Erlebnisse. Und hilft gegen das „Alle-anderen-sind-perfekt-nur-ich-nicht“-Gefühl.

Rosinen picken hilft: Web-Portal, Erziehungsberatung oder unser Heft – alles Fundgruben für Tipps, wie man das Familienleben noch besser, leichter, schöner gestalten kann. Super, dass es das gibt – aber bitte nicht unter Zugzwang setzen lassen. Sondern wählerisch sein: Was passt zu uns, was ignorieren wir nonchalant?

Kinder sind Kinder, kein Leistungsnachweis: Das können wir uns aufs Kopfkissen sticken, wenigstens mental. Merke: Es tut weder unseren Kindern gut, noch uns, noch unserer Beziehung, wenn wir ihre Noten, ihre Torchancen in der E-Jugend oder ihre Beliebtheit zur Grundlage unseres Selbstbewusstseins machen.

Viele Schultern helfen beim Tragen: Statt uns immer noch eine Schippe aufladen zu lassen, sollten wir den Druck verteilen und Hilfe einfordern: vom Partner, von der Politik, von unseren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Für flexiblere Arbeitszeitlösungen, für ein modernes Rollenverständnis, für die Freiheit, auch mal nicht zu funktionieren. Ein dickes Brett, klar. Aber wer soll es bohren, wenn nicht wir?

„Vätern wird Lässigkeit eher verziehen“

Mütter, Mütter, Mütter – war da nicht noch was? Ach ja: in der Mehrheit der Haushalte lebt noch ein zweiter Elternteil! Männertherapeut und Buchautor Björn Süfke erklärt, warum die Ansprüche an Väter andere sind, aber oft nicht weniger schwer wiegen

Die 50:50-Quote ist in Sicht, wenigstens auf Google: Auf die Wortkombination „Perfektionismus“ und „Mütter“ spuckt die Suchmaschine rund 400.000 Treffer aus, tauscht man den zweiten Begriff gegen „Väter“, sind es immerhin 300.000. Was heißt das: Haben Väter mit ähnlich belastenden Ansprüchen zu kämpfen? Und was ist mit der Alltagserfahrung, die sagt: Klar sind Väter heute im Leben ihrer Kinder präsenter – aber den Hut auf hat trotzdem meistens die Mutter, ob freiwillig oder nicht?

„Auch heute noch empfinden Frauen die Mutterrolle meist stärker als Teil ihrer Identität, und fühlen sich schneller schuldig, wenn sie persönliche oder berufliche Interessen vor die Bedürfnisse ihrer Kinder stellen – von Männern wird erwartet, dass der Job oberste Priorität hat“, weiß Björn Süfke, Psychotherapeut, tätig in der Männerberatung und selbst engagierter Vater von drei Kindern. Ausnahme: Väter in Rollentauschbeziehungen, die sich teils ähnlich stark über ihre Kinder definieren wie sonst die Mütter.

In der Mehrheit der Familien läuft es allerdings so: Jede Seite bekommt Vorschusslorbeeren für das, was er oder sie vermeintlich am besten kann, muss sich aber umso stärker rechtfertigen, wenn sie sich entgegen der Erwartungen verhält. „Geht eine Mutter früher aus dem Büro, weil ihr Kind krank ist, kann sie eher mit Verständnis rechnen als ein Vater. Der soll dafür auch im Homeoffice mit drei Kindern noch reibungslos funktionieren.“ Auch eine Form von Perfektionswahn. Umgekehrt: Väter dürfen sich mehr Lässigkeit erlauben als Mütter, glaubt Süfke – aber nur, so lange nichts schief geht: „Wenn sie auf dem Spielplatz an Rand stehen und miteinander über Fußball reden, finden das alle ganz cool. Aber wehe, das Kind fällt vom Klettergerüst und bricht sich den Arm, dann heißt es: Klar, Kerle können‘s halt nicht.“ Der im Netz viel diskutierte Muttertags-Film einer Supermarktkette, der unfähige, überforderte Väter zeigt („Danke, Mama, dass du nicht Papa bist!“ (www.youtube.com/watch?v=9PLKVNBcF3s)

haute genau in diese Kerbe. Wenn Papa es nicht rafft, muss Mutti eben doch die Beste bleiben. Manche fanden’s lustig, Süfke kein Stück: „Das ist etwa so menschenverachtend wie Achtziger-Jahre-Blondinenwitze und Werbung, in der sich nackte Frauen auf Autoreifen rekeln.“ Seine Wunschvorstellung: „Wenn wir uns als Eltern weniger über das Mann- oder Frausein definieren könnten und vermeintlich natürlichen Zuständigkeiten, sondern mehr über unsere individuellen Werte und Eigenschaften, dann könnten wir uns auch gemeinsam vom Perfektionsdruck befreien.“

Was sagen Mütter dazu?

Nicht perfekt sein müssen heißt für mich….

…das Thema Erfolg nicht so hoch hängen

„Als unser ältester Sohn in die Schule kam, waren alle Mütter sich einig, jedenfalls scheinbar: bloß kein Leistungsdruck, die Kinder Kind sein lassen. Friede, Freude, Bullerbü. Bis einer seiner Freunde erzählte, seine Mutter lasse ihn jeden Tag zehn Extraminuten im Rechtschreibheft üben. Mathe ebenfalls, zusätzlich zu den Hausaufgaben. Erstaunt hörte ich mich um: kein Einzelfall! Die Lässigkeit war Fassade, dahinter wurde optimiert, was das Zeug hält. Ich habe mich entschieden, da nicht mitzumachen. Viele Talente lassen sich ohnehin nicht an Noten ablesen.“

Nathalie, 40, zwei Söhne, 9  und 7, eine Tochter, 3

…nicht alles selbst machen

„Mein Mann und ich haben einen Deal: Jeder ist primär zuständig für ein Kind, von den passenden Turnschuhen bis zum Geburtstagsgeschenkekaufen, und hält sich beim anderen heraus. Genau so klar haben wir die Haushaltsaufgaben geteilt, auch die Jungs ziehen mit: Socken gehören in den Wäschekorb, Jacke an den Haken. Wenn schmutzige Wäsche im Kinderzimmer auf dem Boden liegt, wird sie nicht gewaschen, Punkt. Da bin ich konsequent. Der Effekt: Wenn jeder klare Aufgaben hat, wird die Belastung besser verteilt, und es fällt nicht so schwer, den eigenen Part ordentlich zu machen.“

Katrin, 44, zwei Söhne, 10 und 11

….eigene Grenzen akzeptieren

„Ich glaube, für meine ältere Tochter war ich tatsächlich eine fast perfekte Mutter, jedenfalls habe ich mich bemüht: präsent, empathisch, ihre Bedürfnisse im Blick. In ihren ersten sieben Lebensjahren war sie mir nah wie überhaupt nie zuvor ein Mensch. Als vor anderthalb Jahren unser Sohn auf die Welt kam, war ich innerlich zerrissen: Auf einmal hatte ich zwei Kinder mit großem Altersunterschied, ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und Geschwindigkeiten, und ich kann meine eigene Hingabe nicht einfach verdoppeln. Mein Mann war gern bereit, sich als Vater mehr einzubringen, aber ich konnte schwer loslassen. Ich musste richtig um diese exklusive Beziehung zu meiner Großen trauern. Die Ansprüche an mich selbst herunterschrauben. Am schönsten ist es, wenn die Geschwister miteinander innig sind und ich verstehe: Sie müssen nicht nur verzichten, sie sind auch ein Geschenk füreinander.“

Myriam, 39, eine Tochter, 8, ein Sohn, eineinhalb

…nicht jede Mode mitmachen

„Kurz bevor meine Älteste fünf wurde sind wir nach Jahren im Ausland wieder nach Deutschland gezogen, und ihr Kindergeburtstag hat mich schlaflose Nächte gekostet: Verprellen wir ihre neu gefundenen Kita-Freunde, wenn wir kein teures Mega-Event veranstalten? Dann hatte ich die rettende Idee. Relativ simple Spiele, Topfschlagen und Co., aber ein Motto: Steinzeitgeburtstag. Stockbrotgrillen am Lagerfeuer, weglaufen vor dem Säbelzahntiger, Äxte basteln. Kam super an, seitdem halte ich mich daran, auch bei den beiden jüngeren: keep it simple. Ich mache diese höher-schneller-weiter-Spirale nicht mit, bei mir gibt es auch keine Mitgebseltüten. Denn das geht ja gerade so weiter: Heute Kindergeburtstag, morgen Abiball, übermorgen Junggesellenabschied…“

Simone, 48, drei Kinder (10, 13, 17)

…immer wieder: back to the roots

„Nach fast 20 Jahren als Mutter würde ich sagen: Es hilft, sich immer wieder zu besinnen, was man sich einmal für sein Kind erhofft hat. Wenn du bei der Schwangerschaftsvorsorge den Herztönen lauschst und dir wünscht, dass es glücklich sein möge und gesund. Das hat mir in Alltagssituationen geholfen, abzuwarten, ob sich manche Probleme allein lösen – mit drei Kindern und zwei berufstätigen Eltern bleibt einem ja auch gar nichts anderes übrig. Nicht wegen jeder Abweichung von der Entwicklungstabelle zum Kinderarzt, nicht jeden Elternbrief lesen. Was ich gelernt habe: Wenn ich gut für mich sorge und ein zufriedenes Leben führe, sind alle besser dran.“

Beate, 52, drei Kinder (14, 17, 19)

„Ein paar Wochen lang haben wir Utopie gespielt“

Barbara Bleisch, Buchautorin, Philosophin und TV-Moderatorin („Sternstunde Philosophie“), glaubt: Die Pandemie wird vieles dauerhaft verändern – von Arbeit bis Körperkontakt. Das ist aber nicht nur Grund zur Freude.

BRIGITTE: Als die Krise im Frühjahr Deutschland erreichte, war da neben Ängsten auch Aufbruchstimmung. Menschen träumten von Entschleunigung, neuer Solidarität, einer Chance für ökologischen Umbau … was ist daraus geworden?

Barbara Bleisch: Ja, es war ein Schrebergartenidyll: Kinder spielen auf der Straße, Flugzeuge bleiben am Boden, Angebote für Nachbarschaftshilfe hängen an jedem Laternenpfahl. Aber die Vision war nicht nachhaltig. Wir haben nur eine Zeitlang Utopie gespielt.

Die Pessimisten haben Recht behalten, nicht nur, was die zweite Welle betrifft?

Das lässt sich abschließend noch nicht sagen, denn die Krise ist noch immer zu frisch, und wir befinden uns nach wie vor in einer Schockstarre. Ich denke, sie hat gesellschaftlich viele Entwicklungen angestoßen, aber es ist noch nicht klar, wohin die Reise geht. Etwa in der Politik: Mich hat die Selbstwirksamkeit des politischen Systems hoffnungsvoll gestimmt, wie man klare Prioritäten für die Schwächeren gesetzt hat, gegen die Eigenlogik der Wirtschaft. Aber jetzt sieht man die Kehrseite: ein schleichendes Misstrauen der Bürger, wenn zu lang an den Parlamenten vorbei regiert wird, und die berechtigte Angst, autoritäre Regime könnten die Einschränkung der Freiheitsrechte für sich ausnutzen. Was auch klarer als zuvor geworden ist: Politik braucht den öffentlichen Raum, der virtuelle reicht nicht aus.

Aber durch die Erschütterungen ergeben sich ja auch Chancen. Etwa in der Arbeitswelt, weil vom Zwang zu flexibleren Modellen gerade Frauen und Familien profitieren.

Auch das ist zweischneidig. Klar helfen Homeoffice-Lösungen arbeitenden Eltern –aber Arbeitgeber entziehen sich auch ihrer Verantwortung, wenn sie diese Entwicklung nutzen, um zum Beispiel Bürofläche einzusparen. Außerdem sind Frauen auch in der Arbeitswelt überproportional gefährdet: Zum einen, weil in ökonomischen Krisen Teilzeitjobs meist als erstes abgebaut werden, zum anderen, weil viele in Care-Berufen arbeiten. Und ich fürchte, aus der erhofften Revolution in diesem Bereich, mit besserer Bezahlung und besseren Bedingungen, wird nichts – wenn die Wirtschaft weiter einbricht, wird das genau so wenig finanzierbar sein wie eine grüne Wende. Auf der Positivseite sehe ich, dass jetzt wieder intensiver über Modelle für ein Grundeinkommen diskutiert wird.

Die Coronakrise hat uns zwangsläufig häuslich gemacht. Wir sind auf unseren Wohnort zurückgeworfen, Nachtleben findet nicht mehr statt, Kultur kaum noch. Kommt ein neues Biedermeier – und ist das eher Bedrohung oder eher Sehnsuchtsort?

Wenn einige Entwicklungen korrigiert werden, die ausgeufert sind, ist das sicher gut – Stichwort Reisen und ökologischer Fußabdruck. Aber insgesamt macht es mir eher Sorgen, dass alles so eng wird, das Denken wie die geographischen Grenzen. Warum denken wir bei Schutzmaßnahmen und neuen Lockdowns zum Beispiel nicht in europäischen Regionen, sondern jeder Nationalstaat kocht sei eigenes Süppchen oder macht sogar Grenzen wieder dicht? Corona hat uns die Kehrseite der Globalisierung gezeigt, die Verwundbarkeit, die aus dem internationalen Zusammenrücken entsteht, und es ist noch offen, was das mit unserer Wahrnehmung macht: Fühlen und leiden wir eher mit weit entfernten Menschen mit, weil wir durch das Virus im selben Boot sitzen, oder schotten wir uns dauerhaft stärker ab?

Das gilt ja auch im Nahbereich, Stichwort Kontaktbeschränkungen.

Das stimmt mich besonders nachdenklich. Auch wenn wir Corona durch Impfstoffe und bessere Therapien in den Griff bekommen, der Blick auf unser Gegenüber als gefährlichen Virenhaufen könnte zum Dauerzustand werden. Covid 19 ist ja nur ein Virus von vielen. Aber wenn wir uns den Händedruck komplett abgewöhnen, oder Gesten, etwa, dass wir im Gespräch jemandem beruhigend die Hand auf den Arm legen, dann nehmen wir uns auch die Möglichkeit, Konflikte aus der Welt zu schaffen.

Sie als Philosophin: Empfinden Sie das Denken in Krisenzeiten eigentlich als Trost?

Eigentlich ist die Philosophie eher die Kunst des Zweifelns und des Fragestellens, also per se nicht unbedingt tröstlich. Dennoch ist etwas dran: Der Dichter Gottfried Benn hat vom „Gegengewicht Geist“ gesprochen, das heißt, durch Denken kann man Distanz schaffen, sich ins Verhältnis setzen zum Weltgeschehen, und wird dadurch weniger von Gefühlen überwältigt. Nicht umsonst ist gerade die Philosophie der antiken Stoiker wieder sehr im Kommen, inklusive Websites und Newslettern wie „Daily Stoic“.

Was hat denn eine über 2000 Jahre alte Denkrichtung zur Pandemie zu sagen?

Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, was man etwa auch aus der modernen Yogapraxis kennt: die eigenen Gefühle wahrnehmen und einordnen, ohne sich allzusehr mit ihnen zu identifizieren. Weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern. Diese Haltung hilft, Krisen zu bewältigen – nicht nur Corona.