Internationale Erhebungen kommen zu einem ähnlichen, irritierenden Ergebnis: Jüngere Menschen haben heute deutlich weniger Sex als vor einigen Jahrzehnten. Für das April-Heft (2021) der BRIGITTE WOMAN habe ich nachgefragt: Woran liegt das? Hier der etwas längere Ursprungstext, im Heft ist der leicht gekürzt.
Neulich, kurz vor meinem einundfünfzigsten Geburtstag, las ich ein paar Zahlen, die mich alt aussehen ließen. Es war weder mein BMI im Fünfjahresvergleich noch die zunehmende Länge der täglichen Joggingstrecken, die coronamüde Mitmenschen auf Social Media teilen. Sondern die aktuelle Statistik der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BzgA), die besagt: Für Jugendliche ist Sex deutlich weniger attraktiv als zu Dr. Sommers Glanzzeiten. Noch vor zehn Jahren hatte jedes fünfte Mädchen bis zum 15. Geburtstag bereits sein „erstes Mal“ hinter sich, 2019 nur jedes zehnte. Und auch die Älteren warten lieber ab. Top-Gründe: „Ich habe den Richtigen noch nicht gefunden“ und „Ich fühle mich zu jung.“ Noch erstaunlicher fand ich eine drei Jahre alte Erhebung der Uni Leipzig. Danach ist vor allem die Gruppe lendenlahm, von der man es am wenigsten erwarten würde: die 18- bis 30jährigen Singles. Fast jeder und jede Dritte von ihnen gibt an, in den zwölf Monaten vor der Befragung nicht einen einzigen intimen Kontakt gehabt zu haben – 2005 waren dies nur zehn Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen. Der Sex des 21. Jahrhunderts: gar kein Sex.
Das zeigt: Es braucht keine staatlichen Kontaktbeschränkungen, um bei Millenials und ihren älteren Geschwistern die unbeschwerte Neugier aufeinander zu drosseln. Die sind auch sonst anders drauf als meine eigene Alterskohorte in dieser Lebensphase war. Und ich weiß nicht, wie ich das finden soll: erwachsen und verantwortungsbewusst – oder vor allem bedauerlich? Auch wenn ich mir meine eigenen Zwanziger nicht zurückwünsche, mit all ihren Unsicherheiten, überzogenen Konten und ungeputzten WG-Klos, eines waren sie für meine Freundinnen und mich ganz sicher: eine Love Parade in wechselnder Besetzung. Wochenenden, an denen man seinen Zweier-Futon nur verließ, um tanzen zu gehen oder Zigaretten zu kaufen. Mal war’s nur für eine Nacht, mal folgten drei bis zwölf Monate wahre Liebe. Woher dieser grundlegende Wandel? Oder, wie meine Großmutter formuliert hätte: Was ist nur mit den jungen Leuten los?
Ich weiß, bei solchen Vergleichen lacht das Labor. Fallzahl n = 1, eine einzelne Biographie aus den Neunzigern taugt nicht für empirische Erhebungen. Vergleicht man aber weitere aktuelle Statistiken, bestätigt sich: die Jugend der westlichen Welt hat einen Durchhänger. Auch schon vor 2020, als weltweit außer Herstellern von Sextoys und Videokonferenzanbietern kaum jemand Grund zum Feiern hatte. Von einer „Sex-Rezession“ schreibt das US-Magazin „The Atlantic“, Dänen und Skandinavier klagen über Frust im Bett, Niederländer, US-Amerikaner und Deutsche machen ihre ersten Erfahrungen später, auch Großbritannien probt den Sexit. Am schnellsten schreitet die erotische Versteppung in Japan voran. 2005 war ein Drittel der 20-somethings komplett unberührt, 2015 schon fast jeder zweite.
Why, Generation Y? Zelebrieren Millennials vor dem Aufstehen lieber ein Power-Morning-Ritual, statt vor dem Zähneputzen übereinander herzufallen? Haben sie zu viel Angst vor Kontrollverlust in ihrem durchgecoachten, durchgetakteten Leben? Schlagen Twenty-Something-Männer im Zeitalter von MeToo eingeschüchtert die Augen nieder, weil sie fürchten, schon ein falscher Blick könnte im Shitstorm enden? Oder sind das nur die kulturpessimistischen Mutmaßungen einer alten, weißen Frau?
Eine, die es wissen könnte, heißt Theresa Lachner. Die 34jährige ist systemische Sexualberaterin, und dazu so etwas wie die Erica Jong der Gegenwart: Kaum eine schreibt so klug über den Zusammenhang von Sex und Gesellschaft, Seele und Frausein, per Podcast, Blog und in Buchform. „Klar ist auch Corona ein Game Changer“, sagt sie. „Es zwingt Menschen zu einer neuen Ernsthaftigkeit, schon früh stellt sich die Frage: Was sind wir – ein oder zwei Haushalte? Das macht wählerischer, es entschleunigt auch. Man geht lieber einmal mehr spazieren, ehe man Körperflüssigkeiten austauscht.“ Das Gegenteil von „Gamification“ im Stil von: Erst per App eine Pizza bestellen, dann per Tinder den Pizzapartner für eine Nacht dazu. Voll 2019.
Aber auch ehe Covid19 unser Alltagsleben auf Links gedreht hat, wurden die Weichen für das Liebesleben auf viele Weise neu gestellt. Stichwort: Porno und Körperbild. Vom „Selfie-Blick beim Sex“ spricht der Kölner Forscher und Psychologe Stephan Grünewald. Frauen fragen sich häufiger, was im Bett gut aussieht als was sich gut anfühlt, Männern kommen nicht nur unrealistische Sehgewohnheiten aus Hechel-Clips in die Quere, sie leiden selbst unter Attraktivitätsdruck. Das weiß auch Lachner aus erster Hand: „Fitness und Muskelaufbau sind ein Riesenthema, ‚Lauch’ das schlimmste denkbare Schimpfwort.“ Dazu passt eine Studie des Deutschen Sportlehrerverbandes, die besagt: keine Teenagergeneration zuvor war so schamhaft. Nackt vor anderen duschen? Krasse Vorstellung, für Boys wie Girls. Body Positivity? Vielleicht werden die Breithüftigen und Kurzbeinigen, die Schmalbrüstigen und Untrainierten auf Instagram gefeiert, deshalb aber noch lange nicht im Real Life begehrt. Hohe Ansprüche sowohl an sich selbst wie an mögliche Liebespartner. Und es macht die Sache nicht besser, wenn sich seit Monaten zusätzlich die Erkenntnis in den Köpfen breitmacht: Jeder Körper, ob schön oder nicht, kann eine fiese Virenschleuder sein. Und Sex ist irgendwie bäh.
Aber die wirkliche Überraschung in unserem Gespräch ist: Trotz all dieser Tristesse zieht Theresa Lachner ein optimistisches Fazit. Sie ist überzeugt: Kein Sex – oder weniger Sex – ist nicht nur ein Teil eines Problems, sondern auch Teil der Lösung. Gerade, wenn wir uns hoffentlich bald wieder freier bewegen können. „Die Geschlechterdebatte hat junge Frauen selbstbewusster gemacht. Wenn sie seltener mit Männern schlafen, heißt das auch: Sie versäumen nur selten eine großartige Nacht – aber dafür jede Menge schlechte.“ Eine coole Gourmet-Haltung: sich lieber aus dem Büffet der Möglichkeiten das herauspicken, was wirklich schmeckt, als fade Kost zu akzeptieren. Moderne Sexgöttinnen fordern nicht nur mehr Einfühlsamkeit und Respekt während des Aktes, auch drum herum. Etwa bei der Verhütung: Allein in den letzten sechs Jahren ist die Nutzung der Pille bei jungen Mädchen von 45 auf 30 Prozent zurückgegangen, so die BzgA. Lieber eine Nacht ohne Sex als 365 Tage pro Jahr künstliche Hormone.
Diese Haltung kann zu längeren Single-Phasen führen, aber diese streifen auch ihr Loser-Image ab. 20 Jahre nach „Sex and the City“ gilt Mr. Big nicht mehr als einzig möglicher Hauptgewinn. Die Schauspielerin Emma Watson bezeichnete sich 2019 in einem Interview als „self-partnered“ – mehr Ich-bin-mir-selbst-genug geht nicht. Und wenn sich dann noch der Sextoyhersteller „Wow Tech“ auf die Fahnen schreibt, den „Gender Masturbation Gap“ zu schließen, könnte man angesichts der Statistiken noch auf eine andere Idee kommen. Nämlich: Ein Viertel der jungen Single-Frauen hat durchaus erfüllenden Sex, aber mit sich selbst. Für alle anderen Körper als den eigenen gilt: Sorry, we’re closed. Wenigstens vorübergehend. Die Verkaufszahlen von Hightech-Vibratoren sprechen dafür.
Ist die sinkende Sexfrequenz also auch ein Zeichen von Empowerment? Kombiniert mit hohen Erwartungen: Wenn ich mich schon ernsthaft auf jemanden einlasse, muss es auch rundum perfekt sein, körperlich, seelisch, geistig? Und was ist mit den Männern – müssten die uns eigentlich Leid tun, weil die Regeln für Begegnungen ständig umgeschrieben werden und immer neu verhandelt? „Natürlich ist das ständige Diskutieren anstrengend“, weiß Lachner, „anstrengender jedenfalls, als sich allein in seine Pornowelt zurück zu ziehen.“ Männlicher Sexstreik als Preis dafür, dass zwischen den Geschlechtern etwas ins Rutschen gekommen ist.
Das unterschreibt auch Anja Henningsen, Professorin für Soziale Arbeit und Gesundheit an der FH Kiel. „Sexualität wird demokratischer, weiblicher. Im besten Fall zum Verhandlungsgegenstand, im schlechteren zur Kampfzone der Geschlechter. Wo es kein nonverbales Skript mehr gibt, kein inneres Drehbuch, wie eine Begegnung abzulaufen hat, hilft nur Kommunikation.“ Ob sich Befriedigung und Begehren tatsächlich in Beischlafzahlen ausdrückt, daran zweifelt sie: „Die Lust ist ja nicht weniger geworden. Sie sucht sich nur zunehmend andere Kanäle.“ Auch wenn die Effizienz dabei auf mich ein wenig erschreckend wirkt: Orgasmus als Wellness, lieber zehn Minuten mit dem Hightech-Vibrator (sie) oder bei Pornhub (er) als ein Wochenende im Lotterbett.
Henningsen kritisiert aber auch den Begriff von Sex und Partnerschaft, der manchen Studien zugrunde liegt. Und das in Zeiten, in denen so viel Raum entsteht jenseits des Mainstreams. Meine Schulfreundin, die auf dem 30jährigen Abitreffen erzählte, dass sie ihre Hetero-Ehe beendet hat und jetzt eine Frau liebt, passt nicht so leicht in klar definierte Schubladen. Oder Fetisch-Liebhaber, die auf Partys lässig einen Satz wie „penetrative Sexualität ist nicht so mein Ding“ raushauen.
Insgesamt ist die Geschichte also doch nicht so trostlos wie befürchtet. Und als Mutter einer Teenagertochter finde ich das beruhigend – sie und ihre Freundinnen haben das ja alles noch vor sich. Selbst wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass all diese Verhandlungsrunden Platz lassen für Hingabe, Überwältigung, Ekstase. Ein Problem, das auch Henningsen sieht: „Erfüllende sexuelle Erfahrungen haben auch mit Grenzüberschreitung zu tun.“ Nicht immer verträgt sich das mit Selbstermächtigung. Wie wohl alles weitergeht, im Jahr zwei nach Corona und danach? Theresa Lachner sieht zwei Szenarien: „Kann schon sein, dass wir uns auf ein neues Biedermeier zubewegen, in dem Genuss ohne feste Bindung verpönt ist. Genau so gut ist es möglich, dass der Hedonismus, die Lust sich neue Ventile suchen: etwa auf Sexpartys, auf denen nur reinkommt, wer einen negativen PCR-Schnelltest vorweisen kann. Vielleicht passiert auch beides parallel.“
Die eingangs zitierte Studie aus Leipzig brachte übrigens noch ein zweites, nicht minder überraschendes Ergebnis. Die Babyboomer haben deutlich mehr Sex als die Kriegskindergeneration. 1994 ging nur ein Drittel der gebundenen Frauen zwischen 60 und 70 noch regelmäßig mit dem Partner ins Bett, heute sind es 42 Prozent dieser Altersgruppe. Bei den Singles ist es jede zehnte Frau, vor 25 Jahren war es nur jede zwanzigste. Und laut der Befragung einer Dating-App sind vier von fünf Ü-50-Singles spielerisch im digitalen Raum unterwegs. Auch das sagt noch nichts darüber aus, wie glücklich und befriedigt sie sind, und ob die Suche erfolgreich ist. Aber ich finde, die nackten Zahlen machen Lust – vor allem aufs Älterwerden.