Endlich wieder Schule. Endlich wieder Schule?

Am ersten Tag im Schuljahr 21/22 kommt vieles in die Tüte, für alle: eine Portion Vorfreude auf den Alltag, eine Prise Nervosität. Wie normal wird das neue Normal? Wie gehen wir, unsere Kinder und ihre Lehrer mit dem Aufholdruck um? Und wer sollte jetzt eigentlich nachsitzen – die Politik, die Schüler, das Schulsystem? Das habe ich für die September-Ausgabe von ELTERN FAMILY recherchiert und aufgeschrieben

Das schönste Ferienerlebnis meiner Kinder fiel auf einen Freitag, den Dreizehnten. Das war im März 2020, wir saßen im Auto auf der Urlaubsrückfahrt und verfolgten im Radio die News aus den Nord-Bundesländern: Schulschließungen reihum, wegen dieses neuartigen Virus, Covid irgendwas. Kurz vor den Hamburger Elbbrücken war es offiziell, als letzter hatte auch unser Stadtstaat beschlossen, die Frühjahrsferien zu verlängern. Jubel auf der Rückbank, als wäre in Minute 119 ein entscheidendes Tor gefallen. 

Denn keiner konnte ahnen, was elf Millionen Erst- bis Zwölftklässlern landesweit noch blühen würde: Bis Mai 2021, so sagt der Deutsche Lehrerverband, sind pro Kind 350 bis 800 Stunden Präsenzunterricht ersatzlos ausgefallen. Den Negativrekord mit 900 halten Hamburger Mittelstufenschüler, darunter die beiden auf meiner Autorückbank. Auch sämtliche Highlights waren gestrichen: Praktika, Klassenreisen, Tischtennisrunden. Was blieb, waren Homeschooling, W-LAN-Krisen, hilflose Hilfslehrerversuche. Jetzt, im Spätsommer 21, sind hoffentlich die letzten Kilometer des Marathons erreicht. Schule bleibt uns als AHA-Erlebnis am Küchentisch in Erinnerung.

Und jetzt beim Schulanfang ist die Vorfreude bei allen fast so groß wie die Begeisterung über die Dauerferien im Frühjahr 20. Doch Wut und Ängste sind es auch: Wie tief sind Wissenslücken, wie groß soziale Verwerfungen? Wie schaffen die Kleinen das Rein- und die Großen das Weiterkommen? Was müssen, was können wir nachholen – und wie? 

Schule und Bildungspolitik: Klassenziel verfehlt

Die Schule hat in der Krise ihr Bestes gegeben – leider war das nicht genug. Und das liegt weniger an den Lehrern oder Schulleitungen, sondern vielmehr am Gesamtsystem, das ungefähr so agil ist wie ein schwerer Hochseetanker. „Soziale Systeme haben hohe Beharrungskräfte, zu lange setzt man auf Althergebrachtes. So ist leider auch gerade wenig Wirkungsvolles von der Politik zu erwarten, um die Folgen der Corona-Schuljahre abzumildern. Die Bundesländer verkörpern nicht einen Wettbewerb der Ideen, sondern agieren auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.“: Kein gutes Zeugnis, das der Sozialforscher Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ausstellt. Seine Erkenntnis: Die größten Rückstände haben oft diejenigen, die ohnehin schon den schwersten Rucksack tragen. Auf dem Land, wo es kein schnelles W-LAN fürs Homeschooling gibt; in sozialen Brennpunkten, in denen mehr Kinder aus prekären Verhältnissen stammen, die zu Hause kein Deutsch sprechen oder beides; in Grundschulen, wo die Neugier der Schulanfänger oft in einem Haufen kopierter Arbeitsblätter erstickt wurde. „Aber die einzige Lösung, die uns einfällt, ist: Ferienkurse für die aus dem Boden stampfen, die ohnehin besonders belastet sind. Statt einen großen Wurf zu wagen und allen Akteuren, also Schülern, Eltern und Lehrkräften, mehr Zeit zu geben“, ärgert sich Helbig. Dabei gibt es genügend Vorschläge aus verschiedenen Richtungen, etwa, den Stoff für die nächsten zwei Schuljahre auf drei zu strecken.

Zu einem ähnlichen Urteil kommt Ali El-Mafaalani, Soziologe an der Universität Osnabrück. Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie hat er das Buch „Mythos Bildung“ (Kiwi, 20 Euro) veröffentlicht, und auch er sagt: Die letzten anderthalb Schuljahre haben die soziale Spaltung noch vertieft, den Leistungsabstand zwischen dem Gymnasium im Villenviertel und einer Gesamtschule in der Hochhaussiedlung noch größer gemacht. Er schätzt, dass etwa die Hälfte aller Schüler mit gravierenden Wissenslücken ins neue Schuljahr startet. Andere Experten sehen die Lage nicht ganz so pessimistisch. Aber dass es zu viele sind, daran zweifelt niemand. 

Mit Schuld daran, sagt El-Mafaalani, hat auch die oft überbordende Bürokratie. Stichwort „Digitalpakt“: Schon vor dem Corona-Ausbruch hatte Vater Staat einen milliardenschweren Topf für eine bessere digitale Ausstattung der Schulen bereitgestellt, doch abgerufen wurde, Stand Frühjahr 21, nur etwa ein Viertel der Gelder. Obwohl das Thema plötzlich noch an Dringlichkeit gewann  – so hätten zum Beispiel, Tablets das Homeschooling gerade für solche Kinder erleichtert, die zu Hause weder Laptop noch Drucker besitzen. Aber um an die Gelder zu kommen, braucht es einen Antrag und ein detailliertes Digital-Konzept. Das kostet Zeit – Zeit, die viele Schulen angesichts der neuen Herausforderungen nicht hatten. Vor allem die ohnehin belasteten. Und nach dem einmaligen Segen bleibt die dauerhafte Finanzierung aus Landesmitteln oft ungewiss. 

Ein engagierter Lehrer (oder eine Lehrerin) allein kann solche strukturellen Probleme nicht lösen, sagt El-Mafaalani, der selbst lange Jahre in Nordrhein-Westfalen unterrichtet hat: „Der Lehrberuf belohnt Innovation nicht.“ Wenn sie sich trotzdem durchsetzt (siehe Interview Seite x), ist das die Ausnahme.

Also alles verloren? Das nun auch nicht, es gibt ja Ideen fürs Krisenmanagement. El-Mafaalani schlägt vor: Wenn schon keine Schuljahresverlängerung, dann wenigstens die ersten vier Wochen nach den Ferien zur Wiederholung von Vorjahresstoff nutzen, wie es Mecklenburg-Vorpommern angekündigt hat. Den Lehrplan reduzieren – aber nach verbindlichen Kriterien. Und nicht so wie im letzten Schuljahr, als Lehrkräfte nach Gutdünken wegließen, was ihnen nicht machbar erschien. Mehr Fortbildung für Lehrer, mehr Präsenzzeit für Schüler – aber nicht Mathe-Nachhilfe und Extra-Vokabeltests, sondern Sportangebote, Musikkurse, Projekte für das soziale Miteinander: „Seien wir doch ehrlich: Es fehlt den Kindern im Moment an allem!“

Kinder und Jugendliche: Gemeinschaft, wie ging das noch?

Eines immerhin hatten Schülerinnen und Schüler reichlich, nämlich Freizeit. Verbrachten sie nach einer Erhebung des Münchner Ifo-Institutes vor der Pandemie an jedem Werktag durchschnittlich 7,4 Stunden mit Schule und Hausaufgaben, waren es im Frühjahrs-Lockdown nur 4,3 Stunden. Etwa ein Viertel hat sogar nur rund zwei Stunden am Tag gelernt, darunter besonders Leistungsschwächere und Nicht-Akademikerkinder. Stattdessen: mehr Fernsehen, Computerspiele, Handy. „In der Pandemie hat so gut wie kein Kind begonnen, ein Instrument zu lernen, oder ist einem Sportverein beigetreten“, sagt El-Mafaalani. „Und wenn zu Hause nicht auf gesunde Ernährung geachtet wird, auf Bewegung, auf geistige Anregung, fehlt die Schule, um einen Ausgleich zu schaffen.“ Ein Kind, das täglich ein frisch gekochtes Mittagessen in der Schulmensa bekommt, fragt vielleicht auch zu Hause mal nach Gemüse. Oder nimmt ein Buch in die Hand, das die Lieblingslehrerin empfohlen hat. 

Kinder am oberen Ende der Bildungs- und Einkommensskala sind da meist von Haus aus besser dran. Geschlossene Schulen sind verringerte Lebenschancen.

Vor allem die jüngeren Kinder haben oft nicht nur kaum etwas dazugelernt, sondern sogar Entscheidendes verlernt. Das gilt nicht nur für anderssprachige, denen das Deutschtraining beim Spielen auf dem Schulhof fehlt, sondern für alle: die motorische Entwicklung ist bei vielen auf der Strecke geblieben, das soziale Miteinander auch. Heutige Zehntklässler haben über Jahre eingeübt, wie man gemeinsam Referate erarbeitet. Oder sich einigt, wer wann aufs Fußballfeld darf. Die Erstklässler haben dagegen echte Erfahrungslücken – denn auch die Kita fiel ja flächendeckend aus.

Wir Eltern: Druck machen, aber den Richtigen 

Wir Mütter und Väter haben dagegen tatsächlich einiges (wieder) gelernt: schriftlich teilen, Passivformen erklären, Hauptstädte aufsagen. Manchen war der Hilfslehrerjob unangenehm vertraut, anderen weniger. Eine Ost-West-Lücke sieht Bildungsforscher Marcel Helbig, selbst gebürtiger Thüringer: „Im Süden sind die Familienstrukturen und weiblichen Erwerbsmuster meist anders als in den Neuen Bundesländern.“ Das heißt: Während leidgeprüfte Münchner Mütter neben Halbtagsjobs und Hausaufgabencoaching jetzt eben den vollen Schulstoff mitschulterten, fanden sich Erfurter Eltern oft zum ersten Mal in der Situation. Denn in Thüringen arbeitet die Mehrheit der Eltern doppelt Vollzeit, 95 Prozent der Kinder werden im Grundschulhort betreut. Ein Grund, glaubt Helbig, warum das Bundesland die gesetzliche Corona-Notbremse deutlich weniger streng durchzog als Bayern – Homeschooling, made by Mama, war dort einfach keine Option. 

Bei allen Unterschieden ähnelt sich unsere Gefühlslage aber landesweit. Wir sind halb ausgelaugt, halb hoffnungsvoll, und latent besorgt: Müssen wir jetzt auch noch versäumten Stoff mit unseren Kindern nachpauken, am Wochenende, in den Ferien? Helbig hat dazu eine klare Meinung: „Eltern sollten Druck machen – aber nicht etwa ihren Kindern, sondern der Politik.“ 

Also: lieber eine Mail an den Bundestagsabgeordneten oder das Kultusministerium schreiben, als den eigenen Nachwuchs mit Extralektionen triezen. Das findet auch Aladin El-Mafaalani: „Ansprüche anmelden, durchdachte Konzepte fordern, und zwar jetzt. Denn viele andere Gruppen fordern auch Unterstützung, völlig zurecht, von Altenpflegern bis zu Kulturschaffenden. Bleiben Eltern zu still, werden ihre Belange und die ihrer Kinder übersehen.“ 

Zweite, vielleicht noch wichtigere Hausaufgabe für uns: den Blick weniger auf Schulnoten fixieren als auf Gesundheit, körperlich und seelisch. Der aktuellen Copsy-Studie am Hamburger UKE zufolge leidet ein Jahr nach Pandemiebeginn fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten, etwa depressiven Verstimmungen, Ängsten oder körperlichen Symptomen, die Wartezeiten auf Therapieplätze lassen sich eher in Jahren als in Monaten messen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, ist es wichtig, zuzuhören, gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen. Basteln, Paddeltour, Party mit Freunden. Unsere Kinder entlasten statt belasten. Und uns auch.

Fazit, oder: Was jetzt auf dem Lehrplan steht

Ein düsteres Bild, leider. Aber nicht ohne Hoffnungsschimmer. Stichwort „Aufholpaket“: Zwei Milliarden Euro nimmt der Bund in die Hand, nicht nur für klassische Nachhilfe, sondern auch etwa für Sportkurse, Sozial- und Kreativangebote. Das ist zwar nur ein Viertel von dem, was beispielsweise unser kleiner Nachbar Niederlande ausgibt, aber auch nicht nichts, findet El-Mafaalani: „Immerhin gibt es eine gewisse Aufbruchstimmung, die Schulpolitik ist nicht mehr ganz so veränderungsresistent.“ Engagierte Lehrerinnen und Lehrer nutzen die Gunst der Stunde und stellen Forderungen, etwa Susanne Lin-Klitzing für den Deutschen Philologenverband: eine bessere Gesprächskultur, die alle einbezieht, Eltern, Schüler und Lehrer, und feste Stellen für psychologische Fachkräften; klare Richtlinien für digitale Plattformen und Datenschutz; bessere Räumlichkeiten. Schon jetzt setzen sich dafür einige private Initiativen ein, auch finanziell. Etwa Bielefelder und Dortmunder Geschäftsleute, die in der Krise erschrocken festgestellt haben, wie marode viele Schulgebäude sind.

Und: Bei allem Leid haben Kinder aus der Krise auch gelernt. Auch meine beiden gehören zu den 56 Prozent, die laut einer Ifo-Studie an Eigenständigkeit gewonnen haben. Und zu den 66 Prozent, die heute deutlich besser mit digitalen Techniken umgehen können als vor der Pandemie. Improvisieren, sich durchwursteln und trotzdem ankommen: Manches, das man im Leben wirklich braucht, steht eben auf keinem Lehrplan. Und diese Lektion macht Hoffnung. Trotz alledem.

Interview:

„Es geht nicht so sehr darum, wer ein Lehrer ist, sondern, was er tut“

Ob Kinder und Jugendliche (wieder) gern zur Schule gehen, steht und fällt oft damit, wer ihnen im Klassenzimmer gegenübersteht. Aber was macht einen guten Lehrer, eine gute Lehrerin aus? Vier Fragen an Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, und Beate Heraeus, Vorstandsvorsitzende der Heraeus-Bildungsstiftung. Sie vergeben jährlich den „Deutschen Lehrerpreis – Unterricht innovativ“

ELTERN Family: In der Coronazeit hat sich wieder einmal gezeigt, was der neuseeländische Pädagoge John Hattie schon vor gut zehn Jahren nachgewiesen hat: Wie gut Schule ist, hängt in erster Linie vom Lehrer, von der Lehrerin ab. Aber was genau ist es, das Ausnahmepädagogen drauf haben?

Susanne Lin-Klitzing: Natürlich kommt es darauf an, wie die Lehrkraft als Person ist, aber genauso wichtig ist, was sie tut. Drei Bereiche machen den Unterschied, für alle Altersgruppen und Schulformen: klare Klassenführung, also sowohl den Einzelnen als auch die Gruppe mit einer klaren Regelorientierung im Blick zu haben; ein Gespür dafür, wer was in der Gruppe braucht; kognitive Aktivierung, sprich: die Schüler mit anspruchsvollem, innovativem Unterricht zu fordern und zu fördern. 

Zum Stichwort Innovation gibt es beim „Deutschen Lehrerpreis“ sogar eine eigene Kategorie. Wie kann das aussehen?

Beate Heraeus: Ich denke spontan an eine Preisträgerin, die im Chemieunterricht die Aufgabe gestellt hat, aus natürlichen Stoffen wie Kartoffelstärke Folien herzustellen. Das hat nicht nur einen Bezug zum wichtigen Thema Ökologie, es fördert auch die Fehlerkultur: Scheitern war ausdrücklich erlaubt! Solche Projekte fördern nicht nur das Verständnis, sondern erzeugen eine Bindung zwischen allen Beteiligten.

Susanne Lin-Klitzing: Mir fällt die Fremdsprachenlehrerin ein, die sich einen Kooperationspartner aus der Wirtschaft gesucht hat, der einen Klassensatz Tablets zur Verfügung stellte. Jedes Kind bekam einen Tandempartner von einer Partnerschule, mit dem es sprechen sollte, per Skype. Ein gutes Beispiel, wie man Digitalisierung sinnvoll einsetzt und nicht um ihrer selbst willen. Und dabei absolut lebensnah.

Beeindruckend, aber trotzdem: „Schule“ und „Innovation“, passt das wirklich zusammen, nicht nur in Einzelfällen? 

Beate Heraeus: Es gibt sicherlich einen Unterschied im Denken, etwa zur freien Wirtschaft, und mehr Vorschriften. Aber im Interesse der Schülerinnen und Schüler stehen Schulleitungen häufig vor der Notwendigkeit, dagegen zu verstoßen. Etwa, wenn es um den Einsatz digitaler Plattformen im Homeschooling ging. Gerade von engagierten, pflichtbewussten Lehrerinnen und Lehrern habe ich in der Pandemie gehört: Erreichen wir die Kinder nicht, verlieren wir den Kontakt, verlieren wir sie!

Susanne Lin-Klitzing: Wir brauchen Rechtssicherheit, Standards, damit die Kollegen eben nicht den Datenschutzbeauftragten fürchten müssen. Wir brauchen digitale Endgeräte für Lehrer wie für Schüler, zumindest in der weiterführenden Schule. Und wir brauchen Entlastung. Wir wissen, dass zwei Drittel aller Lehrpersonen überdurchschnittlich motiviert und engagiert sind, und das wird zu wenig gesehen. Etwa, wenn der Mathe-Kollege gerade mal zwei Wochenstunden Ermäßigung bekommt, um die Digitalisierung für eine ganze Schule zu wuppen.

Was wäre denn Ihre Vision für die Schule der Zukunft: digital, analog, beides?

Susanne Lin-Klitzing: Ein digital unterstützter Präsenzunterricht. Der Schulalltag der Zukunft wird mehr online-Elemente haben können, idealerweise werden Lehrer so fortgebildet, dass sie diese Tools je nach Fach und Lerngruppe optimal einsetzen können. Aber den Präsenzunterricht ersetzt das nicht: Nur wenn Kinder und Jugendliche lernen, vor andern zu sprechen und zu argumentieren, üben sie ihre geistigen und sozialen Fähigkeiten gleichzeitig. Und damit die Fähigkeit, demokratisch zu handeln.