Waschen und geben

1946 will eine 16jährige Rheinländerin ihre langen Zöpfe loswerden. 72 Jahre später verliert eine Studentin aus Norddeutschland bei einem Unfall Haare und Kopfhaut. In einer Hamburger Werkstatt werden beide Frauenschicksale miteinander verknüpft – Reportage aus BARBARA, April 2019

Köln, im ersten Jahr nach Kriegsende. Gerda Dübbers ist 16 Jahre alt und aufgeregt. Heute ist der Tag, an dem sie erwachsen werden will. Am Morgen fährt sie mit dem Zug aus ihrem Eifeldorf in die Stadt, von der kaum noch etwas steht außer dem Dom. Sie trägt ein Säckchen Briketts und ein Handtuch bei sich, so hat es der Friseur verlangt. Denn Heizmaterial ist 1946 genau so knapp wie Frottierstoff. Die Mutter hat ihr Geld zugesteckt, nach vielen Diskussionen: Lange Haare kosten nichts, halblang mit Dauerwelle schon! Aber jetzt ist Schluss mit Affenschaukeln und Schnecken. Ab heute ist Gerda kein kleines Mädchen mehr, sondern eine Dame. Auf der Rückfahrt, den ungewohnten Luftzug im Nacken, wird sie etwas anderes bei sich tragen: siebzig Zentimeter lange, rötlichblonde Zöpfe, zusammengelegt in einer kleinen Tüte.

Flensburg, im Mai 2018. Julina Engert ist 20 Jahre alt und hat keinen Grund, aufgeregt zu sein. Dazu macht sie ihren Job schon zu lang und zu routiniert: den Eissalon aufschließen, Waffeln über die Theke reichen, kassieren. Sie und ihr Freund sind ein eingespieltes Team, auch beim Arbeiten. Noch ein bisschen Geld verdienen, bis im Herbst das erste Semester an der Uni beginnt. Ihre langen dunkelblonden Haare trägt sie im Pferdeschwanz. Praktisch, hygienisch, und hilft auch gegen Bad Hair Days.

Aber an diesem Morgen passiert etwas, das niemals hätte passieren dürfen: Als Julina eine eingeschaltete Eismaschine reinigt, beugt sie sich zu weit in den Kessel hinein. Schon verfängt sich der Zopf in der rotierenden Metallspirale im Inneren, erst nur ein Büschel, dann immer mehr. Sie versucht sich zu befreien, sie schreit, ein fürchterlicher Schmerz, es geht sekundenschnell. Ihr Freund stürzt herbei, will sie losschneiden, erst mit einer Schere, dann mit einem Messer, aber da ist es schon passiert. Mit ungeheurer Kraft reißt die Maschine das Haar mitsamt Kopfhaut los. Am Abend, nach einer zwölfstündigen Operation, wird sie aus Ohnmacht und Narkose erwachen und erst Wochen danach das Krankenhaus verlassen, nach vielen weiteren Eingriffen und einer Hauttransplantation. Die Ärzte haben alles gegeben. Aber auf mehr als der Hälfte ihrer Kopfoberfläche wird nie wieder etwas wachsen.

Zwei Frauen, beide jung, beide lebenslustig, und zwei Geschichten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Um sie miteinander zu verflechten wie die Stränge eines Zopfes, über Kilometer und Jahre hinweg, braucht es noch eine dritte. Diese handelt von den Hamburger Maskenbildnerinnen Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi, beide 49, die vor einigen Jahren beschlossen: Haarteile für Musicaldarsteller und Filmschauspielerinnen herstellen, okay, aber das kann noch nicht alles im Leben gewesen sein. So gründeten die beiden eine Werkstatt für Echthaar-Perücken mit dem strahlenden Namen „Königinnen“. Jetzt arbeiten sie für Menschen, die nicht in eine Rolle schlüpfen wollen. Sondern am liebsten sie selbst bleiben möchten. Krebspatientinnen, Frauen mit Haarausfall, Unfallopfer. Haare kosten nichts? Nicht, wenn man sie hat. Verliert man sie, kosten sie einen viel: Würde, Selbstbewusstsein, Zuversicht.

„Ich las in einer Illustrierten davon und dachte: Jetzt weißt du endlich, warum du all die Jahre die Zöpfe mit dir herumgeschleppt hast!“, erinnert sich Gerda Dübbers. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, Frühlingssonne scheint durch das Fenster, und erinnert sich. Wie sie das Tütchen immer wieder in Umzugskisten ein- und ausgepackt hat, nach ihrer Hochzeit, als sie mit ihrer eigenen Familie in ein größeres Haus zog, beim Wechsel in eine Etagenwohnung. Mit dem unbestimmten Gefühl: Eines Tages wird das für etwas gut sein. „Es macht mich so froh, dass ich helfen konnte!“

Für Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi sind alte Zöpfe in der Post ein Geschenk. Denn Haar lässt sich fast endlos aufbewahren und verarbeiten, wenn es gesund ist, naturbelassen und nicht von Motten oder Feuchtigkeit angegriffen wird. Das meiste in ihrem Lager hat einen unspektakulären Hintergrund – Langhaarträgerin mit Lust auf Typveränderung – , aber es stecken auch Geschichten dahinter, die unter die Haut gehen. Kleine Mädchen, die ihre Haare opfern, weil die Lieblingstante Krebs hat. Oder ein Zopf mit einem sauber beschrifteten Zettel, datiert auf Sommer 45. Von einer Berlinerin, die fürchtete, von Soldaten der anrückenden Roten Armee vergewaltigt zu werden. Viele versuchten, sich und ihre Töchter zu schützen, in dem sie sich kahl schoren. Haare sind Lockstoff, Weiblichkeit, Ausstrahlung – das ist in manchen Zeiten Fluch statt Segen.

Julina Engert betritt im Sommer 2018 zum ersten Mal den freundlichen Souterrain-Laden in Hamburg-Eimsbüttel. Als norddeutsches Pferdemädchen weiß sie, was man tut, wenn es einen aus dem Sattel schleudert: aufstehen und wieder aufsitzen. Sogar im Eisladen hat sie schon wieder gearbeitet, um die schlimmen Erinnerungen nicht so stehen zu lassen. Aber sie ist es Leid, mit Kopftuch vor die Tür zu gehen und fragend angeschaut zu werden. Lieber wäre sie wieder eine von vielen, auf der Straße, beim Ausgehen. Als sie die Kölner Zöpfe in der Hand hält, weiß sie: die oder keine.

Jetzt beginnt der handwerkliche Teil. Ansätze entschuppen, waschen, schließlich noch ein paar Strähnchen aus anderen Beständen dazu nehmen, damit das Ergebnis so aussieht wie natürlich gewachsen. Mit unterschiedlichen Farbnuancen, unterschiedlichen Längen. Dann wird Haar für Haar mit einer Art Häkelnadel auf ein feines Netz geknüpft, das genau der Kopfform angepasst ist. 80 Arbeitsstunden dauert es, bis so ein Kunstwerk fertig ist. Im September begrüßt Julina ihr neues Ich im Spiegel. Haare, länger und leuchtender denn je. „Ich wollte bewusst nicht genau so aussehen wie vorher.“ Wie ein Memo an sich selbst: Dieses Erlebnis ist nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Aber ich lasse mich davon nicht unterkriegen.

Sie besitzt noch eine Alltagsperücke, nicht ganz so kunstvoll gemacht und kürzer. Es ist ein weiterer Schritt zurück ins Leben, wenn man von einem Tag auf den anderen anders aussieht, und Mitstudenten verwundert nachhaken: Hast du Extensions? Warst du beim Friseur? Wer fragt, bekommt eine Antwort. Manchmal sieht Julina ihre tägliche Kopfbedeckung ganz pragmatisch: „Ich muss nur noch alle sechs Wochen Haare waschen. Und ich kann ohne Spiegel kontrollieren, ob hinten auch alles sitzt.“

Was sie nervös macht: Wenn Bekannte sie umarmen, dabei versehentlich an den langen Strähnen ziehen und das Netz ins Rutschen kommt. Wenn sich auf der Tanzfläche in der Disco jemand darin verfängt. Die kommende Studienfahrt, vor der sie ihren Mitstudentinnen erklären muss: Nicht erschrecken, wenn ich zum Schlafen die Haare ablege. Was ihr keine Angst macht: die Vorstellung, ihr Freund könnte sie nicht mehr schön finden. Am Anfang hat er kämpfen müssen, gegen die Bilder in seinem Kopf, vom Unfalltag. Das ist vorbei. Wenn sie mit ihm allein zu Hause ist, lässt sie die Perücke weg. Liebe heißt, sich nackt zu zeigen. Nicht nur von der Schokoladenseite.

Gerda Dübbers hat fast sieben Jahrzehnte lang die Frisur getragen, von der sie 1946 geträumt hat. Halblang und Dauerwelle. Erst vor ein paar Jahren hat sie diese gegen einen Kurzhaarschnitt getauscht. Sie kann ihre Arme nur noch unter Schmerzen heben, da fällt das Frisieren schwer. Auch Altwerden ist ein Schicksal, mit dem man fertig werden muss. „Ich bin jetzt 88, ich hab nicht mehr lang“, sagt sie trocken. Und grinst sofort spitzbübisch. „Aber meine Haare, die werden noch spazieren getragen, wenn ich nicht mehr bin. Wer kann das schon von sich sagen?“

„Mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Können bereits Kitas für Chancengerechtigkeit sorgen – in Zeiten, in denen es immer stärker vom Elternhaus abhängt, welche Bildungskarriere Kinder einschlagen? Dieser Frage bin ich im Januar 2019 für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ nachgegangen, am Beispiel meiner Heimatstadt Hamburg.

Was wir uns angeschaut haben: Hamburg ist eine vielfach gespaltene Stadt. Im wohlhabenden Nienstedten liegt das Durchschnittseinkommen bei 120.000 Euro im Jahr, den Bewohnern der Elbinsel Veddel stehen nur 16.000 Euro zur Verfügung. Fast jedes zweite Kind in Hamburg hat einen Migrationshintergrund, dazu kamen seit 2015 50.000 Geflüchtete. Die Forschung weiß: Ob soziale Durchlässigkeit gelingt, dafür werden entscheidende Weichen schon in Kita und Vorschule gestellt. Klappt das hier?

Das sagt der Experte:

„Manche Kinder haben mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Martin Peters ist Fachreferent für Frühe Bildung, Betreuung und Erziehung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, der 350 Kitas vertritt

Kitas legen Grundlagen für spätere Schulabschlüsse und damit für Lebenschancen. Unterstützt die Stadt Einrichtungen, die besonders viel Aufholarbeit leisten müssen?

Seit 2013 gibt es das „Plus-Programm“, durch das Kitas in sozial belasteten Vierteln ein zusätzliches Budget für Mitarbeiter bekommen. Das ist ein guter Schritt. Andere Ungerechtigkeiten können Sie mit Geld allein nicht ausgleichen.

Und zwar?

Wir haben Kitas, in denen 90 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache haben als deutsch. Deutschsprachige Eltern meiden diese häufig, so bleiben diese Gruppen um so mehr unter sich. Aber Wortschatz und Grammatik sind das A und O für spätere Bildung – sonst haben Kinder mit der Schultüte in der Hand schon verloren. Seit einiger Zeit versucht die Stadt, mit einem neuen Sprachförderprogramm gegenzusteuern. Das zeigt auch messbare Erfolge.

Es gibt auch andere Gründe, warum Eltern ihre Kinder weniger gut unterstützen können – Gesundheitsprobleme, Geldsorgen…

Das Platzvergabesystem belohnt Erwerbstätigkeit. Mehr als fünf Kita-Stunden pro Tag bekommen nur Familien, in denen beide Eltern arbeiten. Dabei bräuchten häufig gerade die Kinder aus Familien, in denen einer oder beide Eltern erwerbslos sind, mehr Förderung. Und dann gibt es noch Communities, die erreichen wir mit dem Kita-Angebot einfach nicht, die melden ihre Kinder nicht an.

Welche sind das?

Vor allem Familien mit afrikanischem und arabischem Hintergrund. Dort wird häufig die individuelle Bildung weniger wichtig genommen, ein Kind soll sich eher für die Gemeinschaft nützlich machen. Ab kommendem Jahr wollen wir gemeinsam mit der Sozialbehörde Tagesmütter ausbilden, die selbst aus diesen Kreisen stammen und zwischen den Kulturen vermitteln. Möglicherweise wird das besser angenommen.

Betrifft das vor allem Geflüchtete?

Nein, da hat die Stadt vieles richtig gemacht! Anders als andere hat sie nicht in den Sammelunterkünften für Betreuung gesorgt, sondern die Kinder zügig auf die Einrichtungen der jeweiligen Umgebung verteilt. Da funktioniert Integration.

Das sagt die Erzieherin:

„Bindung ist das Problem, nicht nur Bildung“

Bei Claudia Brillinger wäre man gerne Kind. Eine herzliche blonde Frau in Jeans und Blümchen-Sneakers, die wirkt, als könnte sie einiges schultern. Seit 22 Jahren arbeitet sie in einer Kita im Bezirk Bergedorf-Neuallermöhe. Der Flachbau liegt zwischen Genossenschafts-Hochhäusern und bescheidenen zweistöckigen Klinkerbauten, in einem Viertel, das wie ein Brennglas die Widersprüche der Hansestadt bündelt. Weder Ghetto noch Wohlstands-Oase, sondern eine Mischung aus Ethnien, Gehaltsklassen, Lebensstilen. Die Namen an den niedrig hängenden Garderobenhaken verraten: Hier toben, essen, basteln und malen Cheyenne und Emil, Murat und Jewegenija*. 170 Kinder vom Baby bis zum Sechsjährigen, vom Arztsohn bis zur Tochter einer Teenager-Mutter aus einem Hartz-IV-Haushalt. Wie reagiert man als Erzieherin auf so unterschiedliche Startbedingungen?

Grundsätzlich findet Claudia Brillinger: Nicht mangelnde Bildung ist das Hauptproblem, eher mangelnde Bindung. Quer durch alle Milieus. „Viele Eltern sind heute stark verunsichert, was ihre eigene Rolle angeht – und das überträgt sich auf die Kinder.“ Die Folge: Mädchen und Jungen, denen das nötige Grundvertrauen ins Leben fehlt. Die so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie gar nicht in der Lage sind, neugierige Fragen zu stellen oder sich die Zahlen bis zehn zu merken. Auch Sprache, die Grundlage allen Lernens, ist nicht nur in bildungsfernen Zuwandererfamilien ein Handicap, findet Brillinger: „Mütter und Väter reden einfach zu wenig mit ihren Kindern.“ Als Notwehrmaßnahme haben die Kita-Erzieher jetzt ein Handy-Verbotsschild über dem Eingang aufgehängt: „Mama, sprich mit mir, nicht mit deinem Telefon.“

Man muss sich Claudia Brillingers Beruf vorstellen wie den eines Kapitäns, dem ständig von einer anderen Seite der Wind ins Gesicht weht. Hier leistungshungrige Eltern, denen es nicht früh genug losgehen kann mit Schreiben, Rechnen und Leistungssport – auf der anderen die, in deren Haushalt der Angebots-Zettel vom Discounter der einzige Lesestoff ist. Dabei kann die Kita durchaus Zusatznahrung bieten. Nicht nur, wenn Kinder beim Frühstück Gurken und Sellerie knabbern, die sonst eher Fast Food kennen. Auch wenn die eloquenteren ihren Spielkameraden helfen, einen Streit mit Worten zu schlichten. Oder wenn Eltern zur Abendgruppe zusammenkommen und sich mit Brillinger und ihren Kollegen über Erziehungsfragen austauschen. „Das ist eine Frage des Vertrauens. Weil sie sich nicht verurteilt fühlen, sondern angenommen.“ Oft leistet sie auch Alltagshilfe: etwa, wenn sie mit Müttern oder Vätern den Antrag für das „Bildungs- und Teilhabepaket“ ausfüllen, das sozial Schwächeren kostenlosen Eintritt für Kindertheater, Schwimmbad oder Sportverein ermöglicht – jedes dritte Kind in ihrer Kita profitiert davon.

Manchmal sieht Brillinger erst viele Jahre später, ob die Mühe sich gelohnt hat. Wie bei dem jungen Mann aus schwierigen Verhältnissen, den sie als Kind begleitet hat und der jetzt mit beiden Beinen im Leben steht: Ausbildung zum Mechatroniker, Weiterbildung zum Autolackierer. „Er sagte mir: Als ich klein war, habt ihr mir Struktur gegeben, habt mir beigebracht, was falsch und richtig ist. Davon zehre ich immer noch.“ Erfolgserlebnisse, die vieles aufwiegen. Aber nicht alles. Denn die tägliche Arbeit ist nicht nur psychisch und geistig, sondern auch körperlich belastend. Der Lärmpegel, das Heben, Tragen und Bücken. Zwar sind Erzieher in der teuren Stadt per Tarifvertrag höher eingruppiert als in anderen Bundesländern, aber das reicht nicht, findet Brillinger: „Die Zeiten für Vor- und Nachbereitung, die Elternarbeit, Feedbackgespräche mit Praktikanten – die zahlt uns keiner!“ Deshalb engagiert sie sich in der Volksinitiative „Kita-Netzwerk Hamburg“, die seit Monaten mit dem Senat über bessere Rahmenbedingungen verhandelt. „Ich liebe meinen Job, weil er Sinn ergibt“, sagt Claudia Brillinger. „Weil ich jedem Kind vermitteln kann: Es ist schön, dass du da bist.“ Aber so wie der Arbeitsalltag heute aussieht, fürchtet sie, könnten in Zukunft noch weniger Schulabgänger dafür zu begeistern sein. Ausbaden müssten das Cheyenne und Emil, Murat und Jewgenija. Und eines steht fest: Es träfe sie unterschiedlich hart.

*Namen der Kinder geändert

Das sagt die Politik:

„Bildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen“

Uwe Lohmann, familienpolitischer Sprecher der Regierungspartei SPD:

„Seit 2014 ist das Kita-Basisangebot – fünf Stunden Betreuung plus Mittagessen – für alle Hamburger Eltern gratis. Freie Bildung für alle Schichten, von der Kita bis zur Uni, gehört zu den Grundsätzen sozialdemokratischer Politik. In einer wachsenden Stadt mit jährlich 15000 bis 30000 Neubürgern haben wir in den letzten Jahren massiv den Krippen- und Kita-Ausbau voran getrieben, jetzt steuern wir nach bei der Qualität: Bis 2020 wollen wir 2700 zusätzliche Fachkräfte gewinnen, davon allein 2100 im Krippenbereich. Das bedeutet auch Nachwuchsförderung: Unbezahlte Praktika wird es nicht mehr geben, und mittelfristig sollen Erzieher ein Ausbildungsgehalt bekommen. Kitas können aber soziale Härten nicht alleine auffangen. Dazu braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen, etwa der Jugendhilfe.“

„Chancengerechtigkeit heißt nicht Abi für alle“

Philipp Heißner, familienpolitischer Sprecher der CDU

„Die Abschaffung der Kita-Gebühr war ein reines Wahlkampfgeschenk des ehemaligen ersten Bürgermeisters Olaf Scholz. Die falsche Entscheidung in einer Zeit, in der Experten wie die Bertelsmann-Stiftung Hamburg massiven Nachholbedarf beim Krippenpersonal nachweisen, also ausgerechnet bei den Jüngsten. Es wäre sinnvoller gewesen, die Gebühren schrittweise zurückzunehmen, und auch später. Dazu kommt: Die Qualität der Kitas wird nicht von staatlicher Seite überprüft, obwohl es dazu eine gesetzliche Grundlage gibt. In eher gutbürgerlichen Stadtteilen organisieren sich Eltern und protestieren, wenn es nicht rund läuft, in sozial schwächeren Quartieren wird das eher so hingenommen. Das ist doppelt ungerecht. Soziale Durchlässigkeit heißt aber nicht, dass jedes Kita-Kind später Abitur machen muss: Wir brauchen Menschen mit allen Bildungsabschlüssen, nicht nur Akademiker!“

Das sagt die Mutter:

„Ich hatte Angst um meine Töchter“

Nach der Kita-Zeit hören die Schwierigkeiten nicht auf – die Spaltung nimmt eher noch zu. Sabine Dreher* lebt in einer Gegend, in der soziale Gegensätze besonders sichtbar sind: Auf der einen Seite ihrer Neubauwohnung liegt das grün-bürgerliche Ottensen, auf der anderen Seite St. Pauli mit seinem hohen Anteil an Transferleistungs-Empfängern und Migranten. Dort befindet sich auch die zuständige Grundschule. Ihre sechsjährigen Zwillingstöchter hat sie aber auf einer Privatschule angemeldet, zahlt Schulgeld und nimmt einen weiteren Weg in Kauf. Warum?

„Ich kenne niemanden in unserer Nachbarschaft, der sein Kind in St. Pauli eingeschult hätte. Da alle Kinder mit viereinhalb Jahren an der zuständigen Grundschule vorgestellt werden müssen, haben auch wir sie uns angesehen, wussten aber gleich, dass sie nicht in Frage kommt – schon den Umgangston empfanden wir als rau und lieblos. Manche Familien ziehen weg, wenn ihre Kinder ins Schulalter kommen, viele melden ihre Kinder an der Grundschule in Ottensen an. Dafür gibt es aber keine Garantie, weil Plätze nach Zuständigkeit vergeben werden. Manche denken deshalb darüber nach, zum Schein den Wohnsitz zu wechseln.

Weil ich selbst im sozialen Bereich arbeite, kenne ich viele schwierige Familienverhältnisse, und ich habe großes Mitgefühl mit den Kindern, die so aufwachsen. Ich verstehe auch, dass manche davon profitieren würden, wenn die Klassen gemischter wären. Und vielleicht bin ich auch Opfer meiner Vorurteile. Aber wenn ich meine Kinder anschaue, denke ich:  Die beiden sind noch so klein – ich möchte nicht, dass sie dort untergehen. Oder jeden zweiten Tag mit einen blauen Auge heimkommen. Die harte Lebenswirklichkeit lernen sie noch früh genug kennen.“

Und was heißt das jetzt? Wenn Kitas Chancengerechtigkeit fördern sollen, braucht es zwei Bausteine. Der eine ist simpel: Geld und nachhaltige Planung. Mehr Erzieherstellen, attraktivere Bedingungen für Berufseinsteiger, Fortbildungen, angemessene Vergütung auch für Aufgaben jenseits des Normalbetriebs – etwa für die Arbeit an pädagogischen Konzepten. Der zweite Baustein kostet nichts, ist aber komplexer: Einfühlungsvermögen und Kommunikationstalent. Damit Förderung für alle greift, müsste man auch alle Eltern mit ins Boot holen. Solche, die selbst Unterstützung und Beratung brauchen. Und auch solche, die sich aus Sorge um ihre Kinder dem staatlichen Bildungssystem entziehen – und dadurch soziale Gräben noch vertiefen.

Facts and Figures:

  • Für das laufende Haushaltsjahr sind in Hamburg 822 Millionen für Kitas eingeplant, damit haben sich die Ausgaben gegenüber 2010 mehr als verdoppelt. Die Milliardengrenze wird voraussichtlich 2020 erreicht.
  • In Hamburg werden vergleichsweise viele Kinder in einer Kita betreut: 44,7 Prozent der unter Dreijährigen, fast 100 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen
  • Besonderen Nachholbedarf für Hamburg sieht die Bertelsmann-Stiftung bei der Betreuung der unter Dreijährigen: Auf eine Erzieherin kommen im Schnitt 5,2 Kinder, empfohlen wird ein Schlüssel von 1 :4. Bei den Drei- bis Sechsjährigen liegt er mit 1 : 8,4 Kindern im bundesdeutschen Durchschnitt, empfehlenswert wäre ein Verhältnis von 1 : 7,5.
  • Laut Bertelsmann-Stiftung wären rund 3850 neue Erzieherstellen notwendig, um in Hamburg gute pädagogische Arbeit zu leisten – also deutlich mehr als die angekündigten 2700.
  • Laut dem „Gute-Kita-Gesetz“ der Bundesregierung werden bis 2020 5,5 Milliarden Bundesgelder für Kita-Ausbau und Qualitätsverbesserung bereit gestellt. Wie sie die Mittel einsetzen, entscheiden die Länder selbst.
  • Erzieher und Erzieherinnen sind eine Hochrisikogruppe für Burnout und andere durch Stress verursachte Erkrankungen, so eine Studie der katholischen Hochschule Aachen. Hauptgrund: der Personalmangel in den Einrichtungen.
  • „Eine gute Kita mit mehr Erziehern würde ich mir auch etwas kosten lassen“ – diesen Satz unterschreiben laut einer Bertelsmann-Studie mehr als die Hälfte aller Eltern. Das gilt sogar für Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben.

Mein Andersmädchen

Für die „Barbara“, Ausgabe Februar 19, habe ich über die Frage geschrieben: Warum sehen eigentlich alle 13jährigen Mädchen heutzutage gleich aus – bis auf meine Tochter? Und wie finde ich das?

Manchmal, wenn ich sehr junge Mädchen sehe, denke ich an einen sehr alten Sketch von Loriot. Darin steht eine Gruppe identisch gekleideter Herren am Flughafengepäckband und versucht, aus einer Reihe völlig gleicher Koffer den richtigen herauszufischen. Danach folgt gleich die nächste Herausforderung: Am Ausgang wartet ein Grüppchen ebenso gleichförmiger Ehefrauen mit Föhnwelle und Seidentuch. Was das mit 13jährigen im Jahr 2019 zu tun hat? Nun: Wenn Pubertät ein Ringen um die eigene Identität ist, kloppen sich gerade alle um dasselbe Modell. Langhaarfrisur, Lama-Shirt, Lack-Kunst am Nagel. Da fragt man sich auch manchmal, wie die sich gegenseitig auseinanderhalten. Nur eine sticht heraus: meine Tochter. Nicht nur, weil sie fast immer die Kleinste ist, auch wegen Grunge-Boots, Kurzhaarschnitt und Karohemd. Ihre Fingernägel sind nur deshalb lang, weil sie vergisst, sie zu schneiden, als Handy-Hintergrundbild trägt sie die LGBT-Flagge, „weil’s cool ist“, und auf ihrer Playlist steht Mittelalter-Musik statt Cro & Co. Meistens bin ich stolz auf mein Andersmädchen. Aber manchmal auch verstört.

„Früher war mehr Lametta“, spricht Loriot. Als ich ein Teenager war, in den Achtzigern, gab es diverse Gruppen und Untergrüppchen: Ob man pastellfarbene Pullover über dem Blouson geknotet trug, Schnallenschuhe zum langen schwarzen Mantel oder barfuß zu Batik, war ein Statement. Manche Mädchenfrisuren sahen aus wie aus dem „Denver Clan“, andere wie von der Bundeswehr. Heute ist Artenvielfalt out. Vielleicht, weil die 13-jährigen von damals die Erwachsenen von heute sind, und gegen die lässt es sich schlecht rebellieren. Jedenfalls nicht mit Klamotten und Playlists. Dann wiederum: Vielleicht war dieses ganze Punk-Pop-Psych-Ding auch damals mehr Attitüde als echte Individualität. Genau so wenig rebellisch wie ein 60-jähriger, der in einem gebügelten „Wild & Free“-T-Shirt zum Rockfestival fährt und dort alkoholfreies Pils kippt. Und ob man Gruftie oder Softie wurde, hatte oft weniger mit Überzeugung zu tun als mit der Frage, ob man zufällig in der 8b war oder in der 8a.

Meine Tochter steht da drüber, und das bleibt nicht ohne Folgen. Nicht, dass sie gemobbt wird, weil sie nicht „Bibi’s Beauty Palace“ auf YouTube folgt. Aber zur coolen Clique gehört sie auch nicht, und es gibt Tage, da versinkt sie in ihren schlammfarbenen Rollis wie eine kleine Schildkröte, die den Kopf einzieht. In solchen Momenten steht auf meiner linken Schulter ein Engelchen in Regenbogen-Tunika und reckt die Faust: Gegen den Strom schwimmen gibt Muckis! Lamas sind eh uncool! Und wenn sie sich später tatsächlich in Emily verliebt und nicht in Emil: so what? Auf meiner rechten Schulter sitzt ein Teufelchen im Paillettentop, macht sich die Nägel und stichelt: Was ist bloß aus deiner pinkfarbenen Prinzessin vom Kita-Fasching geworden? Hättest du nicht lieber so ein kleines Mini-Me, dem du einen Lockenstab zum Geburtstag schenken kannst?

Manchmal gewinnt das Teufelchen. Dann suche ich morgens im Schrank meiner Tochter das einzige Oberteil, das mehr nach Bluse als nach Hemd aussieht, hänge es nach vorn und hoffe, sie greift danach. Aber es gibt auch die guten Tage. An denen pappe ich dem Pailletten-Heini mit Kleber aus dem Nail-Art-Set den Mund zu und schaue mir entspannt an, wie mein Andersmädchen T-Shirts aus der Jungs-Abteilung in die Umkleidekabine schleppt. „Ich bin halt so’n bisschen genderfluid“, sagt sie dann halb entschuldigend, halb kokett, und ich finde das vor allem eins: ganz schön mutig. Denn anders sein, wenn alle anderen genau so anders sind, das ist für Anfänger. Ich habe übrigens auch noch einen Sohn, der Fußball spielt, sich eine Playstation wünscht und Mädchen doof findet. Seine Schwester allerdings nicht immer. Extrem normal halt. Er ist allerdings erst zehn. Vielleicht wird das noch.

„Menschen werden immer füreinander einstehen“

Für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ habe ich im April 2018 eine Gesprächsrunde moderiert zum Thema „Zukunft der Familie“. Eine spannende, auch kontroverse Diskussion!

 

Die Diskussionsteilnehmer:

Ines Imdahl, 51, ist Diplompsychologin und Gründerin des „Rheingold Salon“, eines Unternehmens mit dem Schwerpunkt Kultur- und Frauenforschung. Mit ihrem Mann hat sie vier Kinder und lebt in Köln.

Sarah Diehl, 39, ist Aktivistin und Schriftstellerin. Sie setzt sich mit der Organisation Ciocia Basia für ungewollt schwangere Frauen in Ländern ein, in denen Abbrüche gesetzlich verboten sind; 2015 veröffentlichte sie das Sachbuch „Die Uhr, die nicht tickt – kinderlos glücklich“ (Arche). Sarah Diehl lebt in Berlin in einer WG.

Andreas Rödder, 51, ist Professor für neueste deutsche Geschichte an der Uni Mainz. Seine Bücher (zuletzt: „21.0 – eine kurze Geschichte der Gegenwart“, C.H. Beck) richten sich an ein breiteres Publikum. Er ist Mitglied der CDU, verheiratet und Vater dreier Töchter.

Verena Carl: Ehe für alle, Patchwork, Regenbogen-Paare – historisch gesehen scheinen Familienformen immer bunter und vielfältiger zu werden. Oder, Herr Rödder?

Rödder: Ja und nein. Gerade für die alte Bundesrepublik haben wir ein Modell im Kopf, das wir für eine Art Normalnull halten: die Fünfziger und Sechziger Jahre, mit der klassischen Familie aus Vater, Mutter, Kindern, wie im Rama-Werbespot. Dabei ist das die historische Ausnahme. Familie ist zwar eine Konstante, schon immer haben Menschen ihr Leben miteinander geteilt. Aber die Form wandelt sich ständig: etwa von der ländlich-agrarischen Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie. Verwitwete, Wiederverheiratete, Alleinerziehende, das gab es immer. Neu ist die Pluralität von Lebensformen im Sinne von Wahlfreiheit.

Diehl: Ich frage mich dabei immer: Warum haben wir solche Angst, uns innerlich vom klassischen Konzept der Familie freizumachen?

Mann und Frau verlieben sich, bekommen Nachwuchs – was stört Sie daran?

Diehl: Nichts, das soll jeder halten wie er will! Was mich stört, sind diese pseudo-biologischen Argumente – was ist vermeintlich „natürlich“, was ist „weiblich“? Gehört ein Kinderwunsch zum Frausein? Ich denke, dass das Mutterideal eine geschlechtliche Arbeitsteilung zementieren soll, damit Frauen unbezahlte Fürsorgearbeit machen, unsere ganze Ökonomie basiert darauf. Gleichberechtigung ist nicht erreicht, nur weil Frauen in die Männerbereiche wie Lohnarbeit vorgedrungen sind.

Sie haben sich gegen leibliche Kinder entschieden und leben in einer Gemeinschaft mit Freunden. Müssen Sie sich dafür rechtfertigen?

Diehl: Nicht in meinem Umfeld, das habe ich mir ja selbst gesucht. Aber dennoch begegnet mir die Unterstellung, meine innere Uhr müsse ticken. Häufiger von Männern als von Frauen. Darüber kann ich nur noch lachen.

Imdahl: Mit Ihrer Lebensplanung sind Sie die Ausnahme. Der Trend geht in eine andere Richtung. Wir haben für den Rheingold-Salon gerade 19- bis 29jährige nach Kinderwunsch und Familienplanung befragt. Auch wenn sie noch so tolerant sind gegenüber anderen Lebensentwürfen, 80 Prozent der Befragten wünschen sich eine klassische Familie. Frauen wie Männer. In der Werteskala steht die Familie sogar über der Liebe zu Partner, übrigens auch die Freundschaft. Ein echter „Game Change“, den ich in 25 Jahren als Psychologin nicht erlebt habe.

Obwohl sicherlich viele dieser jungen Leute aus eigener Erfahrung wissen, dass Familien zerbrechen können….

Imdahl: Gerade deshalb! Die Sehnsucht nach Stabilität erwächst aus Kontrollverlusten. Nicht nur die Herkunftsfamilie kann sich als brüchig erweisen, auch die Gesellschaft gibt keinen oder wenig Halt. In den letzten 15 Jahren haben Kinder so sprechen gelernt: Mama, Papa, Krise. Ob Migration oder Finanzmärkte, immer tun sich neue Unsicherheiten auf. Darauf reagieren junge Menschen mit dem Versuch, die Kontrolle zurück zu gewinnen: Sie gehen extrem diszipliniert mit dem eigenen Körper um, kleiden sich konservativ, tun alles dafür, dass die eigene Familie heil bleibt.

Klingt nach ziemlich viel Druck.

Imdahl: Mehr Freiheit bedeutet immer auch mehr Druck. Studieren, eine Familie gründen, dabei auch noch gut aussehen – das sind ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr Optionen, sondern Pflichten. Dann kommen die Fragen: Wieso hast du kein Kind? Du brauchst doch keinen Mann dafür, geht doch heute auch anders. Oder nach einer Geburt: Wieso ist der Bauch nicht weg nach drei Monaten?

Rödder: Diese Zunahme an Maximen und Imperativen ist typisch für die Moderne! Die bürgerliche Familie ist ihr Produkt, ihr Spiegel, und gleichzeitig ihr Gegenentwurf. Denn die industrielle Gesellschaft ist geprägt von Markt, Arbeitswelt, Mobilität. Die Familie ist der Ort der Emotion, der Geborgenheit, Zugehörigkeit, jedenfalls in ihrer idealen Ausprägung. Und die Frage ist immer, was man wie bewertet. Bis in die Fünfziger galt es als Privileg, wenn Mutti kein Geld mehr verdienen musste. Dann hatte die Arbeiterfamilie es geschafft. Heute nehmen wir das im Zusammenhang mit patriarchalischen Geschlechterverhältnissen wahr.

Diehl: Ich habe den Eindruck, Mutterschaft ist Teil der Leistungsgesellschaft geworden. Frauen machen einander Konkurrenz, weil sie immer noch mehr Anerkennung im Privatleben bekommen als im Beruf: Wer gibt sich selbst am stärksten auf in der Erziehung? Wer macht sein Kind am besten fit für die moderne Arbeitswelt?

Imdahl: …und Männer haben sich da elegant rausgehalten. Die neue Norm bei jungen Familien ist: Er 40 Stunden, sie Zuverdienerin. Hausarbeit und Kinderbetreuung bleiben zum Großteil an ihr hängen.

Diehl: Gleichberechtigung kann aber nur funktionieren, wenn Männer auch die Arbeit machen, die von Frauen erwartet wird.

Aber haben sich familiäre Rollen nicht doch nachdrücklich verändert, wenn heute vermehrt junge Väter Auszeiten nehmen und sich Babys im Tragetuch vor die Brust binden?

Rödder: Ganz offenkundig. Sowohl die Beziehungen zwischen Partnern als auch zwischen Eltern und Kindern sind ganz andere als bis in die Sechziger, als Kinder eher Befehlsempfänger waren als gleichwertige Familienmitglieder. Gleichzeitig sind die Verantwortlichkeiten für Lebensbereiche doch sehr konstant geblieben.

Imdahl: Ich bin ja dafür, dass Frauen wie Männer sich frei entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten. Aber wenn eine Mutter freiwillig zu Hause bleibt, führt das zu negativen Konsequenzen für Unterhaltsansprüche, Altersabsicherung und so fort.

Rödder: Es hat oft ungeahnte Folgen, wenn man einen Entwurf aufwertet – so wie die Politik der letzten 15 Jahre den der berufstätigen Mutter – und dagegen einen anderen abwertet. Setzen wir einseitig Anreize für eine paritätische Aufgabenverteilung zwischen Müttern und Vätern, und übergehen damit individuelle Entscheidungen? Das ist die Gratwanderung einer liberalen Gesellschaft.

Könnte das auch der Grund sein für jene erzkonservative Gegenbewegung, die sich in Gruppierungen wie der AfD oder den „Besorgten Eltern“ formiert?

 Rödder: Ja, es kommt zu einer Polarisierung von Leitbildern. Wenn die Familienministerin keine Partei mehr für die Vollzeitmutter ergreift, dann ist diese vielleicht froh, wenn eine konservative Publizistin wie Birgit Kelle das tut. Weil sonst ihre Erfahrung in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch vorkommt.

Frau Diehl, bei einer freiwillig kinderlosen Frau wie Ihnen denken sicherlich viele Menschen: Beruf und Karriere waren ihr wohl wichtiger.

 Diehl: Ein Vorurteil. Auch von Frauen, die ich für mein Buch interviewt habe, habe ich gehört: Wenn ich mich diesem Mutterideal ausliefere, dann muss ich mich immer daran abarbeiten. Das will ich nicht. Ein weiteres Vorurteil ist: Kinderlose sind egoistisch. Dabei kann ich mich viel stärker gesellschaftlich engagieren, wenn ich nicht in der Kleinfamilie eingebunden bin. Ich bin eine heiße Verfechterin von sozialer Elternschaft und würde gern Familie nicht nur biologisch definieren, sondern als Netzwerk von Menschen, die aus freien Stücken verbunden sind und sich umeinander kümmern.

Aber wie belastbar ist das – in Krisenzeiten und Notsituationen?

Diehl: Gegenfrage: Wie belastbar sind Ehen? Ich glaube eher, in der typischen Konstellation sind tendenziell viele überfordert. In Kanada gibt es seit vier Jahren das „Social Guardianship“-Gesetz, da können bis zu vier Personen mit den gleichen Rechten und Pflichten für ein Kind da sein. Zum Beispiel ein alleinerziehender Elternteil, der kinderlose Freunde mit hineinnimmt in die Verantwortung. Das finde ich zukunftsweisend.

Ist es überhaupt nötig, dass der moderne Staat neuen Beziehungsformen einen rechtlichen Rahmen gibt?

Rödder: Im Grunde könnte man sagen: alles Privatsache. Ich halte den staatlichen Eingriff aber aus zwei Gründen für gerechtfertigt: Zum einen das Kindeswohl, weil ein Kind sich nicht schützen kann; zum anderen das Gemeinwohl, im Sinne der Bereitschaft, füreinander einzustehen. Das müsste aber nicht auf Ehe oder biologischer Elternschaft beruhen.

Diehl: Sage ich doch! Deshalb halte ich es auch für eine Sackgasse, dass wir so sehr an der Idee leiblicher Elternschaft hängen. Etwa wenn ich daran denke, was Frauen sich und einander antun, um auf medizinischem Wege ein Kind zu bekommen. Ich finde es recht tragisch, wenn Menschen glauben, dass sie ihr Bedürfnis nach Liebe und Gemeinschaft nur über biologische Nachkommenschaft herstellen können und damit ziemlich gewaltsame Strukturen etablieren. Leihmutterschaft und Eizellenspende sind zu einem brutalen Millionengeschäft geworden. In der dritten Welt wird die ökonomische Not ausgebeutet, in den westlichen Ländern unterziehen sich Frauen quälenden Hormonbehandlungen und medizinischen Eingriffen.

… weil sie sich nun einmal sehnlichst ein Kind wünschen.

Diehl: Das kritisiere ich nicht, auch nicht die Technologie an sich. Ich würde nur die Frage stellen: Warum müssen es die eigenen Gene sein? Was ist daran so wichtig?

Imdahl: Der medizinische Fortschritt führt dazu, dass wir uns nicht mehr damit abfinden müssen, wie wir geboren sind – ob unsere Nase schief ist oder unsere Fruchtbarkeit eingeschränkt. Was die Ausbeutung angeht, bin ich ganz bei Ihnen, Frau Diehl. Aber die neuen Technologien schaffen auch Freiheitsgrade. Junge Frauen sagen: Wenn der Traumprinz nicht kommt, dann lasse ich meine Eizellen einfrieren. Oder ich fahre nach Holland und lasse mich künstlich befruchten. Und parallel suche ich mir online jede Woche einen neuen Sexpartner.

Rödder: Im Grunde sehen wir auch hier, wie sich die moderne Gesellschaft immer weiter ausdifferenziert: Sexualität und Reproduktion werden voneinander abgekoppelt. In die eine Richtung gibt es das schon lange, durch sichere Schwangerschaftsverhütung. Dass umgekehrt Fortpflanzung ohne Sexualität möglich ist, das ist historisch neu.

Ist das ein Gewinn oder eine Bedrohung?

 Rödder: Das lässt sich nicht seriös beantworten. Allerdings: Häufig stellt sich erst mit großer Verzögerung heraus, welche Folgen Entwicklungen haben. Denken Sie daran, dass Teile der Grünen in den Achtzigern Sex mit Minderjährigen legalisieren wollten….

Imdahl: Die katholische Kirche hat es leider Jahrhunderte lang im Verborgenen gemacht!

Rödder: Schlimm genug. Ich frage mich dennoch, von welchen aktuellen Entwicklungen Psychologen in 25 Jahren sagen werden: Was habt ihr den Kindern angetan? Beim Thema Kindeswohl bin ich besonders konservativ. Auch, wenn es um die „Ehe für alle“ geht: So lange erwachsene Partner sich dazu entscheiden, kein Einwand, wenn Kinder involviert sind, wäre ich viel vorsichtiger.

Schwierige psychische Umstände gibt es doch gerade auch in der klassischen Kernfamilie – bis zu Gewalt und Missbrauch. Während nach Studienlage Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften geborgen aufwachsen können.

Rödder: Alles richtig. Ich habe ja nicht behauptet, man müsste alles beim Alten belassen. Ich würde eine solche Gesetzesentscheidung nur nicht übers Knie brechen.

Diehl: Mit diesem Argument kann man jede progressive Idee im Keim ersticken. Das wichtigste ist doch, dass Kinder stabile Bezugspersonen haben. Warum nicht zwei Männer, zwei Frauen oder eben mehrere Erwachsene? Mir hat auf einer Lesung einmal eine ältere Frau erzählt, dass sie auf dem Bauernhof aufgewachsen ist und ihre Kindheit sehr schön empfand, weil es viele verschiedene Leute gab, die sich um sie kümmerten. Die Isolierung in der Kleinfamilie empfand sie als historischen Unfall.

Blicken wir noch nach vorne: Wie sehen Familien in 20 Jahren aus? Und welchen Anteil haben die Themen unserer Gegenwart daran?

Imdahl: Digitalisierung verändert, wie Menschen zusammen finden. Man spricht ja heute schon von Tinder-Babys und Tinder-Hochzeiten, nach dem Namen einer Dating-App. Das ist ähnlich beim Thema medizinische Eingriffe, das wird so schnell voranschreiten, dass Gesetzgebung, gesellschaftliche Regeln und Normen kaum hinterher kommen. Neue Technologien sind ein mächtiger Treiber für gesellschaftliche Veränderungen.

Ein weiterer Aspekt: Wird sich Deutschland verändern, wenn Migranten ihre eigenen Vorstellungen von Familie und Geschlechterbeziehungen mitbringen?

Imdahl: Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin meilenweit von AfD-Positionen entfernt und sehe das individuelle Leid von Flüchtlingen. Ich denke aber schon, dass das Familienbild einiger weniger uns gesellschaftlich zurückwerfen kann. Ich möchte hier keine Männer haben, die Frauen begrabschen, schlagen, ihnen das Rad- und Autofahren verbieten oder ihren achtjährigen Töchtern ein Kopftuch vorschreiben.

Diehl: Ich will diese Ängste nicht wegwischen, Frau Imdahl. Aber liegt das nicht auch am schweren Stand der Migranten? Wird die vermeintliche Ehre der Frau nicht auch deshalb so hochgehalten, weil sie das Einzige ist, an dem sie sozialen Status darstellen können? Ich finde die AfD bedrohlicher für meine Freiheit als Frau.

Rödder: Wir erleben eine zweifache Doppelmoral: Auf der einen Seite geben sich Menschen plötzlich als Frauenrechtler, die damit nur ihre eigene Islamophobie ummänteln. Auf der anderen sind jene, die einer biodeutschen Vollzeitmutter ihr Lebensmodell absprechen, aber bei einer vollverschleierten, nicht erwerbstätigen Muslima sagen: Das ist kulturelle Diversität. Da stimme ich Frau Imdahl zu, die Schwierigkeiten würde ich nicht unterschätzen. Als Historiker ist mir eines wichtig: Offenheit im Blick auf die Zukunft. Sowohl für Risiken als auch für Chancen.

Und die wären?

Rödder: Meine Prognose ist: Punkt a, die Zukunft wird anders als die Gegenwart. Punkt b, sie wird auch anders, als wir sie uns vorstellen. Weil zu allen Zeiten unvorhergesehene Ereignisse den Gang der Geschichte verändern. Aber eines wird wohl nicht verschwinden: dass Menschen, in welcher Form auch immer, gemeinsam leben und füreinander einstehen. Familie wandelt sich permanent ­– und bleibt.

 

Mehrere kurze Videoclips der Teilnehmer gibt’s in der Online-Version des Magazins hier zu sehen.

 

 

 

 

 

Tanzen auf Rädern

Conny Runge (40) trägt gern neonfarbene Shirts, hat eine imposante Tattoo-Sammlung und arbeitet neben ihrem Job auch als Zumba-Trainerin. War da noch was? Ach ja: Sie sitzt dabei im Rollstuhl. Das hat mich beeindruckt und ich habe mich gefreut, dass ich ein Porträt über sie für die BARBARA schreiben durfte – veröffentlicht im Mai 2018

Es gibt Orte, an denen ist man sofort per du. Dort, wo das Leben zu leicht ist für Förmlichkeit: Ferienclub, Fitnessstudio. Oder dort, wo es zu schwer ist, um Distanz zu wahren: Selbsthilfegruppe, Notaufnahme. In der Zumba-Stunde der Rehaklinik „Godeshöhe“ in Bonn gilt beides.

Ein Donnerstag im Frühling, 11.15 Uhr. „Geht’s euch allen gut?“, ruft Trainerin Conny Runge. Blonder Zopf zum neonfarbenen Shirt, breites Lächeln, leicht sächsischer Zungenschlag. Der Hallenboden ist grün, durch die Fenster dringt blasses Licht ins Souterrain. Salsa-Bläsersätze plärren aus dem Lautsprecher. Hände bewegen sich durch die Luft, mal zaghaft, mal gekonnt. Schultern rotieren rhythmisch. Als könnten die Teilnehmer jeden Moment aufspringen und tanzen. Aber das wird nicht geschehen. Die fünf Männer und die drei Frauen werden ihre Beine wohl nie wieder bewegen können. Sie sitzen im Rollstuhl. Genau wie ihre Trainerin.

„Man behauptet ja gern mal unbedacht: Wenn ich querschnittsgelähmt wäre, ich würde mich umbringen.“ Conny schüttelt amüsiert den Kopf, wenn sie an ihr eigenes, früheres Ich denkt. 19 war sie, schwang im Karnevalsverein ihrer Lausitzer Heimat als „Funkemariechen“ die Beine, studierte Sport, war zum ersten Mal ernsthaft verliebt. Ein Leben in Bewegung, bis zur Vollbremsung: eine Party, das Fenster offen, sie auf dem Sims, ein Bekannter, der sie erschreckte, so dass sie das Gleichgewicht verlor. Vier Meter tiefer prallte sie mit dem Rückgrat auf einen Betonpfeiler, in Höhe des siebten Brustwirbels. Als ihre Freunde gelaufen kamen, bat sie: Nehmt mal meine Beine auf den Boden, die stehen so komisch hoch. Die anderen sahen sie entsetzt an: Conny, die sind doch unten! „Da wusste ich instinktiv: Ich werde nie wieder laufen.“

Aber, ernsthaft: sich umbringen? Keine Frage für die Tochter eines Sportlehrerpaars. „Ich hab von meinem Vater den Kampfgeist, von meiner Mutter das Gefühlvolle. Ich wollte einfach nur leben.“ Auch wenn sie sich von vielem verabschieden musste: bauchfreie Shirts, 15 Kilo an Beinmuskulatur, sogar von ihrer ersten großen Liebe: „Ich habe ihn regelrecht weggestoßen, habe gesagt: Schau mich an, was willst du noch mit mir?“ Die Grenzen ihrer Welt verliefen jetzt anders. Zwischen „Rollis“ und „Fußgängern“. Zwischen vorher und nachher.

Nun steht wieder alles auf Anfang. Conny sattelt um auf ein Maschinenbaustudium, besorgt sich ein Auto mit Handgas, lässt sich von ihren Freunden zu Party und Picknick schieben, trainiert ihr neues Leben, als wär’s eine olympische Disziplin. Und noch etwas treibt sie an: der Sport. Sie fährt einen Liegebike-Marathon auf Lanzarote mit, singt beim Kundalini-Yoga Mantras, spielt Basketball. Spaß macht ihr vieles, ganz das Richtige ist es nie. Das Bike braucht zu viel Platz, vom Basketball tun ihr Schultern und Handgelenk weh. Yoga? Nichts für eine quirlige Frau, die spricht und gestikuliert, als käme sie aus Palermo statt aus Sachsen. Dann freundet sie sich mit der Physiotherapeutin Jacqueline an, die Zumba-Kurse für Neurologie-Patienten gibt. Und Conny dazu einlädt. Bämm – Volltreffer. „Die Musik, die Lebensfreude, und dann noch ein Sport, den man immer und überall machen kann – ich war sofort angefixt. Sofort habe ich mir eigene Choreographien ausgedacht, für die man nur Arme und Schultern braucht.“

Es bleibt nicht beim Mitmachen. Conny möchte selbst Kurse leiten, neben ihrem Job bei einer Firma für Rehatechnik. Aber in Deutschland hat alles seine Ordnung, sogar Fitness-Funsport. Wer als Zumba-Trainerin arbeiten will, braucht einen Schein. Und so steht sie an einem Spätsommertag vor zwei Jahren mit ihrem Rollstuhl vor einer Trainingshalle. Davor ein paar Stufen, aber keine Rampe. „Ich da unten, und 40 Fußgänger, die auf mich herunterschauten. Alle die gleiche Frage im Blick: Was macht die hier? Das habe ich mich in dem Moment auch gefragt.“ Aber wenn man Conny Runge heißt, scheitert man nicht so schnell. Schon gar nicht an einer Treppe. Zwei Tage darauf hat sie ihr Zertifikat, kurz darauf veranstaltet sie mit Freundin Jacqueline die erste Zumba-Inklusions-Party Deutschlands: Tanzschritte für die Fußgänger, Arm-Choreographie für die Rollifahrer, brasilianische Cocktails und Käsebällchen für alle.

11.45 Uhr. Conny ballt die Fäuste, boxt im Rhythmus der Musik in die Luft: „Ja, lasst es raus! Gegen alles, das wütend macht!“ Dass oft die alltäglichsten Wünsche unerfüllbar sind, zum Beispiel. Ein Tag ohne Blasenkatheter, ein Nachmittag am Strand, das Handtuch ausbreiten, in die Wellen laufen. Wenn sie den linken Arm hoch wirft, sieht man unter ihrer Achsel ein Vogelkopf-Tattoo. Ein Phönix, der aus der Asche steil nach oben steigt. Den hat eine andere Freundin entworfen, Grafikdesignerin, ebenfalls Rollstuhlfahrerin. Boxt Conny mit rechts, entblößt sie dabei das Bild eines Speers aus dem Film „Avatar“. Die Heldengeschichte eines gelähmten Ex-Soldaten, der in einer Parallelwelt Abenteuer besteht. Starke Message, starke Bilder – und ganz schön sexy. Das findet auch ihr Freund Rainer. Mit ihm macht sie Witze über ihre „Schlenkerbeine“, ihre „Trommelstöcke“, denn sie weiß: Er liebt sie von Kopf bis Fuß. Als ganze Frau. Kann sie Sex genießen? Und wie: „Nacken, Hals, Brust, der ganze Oberkörper wird zur erogenen Zone. Und ist nicht das wichtigste Körperteil dabei sowieso der Kopf?“

Auf die „Godeshöhe“ kam Conny Runge ursprünglich als Patientin, ein paar Monate ist das her. Und sie ging als Trainerin. Während eines Kur-Aufenthaltes brachte sie den Therapeuten ihre Lieblings-Fitness näher. Genau das, was die suchten: Neue, coole Sportangebote, die nicht nur den Körper, sondern auch der Seele in Schwung bringen. Bewegung ist wichtig für die Reha-Patienten, weil sie den Kreislauf und die Verdauung anregt, Druckstellen auf der Haut vorbeugt, Verspannungen abbaut. Vor allem aber ist sie das beste Anti-Depressivum. Chemiefrei und ohne Nebenwirkungen. Das kennen Gesunde ja auch. Dem Liebeskummer davon joggen, den Job-Frust an einem Boxsack auslassen. „Beim Zumba ist es manchmal für Momente, als würde ich meine Beine wieder spüren. Ich merke richtig die Nervenimpulse“, erklärt Conny. Wenn fehlende Gliedmaßen weh zu tun scheinen, spricht man von Phantomschmerz – vielleicht gibt es ja auch das Gegenteil. Phantomfreude.

Krankheit ist ein großer Gleichmacher, Sport auch. Die 40-something-Frau mit den pinken Schnürsenkeln, die junge Muslima mit Kopftuch, der ältere Herr mit Seidenschal und pastellfarbenem V-Ausschnitt-Pulli – Körper, die sich gemeinsam zurück ins Leben kämpfen, mal mehr, mal weniger geschickt. Da spielt es keine Rolle, was einer verdient, an was einer glaubt, was auf seiner Visitenkarte steht. Gleichzeitig empfindet Conny ihr Schicksal als etwas Besonderes. Als Aufgabe, aber auch als Chance. „Ohne meinen Unfall hätte ich weiter Sport studiert und wäre jetzt vielleicht eine von vielen. So bin ich die Frau, die den Rollstuhl-Zumba nach Deutschland gebracht hat.“ Und das ist ja erst der Anfang: Warum nicht auch Stunden für Kinder und Jugendliche anbieten? Trainer im Ausland ausbilden?

12 Uhr, Cooldown. „Das war besser als acht Wochen Reha“, sagt eine Frau mit graublonden Strähnen. „What a wonderful world“ , steht auf ihrem T-Shirt. Aus den Boxen klingen noch immer fröhliche Posaunen, Trompeten und Bongos. Aber wenn man auf den spanischen Text hört, sind die Worte tieftraurig: „Ach, lass mich diesen Schmerz vergessen, der mich zum Weinen bringt!“ Das Leichte und das Schwere – sie passen nicht nur in der Musik gut zusammen. Sondern auch im Leben.

Ich muss gar nichts!

„Ich muss gar nichts“ hieß das Dossier, das die BRIGITTE im Juli 2018 veröffentlichte. Das fand ich gut, da hatte ich auch etwas beizutragen: Warum bei einem Rennen mitlaufen, das man ohnehin nicht gewinnen kann? Hier ist mein Beitrag, den die BRIGITTE in einer leicht gekürzten Version veröffentlichte.

Mein Gesicht kann etwas Neues. Letzte Woche habe ich es entdeckt, vor dem Badezimmerspiegel im Büro: Wenn ich lache, wirft die Haut unter meiner Nase eine Querfalte. Die war da vorher nicht. Mein Mann amüsiert sich: Schau lieber zu Hause in den Spiegel, der ist schlechter beleuchtet! Dabei macht die Falte mich eher neugierig: Körper, alter Freund, was hast du noch für Tricks auf Lager? Nächstes Jahr werde ich 50, da feiern mein Körper und ich goldene Hochzeit. Eine Zweckverbindung – wir können nun mal nicht ohne einander leben -, aber liebevoller denn je. Das ist eine schlechte Nachricht für den Fachverband der ästhetisch-plastischen-Chirurgie und für die Entwickler von „zehn Kilo in drei Tagen“-Apps. Für mich ist es eine gute.

Ich war mal jünger, dünner und faltenfreier, klar. Aber ausgerechnet damals war das anders. Da blickte ich in den Spiegel, als stände ich vor dem Türsteher eines hippen Clubs. Bin ich schön? Mein innerer Berghain-Mannes rollte ironisch mit den Augen: Ernsthaft? Du glaubst doch nicht, dass ich dich hier reinlasse! Ich dachte damals, ich muss mich nur genügend bemühen, dann geht irgendwann die Tür auf. Und dahinter spielt das wahre Leben. Weil schönere Menschen das Anrecht haben auf größere Gefühle, Leidenschaft, Drama. Weil sie sogar dann besser aussehen, wenn sie am Küchentisch weinen. Dafür strampelte ich mich ab, in jeder Hinsicht: mit Sport, der mir keinen Spaß machte, Fastenkuren, die mich langsam im Kopf machten, Frisuren, für die ich morgens eine Stunde früher aufstehen musste. Das fraß so viel Energie, dass ich ansonsten auf kleinerer Flamme kochte: ein Leben mit handlichen Gefühlen, erreichbaren Träumen, lauwarmen Beziehungen.

Aber Beauty ist ein Biest, Schönheit ist relativ. Egal wie man sich bemüht, irgendwo ist immer jemand mit einem strafferen Bauch und längeren Beinen, mit mehr Haar und größeren Augen. Daneben ich: Mittelgroß, mittelschlank, mittelblond. Hübscher Mund, hässliche Füße. So weit, so normal. Keine Frau, die Blicke auf sich zieht, wenn sie den Raum betritt. Ein Rennen, das ich nicht gewinnen konnte. Irgendwann dachte ich mir: Was für eine gigantische Verschwendung. Ich hatte vergeblich versucht, mich fremden Bildern anzupassen. Von da an machte ich mir die Bilder passend. Ließ meine Haare an der Luft trocknen, verlangte von Klamotten, dass sie mich auch in Größe 40/42 gut aussehen ließen, ging nur noch zum Sport, wenn ich Lust hatte. Sah meinen Körper nicht mehr als ewigen Low-Performer, sondern als prima Wohnung für mich und meine Gedanken. Plötzlich, zack, ging die Tür auf und machte Platz für das, was mir wichtig war. Bücher schreiben, eine Zeitlang im Ausland leben, große Liebesgeschichten, eine eigene Familie. Mein Schminktäschchen behielt ich. Aber das angestrengte Schaulaufen anderer betrachtete ich künftig, wie ich heute manchmal Model-Castingshows sehe: als seltsames Spiel, bei dem ich weder mitspielen muss noch will.

Manchmal kommt das Gute, wenn man aufhört, zu warten. Pickel bis Mitte 20, dafür vergleichsweise glatte Gesichtshaut mit Ende 40. Feine Haare, die früher nicht für Big Hair-Frisuren taugten, aber heute noch kaum grau sind. Danke, nettes Geschenk, aber wäre nicht nötig gewesen. Ich bin ja raus aus dem Rennen. Dagegen beobachte ich, wie Freundinnen und Kolleginnen an die Startblöcke gehen: plötzlich nur noch Low-Carb oder Clean Eating, antrainieren gegen die Schwerkraft, oder sogar anoperieren. Ist ja heute alles minimalinvasiv und unblutig: Fadenlifting, Mikrodermabrasion, Mikroneedling. Kann man machen. Tut mir aber Leid. Dieser verzweifelte Versuch, an einem Oldtimer herumzuschrauben, bis er fast aussieht wie ein Sportflitzer. Aber eben nur fast. Letztlich sind wir doch alle gleich, egal, welches Los uns die Gen-Lotterie zuteilt, ob wir eher früher oder eher später die Nase vorn haben: Wir enden als alte Frauen, mit dünnem Haar und hängender Haut. Das Rennen kann keine gewinnen. Irgendwann ist die längste Partynacht vorbei und der Club zu. Wäre es nicht schön, wenn wir dann in der Morgensonne lachend am Kantstein sitzen, Nasenfalten vergleichen und dann so richtig einen losmachen? Platz dafür ist ja genug.

 

 

„Wir sitzen im gleichen Boot und merken es nicht!“

Eltern und Kinderlose sind sich oft nicht grün – ob es um Lautstärke im Café geht oder um die nächste Gehaltsrunde. Susanne Garsoffky und Britta Sembach haben sich mit den tieferen Gründen für diese Spaltung beschäftigt: soziale Kälte, weniger Solidarität und politisches Versagen. Für ELTERN family habe ich im November 2017 mit Susanne Garsoffky gesprochen

 ELTERN FAMILY: Das Eingangskapitel Ihres neuen Buches trägt die Überschrift: Warum Kinder nicht glücklich machen und Kinderlosigkeit nicht frei. Das klingt nach: Wie man’s macht, ist’s falsch….

Susanne Garsoffky: Eine Frau im gebärfähigen Alter kann es niemandem recht machen, das stimmt. Mütter werden gefragt: Warum nur ein Kind? Warum so viele? Warum so spät im Leben oder so früh? Zusätzlich unterstellt man ihnen, dass sie ihre Kinder wahlweise zu viel oder zu wenig behüten. Kinderlose Frauen werden von Wildfremden nach ihren Motiven gefragt, das ist nicht minder übergriffig.

Sie und Ihre Ko-Autorin Britta Sembach sind beide Mütter. Stehen Sie in der Diskussion um Lebensentwürfe damit nicht automatisch auf Seite der Eltern?

Wir respektieren jeden und jede, und wir wollten weder ein Angriffsbuch auf Kinderlose schreiben, noch uns fürs Elternsein rechtfertigen. Es geht uns auch nicht darum, jemanden zum Kinderkriegen zu motivieren. Sondern um die Frage: Wie könnte man ein System schaffen, das für alle gerechter ist, wenn weniger Kinder geboren werden?

Sie schreiben, Politik und Wirtschaft würden Eltern und Kinderlose gegeneinander ausspielen. Das klingt, mit Verlaub, ein wenig nach Verschwörungstheorie….

Nein, es ist höchstens zugespitzt. Seit Ende der Neunziger erleben wir eine politische Neoliberalisierung. Unser Politik- und Wirtschaftssystem richtet sich in erster Linie nach den Bedürfnissen von Arbeitgebern und Unternehmern, und das treibt Menschen mit und ohne Sorgeverpflichtung in Konkurrenz. Die Blaupause für einen idealen Arbeitnehmer ist der von Sorgeverpflichtungen befreite, Vollzeit arbeitende Mann. Wer nicht in dieses Muster passt, wird zwar geduldet, aber eine Karriere ist so kaum möglich.

Und die machen dann Kinderlose auf dem Rücken der Eltern?

So einfach ist es nicht. Denn die Gewinne der letzten Jahre erzielen große Unternehmen in erster Linie durch Personalabbau. Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist aber im Gegenteil sehr personalintensiv. Denn einer muss ja auffangen, wenn Eltern Auszeiten nehmen oder kurzfristig ausfallen. Und diese Arbeit wird gleichzeitig auf immer weniger Schultern verteilt. Das trifft besonders die Kinderlosen.

Aber bemühen sich nicht Arbeitgeber in den letzten Jahren vermehrt um mehr Flexibilität für alle? Mit innovativen Arbeitszeitmodellen, Betriebs-Kitas…

In den meisten Fällen ist das nicht mehr als ein schönes Aushängeschild. Unternehmen geben sich modern und aufgeschlossen, aber gleichzeitig wird Angestellten das Gefühl vermittelt: Kinder haben, wunderbar – aber bitte möglichst geräuschlos und so, dass es unseren Betriebsablauf nicht stört. Diese Haltung bekommen übrigens auch Kinderlose zu spüren, etwa, wen sie alternde Eltern zu pflegen haben.

Wenn alle gleichzeitig Verlierer sind – warum begehren sie dann nicht gemeinsam gegen diesen Druck auf?

Der schleichende Verlust von Solidarität betrifft ja die Gesellschaft als Ganzes. Arbeitskämpfe gibt es kaum noch, Gewerkschaften verlieren laufend Mitglieder, weil wir das neoliberale Modell so verinnerlicht haben: Jeder ist nur für sich selbst und seinen Erfolg verantwortlich. Ganz im Interesse der Unternehmerseite. Denn Einzelne sind leichter zu handeln als eine Gruppe, die Forderungen stellt. Man speist Mitarbeiter mit Anti-Stress-Programmen ab, statt Arbeit gerechter zu verteilen.

Aber die Konflikte kochen öffentlich eher hoch, wenn es um Kinderwagenverbote in Cafés geht oder Fahrradanhänger, die den Bürgersteig versperren…

Das ist Symptom, nicht Ursache. Da entlädt sich eine gereizte Stimmung, weil alle ahnen, dass es noch schärfere Verteilungskämpfe geben wird – wenn die heute 50-jährigen in den Ruhestand gehen, wird ein Arbeitnehmer für einen Rentner zahlen müssen!

Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Aber Sie sagen: Auch die Politik befeuert die Konkurrenz zwischen beiden Gruppen.

2003 prägte die damalige Familienministerin Renate Schmidt den Begriff der „nachhaltigen Familienpolitik“. Seither steht „Vereinbarkeit“ als politisches Ziel auf der Agenda, quer durch die Parteienlandschaft. Das bedeutete in der Praxis vor allem: Ausbau der Krippenbetreuung, um beide Elternteile möglichst schnell wieder in Arbeit zu bekommen. Aber das ist weder flächendeckend passiert, noch ist die Betreuung durchgehend von guter Qualität. Von Unternehmen hat die Politik viel zu wenige Zugeständnisse gefordert.

Ist das nicht Schwarzmalerei angesichts jährlich 130 Milliarden familienpolitischer Leistungen?

Das Geld wird nach Gießkannenprinzip verteilt und wiegt nicht auf, was Eltern investieren. Der Sozialrichter Jürgen Borchert hat es so formuliert: „Wir treiben den Familien die Sau vom Hof und geben ihnen nur die Koteletts zurück.“ Allein, wenn man die Energiekosten betrachtet und die Verbrauchssteuern: 19 Prozent Mehrwertsteuer auf Windeln, dafür nur sieben Prozent auf Tiernahrung! Familiengründung ist ein finanzielles Risiko, nicht nur für Alleinerziehende – wegen des Reallohnverlustes der letzten Jahre können selbst Doppelverdiener in manchen Großstädten kaum noch den Unterhalt für eine Familie aufbringen.

Dagegen argumentieren Kinderlose: Wir halten mit unseren höheren Steuerabgaben das System am Laufen.

Aber Familien sind ja nicht nur Leistungsempfänger, sie sind selbst Steuerzahler! Sie werden also doppelt zur Kasse gebeten.

Und dazu leisten sie gratis, was neudeutsch „Care-Arbeit“ genannt wird – Schulbrote schmieren, Anschwung geben beim Schaukeln. Trotzdem haben viele das Gefühl: Diese Tätigkeiten werden nicht gewürdigt, eher belächelt.

Richtig. Nachrichtenmagazine schreiben süffisant über die „Rückkehr der Hausfrau“ und bezeichnen es als Zeitverschwendung, wenn eine Mutter mit ihrem Baby auf dem Teppich spielt – eine Mutter, wohlgemerkt, die wöchentlich 20 Stunden arbeitet. Fürsorglichkeit ist doch ein Teil der menschlichen Existenz!

Auf der Suche nach den Ursachen für diese soziale Kälte werfen Sie auch einen Blick auf den Feminismus und zitieren die amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser: „Der Feminismus ist der Steigbügelhalter der neoliberalen Gesellschaftsordnung.“ Würden Sie denn lieber in den Fünfziger Jahren leben, als pudding-kochende Hausfrau?

Bloß nicht! Meine Ko-Autorin und ich sind wie alle Frauen unseres Alters geprägt durch die zweite Welle des Feminismus in den Sechziger, Siebziger Jahren. Da ging es um Selbstbestimmung, um gesellschaftliche Teilhabe durch Berufstätigkeit. Völlig richtige Forderungen in einer Zeit, in der Frauen um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie einen Job annehmen wollten, und Vergewaltigung in der Ehe straflos blieb. Nur: Die Blaupause der Emanzipation war ein männlicher Lebensentwurf. Von Fürsorgepflichten befreit, unabhängig und erfolgreich. Müsste es heute nicht eher darum gehen, dass Frauen wie Männer beide Seiten leben dürfen, die erfolgsorientierte wie die fürsorgliche?

Das passiert ja, jedenfalls ist die heutige Vätergeneration deutlich engagierter als frühere. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sich Männer mit und ohne Kinder weniger als Konkurrenten fühlen. Sind die einfach entspannter als wir Frauen?

Ich würde eher sagen: Sie ducken sich ein bisschen weg. Das Leben der meisten Männer verändert sich doch deutlich weniger, wenn sie Vater werden – anders als bei Frauen. Oder sie schieben die Entscheidung für eine Familie endlos auf. Wenn Frauen nicht Mütter werden, liegt das ja oft auch an der fehlenden Bereitschaft des Partners, Verantwortung und Pflichten zu übernehmen. Das wird gerne übersehen. Stattdessen werden fast ausschließlich Frauen für sinkende Geburtenraten verantwortlich gemacht.

Sie haben zu Anfang von einem System gesprochen, das für Eltern und Kinderlose gleichermaßen gerecht ist. Wie müsste das aussehen?

Zum einen müsste das Modell der umlagefinanzierten Rente familiengerecht umgebaut werden, denn Eltern zahlen doppelt – als Arbeitnehmer für die jetzige Rentnergeneration sowie als Eltern für die Rentenzahler von morgen. Je nach Anzahl der Kinder sollte es eine deutliche Entlastung geben.

Wäre das bezahlbar?

Die gesetzliche Rente müsste stärker steuerfinanziert sein als heute, und man müsste mehr Menschen ins System mit aufnehmen. Auch Beamte und Freiberufler.

Gibt es dafür Mehrheiten, und wenn ja, in welcher Partei?

Die Gerechtigkeitslücke zwischen Menschen mit und ohne Kindern wird durchaus parteiübergreifend gesehen – aber keiner traut sich an das heiße Eisen heran. Weil man Angst hat, Kinderlose könnten das als Schikane erleben. Vor allem diejenigen, die sich nicht freiwillig für diese Lebensform entschieden haben.

Verständlich. Aber auch nicht besonders weitsichtig.

Das Problem der Politik ist, dass sie von älteren für ältere Menschen gemacht wird – schon allein, weil es mehr ältere Wähler gibt als jüngere. Die Lebenswirklichkeit von Familien wird in einer alternden Gesellschaft immer weniger berücksichtigt. Die Herabsetzung des Wahlalters wäre ein Schritt, um dem zumindest etwas entgegenzusetzen.

Und was wäre die Aufgabe der Wirtschaft? Einfach wieder Personal aufstocken klingt zwar schön, aber manches Unternehmen würde damit die eigene Existenzgrundlage gefährden.

Ich würde mir zumindest Ehrlichkeit wünschen. Dass Unternehmen offen zugeben: Wir bieten eigentlich keine Vereinbarkeit. Wer bei uns arbeiten will, muss die und die Bedingungen erfüllen. Dann wären zumindest die Spielregeln klar. Zweitens, und hilfreicher: Arbeitszeitmodelle, die verschiedene Lebensphasen berücksichtigen.

Würden Arbeitszeitkonten nicht einseitig Eltern bevorzugen?

Wenn man Kinder bekommt heißt das ja nicht, dass man die nächsten 40 Jahre nicht mehr belastbar ist. Personalpolitik müsste langfristiger denken: Man ermöglicht Mitarbeitern, zwischendrin Vollgas in der Familie zu geben, denn man weiß: Dann wird er oder sie leistungsbereiter, loyaler und zufriedener zurückkehren. Prioritäten verschieben sich ja laufend, wenn Kinder größer werden. Auch Menschen ohne Sorgeverpflichtung sind ja nicht ihr ganzes Leben lang gleichermaßen leistungsfähig. Vielleicht erwischt sie in der Lebensmitte eine Krise und sie brauchen eine Auszeit, um sich neu zu orientieren. Oder sie rutschen ins Burnout. Eine Personalpolitik, die das berücksichtigt, käme allen zugute. Eltern und Kinderlosen, Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

Ziemlich beste Freunde – verstehen sich die Generationen ein bisschen zu gut?

Mein Text aus einem BRIGITTE-Dossier, Oktober 2017

Harmonie zwischen den Generationen macht Loslassen für beide Seiten schwer. Wenn 20-somethings noch zu Hause wohnen und erwachsene Mutter-Tochter-Duos Klamotten tauschen – Grund zur Freude oder Grund zur Sorge?

Es ist Sonntag, ein strahlender Tag in Berlin, als die Nachricht ihrer Tochter auf dem Handy aufpoppt: „Hey Mama, Lust auf einen Bummel im Schlosspark?“ Mama nimmt das Telefon und beginnt zu tippen: „Sorry, Schatz, ich kann nicht, ich hab ein Date.“ Und fragt sich gleichzeitig: Ist das nun rührend oder auch befremdlich, wenn sich ihre 22jährige an einem solchen Tag nichts Schöneres vorstellen kann, als mit Mama spazieren zu gehen? Marie wiederum ist gerade mit einer Freundin unterwegs, die ganz neidisch aufs Display schielt: „Du hast es gut, ich wünschte, meine Mom wäre auch so unabhängig.“

Maries coole Mom heißt Gerlinde Unverzagt, Autorin, alleinerziehend, vier Kinder in den Zwanzigern. Als Marie, die Zweitjüngste, nach einem Auslandsaufenthalt ganz selbstverständlich wieder ihr altes Kinderzimmer bezog, fing Unverzagt an, sich Gedanken zu machen über das Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren. Länger zusammen wohnen, häufiger zusammen feiern, sich gegenseitig T-Shirts leihen – ist das nur die logische Fortsetzung einer liebevollen Kindheit? Oder ist doch irgendetwas faul an dieser Harmonie? In ihrem aktuellen Buch („Generation ziemlich beste Freunde – warum es heute so schwierig ist, die erwachsenen Kindern loszulassen“, Beltz, 16,95 €) hat sie Fragen und Antworten zusammengetragen, Tochter Marie einige Kapitel aus ihrer Sicht ergänzt.

Sicher ist: Erwachsene Kinder und ihre Eltern stehen sich heute näher denn je – und das auf vielen Ebenen. Zum einen räumlich: War 1970 jeder Zweite im Alter von 20 Jahren zu Hause ausgezogen, lebt heute jeder Dritte in der Altersgruppe 25 bis 34 immer noch oder wieder im Elternhaus – zwei Drittel davon Männer. Das hat zum Teil praktische Gründe: Warum explodierende Großstadt-Mieten für WG-Zimmer oder Appartement auf sich nehmen, wenn man’s zu Hause billiger haben kann, inklusive Wäsche-Service und Catering made by Mama? Dazu kommen gestiegene Ansprüche. Unverzagt erinnert sich: „Ich habe mit Anfang 20 in einem besetzten Haus gewohnt, mit Apfelsinenkisten als Möbeln. Meine Kinder erwarten zum Auszug Power-Shopping bei Ikea!“

Das passt zum Befund der aktuellen Shell-Jugendstudie, die jungen Erwachsenen das Label „pragmatische Generation“ verpasst – aber es geht nicht nur um nüchterne Kosten-Nutzen-Abwägung. 90 Prozent aller Jugendlichen geben an, sie hätten ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Eine Mehrheit wie auf DDR-Parteitagen. Fast drei Viertel würden ihre eigenen Kinder so erziehen, wie sie es selbst erlebt haben, ein Wert, der seit Anfang der Nuller Jahre stetig gestiegen ist. Andere Sozialwissenschaftler kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Laut einer Untersuchung der TU Chemnitz bespricht jede zweite junge Frau regelmäßig persönliche Dinge mit ihrer Mutter.

Wer den nackten Zahlen misstraut, muss nur mal bei einer beliebigen TV-Casting-Show einschalten: Kaum etwas wird so tränenreich inszeniert, wie wenn Mama und Papa im Model- oder Musiktrainingscamp zu Besuch kommen. Ein verwunderliches Ritual für alle, die in den Achtzigern und Neunzigern jung waren: Da wäre man eher im Boden versunken, als vor laufender Kamera den Alten um den Hals zu fallen. Aber damals wäre Eltern auch weder auf die Idee gekommen, Zehnjährige auf dem Schulweg zu begleiten und Erstsemester-Studenten zur Studienberatung – beides heute gang und gäbe.

Möglicherweise ist die neue Nähe auch Ausdruck des Zeitgeistes, der Renaissance des Wir-Gefühls. Ob „Public Viewing“, „Sharing Economy“ oder skandinavische „Hygge“-Gemütlichkeit: Anders als in früheren, mega-individualistischen Zeiten sehnen wir uns in der wackligen Welt von heute generationenübergreifend nach Zusammengehörigkeit, Berechenbarkeit, Beschaulichkeit. Es mag Zufall sein oder auch nicht, dass die Anzahl der erwachsenen Kinderzimmer-Bewohner seit den frühen Nuller Jahren rasant angestiegen ist – dem Zeitpunkt, als das Nine-Eleven-Attentat eine Zeitenwende markierte, von der Spaßgesellschaft zum neuen Bedrohungsgefühl. Unverzagt findet das Zusammenrücken nachvollziehbar, sieht es aber trotzdem kritisch: „Das Wort ‚Familie’ hat heute einen unangenehmen Pathos bekommen. Da schlagen konservative Werte mit voller Wucht zurück.“

Überhaupt gibt es einiges an der aktuellen Entwicklung, das Gerlinde Unverzagt Bauchschmerzen bereitet. Nicht mal so sehr die Bequemlichkeit der Jüngeren, mehr noch die Bedürftigkeit der Älteren. „Kinder haben ist für viele Menschen heute ein zutiefst narzisstisches Projekt geworden“, glaubt Unverzagt. Sie selbst sei als Kind eher „so mitgelaufen“, während Kinder und Jugendliche heute gewissenhaft gefördert würden – vom Zwergen-Musikkurs bis zum „Gap Year“ in Südostasien nach dem Abitur. Eine Investition, von deren Früchten man dann auch profitieren möchte. Das muss gar nicht so weit gehen wie bei den Society-Müttern der New Yorker East Side, die von ihren Ehemännern finanzielle Boni für Schulnoten der Teenager erhalten. Als wäre das Kind ein Investment-Fonds und sein Erfolg eine mütterliche Management-Aufgabe. Auch ganz durchschnittliche Mittelklasse-Teilzeitjob-Mütter in Deutschland seien nicht immun gegen diese Schräglage, glaubt Unverzagt: „Obwohl die weibliche Berufstätigkeit heute viel verbreiteter ist als noch vor einer Generation, betrachten Frauen vor allem ihre Kinder als sinn- und identitätsstiftend – und ertragen es dann nicht, wenn an diesem zentralen Punkt eine Leere entsteht.“

Denn dann müsste man sich ja unangenehmen Fragen stellen: Wie steht’s um meine Partnerschaft? Was macht mein Leben sonst noch aus? Oder, verschärft noch bei Alleinerziehenden: Wie gehe ich mit dem Gefühl des Verlassenseins um? Des sichtbaren Älterwerdens? Die Alternative ist verlockend: erwachsenen Kindern zu Hause alle Annehmlichkeiten bereiten, inklusive gemeinsamer Partys und Fernsehabende plus launiger WhatsApps zwischendurch, und daraus die Gewissheit ziehen: Hey, ich bin vielleicht 30 Jahre älter, aber innerlich genau so jung und cool! Der Satz einer Single-Mutter aus einer TV-Doku ist Unverzagt besonders unangenehm im Gedächtnis geblieben: „Mein Sohn ist der Mann meines Lebens – eine solche Aussage grenzt für mich an emotionalen Missbrauch!“

Die Psychotherapeutin und Entwicklungspsychologin Christiane Wempe aus Ludwigshafen sieht die Dinge ähnlich wie Unverzagt – allerdings weniger dramatisch. „Dies Nicht-Loslassen-Können, diese Rollenumkehr, das betrifft eher ein bestimmtes, großstädtisches Bildungsmilieu, nicht die Gesellschaft als ganzes. Generell kann man aber sagen: Ablösungsprozesse sind heute etwas stärker gepuffert, nicht mehr so radikal.“ Das hat zum einen mit modernen Medien zu tun: Wenn man vor 20 Jahren halbherzig versprach, auf Interrail-Tour einmal die Woche eine Telefonzelle aufzusuchen, sind heute Eltern per Messenger-Dienst täglich im Bilde, was Mäuschen in Jakarta oder Hanoi gefrühstückt hat. Die Mütter genauso wie die Väter, die heute oft sehr viel mehr Anteil nehmen am Alltag ihrer Kinder. Aber auch Lebensläufe sind weniger planbar. Abi mit 19, Zivildienst, Studium plus WG-Zimmer – das ist total Neunziger. Moderne Geschichten klingen eher so: Abschluss mit 17, ein Jahr Work-and-Travel, mit 18 erstmal wieder zurück nach Hause und um einen Studienplatz bewerben. Die Wohnsituation allein ist für Christiane Wempe kein Gradmesser für Autonomie: „Wir haben in einer Studie über den Auszug aus dem Elternhaus sowohl Befragte gehabt, die bei ihren Eltern wohnen, aber selbständig ihre Angelegenheiten regeln, als auch solche mit eigener Wohnung, deren Mütter dort wöchentlich zum Putzen vorbeikamen und andere Dinge regelten. Wer von denen ist erwachsener?“

Einig sind sich alle Experten: Innere und äußere Unabhängigkeit sind ein wichtiger Entwicklungsschritt für die Jüngeren – genau so wie das Loslassen für die Älteren. Dass das ein schmerzhafter Prozess sein kann, so wie jede Veränderung, bestreitet keiner. Oft sind es kleine Rituale, die den Übergang erleichtern. „Als mein ältester Sohn auszog, hatten wir im ersten halben Jahr eine Verabredung: Ein Mal pro Woche kommen alle gemeinsam zum Essen.“, erinnert sich Unverzagt. Vor allem aber empfiehlt sie Eltern, sich beizeiten mit dem auseinander zu setzen, was unabwendbar vor ihnen liegt: „Dort, wo Kinder sich aus dem eigenen Leben zurückziehen, die Freiräume mit eigenem aufzufüllen – das ist eine gute Vorübung.“ Fängt an beim ersten Kneipenbummel nach Ende der Baby-Stillzeit, geht weiter mit dem ersten Urlaub ohne Kinder, wenn die lieber auf Partytour nach Spanien wollen als auf Kulturreise ins Baltikum. Eine Leere, ja – aber eine, die Platz bietet für neue Inhalte: wieder Zeit haben für den Partner, Gas geben im Job, Freiräume für Freundschaft, Hobbys, Reisen. Schließlich sei es etwas fundamental anderes, ob eine Liebesbeziehung zerbricht oder ein erwachsenes Kind flügge wird, findet Unverzagt: „Die Tochter, der Sohn geht – und liebt uns trotzdem weiter.“

Marie, übrigens, bewirbt sich gerade um einen Studienplatz. Die Fachrichtung ist klar, der Studienort noch nicht. Mit einer Ausnahme: Berlin, findet Marie, geht gar nicht.

 

Polyamorie: In guten wie in guten Zeiten

Alle miteinander haben sich ganz lieb, jeder ist für sich selbst verantwortlich, reden hilft: Der Gesellschaftstrend „Polyamorie“ klingt nach einem Märchen für Erwachsene. Ich fürchte: Genau das ist es auch. Geht das nur mir so?, frage ich mich in der BRIGITTE im Mai 2017

 Wenn ein Angebot zu gut klingt, um wahr zu sein, ist daran meistens etwas faul. Das gilt für 19-Euro-Flugtickets genau so wie für die Polyamorie. Sie wissen auch nicht so ganz genau, was das ist? Laut Wikipedia geht es um die Idee, „mehr als einen Menschen zur gleichen Zeit zu lieben, mit Wissen und Einverständnis aller Beteiligten, als langfristig und vertrauensvoll angelegte Beziehung.“ Also: ein bisschen Woodstock, ein bisschen Sharing-Economy. Der „Spiegel“ feierte offen geführte Mehrfach-Lieben kürzlich gar als feministische Erfolgsgeschichte. Seitdem frage ich mich ständig: Wo ist der Haken? Denn irgendeinen haben sie ja alle, diese super-duper-sorglos-Angebote. Die billigen Flugtickets gelten nur am 31. Februar morgens um halb vier one-way. Und die Polyamorie? Mag funktionieren. Aber nur für Menschen, die halbwegs jung, halbwegs schön, halbwegs kinderlos, halbwegs gesund und krisenfrei sind.

Ich glaube nämlich nicht nur, dass immer einer mehr leidet, je schwereloser der andere von Blüte zu Blüte hüpft. Ich frage mich vor allem, wie tragfähig so eine Mehrfachbeziehung wird, wenn’s hart auf hart kommt. Wenn das luftige Liebes-Ideal auf dem Boden der Tatsachen landet. Kein Problem, so lange alle tiefenentspannt durchs Leben gehen: Der Ben wacht morgens um zehn in Julias Single-Appartement auf und frühstückt um elf bei der Geli Croissants mit Erdbeermarmelade, ganz ohne Eifersucht und Heimlichkeiten. Aber was, wenn die Geli am Freitag eine fiese Wurzelbehandlung hat, Julia aber mehr Lust auf eine Spritztour ins Romantik-Hotel? Wenn Julia ein Baby bekommt – schläft Ben bei seiner Alternativ-Liebe, weil da die Nächte ruhiger sind? Und wenn Ben seinen Job verliert: Machen dann beide Frauen Schluss? Weil negative Vibes das gute Feeling ruinieren, und Trips ins Romantik-Hotel nicht vom ALG II zu bezahlen sind? Oder legen Geli und Julia fürs Dreierzimmer zusammen? Das ist für mich der größte Minuspunkt des Ich-liebe-euch doch-alle-Ideals: Schwach sein ist nicht. Jedenfalls nicht für länger.

Klar, auch in gewöhnlichen Zweierbeziehungen klappt das nicht immer mit den guten und den schlechten Zeiten. Egal ob verheiratet oder nicht, homo oder hetero. Es gibt Männer, die gehen während der Krebs-OP ihrer Frau zum Segeln, und Frauen, die ihre Zuneigung an den Gehaltszettel oder den BMI ihres Lebensgefährten koppeln. Aber dann weiß man wenigstens: Das ist wohl nicht der Mensch, auf den ich mich im Leben verlassen sollte. In anderen Fällen tut es der Liebe sogar gut, wenn sie kein allzu bequemes Schlupfloch hat. Wenn einen nicht nur luftiges Gefühl bindet, sondern auch das Kind, die Eigentumswohnung, die gemeinsame Firma, dann ist man doch eher bereit zu bleiben, zu streiten, bestenfalls aneinander zu wachsen. Ja: das hat mit Abhängigkeit zu tun, das ist anstrengend. Aber auch Mehrfach-Beziehungen sind ja kein Ponyhof, sie zerren nur anders an den Nerven. Liebe gerecht verteilen, Bedürfnisse abwägen: ein emotionaler Vollzeitjob. Und es gibt Phasen im Leben, da möchte ich nicht dauernd verhandeln, sondern mich einfach mal fallen lassen. Zu wissen, dass einer mich auch mit unrasierten Beinen liebt; zurücklieben, auch wenn er nicht jeden Abend Energie hat für tiefe Talks: Das ist wirklich mal ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann.

 

Südtirol im Winter: Spiel & Rodel gut

Hüttenzauber in der eigenen Stube, Kälbchentaufe im Stall und Einkehrschwung im Top-Skigebiet: Winterurlaub auf dem Bauernhof ist eine Traumkombi für Familien, in denen jeder eine andere Vorstellung hat von einer perfekten Woche im Schnee. 2012 haben mein Mann, meine Kinder (damals sechs und drei) und ich es ausprobiert, darüber geschrieben habe ich in der ELTERN family

 „Psst!“ flüstert Henri durchdringend in mein linkes Ohr. Ich blinzle schlaftrunken in mein Daunenkissen, dann zum Fenster in der Dachschräge. Finster ist es. Nur die Sterne sind weg, die vor ein paar Stunden noch so nah schienen, als könnten sie gleich in unser hölzernes Bauernbett plumpsen. Der aufgeregte Atem meines Sohnes streift meine Wange. „Psst!“ flüstert er noch lauter, „die Tiere schlafen.“ Da hat er höchstwahrscheinlich Recht. Dafür ist Mama jetzt hellwach. Auch wenn sie es sich nicht anmerken lässt.

Stille. Ungefähr zehn Sekunden lang. „Mama?“ „Grmpf?“ „Mama, hat Lotta schon ein Ei gelegt?“ „Nein, Henri, die schläft auch noch.“ Henri stupst mir stumm das geschnitzte Eierkörbchen in die Rippen. Ich verstehe. Ich kapituliere. Denn hier, auf dem Mudlerhof im Gsieser Tal, ist jeder Tag ein bisschen wie Weihnachten: Spätestens um halb sieben sitzen Henri (3 1/2) und Helen (6) senkrecht im Bett, weil sie es nicht erwarten können, in den Stall zu kommen. Jede Ferienwohnung hat eine private Eierlieferantin. Und was gibt es Schöneres, als morgens das noch körperwarme Ei aus der strohgepolsterten Legebox zu nehmen und im Triumphmarsch zum Frühstückstisch zu bringen? Da müssen eben auch die Großen mit den Hühnern aufstehen. Und mit Franz, dem Hahn.

Die Vorstellungen vom Ausschlafen im Urlaub mögen in unserer Familie ein wenig auseinander gehen. Aber sonst ist dieser Südtiroler Milchbauernhof aus dem 18. Jahrhundert mit unserer kuscheligen Ferienwohnung in der ehemaligen Brotkammer ein Sechser im Lotto. Denn er hat alles, was wir zum Winterglück brauchen. Während Helen endlich mal auf Skiern stehen will, reicht für Henri auch der Schlittenhang hinter dem Haus, Hauptsache, es gibt immer genügend Tiere: Stubenkatze und Stallkatze, Küken und Kühe. Und während ich von sonnigen Carving-Hängen träume, schlägt das Herz meines Mannes Dierk für mittelalterliche Burgen und Weinkeller. Aber warum Kompromisse machen, wenn man alles haben kann: am Morgen im Stall den Hasen die Ohren kraulen, am Nachmittag kilometerlange Pisten, abends den leckeren Lagreiner Rotwein auf der Eckbank im Herrgottswinkel? Das alles in einem stillen Seitental Südtirols, mit schneebedeckten Kiefern- und Lärchenwäldern, trutzigen Burgruinen und kleinen Dörfern. Fernab von hochglanzpolierten Après-Ski-Bars und Boutiquen-Bling-Bling, aber dank guter Verkehrsanbindung nur eine dreiviertel Stunde vom vielfältigen Skigebiet Kronplatz entfernt (siehe Kasten S. x).

Natürlich gehört zu einem so zünftigen Winterurlaub auch eine zünftige Urlaubsliebe. Helen hat ihre im Sturm erobert: die Bäuerin Agatha, eine zupackende und äußerst herzliche Person von Mitte 50. Die hat selbst zwei Söhne und eine Tochter großgezogen, lange Jahre als Grundschullehrerin gearbeitet, und eine geradezu magnetische Wirkung auf Kinder. Wenn Agatha auftaucht, gibt es immer etwas Tolles zu tun. Die Füllung für „Tirtlan“ anrühren, das typische Südtiroler Schmalzgebäck. Oder aus der hofeigenen Milch kleine Käsestücke in Herzform herstellen. Oder, besonders verantwortungsvoll: einen Namen finden für ein neugeborenes Kälbchen. Während unserer Urlaubstage kommen gleich zwei zur Welt, und Helen nimmt die Aufgabe ähnlich ernst wie werdende Elternpaare. Schließlich wird der kleine gescheckte Stier John genannt, die braune Minikuh Ada. Dass die meisten Hühner und Kühe heißen wie aus der aktuellen Top-Ten-Liste der Kindervornamen, ist übrigens kein Wunder: Lotta, Emma und Lisa haben gleichnamige Taufpatinnen.

Schon bald bekommt Helens Urlaubsliebe jedoch harte Konkurrenz. Er heißt Stefan, hat ein freundliches sonnengegerbtes Gesicht und ist, jawoll: Skilehrer. Noch dazu ein ganz exklusiver: Für kleine Greenhorns wie unsere Tochter kann man in der Skischule vom Nachbardorf St. Magdalena den Chef persönlich für eine Schnupperstunde mieten. Und so kurvt Helen bald im Schneepflug ihre ersten Meter Hang hinunter und juchzt halb begeistert, halb ängstlich, wenn sich Stefan erst seine Schülerin und dann den Teller des altmodischen Liftes zwischen die Beine klemmt. Bei dem Anblick muss ich an meine eigenen ersten Schwungversuche in den 70er Jahren im Schwarzwald denken. St. Magdalena, das ist: ein einziger Hang, ein einziger Lift, und direkt neben dem Skischulbüro am Fuße des Hügels kräht ein Langschläferhahn auf dem Mist. Sehr zu Henris Freude. Währenddessen bringe ich auf dem Übungshang meine eingerosteten Oberschenkel wieder in Schwung. Auf halber Strecke saust eine Armada von bunt gekleideten Zwergen an mir vorbei, die aussehen, als hätten sie das Carven vor dem Laufen gelernt. Haben sie wahrscheinlich auch. Wer hier groß wird, kennt schon im Kindergarten jeden Berg beim Vornamen.

Damit Papa Dierk nicht noch einen zweiten Tag mit Henri Hühner am Hang jagen muss, haben unsere Bauersleute eine Überraschung in petto: Wintersport für Skiverweigerer! Auf unserer Wandertour am nächsten Tag werden die Schneeschuhe eingepackt, und los geht’s ab dem Lift in St. Magdalena, einen gewundenen Weg bergauf durch den Winterwald. Die Kinder dürfen auf dem Schlitten sitzen, nur an den steilsten Stellen müssen sie ein paar Meter laufen. Aber Agatha weiß, wie man meckernde Flachlandtiroler bei Laune hält: mit Märchen. Von der Superhenne Mina, die bunt sein wollte wie ein Blumenstrauß, und von dem Königssohn und der Mondprinzessin, die erst miteinander leben konnten, als die Dolomiten ihre bleiche Mondlichtfarbe bekamen. Dass der Weg sich gelohnt hat, darüber sind wir uns spätestens einig, als wir auf fast 2000 Metern an der sonnendurchwärmten Holzwand der „Ascht-Alm“-Terrasse sitzen und Hubi vor uns steht. Der Hüttenwirt sieht beinahe aus wie eines der männlichen Models aus der Fremdenverkehrswerbung, und kochen kann er auch noch: Polenta oder Speckknödelsuppe, Hollerschorle oder Helles, man kann sich kaum entscheiden. Irgendwann kommt Töchterchen Laura (3) aus der Wirtsstube gestapft, ganz cool im Fleecepullover, und zeigt ihr Kinder-Karaoke-Set. Während sie mit Henri und Helen die Hütten-Hits der nächsten Saison einübt, bereiten Dierk und ich uns seelisch auf die Schlittenpartie ins Tal vor und genießen den Bergblick vor der Nase. Den haben wir zu Hause in Hamburg eher nicht so.

Was wir auch nicht haben, sind Burgen. Sehr zum Leidwesen meines Liebsten, der seit seiner Grundschulzeit vom Mittelalter-Virus befallen ist. Ich hab’s zwar nicht so mit Rittern & Co., aber mit diesem Ausflugsziel kann Dierk uns alle ködern: Die Kleinstadt Bruneck, mit dem 2011 eröffneten „Messner Mountain Museum“ in der Burganlage aus dem 13. Jahrhundert. Der Südtiroler Ausnahmebergsteiger Reinhold Messner hat dort eine überwältigende Sammlung zusammengetragen, die das Leben von Bergvölkern aus aller Welt dokumentiert: von der bulgarischen Hochzeitstracht bis zum Tiroler Butterstempel, von der Wasserschale aus dem Wadi Rum bis zur Götterfigur aus dem Himalaja. Und zwar nicht hinter Glas und Absperrseilen ausgestellt, sondern zum Erleben und nah Rangehen. In Nullkommanix haben Helen und Henri eine mongolische Jurte erobert, während ich mich wundere, wie gut buddhistische Gebetsfahnen und trutzige Burgmauern zusammen aussehen.

Und noch etwas hat Bruneck: eine schnuckelige Flaniermeile mit südländischem Flair, gesäumt von zwei mittelalterlichen Stadttoren. In den Bars sitzen blondierte Frauen vor ihrem Nachmittags-Prosecco, in den Boutiquen gibt’s italienische Wintermode von Stefanel und Max & Co, und auf einmal spürt man, dass Südtirol genau so nah an Venedig ist wie am Brenner. Jetzt eine wagenradgroße Angebersonnenbrille aufsetzen und ab ins Straßencafé! Aber daraus wird leider nichts. Helen und Henri haben noch ein Date: Um 17 Uhr im Kuhstall, mit Bauer Peter, zum Melken. Und vielleicht auch noch mal eine Runde mit dem Rutschbike auf den Schlittenhang, und dann muss ja auch noch mal jemand nach den Hühnern sehen. Tja. So ist das eben, wenn man im Urlaub alles haben kann.

 

Tipp: Der Mudlerhof (www.mudlerhof.it, Tel. **39/0474/978446) gehört zur Südtiroler Urlaubs-Bauernhofsvereinigung „Roter Hahn“ (www.roterhahn.it) und ist dort als besonders kinderfreundlich ausgezeichnet. Ferienwohnungen für 4-5 Personen, auf Wunsch auch mit Frühstück buchbar.