„Ein paar Wochen lang haben wir Utopie gespielt“

Barbara Bleisch, Buchautorin, Philosophin und TV-Moderatorin („Sternstunde Philosophie“), glaubt: Die Pandemie wird vieles dauerhaft verändern – von Arbeit bis Körperkontakt. Das ist aber nicht nur Grund zur Freude.

BRIGITTE: Als die Krise im Frühjahr Deutschland erreichte, war da neben Ängsten auch Aufbruchstimmung. Menschen träumten von Entschleunigung, neuer Solidarität, einer Chance für ökologischen Umbau … was ist daraus geworden?

Barbara Bleisch: Ja, es war ein Schrebergartenidyll: Kinder spielen auf der Straße, Flugzeuge bleiben am Boden, Angebote für Nachbarschaftshilfe hängen an jedem Laternenpfahl. Aber die Vision war nicht nachhaltig. Wir haben nur eine Zeitlang Utopie gespielt.

Die Pessimisten haben Recht behalten, nicht nur, was die zweite Welle betrifft?

Das lässt sich abschließend noch nicht sagen, denn die Krise ist noch immer zu frisch, und wir befinden uns nach wie vor in einer Schockstarre. Ich denke, sie hat gesellschaftlich viele Entwicklungen angestoßen, aber es ist noch nicht klar, wohin die Reise geht. Etwa in der Politik: Mich hat die Selbstwirksamkeit des politischen Systems hoffnungsvoll gestimmt, wie man klare Prioritäten für die Schwächeren gesetzt hat, gegen die Eigenlogik der Wirtschaft. Aber jetzt sieht man die Kehrseite: ein schleichendes Misstrauen der Bürger, wenn zu lang an den Parlamenten vorbei regiert wird, und die berechtigte Angst, autoritäre Regime könnten die Einschränkung der Freiheitsrechte für sich ausnutzen. Was auch klarer als zuvor geworden ist: Politik braucht den öffentlichen Raum, der virtuelle reicht nicht aus.

Aber durch die Erschütterungen ergeben sich ja auch Chancen. Etwa in der Arbeitswelt, weil vom Zwang zu flexibleren Modellen gerade Frauen und Familien profitieren.

Auch das ist zweischneidig. Klar helfen Homeoffice-Lösungen arbeitenden Eltern –aber Arbeitgeber entziehen sich auch ihrer Verantwortung, wenn sie diese Entwicklung nutzen, um zum Beispiel Bürofläche einzusparen. Außerdem sind Frauen auch in der Arbeitswelt überproportional gefährdet: Zum einen, weil in ökonomischen Krisen Teilzeitjobs meist als erstes abgebaut werden, zum anderen, weil viele in Care-Berufen arbeiten. Und ich fürchte, aus der erhofften Revolution in diesem Bereich, mit besserer Bezahlung und besseren Bedingungen, wird nichts – wenn die Wirtschaft weiter einbricht, wird das genau so wenig finanzierbar sein wie eine grüne Wende. Auf der Positivseite sehe ich, dass jetzt wieder intensiver über Modelle für ein Grundeinkommen diskutiert wird.

Die Coronakrise hat uns zwangsläufig häuslich gemacht. Wir sind auf unseren Wohnort zurückgeworfen, Nachtleben findet nicht mehr statt, Kultur kaum noch. Kommt ein neues Biedermeier – und ist das eher Bedrohung oder eher Sehnsuchtsort?

Wenn einige Entwicklungen korrigiert werden, die ausgeufert sind, ist das sicher gut – Stichwort Reisen und ökologischer Fußabdruck. Aber insgesamt macht es mir eher Sorgen, dass alles so eng wird, das Denken wie die geographischen Grenzen. Warum denken wir bei Schutzmaßnahmen und neuen Lockdowns zum Beispiel nicht in europäischen Regionen, sondern jeder Nationalstaat kocht sei eigenes Süppchen oder macht sogar Grenzen wieder dicht? Corona hat uns die Kehrseite der Globalisierung gezeigt, die Verwundbarkeit, die aus dem internationalen Zusammenrücken entsteht, und es ist noch offen, was das mit unserer Wahrnehmung macht: Fühlen und leiden wir eher mit weit entfernten Menschen mit, weil wir durch das Virus im selben Boot sitzen, oder schotten wir uns dauerhaft stärker ab?

Das gilt ja auch im Nahbereich, Stichwort Kontaktbeschränkungen.

Das stimmt mich besonders nachdenklich. Auch wenn wir Corona durch Impfstoffe und bessere Therapien in den Griff bekommen, der Blick auf unser Gegenüber als gefährlichen Virenhaufen könnte zum Dauerzustand werden. Covid 19 ist ja nur ein Virus von vielen. Aber wenn wir uns den Händedruck komplett abgewöhnen, oder Gesten, etwa, dass wir im Gespräch jemandem beruhigend die Hand auf den Arm legen, dann nehmen wir uns auch die Möglichkeit, Konflikte aus der Welt zu schaffen.

Sie als Philosophin: Empfinden Sie das Denken in Krisenzeiten eigentlich als Trost?

Eigentlich ist die Philosophie eher die Kunst des Zweifelns und des Fragestellens, also per se nicht unbedingt tröstlich. Dennoch ist etwas dran: Der Dichter Gottfried Benn hat vom „Gegengewicht Geist“ gesprochen, das heißt, durch Denken kann man Distanz schaffen, sich ins Verhältnis setzen zum Weltgeschehen, und wird dadurch weniger von Gefühlen überwältigt. Nicht umsonst ist gerade die Philosophie der antiken Stoiker wieder sehr im Kommen, inklusive Websites und Newslettern wie „Daily Stoic“.

Was hat denn eine über 2000 Jahre alte Denkrichtung zur Pandemie zu sagen?

Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, was man etwa auch aus der modernen Yogapraxis kennt: die eigenen Gefühle wahrnehmen und einordnen, ohne sich allzusehr mit ihnen zu identifizieren. Weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern. Diese Haltung hilft, Krisen zu bewältigen – nicht nur Corona.

Zerreiß deine Pläne!

Im letzten Jahr hat Corona viele unserer Vorhaben durchkreuzt und uns aus unserem durchgetakteten Dasein gerissen. Aber: Den Umgang mit Ungewissheit und Kontrollverlust können auch die Verplantesten trainieren. Mit dem guten Gefühl, sich einfach mal nichts beweisen zu müssen

Erstmals veröffentlicht in BRIGITTE 1/2021

Erster Januar, Jahr zwei nach Corona. Seit Monaten haut uns ein Virus unsere Pläne um die Ohren, schneller, als man „Lockdown“ sagen kann. Von ärgerlich bis dramatisch: Partys und Urlaube gecancelt, Karriereschritte auf Eis gelegt, neue Lieben verhindert, Existenzen und Leben bedroht. Vor rund achtzig Jahren, in einer noch dunkleren Zeit, schrieb die Dichterin Mascha Kaléko: „Jag deine Ängste fort, und die Angst vor den Ängsten. Zerreiß deine Pläne, sei klug, halte dich an Wunder.“ Klingt wie ein Neujahrsvorsatz für 2021. Ein gutes Rezept?

Immerhin sind wir mit der gefühlten Machtlosigkeit nicht allein, sagt die Berliner Psychotherapeutin Eva Gjoni: „Menschen sind ohnehin auf unterschiedliche Weise belastet, und Corona hat allen noch eine Schippe draufgelegt.“ Und sei es nur, weil die Pandemie einen wichtigen Glaubenssatz über den Haufen wirft, wenigstens scheinbar: Du hast dein Schicksal selbst in der Hand. Psychotherapeut*innen sprechen von „Selbstwirksamkeit“, einem Begriff aus der kognitiven Psychologie, der in den letzten Jahren in Mode gekommen ist. Heißt grob übersetzt: Du kannst auch schwierige Situationen aus eigener Kraft bewältigen. Ist das jetzt erstmal passé und wann kommt es wieder?

Wir reagieren ganz unterschiedlich. Während sich die einen resigniert zurückziehen und die anderen ihrer Wut freien Lauf lassen – ob auf Twitter oder auf der Großdemo – , gibt es andere, die vergleichsweise gut durch die Krise kommen. Ihre Belastung in konsumierbare Häppchen aufteilen, einen Schritt nach dem anderen gehen. Ein Typus, der auf schwankendem Untergrund sicher steht, wie beim Stand-up-Paddling bei höheren Windstärken. Ein Balanceakt, der nicht nur gegen Corona-Angst hilft, sondern auch bei anderen Schicksalsschlägen, von Trennung bis Jobkrise. Was machen diese Menschen besser?

Anruf bei der Hamburger Fotografin Isadora Tast. Sie hat gerade einen Band mit Porträts von Schauspielerinnen und Schauspielern in L.A. veröffentlicht*, die alle etwas gemeinsam haben: Sie gehören nicht zur Oberliga, sind auch nicht krachend gescheitert, sondern mal mehr, mal weniger erfolgreich. Sie leben mit der ständigen Unplanbarkeit, Höhenflügen, Niederlagen – zur Zeit noch mehr als während der Entstehung des Buches. Was können wir von ihnen lernen? „Am zufriedensten sind die, die beides mitbringen: Demut und Dankbarkeit, gleichzeitig große innere Unabhängigkeit. Die Überzeugung: Ich kann etwas, ich bin etwas wert, unabhängig vom Ergebnis des Castings und der Anzahl der Jobs“, sagt Isadora Tast. Eine Haltung, die vor Kränkungen und Selbstzweifeln schützt. Übertragen auf unseren Alltag könnte das heißen: So bitter es ist, wenn Menschen wegen Corona ihren Job verlieren, auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, insolvent gehen – sie kommen eher wieder auf die Beine und haben den Mut, sich neu zu orientieren, wenn sie im Inneren überzeugt sind von sich und ihren Fähigkeiten.

Dass die innere Einstellung entscheidender ist als die objektive Belastung, zeigt sich auch an einem völlig anderen Beispiel. Helen Heinemann, Expertin für Work-Life-Balance, erzählt aus einem Kurs für werdende Eltern: „Zwei Paare sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Eines hatte sein Leben komplett im Griff: Verliebt, verheiratet, Haus gebaut, den Zeitpunkt für ein Kind abgepasst. Das andere war das genaue Gegenteil: Kannten sich kaum, einmal im Bett gelandet, sie sofort schwanger. Ein paar Jahre später traf ich beide Paare wieder. Die ersten waren getrennt, an den hochgesteckten Erwartungen gescheitert. Die zweiten glücklich miteinander.“ Hätte auch anders laufen können, aber darin steckt eine wichtige Lektion: Wer das Leben mehr auf sich zukommen lässt, tut sich oft auch auf holprigen Strecken leichter – wer bei jeder Abweichung vom Fünfjahresplan ins Schwitzen kommt, gerät schneller unter Stress.

Mehr noch. Wir scheinen sogar ein gewisses Bedürfnis zu haben nach Erfahrungen, die sich unserer Kontrolle entziehen, als Gegengewicht zu unserer durchgetakteten Existenz. Selbst wenn sie nicht nur positiv sind. Als die Corona-Krise Deutschland erreichte, wurde das besonders deutlich: Die plötzlichen Leerstellen im Kalender, die ungewohnte, wirklich freie Zeit empfanden manche nach dem ersten Schrecken auch als unerwarteten Reichtum. Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa hat dieser Sehnsucht ein Buch gewidmet**, noch ehe Corona in aller Munde war. Seine These: Gerade das für uns Unplanbare, das „Unverfügbare“, schafft die Erfahrung von Resonanz und Tiefe. Momente, auf die wir keinen Einfluss haben, von den ersten Schneeflocken des Winters bis zu einer lebensverändernden Zufallsbegegnung.

Aber so herrlich romantisch es klingt, wenn es Menschen gelingt, sich auf das Unerwartete einzulassen: Ist es eine reine Typfrage und damit in Stein gemeißelt, wie wir auf Unerwartetes reagieren? Ist vergnügte Planlosigkeit nur sonnigen Optimist*innen gegeben? Oder lässt es sich lernen, lockerer in der Hüfte zu bleiben, egal, was uns widerfährt? Zweiteres, sagt die Therapeutin Eva Gjoni: „Es gibt nicht die geborene Krisenbewältigungspersönlichkeit, also den Optimisten oder den Extrovertierten. Zum Beispiel ist ein gewisses Maß an Pessimismus auch hilfreich, weil es hilft, Unveränderliches zu akzeptieren und sich nicht sinnlos dagegen aufzulehnen.“ Entscheidend ist etwas anderes: aus dem Gefühl der Hilflosigkeit ins aktive Handeln zu kommen. Indem wir unterscheiden lernen: Was habe ich tatsächlich nicht im Griff, und was schon? Denn wenn wir genau hinsehen, bleiben eine Menge Spielräume, sagt Gjoni. Am Beispiel Corona heißt das: „Wie strukturiere ich meinen Tag im Homeoffice sinnvoll? Wie nutze ich die Zeit, die ich mit meinem Partner zusätzlich verbringe? Suche ich aktiv nach Alternativen zu meinen Gewohnheiten, jogge ich bei Wind und Wetter los, wenn das Training im warmen Fitnessstudio ausfallen muss? Und wenn negative Gefühle hochkommen: Lasse ich mich davon herunterziehen, oder schaffe ich eine innere Distanz dazu, beobachte meine Gefühle, ohne mich überwältigen zu lassen?“ Verunsicherung und Angst seien kein Zeichen von Schwäche: „Sich selbst und anderen diese Gefühle einzugestehen, damit beginnt Resilienz!“ Eva Gjoni zitiert den Schriftsteller Alain de Botton: „Eine Sache, die uns in der Krise erspart bleibt, ist der Zwang, zufrieden zu sein.“ Sich nichts beweisen müssen. Auf Sicht fahren, auf sich selbst achten und Pläne eine Nummer kleiner zuschneiden.

Auch der Blick zurück kann helfen, wenn uns Unerwartetes trifft: Wie bin ich in vergangenen Lebensphasen mit Achterbahnfahrten umgegangen, was hat mir geholfen, mich wieder sicher zu fühlen? Heilsame Mechanismen zu kennen und die Gewissheit zu haben, dass auch tiefe Täler irgendwann durchschritten sind, kann wie eine psychische Schutzimpfung wirken. Daran hat unsere Gesellschaft großen Nachholbedarf, findet Petra-Alexandra Buhl, Autorin***und Coach aus Radolfzell: „Wir sind krisenentwöhnt, unsere Bewältigungsstrategien sind zu wenig ausgeprägt. Zu emotional, zu wenig selbst gesteuert.“ Sie selbst hat das als junge Frau auf die harte Tour lernen müssen, weil eine Krebserkrankung sie zu einer Vollbremsung zwang – heute engagiert sie sich für die psychosoziale Nachsorge von Krebspatienten und weiß, wie das Leben sich anfühlt, wenn eine ständige Restunsicherheit es begleitet.

Der entscheidende Schritt, egal ob es etwa um eine eigene Krankheit geht oder eine weltweite Gesundheitskrise: Raus aus der Opferrolle. Buhl: „Es ist Energieverschwendung, sich an der Frage nach dem Schuldigen abzuarbeiten. Oder wie ein trotziges Kind darauf zu beharren, dass alles wieder so werden soll wie früher.“ Wie Eva Gjoni spricht Buhl von einem Dreiklang: Akzeptanz, Begrenzung, Trost. „Innerhalb eines gegebenen Rahmens kann ich panikfreie Räume schaffen. Für eine gefährliche Diagnose bedeutet es: Ich denke einmal die Woche bewusst darüber nach, was eine Verschlechterung bedeuten könnte und wie ich mein Leben dann ändern müsste. Ansonsten umgebe ich mich all dem, das mir Kraft gibt – Dinge, Projekten, Menschen. Für Corona kann das heißen: mich nur einmal am Tag mit den Nachrichten beschäftigen, Menschen meiden, die mich mit ihrer Angst oder Wut herunterziehen, hilfreiche Kontakte pflegen. Die Kunst ist, Glück in glückfernen Zeiten zu finden.“

Eine Chance steckt auf jeden Fall in der Herausforderung durch das Virus: so wie vergangene Krisen uns stark machen können für das Heute, könnte die gemeinsame Krise uns bestenfalls widerstandsfähiger machen für die Zukunft. Aber auch offener für Veränderung. Vor allem für das Gute, auch wenn es aus einer unerwarteten Richtung kommt. Eine Chance zum beruflichen Quereinstieg, eine Liebe, wo man sie nicht vermutet hätte. Oder etwas ganz anderes, von dem wir noch gar nicht ahnen, dass es uns fehlt.

HILFE  in harten Zeiten Gemeinsam mit Kolleg*innen gründete Eva Gjoni eine bundesweite Hotline für qualifizierte, kostenlose psychologische Beratung – telefonisch oder videobasiert, mehrsprachig, auf Wunsch auch anonym, auf einer geschützten Plattform. Gedacht ist der Dienst vor allem für Menschen, die in der Corona-Krise an ihre psychischen Grenzen kommen, bei tiefergehenden Problemen helfen die Berater*innen bei der Suche nach einem passenden Therapieangebot. Montag bis Freitag 12 bis 15 Uhr unter htpps://bleibpsychischgesund.de

ZUM WEITERLESEN

*„Hollywood Calling“ heißt der Fotoband von Isadora Tast (Fotohof Edition, 39 €) – 60 internationale Schauspieler*innen in L.A. berichten von ihren wechselvollen Karrieren und dem Umgang mit der Unberechenbarkeit. Tolle Bilder, ehrliche Texte.

** „Unverfügbarkeit“ von Hartmut Rosa (gerade bei Suhrkamp als Taschenbuch erschienen, 10 €) ist ein Essay über den Zwiespalt zwischen Kontrollwunsch und Sehnsucht nach dem Fremden und Irritierenden. Anspruchsvolles Futter für den Kopf!

*** Mit „Heilung auf Widerruf“ (Petra-Alexandra Buhl, Klett Cotta, 17 €) hat die Autorin ein Mutmachbuch nicht nur für Krebspatient*innen verfasst: Neben medizinischen Kapiteln geht es auch um das Langzeit-Überleben und die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit als Reifungsaufgabe und Chance.

Alles fließt

Leben ist Veränderung – das gilt zunehmend auch für die Liebe. Immer mehr Menschen haben Beziehungen zu beiden Geschlechtern, ohne sich in eine Schublade stecken lassen zu wollen. Modeerscheinung – oder gar eine neue sexuelle Revolution?

Erstmals veröffentlicht in BRIGITTE LEBEN, Ausgabe 2, Frühjahr 2020

Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die klingen wie fürs Kino erfunden. Ein bisschen crazy, ein bisschen irritierend, aber auch mutig und ehrlich. Zum Beispiel diese: Frau, Mitte 40, Ehemann, zwei Kinder, trifft eine andere Frau und verliebt sich Hals über Kopf. Hadert mit den überraschenden Gefühlen, hält erst sich selbst für verrückt und fürchtet dann, dass es alle anderen tun. Schließlich versteht sie: Das ist mein wahres Ich.

Sandra Schlegel*, 47, hat das tatsächlich getan: ihren Mann nach langer Ehe für ihre Lebensgefährtin Katrin verlassen. Aber wie im Kino hat es sich nicht angefühlt. „Es war eine Zeit der inneren Zerrissenheit, wie bei jeder Trennung. Aber sie hat mich nicht in meinem Selbstbild erschüttert“, sagt sie bei einem Cappuccino im Café, mitten im Szeneviertel einer großen Unistadt. „Mein Leben vorher hat für mich über lange Zeit total gestimmt. Ich wollte immer Kinder, das hat David und mich verbunden, aber es war nicht der einzige Grund, ihn zu heiraten.“ Doch Gefühle und Gewissheiten können sich ändern. „Als ich Katrin kennenlernte und mir irgendwann ehrlich eingestand, wie ich empfinde, konnte ich nicht einfach weiterleben wie bisher. Das wäre niemandem gegenüber fair gewesen – weder David noch mir selbst gegenüber.“

Plötzlich lesbisch? Oder immer schon bi? Weil Sandra Schlegel schon als junges Mädchen einen Blick für hübsche Mitschülerinnen hatte, weil sie sich mit Anfang 20 zwei, drei Mal in Party-Knutschereien mit weiblichen Bekanntschaften wiederfand? „Ich fange nichts mit diesen Labels an. Ich bin einfach ich.“ Bei ihrer Lebensgefährtin ist das ähnlich: Die hatte vorher mehrere lange Beziehungen, vor allem zu Frauen, aber auch zu Männern. Auch sie hat ein Kind. „Als wir offiziell ein Paar wurden, habe ich immer gesagt: Es spielt gar keine Rolle, dass Katrin eine Frau ist, es geht mir um den Menschen.“

So wie die beiden empfinden viele die gängigen Schubladen des Begehrens – homo, hetero, bi – als zu ungenau. Die Begriffe stammen aus der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Der Sexualforscher Alfred Kinsey war in den 50-ern des 20. Jahrhunderts schon einen Schritt weiter: Seine Skala umfasste immerhin sieben Zwischentöne, die auf Wertungen wie  „richtig“ oder „falsch“ verzichtet. Heute gilt auch das zu holzschnittartig. Die US-amerikanische Psychologin und Wissenschaftlerin Lisa Diamond von der University of Utah hat vor einigen Jahren den Begriff „fluide Sexualität“ geprägt. Klingt ein wenig vage, ist aber treffend – anders als der Versuch, für jede Schattierung der Lust ein neues korrektes Mini-Label zu finden, konstatiert Diamond erstmal nur, dass Begehren in Bewegung ist.

Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität an der Frankfurt University of Applied Sciences, beschreibt Sexualität wie einen Regler mit Spielraum. „Bei den meisten Menschen ist die grundlegende Orientierung mit Abschluss der Pubertät, spätestens in den 20-ern zwar abgeschlossen. Aber das heißt nicht, dass sie unveränderbar ist. Und dass Menschen nicht auch einmal Sex entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten haben.“ Viktoria Märker, Fachärztin am Sexualforschungsinstitut des Hamburger UKE, bestätigt: „Sexuelle Orientierung, sexuelles Begehren ist ein Prozess und kein Zustand, den ich mit einem Etikett versehen kann und sagen: So ist und bleibt das jetzt.“

Manchmal betrifft der Spielraum nur die Liebe in Gedanken. Zum Beispiel Fantasien beim Solo-Sex. Oder die Tatsache, dass alle Frauen beim Anschauen erotischer Filme messbar körperlich erregt werden, egal, ob es vor der Kamera Frau und Mann, zwei Frauen oder zwei Männer miteinander treiben. Das ergab ein Experiment der US-amerikanischen Queen’s University. Aber auch Liebesbiografien wie die von Sandra Schlegel werden von der exotischen Randerscheinung zum Mainstream. Prominente Beispiele gibt es genug, etwa, wenn sich Model Cara Delevigne und Schauspielerin Kristen Stewart mal innig mit Männern und mal mit Frauen auf Glamour-Events und in Social Media-Posts zeigen. Ebenso die Schriftstellerin Elizabeth Gilbert („Eat, pray, love“), die 2016 mit 46 ihren zweiten Ehemann verließ, um ihre – mittlerweile verstorbene – Freundin Rayya Elias zu heiraten.

Sven Lewandowski, Soziologe an der Uni Bielefeld, findet: Die neue erotische Unberechenbarkeit passt zum Zeitgeist. „Unsere Identitäten sind heute wandelbarer als früher und voller Brüche – etwa im Berufsleben, oder wenn wir den Wohnort wechseln. Warum sollte ausgerechnet Sexualität davon ausgenommen sein?“ Er ist überzeugt: Anders als wir annehmen, ist sexuelle Lust nicht die natürlichste Sache der Welt. Sondern vor allem ein Kulturprodukt. Wen und was wir begehren, wird nicht nur bestimmt von Körperchemie und seelischer Prägung, sondern auch von unserer Umgebung. „Was erlaubt ist und was tabu, wer mit wem Beziehungen eingehen darf, ohne deshalb gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden – das beruht auf ausgesprochenen oder unausgesprochenen Vereinbarungen innerhalb einer Gesellschaft.“ So wie wir nicht nur essen, um Kalorien aufzunehmen, dient auch das, was zwischen Menschen im Bett passiert, vielen Bedürfnissen. Fortpflanzung ist eher selten das vordringlichste.

„Identitäten geben Halt, aber sie können auch einengen wie ein Schraubstock. Der ist heute ein paar Umdrehungen lockerer“, sagt Lewandowski. Demnach ist es nicht verwunderlich, wenn in einer toleranten Umgebung Beziehungen wie die von Sandra Schlegel nicht nur denkbar sind, sondern auch eher gelebt werden als in Milieus und Kulturen mit traditionellen Moralvorstellungen. „In unserem Freundeskreis, unter Kolleginnen, in unserem Viertel haben Menschen zwar erstaunt reagiert, als wir unsere Beziehung öffentlich gemacht haben. Aber wir haben uns nie diskriminiert gefühlt“, sagt Sandra Schlegel. „Sogar meine 80-jährige Mutter hat nur gefragt: Diese Katrin, ist sie denn eine Nette?“ Sie fügt nachdenklich hinzu: „Wer weiß, ob ich mir diese Gefühle überhaupt eingestanden hätte, wenn ich ein paar Jahrzehnte früher gelebt hätte. Oder wenn ich in einem kleinen, katholischen Dorf wohnen würde. Es geht mir vor allem um Katrin als Person, aber zur Wahrheit gehört auch: Kein Mann kann so nachempfinden, was einer Frau Lust bereitet, wie eine andere Frau. Sex ist spielerischer, man biegt nicht so schnell auf die Zielgerade ein, sondern lässt sich länger treiben.“

Beziehungen und Begegnungen jenseits des Boy meets Girl-Schemas werden gerade unter den Jüngeren immer häufiger. Denn der Zeitgeist ermutigt jene, die flexibler sind in ihrer Lust. Dazu passt eine online-Umfrage unter 1000 Teenagern und Twenty-Somethings in den USA und Großbritannien: Eine Mehrheit von 57 Prozent bezeichnet sich als nicht rein heterosexuell. „Das heißt nicht zwingend, dass all diese Menschen das tatsächlich ausleben“, sagt Stefan Timmermanns, „aber es ist ein Ausdruck innerer Freiheit.“ Und noch etwas zeigt das Ergebnis: Es ist nahezu unmöglich, statistisch zu erfassen, wie Menschen sexuell ticken – denn die Zahlen sind immer das Ergebnis einer Selbstauskunft. Und damit auch Ausdruck dessen, was als sozial erwünscht gilt. In rigideren Zeiten outeten sich eher nur solche Frauen und Männer, die ausschließlich das eigene Geschlecht anziehend fanden. Umgekehrt: Wenn im Teenie-Freundeskreis alle die Regenbogenflagge auf dem Smartphone haben und die coolsten Socken bei Germany’s Next Topmodel transgender sind, klingt hetero schnell ein bisschen spießig und nach bravem Blümchensex.

Bei aller Offenheit bleibt allerdings ein Unterschied zwischen den Geschlechtern: Laut Studienlage sind es deutlich mehr Frauen als Männer, die ihre Freiheit auch nutzen. Oder sind sie einfach das fluidere Geschlecht? Sven Lewandowski glaubt: Das hat mehr mit der gesellschaftlichen Geschlechterordnung zu tun als mit Biologie. „Über Jahrhunderte hatte der heterosexuelle Mann gesellschaftlich das Sagen – wenn sich Kategorien auflösen, werden auch Machtverhältnisse in Frage gestellt.“ Heißt konkret: Männer bekommen es nicht nur mit der Angst zu tun, wenn Frauen mehr gesellschaftlichen Einfluss fordern. Sondern auch, wenn sie selbst in Kontakt mit ihren eigenen weiblichen Seiten kommen. Einige empfinden wohl durchaus fluide, leben die Lust auf ihresgleichen sogar manchmal aus. Aber sie gehen weniger offen damit um oder definieren solche Erlebnisse für sich eher als Ausrutscher: Ich und schwul? Never! Medizinerin Viktoria Märker vom UKE glaubt jedoch: Das könnte sich mit einer neuen Generation ändern. „Auch Männer stellen ihre Rolle ja zunehmend in Frage, sind mehr in Kontakt mit ihren Gefühlen und schaffen sich größere Freiräume.“

Bei manchen Menschen geht die Grenzüberschreitung noch einen Schritt weiter – nicht nur in der Sexualität, sondern auch beim biologischen Geschlecht. Vor allem junge Frauen scheinen vermehrt damit zu hadern. Immer mehr Mädchen stellen sich heute bei entsprechenden Stellen vor, weil sie sich als transgender empfinden – am britischen Tavistock Centre in London, einer Klinik, die auch Minderjährige Trans-Menschen behandelt, hat sich deren Zahl innerhalb der letzten zehn Jahre sogar verfünfzigfacht.

Je nach Sichtweise kann das entweder heißen: Hurra, endlich fällt ein Tabu, das früher zu leidvollen Existenzen geführt hat. Oder: Achtung, der Hype um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, kombiniert mit niedrigeren juristischen Hürden, hat auch fatale Folgen. Die Fälle   mehren sich,in denen junge Menschen ihre geschlechtsangleichende Operation bereuen und sie gern rückgängig machen würden. Was nur sehr schwer geht. In deutschen Beratungsstellen führt das zu einem Richtungsstreit: Während manche ihren minderjährigen Patient*innen pubertätsstoppende Hormone verschreiben, warten andere mit körperlichen Eingriffen bis zur Volljährigkeit.

Fragen, die sich Menschen wie Sandra Schlegel nicht stellen müssen. Sie fühlt sich nicht mehr oder weniger als Frau, je nachdem, mit wem sie das Bett teilt. „Ich liebe Katrin sehr. Trotzdem habe ich mich schon mal gefragt: Wenn unsere Beziehung scheitern würde, würde ich dann eher wieder nach Männern Ausschau halten? Im Moment finde ich Frauen sexier und schöner. Aber wer weiß, ob das immer so sein wird.“  

*Namen der Betroffenen auf deren Wunsch geändert

Der Code des neuen Jahrzehnts

Wohl kaum etwas wird unser Alltags- und Familienleben in den Zwanziger Jahren so sehr verändern wie die Digitalisierung – und Corona hat das Tempo noch erhöht. Wir haben schon mal gespickt: Wo wir aufpassen müssen, worauf wir uns freuen können, und warum wir Maschinen nicht das selbständige Denken überlassen sollten

Veröffentlicht als Dossier in ELTERN Family, Oktober 2020

Vor langer, langer Zeit, in einer weit, weit entfernten Redaktion, bekam ich meine erste E-Mail-Adresse. Ich war eher genervt als erfreut. E-wie? Mail-was? Niemand, den ich kannte, hatte so eine Klammeraffenkonstruktion, und wozu auch. Es gab ja Fax. Und Telefon. Handys auch. Aber die brauchten nur eitle Yuppies.

Das waren die mittleren Neunziger, und von da an ging alles ganz schnell, bei mir und weltweit. Die Geburten meiner Kinder verkündete ich noch per SMS auf einem nicht smarten Phone, ein paar Jahre später wurden ihre Geburtstagsgeschenke schon per WhatsApp koordiniert. In den Zehner Jahren fingen auch Autos, Kühlschränke und Putzgeräte an zu denken, und jetzt sind wir hier: Frisch in den Zwanzigern, durch die Corona-Pandemie noch eine digitale Umdrehung nach vorn katapultiert.

Eine rasante Entwicklung, die manchmal auch spaltet. In E-Einkaufszettelbenutzer und Analog-Biokistenbezieher, in Lernapp-Fans und Holzschnitz-Verteidiger, und gelegentlich geht der Riss mitten durch uns selbst. „Digitalisierung verspricht uns Zugriff auf die ganze Welt, echte Verbindung zu weit entfernten Menschen“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe, Autor und Mitbegründer des Kölner Rheingold-Instituts. „Aber sie hält das Versprechen nicht immer. Stattdessen befinden wir uns oft in einer Zwischenwelt, in der wir Fake und Realität nicht unterscheiden können.“ Hat die Kollegin beim Bildschirmmeeting nur ihre Kamera ausgeschaltet, oder ist sie gar nicht mehr da? Diskutieren wir auf Twitter mit einem künstlichen Bot, ohne es zu merken? Und machen wir uns zu abhängig, wenn wir selbst die Auswahl eines Familienfilms Algorithmen überlassen? Psychologisch, sagt Grünewald, liegt das rechte Maß in der Mitte zwischen Euphorie und Verteuflung: Technik nutzen, ohne die Kontrolle über unser Leben aus der Hand zu geben. Wie viele Stunden Kita will ich für mein Kind, möchte ich mich beruflich verändern, und bin ich eigentlich glücklich in meiner Beziehung – solche Fragen kann uns kein Big Data-Spezialist beantworten.

Wagen wir also eine Bestandsaufnahme: Wo stehen wir, und wohin könnte die Reise uns Eltern und Kinder in den nächsten Jahren führen?

IM FAMILIENALLTAG: Kira weiß alles (besser)

Deutschland, 2030. Eine superintelligente Konfliktschlichterin, fahrerlose E-Autos und eine mitwachsende Wohnung machen Familie Alpha das Leben leichter. Familie Beta ist dagegen voll auf Retro-Trip. Eine Zeitreise in die nahe Zukunft

Montag morgen, viertel vor sieben: Hilfe, da sitzt eine Fremde auf dem Barhocker in der Küche! Ariane Alpha zuckt erschrocken zusammen, dann wird ihr klar: Es ist nur Kira, die dort auf sie wartet. Ein KI-Superrechner in der täuschend echten Gestalt einer freundlichen Großmutter. Seitdem Kira vor drei Jahren in ihren Haushalt gekommen ist, ist sie Life Coach, Paartherapeutin, Erziehungsberaterin und persönliche Assistentin in einem. Sie schneidet jedes Gespräch mit, das in der Wohnung geführt wird und moderiert Streit; sie bündelt alle Daten von Kontostand bis zum Termin der nächsten U-Untersuchung, empfiehlt Trainingsprogramme für Ariane, 35, und Anton. 38, fragt Adrian, 12, Chinesischvokabeln ab und singt Lieder für Alina, 2. Alles bezahlt von der Krankenkasse. Die hat 2027 festgestellt, dass Haushalte mit so einem eigenen Familien-Bot gesünder leben. Mehr Sport, weniger Alkohol, sogar häusliche Gewalt ist um 78 Prozent zurück gegangen. Die Alphas lieben ihre digitale Nanny fast wie einen echten Menschen. Auf jeden Fall mehr als ihre körperlosen Vorgängerinnen Siri und Alexa – da hat einfach der menschliche Faktor gefehlt.

Heute auf dem Kantinenplan: ein Steak aus dem 3-D-Drucker

„Guten Morgen, Ariane“, begrüßt Kira sie freundlich, „ich sehe, dein Blutdruck ist etwas niedrig. Möchtest du Tipps für ein Morning Workout, oder soll ich dir zuerst eine Empfehlung fürs Frühstück geben?“ „Danke“, antwortet Ariane, „ich schau heute selbst, worauf ich Lust habe.“ Schwingt in Kiras Schweigen ein leiser Vorwurf mit? Ariane steigt über den Putzroboter, öffnet den Kühlschrank, wie immer gut gefüllt, denn selbstverständlich schickt er selbsttätig Bestellungen an den Lieferservice. Früher waren sich Ariane und ihr Mann Anton oft nicht einig bei der Programmierung: Ariane lebt vegetarisch und Anton mag Fleisch. Aber das Problem ist gelöst, seit er im Büro auf seine Kosten kommt: Der 3-D-Drucker in der Kantine wirft zum Lunch auch Steaks aus. Aus laborgezüchteter Bio-Rohmasse, schadstofffrei, und ohne dass ein Tier sein Leben lassen musste. Kein Wunder, dass Anton seitdem immer seltener im Homeoffice arbeitet – obwohl er jederzeit könnte.

7 Uhr 20. Der Zwölfjährige schlurft in die Küche, Kira bemerkt ihn als erste. „Guten Morgen, Adrian. Du bist spät dran.“ „Schnauze“, sagt er, aber nicht unfreundlich. Pubertät eben. Früher hat sich Adrian oft Kira anvertraut, wenn es Ärger gab: „Kira, Mama, ist so doof!“ Und Kira hat ihm in die Augen geschaut, ihm erklärt, warum er vom vielen 3D-Gaming zappelig wird (Stresshormone!) und empfohlen, ein Glas Milch zu trinken.

Aber jetzt muss Adrian los, Schule! Und keine Lust aufs Fahrrad. Deshalb wird er in ein Fahrzeug der E-Flotte einsteigen, die seit letztem Jahr komplett fahrerlos und beinahe geräuschlos durch die Straßen rotieren. Zur Grundschule hat sein Vater ihn noch manchmal mit dem eigenen Auto gebracht, aber das haben sie 2026 abgeschafft – Mobilität on demand ist in der Stadt bequemer und billiger!

Platz da: Mit jedem Programm-Update wächst die Wohnung mit

„Mama, ich geh nach der Schule noch mit meinen Kumpels ein Eis essen!“ „Gut, was sagt dein Budget dazu?“ Adrian öffnet die nächste App, Ariane seufzt. Das Volksbegehren gegen die Abschaffung des Bargeldes ist vor vier Jahren mit einer knappen Niederlage ausgegangen. Gar nicht so einfach, Kindern den Umgang mit Finanzen beizubringen, wenn man keine Münzen und Scheine mehr zum Anfassen hat. Eine Zeitlang haben sie sich mit Klötzchentürmen beholfen: Für jeden Euro Taschengeld, den Adrian ausgab, verschwand eines, damit er verstand, dass sein Geld weniger wurde.

Aus dem Nebenzimmer quietscht Alina. Vergnügt sitzt Arianes kleine Tochter im Gästezimmer, wo sie mit ihrer Oma auf dem Sofa ein Bilderbuch anschaut. Oma hat von gestern auf heute hier geschlafen, während die Eltern auf einer Geburtstagsparty waren. Eigentlich bräuchte es keinen Babysitter, aber Oma findet es verantwortungslos, ein Kleinkind mit einer KI allein zu lassen. Typisch Schwiegermutter, denkt Ariane, aber sagt es nicht laut. Was will man von einer Baby-Boomerin erwarten, die ihre Diplomarbeit noch auf der elektrischen Schreibmaschine verfasst hat?

Dabei kann auch Oma Alpha der Digitalisierung einiges abgewinnen: Ihr eigenes Smart Home macht die Alltagsorganisation leichter, auch das modulare Wohnkonzept der Juniors kommt ihr entgegen. Die Wohnung im Neubau von 2025 kann Trennwände für ein Pop-Up-Gästezimmer ausfahren, reist Oma ab, wird daraus wieder eine Wohzimmerecke. Auch Updates sind im Mietvertrag geregelt: „Living Plus“ mit Schallisolierung für die Teenager-Wohnräume; „Silver Living“ macht aus dem Grundriss eine großzügige Loftwohnung, wenn eines Tages die Kinder aus dem Haus sind. „Da!“ ruft Alina und deutet auf ein Bild in ihrem Buch. Die Oma nickt. „Ja, da steht K-I-N-O. Da sind die Leute hingegangen, ehe es Streamingdienste gab.“

Handgeschriebene Briefe von der Retro-Freundin

17 Uhr. Ariane kommt nach ihrem Arbeitstag aus dem Biotech-Startup nach Hause. Beim Blick auf die Hausbriefkästen fällt ihr ein: Montags wird die Papierpost geliefert! Heute fischt sie tatsächlich einen Brief aus dem Kasten. Handgeschrieben. Die einzige Person, die so etwas tut, ist Bettina Beta. Ihre ehemals beste Freundin. Seitdem sie ihre Stelle als Personal Trainerin verloren hat, weil Bots wie Kira diesen Job besser und gratis machen,  lebt Bettina mit Familie auf dem platten Land, züchtet Hühner und baut Gemüse an. Nichtmal das 7G-Netz gibt es dort. Ariane ahnt schon, was in dem Brief steht: Ein Loblied auf das raue, angeblich echte Leben, mit echten Tieren, echten Landmaschinen mit Auspuff und Motorgeräusch, echten Beziehungskrächen. Jetzt schreibt Bettina auch noch, ihre Familie würde von tief fliegenden Kameradrohnen ausgespäht. Ist das noch Verbitterung oder schon Paranoia?

Als Ariane die Wohnungstür aufschließt, ist es ruhig. Fast zu ruhig. Dann hört sie gedämpftes Kichern aus der Küche. Dort sitzen sie, großer Bruder und kleine Schwester, neben ihnen Kira, die gar nicht gut aussieht. Irgendwie schlapp und unkonzentriert. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“, fragt Ariane alarmiert. „Tut nich aufladen!“ strahlt Alina über das ganze Gesicht. Adrian feixt. „Zu blöd, Mama, aber ich glaube, ihr Akku ist leer.“ Ariane atmet auf. „Netter Versuch. Was du vielleicht nicht weißt: In diesem Fall geht Kira in den Ruhezustand und schaltet um auf Solarmodus.“ Ariane will gerade das Kabel wieder einstecken, da richtet Kira sich schon auf. „Hallo, meine Liebe. Dir würde eine Tasse Detox-Tee guttun. Und du, lieber Adrian, hast noch viel Arbeit vor dir. Dein Hausaufgaben-Soll liegt bei sechsundvierzig Prozent.“

Fiktiv, aber nicht unrealistisch: Zu diesem Zukunftsszenario hat die Zeitgeistforscherin Kirstine Fratz (zeitgeistforschung.com) ihr Knowhow beigesteuert

IM SPIEL: Vom Würfel bis zum Star-Avatar – 3350 Jahre Gaming

Schon in der Antike vertrieben sich Kinder spielend die Zeit, ganz ohne Konsole. Ein Rückblick mit Ausblick

1330 v. Chr: Das populärste Spiel im Ägypten zur Zeit des Pharaos Tut-Anch-Amun heißt Senet und folgte ähnlichen Regeln wie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Ein Würfel entscheidet, ob eine Spielfigur auf Glücks- oder Pechfelder vorrückt

1200 n. Chr.: Zur Ausbildung des Ritter-Nachwuchses an europäischen Höfen gehören nicht nur Waffenkunde, Ringen, Tanzen und gute Manieren. Knappen im Alter von 13 bis 14 Jahren lernen auch die Regeln für Brettspiele, vor allem Schach

1718: Als der preußische Kronprinz sechs Jahre alt ist, befiehlt ihm der Vater, mit Spielzeugkanonen und Zinnsoldaten zu spielen, hinter seinem Rücken übt der musikalische Friedrich lieber heimlich Flöte. Sein späterer Beiname: der Große

1935: Ein anderer Friedrich mit Nachnamen Schleich gründet in Schwäbisch-Gmünd eine Firma für Spielzeugtiere. Später erweitert die Firma ihr Sortiment um Fantasy-Wesen – zu den Verkaufsschlagern seit den Nuller Jahren gehören Elfen und Einhörner.

1980 n. Chr: Japanische Entwickler stellen die erste Version von „Pac Man“ vor: Eine Figur frisst sich durch ein Labyrinth und wird von Gespenstern verfolgt. In den frühen Achtzigern findet Gaming noch vielfach an Automaten in Spielhallen statt. In der Kategorie „Solitärspiel“ gewinnt der „Zauberwürfel“ den Preis „Spiel des Jahres“ – sechs Jahre, nachdem ihn der ungarische Bauingenieur Ernö Rubik entwickelt hat.

1995: Das Brettspiel „Die Siedler von Catan“ kommt auf den Markt und gilt heute als zweiterfolgreichste Spiel-Marke nach dem 90 Jahre älteren „Monopoly“. Heute gibt es das Catan-Universum auf allen Plattformen: auch als Kartenspiel und in Online-Versionen.

1997: Das Tamagotchi schlüpft: ein virtuelles Küken, um das man sich kümmern muss wie um ein echtes Haustier. Damit ist das Spielzeug aus Japan Vorläufer von Spielen, die Elektronik und Realität verbinden – in den Nuller Jahren etwa Pokémon Go, das mit der größeren Verbreitung von Smartphones und Ortungs-Apps zum Hit wird.

2017: Das umstrittene Koop-Survivalspiel „Fortnite“ kommt auf den Markt, und auf dem Schulhof kommen die zugehörigen „Zahnseide“-Moves aus dem „Battle Royal“-Modus in Mode – auch unter Kindern, die Fortnite (noch) gar nicht spielen.

2020: Zu den populärsten Computergames gehört „Minecraft“ – als Strategiespiel oder im Actionmodus, allein oder mit anderen. Doch auch neue Offline-Spiele werden populärer: von Escape Rooms bis zum kostümierten „Life Action Role Play“

2030: Gaming-Blogger Lukas Mehling (gamerliebe.de) schätzt: Klassiker wie Minecraft und Super Mario werden auch die Zwanziger überdauern, im Kommen sind Hybride zwischen Film und Spiel. In manchen Games leihen bereits Schauspieler wie Keanu Reeves, Mads Mikkelsen oder Kristen Bell den Charakteren Körper und Gesicht

IN DER SCHULE: „Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht die Maschine“

Klaus Zierer ist Professor für Schulpädagogik an der Uni Augsburg. Er sagt: Ob Digitalisierung beim Lernen hilft, steht und fällt mit der Lehrperson

ELTERN FAMILY: Nach den Schulschließungen im Frühjahr gab es die Hoffnung, digitale Plattformen könnten einen Schub erhalten und Lernen moderner werden. Hat sich das aus Ihrer Sicht erfüllt?

Klaus Zierer: Nein, wir müssen hier bildungspolitische Defizite feststellen. Es gab keinen Masterplan, keine einheitlichen Konzepte, und wie gut das Fernlernen funktionierte, hing vor allem davon ab, wie engagiert die Lehrperson war. Das bestätigt zweitens: Im Mittelpunkt eines Lernprozesses steht nie die Maschine, sondern immer der Mensch. Eine gute Lehrperson setzt digitale Technik sinnvoll ein, lässt Schülerinnen und Schüler beispielsweise Filme drehen oder mit einer App vertiefend üben, aber behält immer selbst die Zügel in der Hand.

Aber ist die Technik dem menschlichen Hirn nicht auch in mancher Hinsicht überlegen – etwa, wenn ein Algorithmus genauer den Leistungsstand einschätzen kann und Schritt für Schritt das Niveau anpasst…

Die Lernforschung zeigt uns, dass solche Programme Grenzen haben: Sie eignen sich vor allem für standardisierte Formen, etwa das Vokabellernen, und eher für schwächere Schüler. An einem bestimmten Punkt, wenn es vom Lernen zur umfassenderen Bildung übergeht, braucht es aber menschliche Interaktion, den Austausch mit Peers, eine Lehrperson mit Vorbildcharakter, egal, in welchem Fach und in welchem Alter. Das kann keine Maschine ersetzen.

Und was ist mit Spaß? Es motiviert vielleicht stärker, wenn Erfolge nach Art von Computerspielen belohnt werden, wenn es Punkte zu gewinnen gibt….

Natürlich soll Lernen Freude bereiten, aber äußere Motive wie die genannte Belohnung wirken nicht lange. Wichtiger ist die Erkenntnis: Lernen ist mühsam, aber nur an eigenen Fehlern und Rückschlägen kann man wachsen. Anstrengung lohnt sich also: So werden beispielsweise Inhalte beim analogen Lesen besser im Hirn verankert, und beim Mitschreiben per Hand besser durchdacht als beim Eintippen.

Macht Digitalisierung das Lernen demokratischer – etwa, wenn sich schwächere Schüler Mathe-Tutorials im Netz anschauen, auch wenn die Eltern kein Geld für Nachhilfe haben?

Das ist leider die Ausnahme, die sozialen Gräben werden eher noch tiefer. Weil Kinder und Jugendliche aus bildungsnahen Milieus ganz andere Inhalte nutzen als solche aus bildungsfernen. Wir bräuchten dringend eine bessere Medienerziehung!

Das klingt pessimistisch. Wenn Sie sich wünschen könnten, wo die Reise im neuen Jahrzehnt hingeht: Was wäre das Ziel?

Bildung sollte zweckfrei bleibt, also nie nur nach Aspekten der Nützlichkeit betrachtet werden. Mein Idealbild bleibt eine humane Schule, bei der der Mensch und seine Eigenverantwortung im Mittelpunkt stehen. In der weiterführenden Schule haben digitale Lernformen ihren Platz als Teil eines größeren Ganzen. In der Grundschule sollten sie nur begleitend eingesetzt werden, und in der Kita haben sie nichts verloren.

Programmieren gehört also nicht so früh wie möglich auf den Lehrplan?

Ich finde: Nein. Eine umfassende Bildung ist wichtiger. Die beginnt mit sozialem Lernen, und damit der Erziehung zu selbstbestimmten und loyalen Menschen.

IN DER KOMMUNIKATION: digitales Doppelleben

Für die Kinder der Zwanziger Jahre ist die digitale Welt ein selbstverständlicher Teil des Lebensraums, mit allen Vorzügen und allen Gefahren: Etwa jeder dritte Achtjährige besitzt ein Smartphone, bei den Jugendlichen ab 12 sind es 98 Prozent. Spielen, Filme schauen, chatten – wie gehen Eltern damit um, und was raten Experten?

EINE MUTTER SAGT: „Das Schnitzhandy hat mich weich gemacht“

Vero, 42, ist PR-Journalistin, alleinerziehend, und wohnt mit Sohn Leo, 13, in Hamburg

„Ich war ein Waldorf-Kind und bin sehr naturnah aufgewachsen, Fernsehen war bei uns zu Hause tabu. Auch für Leo habe ich mir eine Kindheit mit wenig elektronischen Medien gewünscht. Aber als er dann zum Ende der Grundschulzeit mit rührenden Basteleien ankam, getöpferten und geschnitzten Smartphones, habe ich ihm seinen Herzenswunsch doch vor dem zehnten Geburtstag erfüllt. Allerdings habe ich die Zeit klar begrenzt: Anfangs nicht mehr als 30, 45 Minuten pro Tag, mittlerweile maximal zwei Stunden, und an Wochentagen erst ab sechs Uhr abends. Ich glaube, er hat dadurch ein Gefühl dafür bekommen, was ihm gut tut, nutzt den Klassenchat konstruktiv, und hat eher kreative Ideen, statt sich berieseln zu lassen: dreht Stop-Motion Filme mit Knetfiguren, interessiert sich für Robotik, und ist mittlerweile der IT-Beauftragte der Familie, weil er sich am besten auskennt.“

EIN VATER SAGT: „Die Inhalte zählen, nicht die Zeit“

Markus, 52, ist Jurist und hat mit seiner Frau Katrin drei Kinder: Sunny, 13, Mare, 11, und Mio, 9. Die Familie lebt in Berlin

„Unsere Kinder sind technisch gut ausgestattet: Als sie kleiner waren, haben sie auf dem iPod Hörspiele und Musik gehört, jetzt gehören Konsolen, Laptops, Tablets und Handys zum Haushalt. Die online-Zeiten der Kinder kontrollieren wir Eltern nicht, dafür die Inhalte: Spiele mit Suchtfaktor sind bei uns tabu, zum Beispiel Fortnite, das zu In-App-Käufen animiert und so konstruiert ist, dass man schwer ein Ende findet. In der Corona-Zeit hingen die drei viel an ihren Geräten, da haben wir ihnen immer wieder Alternativen geboten, wenn wir den Eindruck hatten, es wird zu einseitig: Komm, wir gehen raus, Radfahren, Wandern. Am schönsten ist es, wenn sie von selbst die Balance halten. Sunny stand eines Nachmittags mit dem Skateboard auf dem Flur und sagte: Ich hab genug gezockt, alle Filme gesehen, ich geh aufs Tempelhofer Feld. Der Kleinere hat Einradfahren gelernt, alle drei haben wieder mehr gelesen. Das bestätigt uns: Statt Kontrolle mit der Stechuhr setzen wir lieber auf unser Bauchgefühl und auf Vertrauen.“

EINE EXPERTIN SAGT: „Das Problem sitzt im Kopf, nicht im Prozessor“

Dr. Iren Schulz ist Kommunikationswissenschaftlerin und Mediencoach und arbeitet im Auftrag der öffentlich-privaten Initiative „Schau Hin!“ (schau-hin.info)

„Zu den größten Herausforderungen im Netz gehört das Cybermobbing – etwa die Hälfte aller Kinder und Jugendliche haben schon mit beleidigenden Kommentaren zu tun gehabt, quer durch Altersgruppen und soziale Schichten, und sie sind einfach verletzlicher als Erwachsene. Sicherlich hat es Mobbing auch in analogen Zeiten gegeben, aber eine Schulhofprügelei war eben nach zehn Minuten Geschichte – heute ist weniger körperliche Gewalt ein Problem als psychische. Und die ist eben mit dem Schulgong nicht vorbei, sondern geht auch nachmittags und am Wochenende weiter. Manchmal hilft es nicht einmal, die Schule zu wechseln.

Das Problem ist aber nicht die technische Entwicklung, das Problem ist im Kopf. Das Netz ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, und die ist auf Leistung, Abgrenzung und Einzelkämpfertum aufgebaut. So lange sich in den Köpfen nichts ändert, so lange Schule und Elternhaus nicht gemeinsam Werte und Mitmenschlichkeit vermitteln, wird sich auch bei Mobbing und Hate Speech kaum etwas ändern.

Wir empfehlen Eltern, an den Handy-Aktivitäten ihrer Kinder dranzubleiben, ohne ihnen nachzuspionieren. Bei Kindern im Grundschulalter geht das zum Teil über technische Lösungen, in dem man die Voreinstellungen so sicher und privat wie möglich hält, sind die Jugendlichen älter, geht es vor allem darum, interessiert nachzufragen: Was machst du im Netz, mit wem chattest du, magst du mir mal etwas zeigen? Und dabei auch nicht blind sein für die Möglichkeit, dass das eigene Kind nicht nur Opfer, sondern auch Täter sein könnte. Von der Schule würde ich mir für das neue Jahrzehnt wünschen: sowohl mehr mit Medien lernen als auch mehr über Medien aufklären. Das Rad zurückzudrehen, ist weder sinnvoll noch möglich – aber wir dürfen den digitalen Entwicklungen nicht hilflos hinterherlaufen.“


Rolle rückwärts?

Zwischen Homeschooling, Herd und Home-Office: Die Corona-Pandemie dreht unser Leben auf links. Wohin führt das: zurück in die Fünfziger Jahre – oder vorwärts, zu einer gerechteren Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit? Wer jetzt verliert, wer jetzt gewinnt, und wer jetzt gefragt ist: Politik, Arbeitgeber, und nicht zuletzt wir selbst!

Titelthema aus ELTERN, 7/2020

Phase eins: Luft anhalten, weiter atmen

Ganz am Anfang der Krise, ganz im Norden, zerrinnt einer Mutter die Lebensplanung zwischen ihren Fingern.

Sandra, 48, lebt mit Mann und sechsjähriger Tochter an der Küste in Mecklenburg-Vorpommern, hat viele Jahre in der Boombranche Tourismus gearbeitet und sich gerade selbständig gemacht, als Personalberaterin in der Kreuzfahrtindustrie. Zwei Wochen später branden die ersten Nachrichten von Covid-19-Infektionen in Europa an. „Innerhalb kürzester Zeit gingen meine Aufträge von 100 auf Null zurück. Beim Blick auf meine Kontoauszüge fragte ich mich jeden Tag: Wie lang können wir noch atmen?“ Schließlich verdient ihr ägyptischer Mann mit Hausmeisterjobs nur wenig. Zurück in eine Festanstellung? Jobangebote sind rar, wenn, dann in Vollzeit, und wer soll der Tochter beim Lesenlernen helfen, wenn der Vater kein Muttersprachler ist? Also beantragt Sandra Grundsicherung. Schreibt Protestbriefe an Ministerien, setzt eine Web-Idee um*, legt Gemüsebeete an, kauft zwei Meerschweinchen. „Unser Kind soll nicht unter der Situation leiden.“ Und sie selbst? „Ich bin vor allem wütend. So viel Arbeitskraft und Knowhow wird hier verbrannt!“

In der Mitte Deutschlands, in Köln, sitzt derweil Ines Imdahl, Diplom-Psychologin und Mitgründerin des Forschungsinstituts „Rheingold Salon“, und macht sich Sorgen. Seit mehreren Jahrzehnten nimmt sie mit ihrem Team die Befindlichkeiten, Sorgen und Wünsche von Frauen unter die Lupe. Schon im März, nach der TV-Ansprache der Bundeskanzlerin sagt sie: Vor allem Mütter werden den Preis für die Corona-Krise zahlen. Weil sie verinnerlicht haben: Klar darf ich mich um Karriere und persönliche Ziele kümmern – aber nur, wenn die Partnerschaft, die Kinder, am besten nicht einmal der Haushalt darunter leidet. Dieser Perfektionsdrang fällt ihnen jetzt auf die Füße, sagt Imdahl: „Es gibt Mittelschichtsmütter, die machen seit Beginn der Pandemie zwei Fulltime-Jobs.“ Weil sie neben Home Office den Anspruch haben, im Homeschooling zu performen wie die Lehrer. Besser: noch besser. Ihren Größeren Software zur Aufgabenorganisation aufs Laptop laden, den Kleineren die Bügelperlen plätten. 8,8 Millionen Schul- und Kitakinder sind zu diesem Zeitpunkt ohne Tagesbetreuung. Folge: „Die Mütter hecheln jetzt bei der Arbeit hinterher, während Kinderlose an ihren Karrieren schrauben – und auch jene Väter, denen die Frauen ganz nebenbei noch die Hemden bügeln.“ Kein Klischee, sondern Zahlen des sozioökonomischen Panels: Selbst bei Elternpaaren, die beide Vollzeit beschäftigt sind, kümmern sich Frauen im Schnitt fast zwei Stunden täglich mehr um Kinder und Haushalt als Männer; ist er Hauptverdiener und sie Zuverdienerin (trifft in Deutschland auf fast jede zweite Familie mit Kindern unter zwölf Jahren zu), erhöht sich die Differenz auf über fünf Stunden.

Weitere 450 Kilometer südlich, in einem Dorf bei Freiburg. Das Leben von Janis (38) erinnert an den Computerspiel-Klassiker „Tetris“: Dort geometrische Formen anordnen, die immer schneller über den Bildschirm gesaust kommen, hier den Alltag jonglieren. Als Pflegedienstleiterin in Teilzeit hat sie die Verantwortung für 50 Angestellte, ihr älterer Sohn Jannik, 8, braucht als Asperger-Autist ständige Schulbegleitung, ihr Mann geht als LKW-Fahrer früh aus dem Haus und kommt spät nach Hause. Der familiäre Zeitplan ist auf Kante genäht. Mit der Corona-Kurve steigt das Tempo nochmal um mehrere Level.

Janis ist jetzt offiziell Alltagsheldin, abends klatschen Menschen von Balkonen. Aber das ist ein schwacher Trost, wenn die Notbetreuung nicht greift, weil nur ein Elternteil einen Job hat mit dem Label „systemrelevant“. Wenn im Pflegeheim zusätzlich besorgte Angehörige Schlange stehen, die ihre Angehörigen nicht besuchen dürfen. Wenn nach den Osterferien jeder Sohn einen anderen Präsenztag in der Schule hat und Jannik täglich ausrastet, weil der Krisenmodus ihm feste Struktur nimmt – purer Stress für Kinder wie ihn. „Mein Mann hat größten Respekt dafür, was ich leiste“, sagt Janis. Aber mehr als ein Familientag pro Woche ist für ihn nicht drin. Ansage vom Chef. Wie kommt sie klar mit dem Druck? „Ich kann nur dafür sorgen, dass es mir gutgeht. Der wöchentliche Mädelsabend mit meinen Freundinnen ist mir heilig. Auch wenn dafür körbeweise Dreckwäsche auf dem Sofa liegen bleibt.“

Nicht nur Ines Imdahl warnt, dass Mütter zusammenklappen, abgehängt werden oder beides. Im April prognostiziert die Soziologin Jutta Allmendinger im Talk bei Anne Will, Frauen würden gerade um dreißig Jahre zurückgeworfen. CSU-Chef Markus Söder wischt solche Prognosen markig vom Tisch: „Es geht nicht um die Rückkehr zum Herd, sondern ums Home Office – das kann sogar gut sein für die Work-Life-Balance!“

Janis kann er damit nicht meinen, denn wie viele Mütter arbeitet sie in einem typischen Frauenjob: Pflege, Kitajobs und Co sind so anspruchsvoll wie schlecht bezahlt, und man kann sie weder mit nach Hause nehmen noch beschleunigen. Nur in 57 Prozent aller Paarfamilien ist zumindest für einen Elternteil Arbeit im Homeoffice möglich, bei Alleinerziehenden liegt der Anteil sogar nur bei 35 Prozent, findet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) heraus. Im WZB-Forschungsinstitut kommt man zum Ergebnis: Die Lebens- und Arbeitszufriedenheit sinkt durch Corona stärker bei Familien als bei Kinderlosen, und bei Müttern deutlich stärker als bei Vätern. Die Folgen beziffert die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung: 27 Prozent aller Mütter von Kindern unter 14 haben seit Beginn der Corona-Krise ihre Stundenzahl im Job reduziert, aber nur 16 Prozent der Väter.

Phase zwei: Durchwursteln, neu finden

In den Szenevierteln Hamburgs füllen sich die Straßencafés wieder, an der Elbe schwitzen Jogger, und Alexandra (27) sagt: „Uns geht es ziemlich gut.“ Vor Corona sah das Leben mit ihrem Freund Finn (32) so aus: Gemeinsam um Tochter Nora (5) kümmern, jeder für sich beruflich ranklotzen. Alexandra für ihre Doktorarbeit in Physik, Finn in Teilzeit bei einer Bank, am Wochenende bei der Gründung eines eigenen Startups für Veranstaltungstechnik. Ausgerechnet. Virus plus Kitaschließung haben die Karten neu gemischt: Die Gründung liegt auf Eis, jeder hat genau zweieinhalb Arbeitstage, und am Wochenende ist plötzlich viel Zeit zu dritt. Ungewohnt für das Powerpaar. „Es ist wie eine Elternzeit, die wir nie richtig hatten.“ Ein ungebetenes Geschenk – selbst wenn es finanziell Abstriche bedeutet. Und Alexandra sich auch sorgt, ob sie ins Hintertreffen gerät. Weil Kollegen die Zeit ohne Kongresse und Unibetrieb zum Schreiben und Forschen nutzen, während sie mit ihrer Tochter spielt. „Es ärgert mich, dass die Politik sich zuerst um Autohäuser gekümmert hat und erst dann um Kitas.“ Das Positive? „Finn und ich sind ein super Team, wir können Krise.“

Einen Stadtteil weiter hat Martina (Name geändert), 53, weniger gute Erfahrungen gemacht. Sie und ihr Exmann sind seit acht Jahren getrennt, die Teenie-Kinder pendeln wochenweise. Mit Corona flog ihnen der Familienvertrag um die Ohren: „Weil ich als freiberufliche Mediatorin zu Hause arbeite, bleibt das Homeschooling an mir hängen – mein Ex geht in seiner Woche einfach ins Büro. Wenn nachmittags unser Zwölfjähriger vor der Tür steht, weil er mit den Aufgaben nicht weiterkommt – soll ich ihn wegschicken?“ Was sie betrübt: „Warum wird die Arbeit von Frauen so oft geringer geschätzt als die von Männern?“

Beispiele, die zeigen: Covid-19 ist kein Erdrutsch, der die Landschaft verändert – sondern zeigt wie unter einer Lupe bestehende Strukturen. Man könnte auch sagen: Von wegen „Retraditionalisierung“ – wir standen auch vor der Pandemie noch mit einem Bein in den Fünfzigern! Der Staat belohnt Familien mit hohen Einkommensdifferenzen, von der kostenlosen Mitversicherung in der Krankenkasse bis zum Steuerrecht. Trotz Kita-Ausbau, trotz Elterngeld Plus. Zahlen des Bundesfamilienministeriums von 2016 sprechen eine eindrückliche Sprache: Selbst wenn Eltern minderjähriger Kinder beide die gleiche Schulbildung und das gleiche Berufsbildungslevel vorweisen können, verdienen 19 Prozent der Mütter Null, 63 Prozent unter 1000 und nur sechs Prozent mehr als 2000 Euro monatlich. Auch die Abstands- und Kontaktregeln während der Lockdown-Phase offenbarten ein traditionelles Familienbild: Eltern, Kind, Hausgemeinschaft. Schwerer hatten es Single Moms (oder Dads), die sich sonst auf ein Unterstützer-Netzwerk verlassen; Eltern, die getrennt wohnen, aber gemeinsam erziehen; Patchwork-Familien.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich geändert, vor allem das der Jüngeren und der Männer. So verbringen etwa Väter, die in Elternzeit gegangen sind, auch Jahre später mehr gemeinsame Stunden mit ihren Kindern. Und junge Paare, die sich bewusst für Fifty-Fifty entscheiden – so wie Alexandra und Finn – , lassen sich das so leicht nicht nehmen. Das beweist auch ein Blick zu unseren skandinavischen Nachbarn: Kein Zufall, dass etwa Dänemark schon den Restart von Schulen und Kitas probte, als Deutschland noch über Küchenstudios diskutierte. Denn zwischen Kopenhagen und Arhus fallen Mütter als stille Reserve schlicht aus: Dänische Mamas tragen laut OECD-Statistik im Schnitt 42 Prozent zum Familieneinkommen bei – deutsche nur 22 Prozent.

Phase drei: Umdenken, Chancen ergreifen

Eine Kleinstadt in Westfalen, großzügige Häuser, sommerlich gepflegte Gärten. Ute, 46, sitzt im Arbeitszimmer vor der Laptop-Kamera und sagt: „Die Backlash-Diskussion nervt mich, wir Frauen sollten uns nicht in die Opferrolle drängen lassen. Wir haben es doch selbst in der Hand, wie wir Arbeit und Familie organisieren!“ Klar, sie ist gut dran, und sie weiß es: Mit einem festen Job als „Innovation Manager“ bei einem Arbeitgeber, der Home Office schon lang im Gesamtpaket hat, und einem Mann, der als Lehrer nicht erst abends Zeit hat für Alexander (2. Klasse) und Felix (5. Klasse). Aber Chancen entstünden jetzt für viele: „Wenn sich dank Corona herumspricht, wie gut das selbstbestimmte, agile Arbeiten funktioniert, ist das doch ein Traum – gerade für Eltern.“ Besonders Mütter brächten Fähigkeiten mit, die nach der Krise gefragt sein könnten: Kommunikationstalent, Konflikt- und Feedbackfähigkeit. „Mit diesen Pfunden müssen wir wuchern. Neue Modelle sind greifbar wie nie!“

Mit ihrem Optimismus ist sie nicht allein. Auch Gerhard, 51, Unternehmensberater aus dem Rheinland und alleinerziehender Vater eines Zwölfjährigen, hat die Wochen mit Quarantäne und Homeschooling vor allem als bereichernd erlebt: „Als Vater und Sohn hat uns die Nähe gut getan, und ich merke, dass es mich freier macht, weniger zu planen und agiler zu denken.“ Auch was die Zukunft der Arbeit angeht, ist für ihn das Glas halbvoll: „Viele Bewegungen entstehen aus einer Krise heraus!“

Man kann diese Hoffnung sogar belegen. Das Marktforschungsinstitut Innofact hat nachgefragt: Führungskräfte stehen der Arbeit im Home Office und flexiblen Arbeitszeitmodellen nach den Erfahrungen im Corona-Modus positiver gegenüber als zuvor. Und eine Studie der Uni Mannheim kommt zum Schluss: Zwar gehören Frauen (besonders Mütter) kurzfristig zu den Verliererinnen der Krise, auch weil sie häufiger in gebeutelten Branchen wie Reise und Gastronomie beschäftigt sind. Längerfristig, schlussfolgert Studienleiterin und Ökonomin Michèle Tertilt, könnte sich der Effekt jedoch umkehren: Weil Mütter von der neuen Flexibilität der Arbeitswelt profitieren, aber eben auch, weil Väter derzeit mehr Routine bei der Kinderbetreuung bekommen. Davon hätten auch Frauen etwas, die ihre Arbeit nicht am heimischen Laptop erledigen können. Sondern im Einzelhandel, im Labor, im Fitnessstudio.

Und dann gibt es noch jene, die ihre Lebensentwürfe in diesem Sommer generell hinterfragen. Wie die Fotografin Sonya, 28, Mutter von Sophia, 4. Mit Freund Jens lebt sie in Hamburg zur Miete, seit März sind ihr fast alle Aufträge weggebrochen. Neulich, auf dem Rückweg vom Supermarkt, hat sie angefangen zu weinen. Aber nicht vor Verzweiflung. Sondern vor Glück. „Ich dachte immer, ich muss unbedingt mein eigenes Einkommen haben, darf mich bloß nicht abhängig machen von Jens und seinem Job als Chemiker. Geld ist ja ein Stück Freiheit. Und dann war ich plötzlich gezwungen, einen Gang herunter zu schalten, und habe gesehen: Sophia ist so glücklich, einfach mit mir in den Tag hinein zu leben. Vorher war sie täglich acht Stunden in der Kita, häufig müde und spielte zu Hause kaum noch. Ich merke erst jetzt richtig, wie sehr mich das Muttersein erfüllt.“ Ihre Berufstätigkeit will sie zwar wieder hochfahren, wenn die Regelungen es erlauben – aber behutsam. „Ich weiß jetzt, dass wir auf kleinerem Fuß besser leben. Weil Zeit bleibt für das Wesentliche.“

Was heißt das jetzt: Freiheit im Kopf statt Freiheit durch Geld? Oder eben doch der befürchtete Rückschritt um dreißig, fünfzig oder noch mehr Jahre? In die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Generation von Frauen tatkräftig Trümmer wegräumte, das „Wirtschaftswunder“ danach jedoch den Männern überließ – so wie es Psychologin Ines Imdahl befürchtet?

Andreas Rödder, Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Uni Mainz und CDU-Mitglied, findet: Nein, das ist nicht vergleichbar. „In beiden Weltkriegen waren weiblich besetzte Arbeitsplätze eher eine Notlösung – die Männer waren an der Front, also brauchte man Frauen in der Industrie, vor allem in der Rüstung.“ Und das Ende der DDR, als der massive Abbau von Jobs stärker zu Lasten der Frauen ging? Auch das ist keine Blaupause für 2020, glaubt Rödder: „Frauen und Mütter sind heute ja nicht nur berufstätig, weil sie das Geld brauchen. Viel stärker geht es um Teilhabe, Erfüllung, Selbstbestimmung.“ Und dieses Bedürfnis verschwinde ja nicht einfach – genau so wie Diskussionen von Gender Pay Gap bis Gendersternchen. Mit einer konkreten Zukunftsprognose tut er sich dennoch schwer. „Ob und wie die Wirtschaftskrise unsere Rollenbilder beeinflusst, wird daran liegen, wie tief und lang anhaltend sie ist.“ Es gäbe aber Grund zum Optimismus: „Schaut man sich die demographische Entwicklung an, werden wir auch bei einem schwachen Arbeitsmarkt wohl keine Massenarbeitslosigkeit bekommen.“ Geschichten wie Sonyas machen ihm keine Sorgen: „Eine Gesellschaft muss sich fragen: Soll der Staat in unsere Lebensentscheidungen hineinfunken und Rollenbilder vorgeben wie das Vollzeit-Doppelverdienerpaar – oder einen Rahmen schaffen, der verschiedenen Wertvorstellungen und Absprachen Platz lässt?“

Eine rhetorische Frage, klar. Jede und jeder sollte die Freiheit haben, sich die Balance zwischen Job und Familie, Eigensinn und Gemeinsamkeit zurechtzuzimmern. Doch was hilft uns jetzt, Wege offen zu halten und Weichen so zu stellen, damit das auch morgen möglich ist – vielleicht sogar besser als gestern? Und wer ist dabei gefragt: Politik, Arbeitgeber, Wissenschaft – oder gar wir selbst? Wir hätten da ein paar Ideen….

„Liebe macht Kinder stark“

Gene oder Umwelt – diese Frage ist überholt, sagt die Bremer Neurobiologin, Psychologin und Autorin Nicole Strüber. In ihrem aktuellen Buch erklärt sie, wie ererbte Persönlichkeit und Beziehung zwischen Eltern und Kind sich ergänzen – und wie Mütter und Väter ausgleichen können, wenn der Start ins Leben nicht optimal war. Mein Interview mit ihr erschien in ELTERN 2/20

Alle Mütter und Väter wünschen sich, dass ihre Kinder später zu selbstbewussten, stabilen Menschen werden. Aber haben wir das als Eltern wirklich in der Hand – oder entscheiden darüber die Gene?

Nicole Strüber: Es gibt kein Entweder-Oder – das ist eine der wichtigsten, neueren Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. Früher hat man versucht, in Zwillingsstudien herauszufinden, was mehr zählt, Umwelt oder Erbgut. Das Ergebnis war mal unentschieden, mal ergab sich ein knapper Vorsprung für die Gene. Heute wissen wir: Beide Seiten stehen in einer Wechselwirkung.

Wie muss ich mir das vorstellen?

Unser Erbgut bestimmt nicht nur offensichtliche Merkmale wie Haar- oder Augenfarbe, sondern auch, wie Hormone und Botenstoffe in unserem Körper wirken, etwa Serotonin und Oxytocin. Also jene Stoffe, die dafür zuständig sind, ob wir freudig, traurig, ängstlich sind. Wie die Moleküle transportiert werden, wie sie abgebaut werden, das hat einen Einfluss darauf, ob ein Mensch zum Beispiel zu Depressionen oder Ängsten neigt, schnell überfordert ist, oder ob er eher die Ruhe weg hat. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.

Und die andere ist das Umfeld – in den ersten Jahren wir Eltern?

Genau. Wenn ein Kind behütet und in einer sicheren Bindung aufwächst, einen feinfühligen Umgang erlebt, dann können Eltern ungünstige Voraussetzungen ausgleichen. Es gibt nun mal Babys und Kleinkinder, die mehr Trost, Nähe, Hilfe bei der Stressregulation brauchen als andere. Wenn sie die bekommen, spielt sich auch ihr Hormonhaushalt auf einem guten Level ein. Ist ein Kind dagegen genetisch vorbelastet und wächst zusätzlich mit unsicheren Bindungen und wenig Zuwendung auf, hat das einen negativen Einfluss auf sein Stresssystem.

Was heißt das, Stresssystem?

Immer, wenn wir mit hohen Anforderungen konfrontiert sind, werden im menschlichen Körper Hormone ausgeschüttet, die uns leistungsbereit machen, etwa Cortisol und Noradrenalin. Das ist ganz normal, das passiert jeden Tag – eine höhere Cortisolausschüttung am Morgen hilft uns zum Beispiel, wach zu werden und aufmerksam zu sein. Aber wie sich dieses Stresssystem einspielt, ob es für inneres Gleichgewicht sorgt oder ständig auf Hochtouren fährt wie ein kaputter Thermostat, das ist individuell ganz unterschiedlich.

Und dafür ist schon die Babyzeit entscheidend?

Nein, diese Prägung beginnt sogar noch früher, schon ab dem zweiten Drittel der Schwangerschaft, im Zusammenspiel mit dem Hormonsystem der Mutter.  Ist sie ausgeglichen und nicht chronisch gestresst, ist das von Vorteil – hat sie dagegen schwere Belastungen zu ertragen, wirkt sich das meist ungünstig auf das Kind aus.

Da fragen sich jetzt alle Schwangeren: Schade ich meinem Kind, wenn ich in der 20. Woche mit der Chefin streite?

Nein, keine Sorge! Bei normalem Alltagsstress oder beispielsweise Leistungssport verhindert ein Enzym, dass das Cortisol der Mutter den kindlichen Kreislauf erreicht. Wobei es immer hilfreich ist, auf genügend Ruhepausen zu achten und das eigene Wohlbefinden. Problematisch wird es bei anhaltenden, schwerwiegenden Ereignissen – etwa dramatische Partnerschaftskonflikte, Trauer um nahe Angehörige, oder auch wenn die Mutter unter Angststörungen leidet. Dann wird dieses Enzym quasi abgeschaltet und das kindliche Gehirn mit Hormonen überflutet. Körpereigene Regelkreise können dann außer Kontrolle geraten.

Das wären schon zwei Einflussfaktoren auf das Gefühlsleben eines Kindes – Gene und Schwangerschaft. Spielt auch die Geburt eine Rolle?

Definitiv. Bei einer spontanen, natürlichen Geburt ohne Komplikationen werden die Botenstoffe von Mutter und Kind, also etwa Oxytocin und Opioide, so aufeinander eingestellt, dass das Kennenlernen für beide Seiten glücklich verläuft – die erste Bindung, der Stillstart. Wird die Geburt eingeleitet oder kommt es zu einem Kaiserschnitt – was ja medizinisch manchmal nicht vermeidbar ist! – , sind diese Prozesse unter Umständen noch nicht abgeschlossen. Eine von vielen möglichen Folgen: das Neugeborene kommt sehr unruhig auf die Welt, weil sein Oxytocin-System nicht optimal funktioniert. Denn das braucht es, um Stress abzubauen.

Aber wie eine Geburt verläuft oder ob wir in der Schwangerschaft schwere Sorgen haben, das haben wir ja nur bedingt in der Hand. Heißt das, solche Kinder werden auch später zwangsläufig seelisch instabiler?

Nein! Zum einen bringen sie wie gesagt ihre eigenen Anlagen mit, die sie unterschiedlich empfindlich machen. Zum anderen ist für Eltern wichtig, zu verstehen: Wenn ein Kind reizbarer auf die Welt kommt als andere, dann ist das nicht ihre Schuld, sondern ein Ergebnis von Prägungen und bisherigen Erfahrungen. Aber frühe Verletzungen können heilen, auch wenn es manchmal viel Geduld erfordert. Dazu braucht es nicht viel: Körperkontakt, Nähe, Verständnis, all das hat Einfluss auf das Cortisol- und Oxytocin-System. Bloß nicht ein Baby schreien lassen aus Angst, es zu verwöhnen!

Weil dann im Hirn was passiert?

Eins vorweg: Kinder brauchen keine perfekte Umgebung. Keine Mutter, kein Vater kann immerzu feinfühlig und geduldig sein, manchmal ist der Alltag belastend, das können Kinder gut verdauen, wenn die Basis stimmt. Gefährlich wird es für Kinder, die konstant zu wenig Fürsorge bekommen. Der biologische Hintergrund ist kompliziert – Gene, die für Oxytocin- oder Cortisol-Bindungsstellen im Körper zuständig sind, werden quasi abgeschaltet. Das sichtbare Ergebnis ist traurig: Die Kinder zeigen ähnliche Symptome wie nach einem Trauma und sind später oft emotional wie taub. Je älter ein Kind ist, desto schwieriger lässt sich das noch ändern. Deshalb ist es in den ersten Monaten und Jahren auch so wichtig, dass wir die Gefühle unserer Kinder wahrnehmen und mit unserem Gesichtsausdruck spiegeln. In Worte fassen, wenn sie wütend, traurig, fröhlich sind, damit sie verstehen, was mit ihnen los ist.

Bei der Lektüre Ihres neuen Buches fällt auf: Sie schreiben sehr viel mehr über die Mutter- als über die Vaterbeziehung. Ist das nicht etwas rückwärtsgewandt?

Nein, selbstverständlich können Väter sich nicht minder gut auf Kinder einlassen – auch wenn sie oft anders mit ihnen umgehen. Die Vaterbeziehung ist allerdings nicht so gut erforscht. Im besten Fall bekommt ein Kind durch mehrere nahestehende Menschen eine Bandbreite von guten Einflüssen mit. Wichtig ist aber, dass es eine primäre Bezugsperson gibt, bei der es sich vollkommen sicher fühlt – wenn es dazu noch weitere nahestehende Menschen gibt, Großeltern, Eltern, in einer klassischen Familie oder einer homosexuellen Partnerschaft, umso besser.

Und Erzieher in der Kita? Es wird ja noch wie vor gestritten, was Fremdbetreuung mit Kleinkindern macht.

Schwierige Frage. Man hat bei Kindern in Krippenbetreuung oder Tageseltern mit vielen zu betreuenden Kindern einen untypischen Verlauf der Cortisol-Kurve gefunden: Statt im Lauf des Tages abzufallen, stieg der Level des Stresshormons an. Dieser Effekt war stärker, je jünger die Kinder waren und je schlechter der Betreuungsschlüssel, außerdem abhängig vom Temperament des Kindes. Wie stark das langfristig prägt, das ist jedoch umstritten. Man kann nicht sagen: Krippenbetreuung führt zu Depressionen oder Aufmerksamkeitsproblemen, das wäre zu einfach. Aber man sollte im Auge behalten, wie das Leben sonst aussieht: Wenn ein Kleinkind nach fünf Stunden von gut gelaunten Eltern abgeholt wird, die sich mit ihm auf den Spielplatz setzen, ist das sicherlich vorteilhafter für sein Stresssystem, als wenn es nach acht Stunden auf überlastete Eltern trifft, die nach einem harten Arbeitstag noch den Haushalt wuppen müssen.

Was sich ja manchmal auch nicht vermeiden lässt…

Ja, ich sehe da nicht nur bei den Einzelnen eine Verantwortung, auch bei der Gesellschaft. Wir sollten endlich die Grabenkämpfe, die Schuldzuweisungen zwischen Raben- und Gluckeneltern hinter uns lassen und uns fragen: Wenn das Kitasystem so schlecht ausgestattet ist wie derzeit, wäre es dann nicht besser, den Familien den Vortritt zu lassen, die wirtschaftlich dringend auf frühe Betreuung angewiesen sind? Es gibt sicherlich viele, die es finanziell möglich machen könnten, ein Kind auch zwei, drei Jahre zu Hause zu betreuen. Und die es nicht tun, weil sie fürchten, dass sie ihm etwas vorenthalten oder als Helikoptermütter diffamiert werden.

Wir haben jetzt viel über die Wichtigkeit stabiler Bindungen geredet. Aber was ist mit Eltern, die fürchten, sie könnten keine gute Mutter, kein guter Vater sein? Weil sie selbst unter schwierigen Umständen aufgewachsen sind?

Kommt darauf an, wie schwierig genau! Für manche Eltern mit ungünstigen Erfahrungen reicht es völlig, wenn sie in einer Gruppe lernen, die Signale ihres Babys besser zu deuten. Nehmen Sie etwa Babymassage: Wenn man sich jeden Tag 20, 30 Minuten intensiv mit dem Kind beschäftigst, wird auch bei Vater oder Mutter Oxytocin freigesetzt. Das wiederum hilft, das Schreien eines unruhigen Kindes besser auszuhalten, nicht so schnell selbst nervös zu werden, wenn es länger dauert, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. So entstehen Engels- statt Teufelskreise. Der nächste Schritt wäre, sich Hilfe zu holen: durch die Hebamme, bei Erziehungsberatungsstellen. Solche Angebote anzunehmen, darf kein Stigma sein sondern eher ein Signal: Was du für dich tust, für deine eigene Kompetenz als Mutter oder Vater, das tust du für dein Kind! Und wenn auch das nicht reicht, hilft auch eine Psychotherapie, die eigenen emotionalen Kompetenzen zu stärken und dadurch einen neuen Zugang zu den eigenen Kindern zu bekommen.

Wenn wir also unseren Kindern einen guten Start geben und bei schwierigen Veranlagungen gegensteuern – was haben sie dann später davon?

Menschen, die einen guten Zugang zu ihren eigenen Emotionen haben, schaffen es später im Leben auch besser, mit schwierigen Situationen umzugehen, sich Hilfe zu holen, sich auf andere zu verlassen und Belastendes zu überwinden. Weil sie als Kinder gelernt haben: Ich darf traurig sein, ich kann mir Hilfe holen. Nicht nur bei gewöhnlichen Alltagsärgernissen, auch in traumatischen Situationen sind die körperlichen Systeme optimal aufeinander eingestellt, Hormone, Regelkreise, Hirnstrukturen.

Und das ist mit dem Modewort „Resilienz“ gemeint?

Ja, als resilient bezeichnen wir Menschen, die Krisen stabil überwinden, die es schaffen, Schicksalsschläge in ihrem Leben zu integrieren und nach vorne zu schauen. Wir können unsere Kinder ja nicht auf Dauer vor Frustration und Unglück bewahren – aber wir können sie stark machen, damit sie besser mit Widrigkeiten klarkommen. Und das ist eines der wertvollsten Geschenke, die wir ihnen mitgeben können.

Buchtipp: „Risiko Kindheit – die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern“ (Klett Cotta, 22 €) lautet der Titel von Nicole Strübers umfangreichem Wissenschafts-Schmöker – darin erläutert sie ausführlich und gut lesbar, wie das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt den Charakter formt und erklärt dabei ganz nebenbei nicht nur, was schief gehen kann, sondern genauso, was weiterhilft

Heimat zu verkaufen

Das weltweite Geschäft mit Wohnraum produziert wenige Sieger auf Konzernseite und massenhaft Verlierer in der Bevölkerung. Für die BRIGITTE-Rubrik „Die Stunde der Frauen“ habe ich im Herbst 2019 UN-Sonderberichterstatterin Leilani Farha porträtiert

Vielleicht muss man mit ihrem Vater beginnen, um Leilani Farhas Geschichte zu erzählen. Einem Bauernjungen aus dem Südlibanon, dessen Familie durch neue Grenzziehungen in den Vierziger Jahren ihre Felder und damit ihre Existenzgrundlage verlor und in Folge nach Kanada auswanderte. „Das hat mich von Kindheit an sensibel gemacht für Fragen nach Zugehörigkeit und der Notwendigkeit, ein Zuhause zu haben“, sagt die studierte Anwältin, Sozialarbeiterin und Anti-Armuts-Aktivistin mit Wohnsitz in Kanadas Hauptstadt Ottawa. Seit 2014 ist sie für die Vereinten Nationen weltweit unterwegs als Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen. Ein Recht, das von Organisationen wie der UN und der europäischen Sozialcharta eingefordert wird, aber längst nicht überall umgesetzt wird. Auch das deutsche Grundgesetz äußert sich nicht explizit.

Heute sind es weniger kriegerische Auseinandersetzungen, die Menschen weltweit um ihr Dach über dem Kopf bangen lassen. Sondern vielmehr Konzerne und ihre Gewinnstrategien. Die „globale Wohnkrise“, wie Farha es nennt, findet ja nicht nur in Weltmetropolen wie London und New York ihren Niederschlag, auch aus ihrer Nachbarschaft hat sie ein Beispiel parat: „Erst letztes Jahr wurde 100 Mietparteien im Viertel Heron Gate erst Modernisierung verweigert, dann gekündigt – hauptsächlich Einwanderern aus Somalia und arabischen Staaten, sprachlich und finanziell benachteiligt. Der Eigentümer, eine große Investment-Firma, wollte die Häuser abreißen und neue, lukrativere Wohnanlagen bauen.“

Typisch Gentrifizierung? Da lacht sie trocken: „Wenn’s das nur wäre!“ Der vegane Bio-Bäcker, das Yogastudio, das sind klischeehafte Feindbilder, die häufig in der Debatte um Verdrängung und Preisexplosion genannt werden, auch in Deutschland. Zu kurz gesprungen, findet Farha. Das wahre Problem seien nicht Kleingewerbetreibende, sondern jene internationalen Fondsgesellschaften, die Städte ausbeuteten wie Goldminen: einfallen, plattmachen, hochziehen, verkaufen. Möglichst ohne störende Mieter mit Ansprüchen. Farha bringt das in Rage: „Gold ist ein verkäufliches Gut – Wohnen ein Menschenrecht!“ Deshalb tourt sie unermüdlich durch die Metropolen, trifft sich mal mit dem Bürgermeister von Berlin und mal mit Menschenrechtsaktivisten in Seoul, mit Architekten, Stadtplanern und Vertretern der Finanzindustrie, um für Gesetze zu werben, die auch sozial Schwächeren ein Großstadt-Zuhause ermöglichen. Name ihrer Initiative: The Shift, die Verschiebung. Druck soll Gegendruck erzeugen. Erste Erfolge gibt es etwa in Barcelona, wo sich die Politik gegen die Verdrängung von Mietern zugunsten von lukrativen Ferienappartements zu wehren beginnt. Hier zeigt die Sharing-Economy ihr böses Gesicht.

Deutschland stellt die Vielfliegerin ein optimistisches Zeugnis aus: „Die kreativen Mieterproteste und Lösungsansätze in Städten wie Berlin und Frankfurt machen mir Hoffnung – das könnte zum Modell für andere Länder werden.“ Dass sie und ihre Familie fast per Zufall auf der Gewinnerseite des weltweiten Betongold-Booms stehen, irritiert sie dagegen nachhaltig: „Das Haus, in dem wir leben, ist heute doppelt so viel wert wie vor zwölf Jahren. Wir wären also nicht mehr in der Lage, es zu kaufen – zwei gut verdienende, gebildete Menschen aus der Mittelschicht. Das ist doch absurd!“ Und so kämpft sie weiter einen Kampf, der sich nur vordergründig um Klingelschilder, Hausgemeinschaften und funktionierende Heizungen dreht – im Grunde aber um die Frage, ob Städte auch künftig Lebensraum für eine bunt gemischte Gesellschaft bieten. Oder sich in Geschäftsmodelle für wenige Wohlhabende verwandeln.

INFO

Leilani Farha macht ein Geheimnis aus ihrem Alter: „Ich habe zwei Teeangerkinder und bin nicht besonders jung Mutter geworden – reicht das?“ Im Dokumentarfilm „Push – für das Grundrecht auf Wohnen“ geht die UN-Sonderberichterstatterin der internationalen Immobilienkrise nach (ab 18.10. als DVD/VoD)

Netz mal ehrlich

Im Sommer 2019 durfte ich das neue Coaching-Magazin BRIGITTE LEBEN redaktionell mit entwickeln, und habe auch einige Texte beigetragen – unter anderem diesen hier.

Makellose Körper, traumhafte Strände, lässige Outfits: Viele Jahre waren Instagram und Co vor allem Schaufenster fürs optimierte Ego. Doch seit kurzem dreht sich was: Selbstironie, offene Worte, filterlose Optik. Haben wir uns sattgesehen am schönen Schein?

Irgendwann war sie nicht mehr zu übersehen. Facebook, Twitter, Instagram: Auf allen Kanälen tauchten plötzlich Fotos einer nicht mehr ganz jungen, nicht besonders perfekt geshapten, aber offensichtlich gut gelaunten Frau auf, die mit Bordmitteln die überspannten Posen der Social-Media-Prominenz nachstellt. Comedien Celeste Barber, wie ein Sack Kartoffeln über einem Balkongeländer hängend; in Omas Schlüpfer, mit strammen Beinen eine Palme umklammernd; in einem dieser Mini-Outfits, die bei Normalos so aussehen, als hätten sie im Tran vergessen, eine Hose anzuziehen. Streckt ein Insta-Sternchen ein Plakat mit der Aufschrift „Love who you are“ in die Kamera, hält Barber mit einem handgeschriebenen Schild dagegen: „There’s no point in trying if you don’t look like this“ – das mit der Selbstliebe hat eh keinen Zweck, wenn man nicht so aussieht wie du.

Ein Witz natürlich, denn die Enddreißigerin aus Australien wirkt alles andere als unzufrieden mit sich. Allenfalls ein bisschen überrascht von ihrem viralen Erfolg. „Seit Jahren bin ich mit Kabarett und Schauspiel unterwegs, aber seitdem ich 2015 mit diesem Foto-Satire-Ding angefangen haben, kennt mich plötzlich die halbe Welt“, erzählt sie US-Talkshow-Host Jimmy Kimmel. Was ihre Followerzahl angeht, kann sie es mittlerweile locker mit den Beyoncés und Kardashians dieser Welt aufnehmen: Sechs Millionen Instagram-Nutzer*innen lieben ihr Spiel mit der Ego-Inszenierung. Darunter sogar einige der Celebrities, die von ihr aufs Korn genommen werden.

Damit ist Barber zur Postergirl einer Bewegung geworden, die seit einiger Zeit die Social-Media-Welt aufmischt: Sein statt Schein, Wahrhaftigkeit statt Fake News, mal lustig, mal schmerzhaft, aber immer nach dem Motto: Netz mal ehrlich. Influencer werden zu „Sinnfluencern“: Fitnessbloggerin Louisa Dellert widmet sich neuerdings Klima- und Umweltthemen, die New Yorker Instagram-Ikone Cleo Wade hat gerade ein Buch über Selbstfürsorge veröffentlicht und schreibt darin „über ihre bewegenden Erfahrungen zu Themen wie Angst, Veränderung, Dankbarkeit und Beziehungen“, so die blumige Verlagswerbung.

Tristan Horx, Anthropologe und Zukunftsforscher, erkennt darin ein Muster: „Sinnsuche passt zum Zeitgeist. Wir haben Fake News und künstliche Identitäten satt, sehnen uns nach verbindlichen Wahrheiten und echter Resonanz.“ Nicht erst seit dem Aufruhr um virtuell generierte Influencer und Chatbots : „Wir reden aneinander vorbei, inszenieren uns, lügen anderen und uns selbst in die Tasche.“ Und sparen dabei aus, was uns menschlich und nahbar macht: Ängste, Fehler, Unperfektion.

„Menschen haben genug von der coolen Gleichgültigkeit vergangener Jahrzehnte. Sie sehnen sich nach Erdung und Bodenhaftung“, hat auch Stephan Grünewald, Psychologe, Autor und Gründer des Kölner Rheingold-Instituts festgestellt. Für ihn lässt sich der Trend zu mehr Ehrlichkeit im Netz besonders am Siegeszug der Podcasts ablesen. Seit drei Jahren steigen die Nutzerzahlen, jede*r fünfte Deutsche lässt sich heute regelmäßig was erzählen. „Das gesprochene Wort schafft Nähe und Urvertrauen, man bindet sich akustisch an die Welt an – eine Erfahrung, die schon Ungeborene im Mutterleib machen“, analysiert Grünewald.

Tatsächlich geht’s in erfolgreichen Hörformaten häufig ans Eingemachte. So wie bei Caroline Kraft und Susann Brückner aus Berlin, die sich seit bald zwei Jahren den letzten Dingen widmen: Unter dem Titel „endlich“ sprechen die beiden über das Thema Tod und Sterben. Offen, anrührend, und dabei – man wagt es kaum zu schreiben – unterhaltsam. Geboren wurde die Idee in einer Kreuzberger Kneipe, erzählt Caroline Kraft: „Als mein Exfreund sich vor vier Jahren das Leben nahm, war ich mit Mitte dreißig plötzlich auf brutale Weise mit der Endlichkeit des Daseins konfrontiert, mit Schuld, Scham und Trauer. Eines Tages nahm mich meine Arbeitskollegin Susann beiseite und sagte: ‚Wenn du reden willst, ohne dass dich jemand betroffen anschaut – ich bin da.’ Denn Susann hatte auf diese Weise sowohl ihren Vater als auch ihren Bruder verloren.“ Abends beim Bier kamen die beiden rasch von eigenen Erfahrungen auf eine höhere Ebene: „Was macht Trauer mit Menschen, wie findet man eine Sprache dafür, was hilft?“ Von dort war es nur noch ein kurzer Weg zu Susanns Bemerkung: „Wenn wir jetzt ein Mikro hinstellen würden, hätten wir schon die erste Folge für einen Podcast.“

Für Caroline ist das gemeinsame Projekt viel mehr als Selbsttherapie. „Wir wollen ein Signal an die Welt senden: Das Thema Tod darf kein Tabu sein, und es gibt andere, modernere Wege für den Umgang damit als pietätvolle Selbsthilfegruppen.“ Die beiden schonen sich nicht, gehen dort hin, wo es richtig weh tut – etwa: was macht Trauer mit dem Körper, mit der Sexualität – und balancieren oft zwischen Humor und Verzweiflung. Ein Psycho-Striptease, der sich lohnt, sagt Caroline: „Für uns zahlt die Beschäftigung mit dem Thema auf das Leben ein und hilft, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren. Und von vielen unserer Hörer*innen bekommen wir Rückmeldungen: Endlich versteht mich jemand.“

Aber auch jenseits der ganz großen Themen wie Klimawandel, Krankheit und Tod machen viele Podcast-Produzent*innen, Blogger*innen und Youtuber*innen heute die Unebenheiten des Lebens sichtbar und klopfen ihren Nutzer*innen damit virtuell auf die Schulter: Hey, uns geht es wie euch! Da ist zum Beispiel die TV-Journalistin Joanna Castillo. Auf Instagram teilt sie Familienthemen (@frau.kakao.macht.tv), seit zwei Jahren betreibt sie einen Blog, in dem sie Menschen auch zu sperrigen Themen befragt: Wochenbettdepression, vorgeburtliche Diagnostik. „Ich möchte die ewige Selbstoptimierungsschleife durchbrechen.“ Die Trendwende weg vom höher, schneller, weiter findet sie gut: „Online ständig eine vermeintlich heile Welt zu sehen, macht doch nur depressiv.“ Lisa Harmann, mit Kollegin Katharina Nachtsheim seit sieben Jahren unter „Stadt Land Mama“ im Netz zu finden (eine halbe Million Seitenaufrufe pro Monat), formuliert es so: „Wir sind nicht nur für die schönen Seiten des Familienlebens da, sondern auch als Ventil für alles, das dabei unter den Teppich gekehrt wird.“ Dazu passen auch jene Fotos der beiden im aktuellen Buch zum Blog („Wow Mom“, Krüger 16,99 €), auf denen sie nicht nach Glamour-Mums aussehen. Sondern übernächtigt, erschöpft, hungrig, rechts ein Baby im Arm und links eine schlappe Wurststulle.

Der Trend zur Online-Ehrlichkeit hat nichts mit Altersmilde zu tun. Selbst wenn einige der Akteur*innen um die Vierzig sind und dadurch näher dran an Midlife-Sinnkrisen, Neuorientierung und dem Wunsch nach mehr Tiefgang. Auch die Generation Selfie ist vertreten. Zum Beispiel mit Nora Wunderwald, 21. Sie hat das Online-Jugendmagazin „tierindir“ mit gegründet, betreibt einen Youtube-Kanal und hat als Social-Media-Native die Wende am eigenen Leib erlebt: „Mit 14 wollte ich so sein wie meine Vorbilder, habe mich in meinem Mode-Vlog ausschließlich von meiner Schokoladenseite gezeigt. Heute denke ich, ich hätte damals selbst andere, bessere Role Models gebraucht.“ Das könnte nun sie selbst für die jüngeren sein, mit Clips über Feminismus, Tierschutz oder Einkaufen im Unverpackt-Laden. Der mutigste und persönlichste ist allerdings erst ein paar Wochen alt: „Hallo Leute, wenn ihr das hier seht, bin ich schon auf dem Weg in eine psychiatrische Klinik.“ Darin erzählt sie, wie sie sich immer mehr verloren hat zwischen Digital-Projekten, Studium und Privatleben, schließlich ein Burnout erlitt, nicht mehr weiter wusste, sich Hilfe suchte. Sechs Wochen Intensiv-Therapie, das heißt auch: sechs Wochen offline, kein Laptop, kein Smartphone, kein Youtube, kein Instagram. Es wird ihr schwerfallen, und sie weiß: Das ist Teil des Problems. Viele ehrliche Sätze, von denen der wichtigste kurz vor Ende fällt: „Fotos, Erlebnisse, Erfahrungen, man muss nicht alles teilen. Manches gehört einfach nur mir.“

Waschen und geben

1946 will eine 16jährige Rheinländerin ihre langen Zöpfe loswerden. 72 Jahre später verliert eine Studentin aus Norddeutschland bei einem Unfall Haare und Kopfhaut. In einer Hamburger Werkstatt werden beide Frauenschicksale miteinander verknüpft – Reportage aus BARBARA, April 2019

Köln, im ersten Jahr nach Kriegsende. Gerda Dübbers ist 16 Jahre alt und aufgeregt. Heute ist der Tag, an dem sie erwachsen werden will. Am Morgen fährt sie mit dem Zug aus ihrem Eifeldorf in die Stadt, von der kaum noch etwas steht außer dem Dom. Sie trägt ein Säckchen Briketts und ein Handtuch bei sich, so hat es der Friseur verlangt. Denn Heizmaterial ist 1946 genau so knapp wie Frottierstoff. Die Mutter hat ihr Geld zugesteckt, nach vielen Diskussionen: Lange Haare kosten nichts, halblang mit Dauerwelle schon! Aber jetzt ist Schluss mit Affenschaukeln und Schnecken. Ab heute ist Gerda kein kleines Mädchen mehr, sondern eine Dame. Auf der Rückfahrt, den ungewohnten Luftzug im Nacken, wird sie etwas anderes bei sich tragen: siebzig Zentimeter lange, rötlichblonde Zöpfe, zusammengelegt in einer kleinen Tüte.

Flensburg, im Mai 2018. Julina Engert ist 20 Jahre alt und hat keinen Grund, aufgeregt zu sein. Dazu macht sie ihren Job schon zu lang und zu routiniert: den Eissalon aufschließen, Waffeln über die Theke reichen, kassieren. Sie und ihr Freund sind ein eingespieltes Team, auch beim Arbeiten. Noch ein bisschen Geld verdienen, bis im Herbst das erste Semester an der Uni beginnt. Ihre langen dunkelblonden Haare trägt sie im Pferdeschwanz. Praktisch, hygienisch, und hilft auch gegen Bad Hair Days.

Aber an diesem Morgen passiert etwas, das niemals hätte passieren dürfen: Als Julina eine eingeschaltete Eismaschine reinigt, beugt sie sich zu weit in den Kessel hinein. Schon verfängt sich der Zopf in der rotierenden Metallspirale im Inneren, erst nur ein Büschel, dann immer mehr. Sie versucht sich zu befreien, sie schreit, ein fürchterlicher Schmerz, es geht sekundenschnell. Ihr Freund stürzt herbei, will sie losschneiden, erst mit einer Schere, dann mit einem Messer, aber da ist es schon passiert. Mit ungeheurer Kraft reißt die Maschine das Haar mitsamt Kopfhaut los. Am Abend, nach einer zwölfstündigen Operation, wird sie aus Ohnmacht und Narkose erwachen und erst Wochen danach das Krankenhaus verlassen, nach vielen weiteren Eingriffen und einer Hauttransplantation. Die Ärzte haben alles gegeben. Aber auf mehr als der Hälfte ihrer Kopfoberfläche wird nie wieder etwas wachsen.

Zwei Frauen, beide jung, beide lebenslustig, und zwei Geschichten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Um sie miteinander zu verflechten wie die Stränge eines Zopfes, über Kilometer und Jahre hinweg, braucht es noch eine dritte. Diese handelt von den Hamburger Maskenbildnerinnen Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi, beide 49, die vor einigen Jahren beschlossen: Haarteile für Musicaldarsteller und Filmschauspielerinnen herstellen, okay, aber das kann noch nicht alles im Leben gewesen sein. So gründeten die beiden eine Werkstatt für Echthaar-Perücken mit dem strahlenden Namen „Königinnen“. Jetzt arbeiten sie für Menschen, die nicht in eine Rolle schlüpfen wollen. Sondern am liebsten sie selbst bleiben möchten. Krebspatientinnen, Frauen mit Haarausfall, Unfallopfer. Haare kosten nichts? Nicht, wenn man sie hat. Verliert man sie, kosten sie einen viel: Würde, Selbstbewusstsein, Zuversicht.

„Ich las in einer Illustrierten davon und dachte: Jetzt weißt du endlich, warum du all die Jahre die Zöpfe mit dir herumgeschleppt hast!“, erinnert sich Gerda Dübbers. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, Frühlingssonne scheint durch das Fenster, und erinnert sich. Wie sie das Tütchen immer wieder in Umzugskisten ein- und ausgepackt hat, nach ihrer Hochzeit, als sie mit ihrer eigenen Familie in ein größeres Haus zog, beim Wechsel in eine Etagenwohnung. Mit dem unbestimmten Gefühl: Eines Tages wird das für etwas gut sein. „Es macht mich so froh, dass ich helfen konnte!“

Für Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi sind alte Zöpfe in der Post ein Geschenk. Denn Haar lässt sich fast endlos aufbewahren und verarbeiten, wenn es gesund ist, naturbelassen und nicht von Motten oder Feuchtigkeit angegriffen wird. Das meiste in ihrem Lager hat einen unspektakulären Hintergrund – Langhaarträgerin mit Lust auf Typveränderung – , aber es stecken auch Geschichten dahinter, die unter die Haut gehen. Kleine Mädchen, die ihre Haare opfern, weil die Lieblingstante Krebs hat. Oder ein Zopf mit einem sauber beschrifteten Zettel, datiert auf Sommer 45. Von einer Berlinerin, die fürchtete, von Soldaten der anrückenden Roten Armee vergewaltigt zu werden. Viele versuchten, sich und ihre Töchter zu schützen, in dem sie sich kahl schoren. Haare sind Lockstoff, Weiblichkeit, Ausstrahlung – das ist in manchen Zeiten Fluch statt Segen.

Julina Engert betritt im Sommer 2018 zum ersten Mal den freundlichen Souterrain-Laden in Hamburg-Eimsbüttel. Als norddeutsches Pferdemädchen weiß sie, was man tut, wenn es einen aus dem Sattel schleudert: aufstehen und wieder aufsitzen. Sogar im Eisladen hat sie schon wieder gearbeitet, um die schlimmen Erinnerungen nicht so stehen zu lassen. Aber sie ist es Leid, mit Kopftuch vor die Tür zu gehen und fragend angeschaut zu werden. Lieber wäre sie wieder eine von vielen, auf der Straße, beim Ausgehen. Als sie die Kölner Zöpfe in der Hand hält, weiß sie: die oder keine.

Jetzt beginnt der handwerkliche Teil. Ansätze entschuppen, waschen, schließlich noch ein paar Strähnchen aus anderen Beständen dazu nehmen, damit das Ergebnis so aussieht wie natürlich gewachsen. Mit unterschiedlichen Farbnuancen, unterschiedlichen Längen. Dann wird Haar für Haar mit einer Art Häkelnadel auf ein feines Netz geknüpft, das genau der Kopfform angepasst ist. 80 Arbeitsstunden dauert es, bis so ein Kunstwerk fertig ist. Im September begrüßt Julina ihr neues Ich im Spiegel. Haare, länger und leuchtender denn je. „Ich wollte bewusst nicht genau so aussehen wie vorher.“ Wie ein Memo an sich selbst: Dieses Erlebnis ist nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Aber ich lasse mich davon nicht unterkriegen.

Sie besitzt noch eine Alltagsperücke, nicht ganz so kunstvoll gemacht und kürzer. Es ist ein weiterer Schritt zurück ins Leben, wenn man von einem Tag auf den anderen anders aussieht, und Mitstudenten verwundert nachhaken: Hast du Extensions? Warst du beim Friseur? Wer fragt, bekommt eine Antwort. Manchmal sieht Julina ihre tägliche Kopfbedeckung ganz pragmatisch: „Ich muss nur noch alle sechs Wochen Haare waschen. Und ich kann ohne Spiegel kontrollieren, ob hinten auch alles sitzt.“

Was sie nervös macht: Wenn Bekannte sie umarmen, dabei versehentlich an den langen Strähnen ziehen und das Netz ins Rutschen kommt. Wenn sich auf der Tanzfläche in der Disco jemand darin verfängt. Die kommende Studienfahrt, vor der sie ihren Mitstudentinnen erklären muss: Nicht erschrecken, wenn ich zum Schlafen die Haare ablege. Was ihr keine Angst macht: die Vorstellung, ihr Freund könnte sie nicht mehr schön finden. Am Anfang hat er kämpfen müssen, gegen die Bilder in seinem Kopf, vom Unfalltag. Das ist vorbei. Wenn sie mit ihm allein zu Hause ist, lässt sie die Perücke weg. Liebe heißt, sich nackt zu zeigen. Nicht nur von der Schokoladenseite.

Gerda Dübbers hat fast sieben Jahrzehnte lang die Frisur getragen, von der sie 1946 geträumt hat. Halblang und Dauerwelle. Erst vor ein paar Jahren hat sie diese gegen einen Kurzhaarschnitt getauscht. Sie kann ihre Arme nur noch unter Schmerzen heben, da fällt das Frisieren schwer. Auch Altwerden ist ein Schicksal, mit dem man fertig werden muss. „Ich bin jetzt 88, ich hab nicht mehr lang“, sagt sie trocken. Und grinst sofort spitzbübisch. „Aber meine Haare, die werden noch spazieren getragen, wenn ich nicht mehr bin. Wer kann das schon von sich sagen?“

„Mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Können bereits Kitas für Chancengerechtigkeit sorgen – in Zeiten, in denen es immer stärker vom Elternhaus abhängt, welche Bildungskarriere Kinder einschlagen? Dieser Frage bin ich im Januar 2019 für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ nachgegangen, am Beispiel meiner Heimatstadt Hamburg.

Was wir uns angeschaut haben: Hamburg ist eine vielfach gespaltene Stadt. Im wohlhabenden Nienstedten liegt das Durchschnittseinkommen bei 120.000 Euro im Jahr, den Bewohnern der Elbinsel Veddel stehen nur 16.000 Euro zur Verfügung. Fast jedes zweite Kind in Hamburg hat einen Migrationshintergrund, dazu kamen seit 2015 50.000 Geflüchtete. Die Forschung weiß: Ob soziale Durchlässigkeit gelingt, dafür werden entscheidende Weichen schon in Kita und Vorschule gestellt. Klappt das hier?

Das sagt der Experte:

„Manche Kinder haben mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Martin Peters ist Fachreferent für Frühe Bildung, Betreuung und Erziehung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, der 350 Kitas vertritt

Kitas legen Grundlagen für spätere Schulabschlüsse und damit für Lebenschancen. Unterstützt die Stadt Einrichtungen, die besonders viel Aufholarbeit leisten müssen?

Seit 2013 gibt es das „Plus-Programm“, durch das Kitas in sozial belasteten Vierteln ein zusätzliches Budget für Mitarbeiter bekommen. Das ist ein guter Schritt. Andere Ungerechtigkeiten können Sie mit Geld allein nicht ausgleichen.

Und zwar?

Wir haben Kitas, in denen 90 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache haben als deutsch. Deutschsprachige Eltern meiden diese häufig, so bleiben diese Gruppen um so mehr unter sich. Aber Wortschatz und Grammatik sind das A und O für spätere Bildung – sonst haben Kinder mit der Schultüte in der Hand schon verloren. Seit einiger Zeit versucht die Stadt, mit einem neuen Sprachförderprogramm gegenzusteuern. Das zeigt auch messbare Erfolge.

Es gibt auch andere Gründe, warum Eltern ihre Kinder weniger gut unterstützen können – Gesundheitsprobleme, Geldsorgen…

Das Platzvergabesystem belohnt Erwerbstätigkeit. Mehr als fünf Kita-Stunden pro Tag bekommen nur Familien, in denen beide Eltern arbeiten. Dabei bräuchten häufig gerade die Kinder aus Familien, in denen einer oder beide Eltern erwerbslos sind, mehr Förderung. Und dann gibt es noch Communities, die erreichen wir mit dem Kita-Angebot einfach nicht, die melden ihre Kinder nicht an.

Welche sind das?

Vor allem Familien mit afrikanischem und arabischem Hintergrund. Dort wird häufig die individuelle Bildung weniger wichtig genommen, ein Kind soll sich eher für die Gemeinschaft nützlich machen. Ab kommendem Jahr wollen wir gemeinsam mit der Sozialbehörde Tagesmütter ausbilden, die selbst aus diesen Kreisen stammen und zwischen den Kulturen vermitteln. Möglicherweise wird das besser angenommen.

Betrifft das vor allem Geflüchtete?

Nein, da hat die Stadt vieles richtig gemacht! Anders als andere hat sie nicht in den Sammelunterkünften für Betreuung gesorgt, sondern die Kinder zügig auf die Einrichtungen der jeweiligen Umgebung verteilt. Da funktioniert Integration.

Das sagt die Erzieherin:

„Bindung ist das Problem, nicht nur Bildung“

Bei Claudia Brillinger wäre man gerne Kind. Eine herzliche blonde Frau in Jeans und Blümchen-Sneakers, die wirkt, als könnte sie einiges schultern. Seit 22 Jahren arbeitet sie in einer Kita im Bezirk Bergedorf-Neuallermöhe. Der Flachbau liegt zwischen Genossenschafts-Hochhäusern und bescheidenen zweistöckigen Klinkerbauten, in einem Viertel, das wie ein Brennglas die Widersprüche der Hansestadt bündelt. Weder Ghetto noch Wohlstands-Oase, sondern eine Mischung aus Ethnien, Gehaltsklassen, Lebensstilen. Die Namen an den niedrig hängenden Garderobenhaken verraten: Hier toben, essen, basteln und malen Cheyenne und Emil, Murat und Jewegenija*. 170 Kinder vom Baby bis zum Sechsjährigen, vom Arztsohn bis zur Tochter einer Teenager-Mutter aus einem Hartz-IV-Haushalt. Wie reagiert man als Erzieherin auf so unterschiedliche Startbedingungen?

Grundsätzlich findet Claudia Brillinger: Nicht mangelnde Bildung ist das Hauptproblem, eher mangelnde Bindung. Quer durch alle Milieus. „Viele Eltern sind heute stark verunsichert, was ihre eigene Rolle angeht – und das überträgt sich auf die Kinder.“ Die Folge: Mädchen und Jungen, denen das nötige Grundvertrauen ins Leben fehlt. Die so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie gar nicht in der Lage sind, neugierige Fragen zu stellen oder sich die Zahlen bis zehn zu merken. Auch Sprache, die Grundlage allen Lernens, ist nicht nur in bildungsfernen Zuwandererfamilien ein Handicap, findet Brillinger: „Mütter und Väter reden einfach zu wenig mit ihren Kindern.“ Als Notwehrmaßnahme haben die Kita-Erzieher jetzt ein Handy-Verbotsschild über dem Eingang aufgehängt: „Mama, sprich mit mir, nicht mit deinem Telefon.“

Man muss sich Claudia Brillingers Beruf vorstellen wie den eines Kapitäns, dem ständig von einer anderen Seite der Wind ins Gesicht weht. Hier leistungshungrige Eltern, denen es nicht früh genug losgehen kann mit Schreiben, Rechnen und Leistungssport – auf der anderen die, in deren Haushalt der Angebots-Zettel vom Discounter der einzige Lesestoff ist. Dabei kann die Kita durchaus Zusatznahrung bieten. Nicht nur, wenn Kinder beim Frühstück Gurken und Sellerie knabbern, die sonst eher Fast Food kennen. Auch wenn die eloquenteren ihren Spielkameraden helfen, einen Streit mit Worten zu schlichten. Oder wenn Eltern zur Abendgruppe zusammenkommen und sich mit Brillinger und ihren Kollegen über Erziehungsfragen austauschen. „Das ist eine Frage des Vertrauens. Weil sie sich nicht verurteilt fühlen, sondern angenommen.“ Oft leistet sie auch Alltagshilfe: etwa, wenn sie mit Müttern oder Vätern den Antrag für das „Bildungs- und Teilhabepaket“ ausfüllen, das sozial Schwächeren kostenlosen Eintritt für Kindertheater, Schwimmbad oder Sportverein ermöglicht – jedes dritte Kind in ihrer Kita profitiert davon.

Manchmal sieht Brillinger erst viele Jahre später, ob die Mühe sich gelohnt hat. Wie bei dem jungen Mann aus schwierigen Verhältnissen, den sie als Kind begleitet hat und der jetzt mit beiden Beinen im Leben steht: Ausbildung zum Mechatroniker, Weiterbildung zum Autolackierer. „Er sagte mir: Als ich klein war, habt ihr mir Struktur gegeben, habt mir beigebracht, was falsch und richtig ist. Davon zehre ich immer noch.“ Erfolgserlebnisse, die vieles aufwiegen. Aber nicht alles. Denn die tägliche Arbeit ist nicht nur psychisch und geistig, sondern auch körperlich belastend. Der Lärmpegel, das Heben, Tragen und Bücken. Zwar sind Erzieher in der teuren Stadt per Tarifvertrag höher eingruppiert als in anderen Bundesländern, aber das reicht nicht, findet Brillinger: „Die Zeiten für Vor- und Nachbereitung, die Elternarbeit, Feedbackgespräche mit Praktikanten – die zahlt uns keiner!“ Deshalb engagiert sie sich in der Volksinitiative „Kita-Netzwerk Hamburg“, die seit Monaten mit dem Senat über bessere Rahmenbedingungen verhandelt. „Ich liebe meinen Job, weil er Sinn ergibt“, sagt Claudia Brillinger. „Weil ich jedem Kind vermitteln kann: Es ist schön, dass du da bist.“ Aber so wie der Arbeitsalltag heute aussieht, fürchtet sie, könnten in Zukunft noch weniger Schulabgänger dafür zu begeistern sein. Ausbaden müssten das Cheyenne und Emil, Murat und Jewgenija. Und eines steht fest: Es träfe sie unterschiedlich hart.

*Namen der Kinder geändert

Das sagt die Politik:

„Bildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen“

Uwe Lohmann, familienpolitischer Sprecher der Regierungspartei SPD:

„Seit 2014 ist das Kita-Basisangebot – fünf Stunden Betreuung plus Mittagessen – für alle Hamburger Eltern gratis. Freie Bildung für alle Schichten, von der Kita bis zur Uni, gehört zu den Grundsätzen sozialdemokratischer Politik. In einer wachsenden Stadt mit jährlich 15000 bis 30000 Neubürgern haben wir in den letzten Jahren massiv den Krippen- und Kita-Ausbau voran getrieben, jetzt steuern wir nach bei der Qualität: Bis 2020 wollen wir 2700 zusätzliche Fachkräfte gewinnen, davon allein 2100 im Krippenbereich. Das bedeutet auch Nachwuchsförderung: Unbezahlte Praktika wird es nicht mehr geben, und mittelfristig sollen Erzieher ein Ausbildungsgehalt bekommen. Kitas können aber soziale Härten nicht alleine auffangen. Dazu braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen, etwa der Jugendhilfe.“

„Chancengerechtigkeit heißt nicht Abi für alle“

Philipp Heißner, familienpolitischer Sprecher der CDU

„Die Abschaffung der Kita-Gebühr war ein reines Wahlkampfgeschenk des ehemaligen ersten Bürgermeisters Olaf Scholz. Die falsche Entscheidung in einer Zeit, in der Experten wie die Bertelsmann-Stiftung Hamburg massiven Nachholbedarf beim Krippenpersonal nachweisen, also ausgerechnet bei den Jüngsten. Es wäre sinnvoller gewesen, die Gebühren schrittweise zurückzunehmen, und auch später. Dazu kommt: Die Qualität der Kitas wird nicht von staatlicher Seite überprüft, obwohl es dazu eine gesetzliche Grundlage gibt. In eher gutbürgerlichen Stadtteilen organisieren sich Eltern und protestieren, wenn es nicht rund läuft, in sozial schwächeren Quartieren wird das eher so hingenommen. Das ist doppelt ungerecht. Soziale Durchlässigkeit heißt aber nicht, dass jedes Kita-Kind später Abitur machen muss: Wir brauchen Menschen mit allen Bildungsabschlüssen, nicht nur Akademiker!“

Das sagt die Mutter:

„Ich hatte Angst um meine Töchter“

Nach der Kita-Zeit hören die Schwierigkeiten nicht auf – die Spaltung nimmt eher noch zu. Sabine Dreher* lebt in einer Gegend, in der soziale Gegensätze besonders sichtbar sind: Auf der einen Seite ihrer Neubauwohnung liegt das grün-bürgerliche Ottensen, auf der anderen Seite St. Pauli mit seinem hohen Anteil an Transferleistungs-Empfängern und Migranten. Dort befindet sich auch die zuständige Grundschule. Ihre sechsjährigen Zwillingstöchter hat sie aber auf einer Privatschule angemeldet, zahlt Schulgeld und nimmt einen weiteren Weg in Kauf. Warum?

„Ich kenne niemanden in unserer Nachbarschaft, der sein Kind in St. Pauli eingeschult hätte. Da alle Kinder mit viereinhalb Jahren an der zuständigen Grundschule vorgestellt werden müssen, haben auch wir sie uns angesehen, wussten aber gleich, dass sie nicht in Frage kommt – schon den Umgangston empfanden wir als rau und lieblos. Manche Familien ziehen weg, wenn ihre Kinder ins Schulalter kommen, viele melden ihre Kinder an der Grundschule in Ottensen an. Dafür gibt es aber keine Garantie, weil Plätze nach Zuständigkeit vergeben werden. Manche denken deshalb darüber nach, zum Schein den Wohnsitz zu wechseln.

Weil ich selbst im sozialen Bereich arbeite, kenne ich viele schwierige Familienverhältnisse, und ich habe großes Mitgefühl mit den Kindern, die so aufwachsen. Ich verstehe auch, dass manche davon profitieren würden, wenn die Klassen gemischter wären. Und vielleicht bin ich auch Opfer meiner Vorurteile. Aber wenn ich meine Kinder anschaue, denke ich:  Die beiden sind noch so klein – ich möchte nicht, dass sie dort untergehen. Oder jeden zweiten Tag mit einen blauen Auge heimkommen. Die harte Lebenswirklichkeit lernen sie noch früh genug kennen.“

Und was heißt das jetzt? Wenn Kitas Chancengerechtigkeit fördern sollen, braucht es zwei Bausteine. Der eine ist simpel: Geld und nachhaltige Planung. Mehr Erzieherstellen, attraktivere Bedingungen für Berufseinsteiger, Fortbildungen, angemessene Vergütung auch für Aufgaben jenseits des Normalbetriebs – etwa für die Arbeit an pädagogischen Konzepten. Der zweite Baustein kostet nichts, ist aber komplexer: Einfühlungsvermögen und Kommunikationstalent. Damit Förderung für alle greift, müsste man auch alle Eltern mit ins Boot holen. Solche, die selbst Unterstützung und Beratung brauchen. Und auch solche, die sich aus Sorge um ihre Kinder dem staatlichen Bildungssystem entziehen – und dadurch soziale Gräben noch vertiefen.

Facts and Figures:

  • Für das laufende Haushaltsjahr sind in Hamburg 822 Millionen für Kitas eingeplant, damit haben sich die Ausgaben gegenüber 2010 mehr als verdoppelt. Die Milliardengrenze wird voraussichtlich 2020 erreicht.
  • In Hamburg werden vergleichsweise viele Kinder in einer Kita betreut: 44,7 Prozent der unter Dreijährigen, fast 100 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen
  • Besonderen Nachholbedarf für Hamburg sieht die Bertelsmann-Stiftung bei der Betreuung der unter Dreijährigen: Auf eine Erzieherin kommen im Schnitt 5,2 Kinder, empfohlen wird ein Schlüssel von 1 :4. Bei den Drei- bis Sechsjährigen liegt er mit 1 : 8,4 Kindern im bundesdeutschen Durchschnitt, empfehlenswert wäre ein Verhältnis von 1 : 7,5.
  • Laut Bertelsmann-Stiftung wären rund 3850 neue Erzieherstellen notwendig, um in Hamburg gute pädagogische Arbeit zu leisten – also deutlich mehr als die angekündigten 2700.
  • Laut dem „Gute-Kita-Gesetz“ der Bundesregierung werden bis 2020 5,5 Milliarden Bundesgelder für Kita-Ausbau und Qualitätsverbesserung bereit gestellt. Wie sie die Mittel einsetzen, entscheiden die Länder selbst.
  • Erzieher und Erzieherinnen sind eine Hochrisikogruppe für Burnout und andere durch Stress verursachte Erkrankungen, so eine Studie der katholischen Hochschule Aachen. Hauptgrund: der Personalmangel in den Einrichtungen.
  • „Eine gute Kita mit mehr Erziehern würde ich mir auch etwas kosten lassen“ – diesen Satz unterschreiben laut einer Bertelsmann-Studie mehr als die Hälfte aller Eltern. Das gilt sogar für Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben.