Rolle rückwärts?

Zwischen Homeschooling, Herd und Home-Office: Die Corona-Pandemie dreht unser Leben auf links. Wohin führt das: zurück in die Fünfziger Jahre – oder vorwärts, zu einer gerechteren Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit? Wer jetzt verliert, wer jetzt gewinnt, und wer jetzt gefragt ist: Politik, Arbeitgeber, und nicht zuletzt wir selbst!

Titelthema aus ELTERN, 7/2020

Phase eins: Luft anhalten, weiter atmen

Ganz am Anfang der Krise, ganz im Norden, zerrinnt einer Mutter die Lebensplanung zwischen ihren Fingern.

Sandra, 48, lebt mit Mann und sechsjähriger Tochter an der Küste in Mecklenburg-Vorpommern, hat viele Jahre in der Boombranche Tourismus gearbeitet und sich gerade selbständig gemacht, als Personalberaterin in der Kreuzfahrtindustrie. Zwei Wochen später branden die ersten Nachrichten von Covid-19-Infektionen in Europa an. „Innerhalb kürzester Zeit gingen meine Aufträge von 100 auf Null zurück. Beim Blick auf meine Kontoauszüge fragte ich mich jeden Tag: Wie lang können wir noch atmen?“ Schließlich verdient ihr ägyptischer Mann mit Hausmeisterjobs nur wenig. Zurück in eine Festanstellung? Jobangebote sind rar, wenn, dann in Vollzeit, und wer soll der Tochter beim Lesenlernen helfen, wenn der Vater kein Muttersprachler ist? Also beantragt Sandra Grundsicherung. Schreibt Protestbriefe an Ministerien, setzt eine Web-Idee um*, legt Gemüsebeete an, kauft zwei Meerschweinchen. „Unser Kind soll nicht unter der Situation leiden.“ Und sie selbst? „Ich bin vor allem wütend. So viel Arbeitskraft und Knowhow wird hier verbrannt!“

In der Mitte Deutschlands, in Köln, sitzt derweil Ines Imdahl, Diplom-Psychologin und Mitgründerin des Forschungsinstituts „Rheingold Salon“, und macht sich Sorgen. Seit mehreren Jahrzehnten nimmt sie mit ihrem Team die Befindlichkeiten, Sorgen und Wünsche von Frauen unter die Lupe. Schon im März, nach der TV-Ansprache der Bundeskanzlerin sagt sie: Vor allem Mütter werden den Preis für die Corona-Krise zahlen. Weil sie verinnerlicht haben: Klar darf ich mich um Karriere und persönliche Ziele kümmern – aber nur, wenn die Partnerschaft, die Kinder, am besten nicht einmal der Haushalt darunter leidet. Dieser Perfektionsdrang fällt ihnen jetzt auf die Füße, sagt Imdahl: „Es gibt Mittelschichtsmütter, die machen seit Beginn der Pandemie zwei Fulltime-Jobs.“ Weil sie neben Home Office den Anspruch haben, im Homeschooling zu performen wie die Lehrer. Besser: noch besser. Ihren Größeren Software zur Aufgabenorganisation aufs Laptop laden, den Kleineren die Bügelperlen plätten. 8,8 Millionen Schul- und Kitakinder sind zu diesem Zeitpunkt ohne Tagesbetreuung. Folge: „Die Mütter hecheln jetzt bei der Arbeit hinterher, während Kinderlose an ihren Karrieren schrauben – und auch jene Väter, denen die Frauen ganz nebenbei noch die Hemden bügeln.“ Kein Klischee, sondern Zahlen des sozioökonomischen Panels: Selbst bei Elternpaaren, die beide Vollzeit beschäftigt sind, kümmern sich Frauen im Schnitt fast zwei Stunden täglich mehr um Kinder und Haushalt als Männer; ist er Hauptverdiener und sie Zuverdienerin (trifft in Deutschland auf fast jede zweite Familie mit Kindern unter zwölf Jahren zu), erhöht sich die Differenz auf über fünf Stunden.

Weitere 450 Kilometer südlich, in einem Dorf bei Freiburg. Das Leben von Janis (38) erinnert an den Computerspiel-Klassiker „Tetris“: Dort geometrische Formen anordnen, die immer schneller über den Bildschirm gesaust kommen, hier den Alltag jonglieren. Als Pflegedienstleiterin in Teilzeit hat sie die Verantwortung für 50 Angestellte, ihr älterer Sohn Jannik, 8, braucht als Asperger-Autist ständige Schulbegleitung, ihr Mann geht als LKW-Fahrer früh aus dem Haus und kommt spät nach Hause. Der familiäre Zeitplan ist auf Kante genäht. Mit der Corona-Kurve steigt das Tempo nochmal um mehrere Level.

Janis ist jetzt offiziell Alltagsheldin, abends klatschen Menschen von Balkonen. Aber das ist ein schwacher Trost, wenn die Notbetreuung nicht greift, weil nur ein Elternteil einen Job hat mit dem Label „systemrelevant“. Wenn im Pflegeheim zusätzlich besorgte Angehörige Schlange stehen, die ihre Angehörigen nicht besuchen dürfen. Wenn nach den Osterferien jeder Sohn einen anderen Präsenztag in der Schule hat und Jannik täglich ausrastet, weil der Krisenmodus ihm feste Struktur nimmt – purer Stress für Kinder wie ihn. „Mein Mann hat größten Respekt dafür, was ich leiste“, sagt Janis. Aber mehr als ein Familientag pro Woche ist für ihn nicht drin. Ansage vom Chef. Wie kommt sie klar mit dem Druck? „Ich kann nur dafür sorgen, dass es mir gutgeht. Der wöchentliche Mädelsabend mit meinen Freundinnen ist mir heilig. Auch wenn dafür körbeweise Dreckwäsche auf dem Sofa liegen bleibt.“

Nicht nur Ines Imdahl warnt, dass Mütter zusammenklappen, abgehängt werden oder beides. Im April prognostiziert die Soziologin Jutta Allmendinger im Talk bei Anne Will, Frauen würden gerade um dreißig Jahre zurückgeworfen. CSU-Chef Markus Söder wischt solche Prognosen markig vom Tisch: „Es geht nicht um die Rückkehr zum Herd, sondern ums Home Office – das kann sogar gut sein für die Work-Life-Balance!“

Janis kann er damit nicht meinen, denn wie viele Mütter arbeitet sie in einem typischen Frauenjob: Pflege, Kitajobs und Co sind so anspruchsvoll wie schlecht bezahlt, und man kann sie weder mit nach Hause nehmen noch beschleunigen. Nur in 57 Prozent aller Paarfamilien ist zumindest für einen Elternteil Arbeit im Homeoffice möglich, bei Alleinerziehenden liegt der Anteil sogar nur bei 35 Prozent, findet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) heraus. Im WZB-Forschungsinstitut kommt man zum Ergebnis: Die Lebens- und Arbeitszufriedenheit sinkt durch Corona stärker bei Familien als bei Kinderlosen, und bei Müttern deutlich stärker als bei Vätern. Die Folgen beziffert die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung: 27 Prozent aller Mütter von Kindern unter 14 haben seit Beginn der Corona-Krise ihre Stundenzahl im Job reduziert, aber nur 16 Prozent der Väter.

Phase zwei: Durchwursteln, neu finden

In den Szenevierteln Hamburgs füllen sich die Straßencafés wieder, an der Elbe schwitzen Jogger, und Alexandra (27) sagt: „Uns geht es ziemlich gut.“ Vor Corona sah das Leben mit ihrem Freund Finn (32) so aus: Gemeinsam um Tochter Nora (5) kümmern, jeder für sich beruflich ranklotzen. Alexandra für ihre Doktorarbeit in Physik, Finn in Teilzeit bei einer Bank, am Wochenende bei der Gründung eines eigenen Startups für Veranstaltungstechnik. Ausgerechnet. Virus plus Kitaschließung haben die Karten neu gemischt: Die Gründung liegt auf Eis, jeder hat genau zweieinhalb Arbeitstage, und am Wochenende ist plötzlich viel Zeit zu dritt. Ungewohnt für das Powerpaar. „Es ist wie eine Elternzeit, die wir nie richtig hatten.“ Ein ungebetenes Geschenk – selbst wenn es finanziell Abstriche bedeutet. Und Alexandra sich auch sorgt, ob sie ins Hintertreffen gerät. Weil Kollegen die Zeit ohne Kongresse und Unibetrieb zum Schreiben und Forschen nutzen, während sie mit ihrer Tochter spielt. „Es ärgert mich, dass die Politik sich zuerst um Autohäuser gekümmert hat und erst dann um Kitas.“ Das Positive? „Finn und ich sind ein super Team, wir können Krise.“

Einen Stadtteil weiter hat Martina (Name geändert), 53, weniger gute Erfahrungen gemacht. Sie und ihr Exmann sind seit acht Jahren getrennt, die Teenie-Kinder pendeln wochenweise. Mit Corona flog ihnen der Familienvertrag um die Ohren: „Weil ich als freiberufliche Mediatorin zu Hause arbeite, bleibt das Homeschooling an mir hängen – mein Ex geht in seiner Woche einfach ins Büro. Wenn nachmittags unser Zwölfjähriger vor der Tür steht, weil er mit den Aufgaben nicht weiterkommt – soll ich ihn wegschicken?“ Was sie betrübt: „Warum wird die Arbeit von Frauen so oft geringer geschätzt als die von Männern?“

Beispiele, die zeigen: Covid-19 ist kein Erdrutsch, der die Landschaft verändert – sondern zeigt wie unter einer Lupe bestehende Strukturen. Man könnte auch sagen: Von wegen „Retraditionalisierung“ – wir standen auch vor der Pandemie noch mit einem Bein in den Fünfzigern! Der Staat belohnt Familien mit hohen Einkommensdifferenzen, von der kostenlosen Mitversicherung in der Krankenkasse bis zum Steuerrecht. Trotz Kita-Ausbau, trotz Elterngeld Plus. Zahlen des Bundesfamilienministeriums von 2016 sprechen eine eindrückliche Sprache: Selbst wenn Eltern minderjähriger Kinder beide die gleiche Schulbildung und das gleiche Berufsbildungslevel vorweisen können, verdienen 19 Prozent der Mütter Null, 63 Prozent unter 1000 und nur sechs Prozent mehr als 2000 Euro monatlich. Auch die Abstands- und Kontaktregeln während der Lockdown-Phase offenbarten ein traditionelles Familienbild: Eltern, Kind, Hausgemeinschaft. Schwerer hatten es Single Moms (oder Dads), die sich sonst auf ein Unterstützer-Netzwerk verlassen; Eltern, die getrennt wohnen, aber gemeinsam erziehen; Patchwork-Familien.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich geändert, vor allem das der Jüngeren und der Männer. So verbringen etwa Väter, die in Elternzeit gegangen sind, auch Jahre später mehr gemeinsame Stunden mit ihren Kindern. Und junge Paare, die sich bewusst für Fifty-Fifty entscheiden – so wie Alexandra und Finn – , lassen sich das so leicht nicht nehmen. Das beweist auch ein Blick zu unseren skandinavischen Nachbarn: Kein Zufall, dass etwa Dänemark schon den Restart von Schulen und Kitas probte, als Deutschland noch über Küchenstudios diskutierte. Denn zwischen Kopenhagen und Arhus fallen Mütter als stille Reserve schlicht aus: Dänische Mamas tragen laut OECD-Statistik im Schnitt 42 Prozent zum Familieneinkommen bei – deutsche nur 22 Prozent.

Phase drei: Umdenken, Chancen ergreifen

Eine Kleinstadt in Westfalen, großzügige Häuser, sommerlich gepflegte Gärten. Ute, 46, sitzt im Arbeitszimmer vor der Laptop-Kamera und sagt: „Die Backlash-Diskussion nervt mich, wir Frauen sollten uns nicht in die Opferrolle drängen lassen. Wir haben es doch selbst in der Hand, wie wir Arbeit und Familie organisieren!“ Klar, sie ist gut dran, und sie weiß es: Mit einem festen Job als „Innovation Manager“ bei einem Arbeitgeber, der Home Office schon lang im Gesamtpaket hat, und einem Mann, der als Lehrer nicht erst abends Zeit hat für Alexander (2. Klasse) und Felix (5. Klasse). Aber Chancen entstünden jetzt für viele: „Wenn sich dank Corona herumspricht, wie gut das selbstbestimmte, agile Arbeiten funktioniert, ist das doch ein Traum – gerade für Eltern.“ Besonders Mütter brächten Fähigkeiten mit, die nach der Krise gefragt sein könnten: Kommunikationstalent, Konflikt- und Feedbackfähigkeit. „Mit diesen Pfunden müssen wir wuchern. Neue Modelle sind greifbar wie nie!“

Mit ihrem Optimismus ist sie nicht allein. Auch Gerhard, 51, Unternehmensberater aus dem Rheinland und alleinerziehender Vater eines Zwölfjährigen, hat die Wochen mit Quarantäne und Homeschooling vor allem als bereichernd erlebt: „Als Vater und Sohn hat uns die Nähe gut getan, und ich merke, dass es mich freier macht, weniger zu planen und agiler zu denken.“ Auch was die Zukunft der Arbeit angeht, ist für ihn das Glas halbvoll: „Viele Bewegungen entstehen aus einer Krise heraus!“

Man kann diese Hoffnung sogar belegen. Das Marktforschungsinstitut Innofact hat nachgefragt: Führungskräfte stehen der Arbeit im Home Office und flexiblen Arbeitszeitmodellen nach den Erfahrungen im Corona-Modus positiver gegenüber als zuvor. Und eine Studie der Uni Mannheim kommt zum Schluss: Zwar gehören Frauen (besonders Mütter) kurzfristig zu den Verliererinnen der Krise, auch weil sie häufiger in gebeutelten Branchen wie Reise und Gastronomie beschäftigt sind. Längerfristig, schlussfolgert Studienleiterin und Ökonomin Michèle Tertilt, könnte sich der Effekt jedoch umkehren: Weil Mütter von der neuen Flexibilität der Arbeitswelt profitieren, aber eben auch, weil Väter derzeit mehr Routine bei der Kinderbetreuung bekommen. Davon hätten auch Frauen etwas, die ihre Arbeit nicht am heimischen Laptop erledigen können. Sondern im Einzelhandel, im Labor, im Fitnessstudio.

Und dann gibt es noch jene, die ihre Lebensentwürfe in diesem Sommer generell hinterfragen. Wie die Fotografin Sonya, 28, Mutter von Sophia, 4. Mit Freund Jens lebt sie in Hamburg zur Miete, seit März sind ihr fast alle Aufträge weggebrochen. Neulich, auf dem Rückweg vom Supermarkt, hat sie angefangen zu weinen. Aber nicht vor Verzweiflung. Sondern vor Glück. „Ich dachte immer, ich muss unbedingt mein eigenes Einkommen haben, darf mich bloß nicht abhängig machen von Jens und seinem Job als Chemiker. Geld ist ja ein Stück Freiheit. Und dann war ich plötzlich gezwungen, einen Gang herunter zu schalten, und habe gesehen: Sophia ist so glücklich, einfach mit mir in den Tag hinein zu leben. Vorher war sie täglich acht Stunden in der Kita, häufig müde und spielte zu Hause kaum noch. Ich merke erst jetzt richtig, wie sehr mich das Muttersein erfüllt.“ Ihre Berufstätigkeit will sie zwar wieder hochfahren, wenn die Regelungen es erlauben – aber behutsam. „Ich weiß jetzt, dass wir auf kleinerem Fuß besser leben. Weil Zeit bleibt für das Wesentliche.“

Was heißt das jetzt: Freiheit im Kopf statt Freiheit durch Geld? Oder eben doch der befürchtete Rückschritt um dreißig, fünfzig oder noch mehr Jahre? In die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Generation von Frauen tatkräftig Trümmer wegräumte, das „Wirtschaftswunder“ danach jedoch den Männern überließ – so wie es Psychologin Ines Imdahl befürchtet?

Andreas Rödder, Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Uni Mainz und CDU-Mitglied, findet: Nein, das ist nicht vergleichbar. „In beiden Weltkriegen waren weiblich besetzte Arbeitsplätze eher eine Notlösung – die Männer waren an der Front, also brauchte man Frauen in der Industrie, vor allem in der Rüstung.“ Und das Ende der DDR, als der massive Abbau von Jobs stärker zu Lasten der Frauen ging? Auch das ist keine Blaupause für 2020, glaubt Rödder: „Frauen und Mütter sind heute ja nicht nur berufstätig, weil sie das Geld brauchen. Viel stärker geht es um Teilhabe, Erfüllung, Selbstbestimmung.“ Und dieses Bedürfnis verschwinde ja nicht einfach – genau so wie Diskussionen von Gender Pay Gap bis Gendersternchen. Mit einer konkreten Zukunftsprognose tut er sich dennoch schwer. „Ob und wie die Wirtschaftskrise unsere Rollenbilder beeinflusst, wird daran liegen, wie tief und lang anhaltend sie ist.“ Es gäbe aber Grund zum Optimismus: „Schaut man sich die demographische Entwicklung an, werden wir auch bei einem schwachen Arbeitsmarkt wohl keine Massenarbeitslosigkeit bekommen.“ Geschichten wie Sonyas machen ihm keine Sorgen: „Eine Gesellschaft muss sich fragen: Soll der Staat in unsere Lebensentscheidungen hineinfunken und Rollenbilder vorgeben wie das Vollzeit-Doppelverdienerpaar – oder einen Rahmen schaffen, der verschiedenen Wertvorstellungen und Absprachen Platz lässt?“

Eine rhetorische Frage, klar. Jede und jeder sollte die Freiheit haben, sich die Balance zwischen Job und Familie, Eigensinn und Gemeinsamkeit zurechtzuzimmern. Doch was hilft uns jetzt, Wege offen zu halten und Weichen so zu stellen, damit das auch morgen möglich ist – vielleicht sogar besser als gestern? Und wer ist dabei gefragt: Politik, Arbeitgeber, Wissenschaft – oder gar wir selbst? Wir hätten da ein paar Ideen….

„Liebe macht Kinder stark“

Gene oder Umwelt – diese Frage ist überholt, sagt die Bremer Neurobiologin, Psychologin und Autorin Nicole Strüber. In ihrem aktuellen Buch erklärt sie, wie ererbte Persönlichkeit und Beziehung zwischen Eltern und Kind sich ergänzen – und wie Mütter und Väter ausgleichen können, wenn der Start ins Leben nicht optimal war. Mein Interview mit ihr erschien in ELTERN 2/20

Alle Mütter und Väter wünschen sich, dass ihre Kinder später zu selbstbewussten, stabilen Menschen werden. Aber haben wir das als Eltern wirklich in der Hand – oder entscheiden darüber die Gene?

Nicole Strüber: Es gibt kein Entweder-Oder – das ist eine der wichtigsten, neueren Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. Früher hat man versucht, in Zwillingsstudien herauszufinden, was mehr zählt, Umwelt oder Erbgut. Das Ergebnis war mal unentschieden, mal ergab sich ein knapper Vorsprung für die Gene. Heute wissen wir: Beide Seiten stehen in einer Wechselwirkung.

Wie muss ich mir das vorstellen?

Unser Erbgut bestimmt nicht nur offensichtliche Merkmale wie Haar- oder Augenfarbe, sondern auch, wie Hormone und Botenstoffe in unserem Körper wirken, etwa Serotonin und Oxytocin. Also jene Stoffe, die dafür zuständig sind, ob wir freudig, traurig, ängstlich sind. Wie die Moleküle transportiert werden, wie sie abgebaut werden, das hat einen Einfluss darauf, ob ein Mensch zum Beispiel zu Depressionen oder Ängsten neigt, schnell überfordert ist, oder ob er eher die Ruhe weg hat. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.

Und die andere ist das Umfeld – in den ersten Jahren wir Eltern?

Genau. Wenn ein Kind behütet und in einer sicheren Bindung aufwächst, einen feinfühligen Umgang erlebt, dann können Eltern ungünstige Voraussetzungen ausgleichen. Es gibt nun mal Babys und Kleinkinder, die mehr Trost, Nähe, Hilfe bei der Stressregulation brauchen als andere. Wenn sie die bekommen, spielt sich auch ihr Hormonhaushalt auf einem guten Level ein. Ist ein Kind dagegen genetisch vorbelastet und wächst zusätzlich mit unsicheren Bindungen und wenig Zuwendung auf, hat das einen negativen Einfluss auf sein Stresssystem.

Was heißt das, Stresssystem?

Immer, wenn wir mit hohen Anforderungen konfrontiert sind, werden im menschlichen Körper Hormone ausgeschüttet, die uns leistungsbereit machen, etwa Cortisol und Noradrenalin. Das ist ganz normal, das passiert jeden Tag – eine höhere Cortisolausschüttung am Morgen hilft uns zum Beispiel, wach zu werden und aufmerksam zu sein. Aber wie sich dieses Stresssystem einspielt, ob es für inneres Gleichgewicht sorgt oder ständig auf Hochtouren fährt wie ein kaputter Thermostat, das ist individuell ganz unterschiedlich.

Und dafür ist schon die Babyzeit entscheidend?

Nein, diese Prägung beginnt sogar noch früher, schon ab dem zweiten Drittel der Schwangerschaft, im Zusammenspiel mit dem Hormonsystem der Mutter.  Ist sie ausgeglichen und nicht chronisch gestresst, ist das von Vorteil – hat sie dagegen schwere Belastungen zu ertragen, wirkt sich das meist ungünstig auf das Kind aus.

Da fragen sich jetzt alle Schwangeren: Schade ich meinem Kind, wenn ich in der 20. Woche mit der Chefin streite?

Nein, keine Sorge! Bei normalem Alltagsstress oder beispielsweise Leistungssport verhindert ein Enzym, dass das Cortisol der Mutter den kindlichen Kreislauf erreicht. Wobei es immer hilfreich ist, auf genügend Ruhepausen zu achten und das eigene Wohlbefinden. Problematisch wird es bei anhaltenden, schwerwiegenden Ereignissen – etwa dramatische Partnerschaftskonflikte, Trauer um nahe Angehörige, oder auch wenn die Mutter unter Angststörungen leidet. Dann wird dieses Enzym quasi abgeschaltet und das kindliche Gehirn mit Hormonen überflutet. Körpereigene Regelkreise können dann außer Kontrolle geraten.

Das wären schon zwei Einflussfaktoren auf das Gefühlsleben eines Kindes – Gene und Schwangerschaft. Spielt auch die Geburt eine Rolle?

Definitiv. Bei einer spontanen, natürlichen Geburt ohne Komplikationen werden die Botenstoffe von Mutter und Kind, also etwa Oxytocin und Opioide, so aufeinander eingestellt, dass das Kennenlernen für beide Seiten glücklich verläuft – die erste Bindung, der Stillstart. Wird die Geburt eingeleitet oder kommt es zu einem Kaiserschnitt – was ja medizinisch manchmal nicht vermeidbar ist! – , sind diese Prozesse unter Umständen noch nicht abgeschlossen. Eine von vielen möglichen Folgen: das Neugeborene kommt sehr unruhig auf die Welt, weil sein Oxytocin-System nicht optimal funktioniert. Denn das braucht es, um Stress abzubauen.

Aber wie eine Geburt verläuft oder ob wir in der Schwangerschaft schwere Sorgen haben, das haben wir ja nur bedingt in der Hand. Heißt das, solche Kinder werden auch später zwangsläufig seelisch instabiler?

Nein! Zum einen bringen sie wie gesagt ihre eigenen Anlagen mit, die sie unterschiedlich empfindlich machen. Zum anderen ist für Eltern wichtig, zu verstehen: Wenn ein Kind reizbarer auf die Welt kommt als andere, dann ist das nicht ihre Schuld, sondern ein Ergebnis von Prägungen und bisherigen Erfahrungen. Aber frühe Verletzungen können heilen, auch wenn es manchmal viel Geduld erfordert. Dazu braucht es nicht viel: Körperkontakt, Nähe, Verständnis, all das hat Einfluss auf das Cortisol- und Oxytocin-System. Bloß nicht ein Baby schreien lassen aus Angst, es zu verwöhnen!

Weil dann im Hirn was passiert?

Eins vorweg: Kinder brauchen keine perfekte Umgebung. Keine Mutter, kein Vater kann immerzu feinfühlig und geduldig sein, manchmal ist der Alltag belastend, das können Kinder gut verdauen, wenn die Basis stimmt. Gefährlich wird es für Kinder, die konstant zu wenig Fürsorge bekommen. Der biologische Hintergrund ist kompliziert – Gene, die für Oxytocin- oder Cortisol-Bindungsstellen im Körper zuständig sind, werden quasi abgeschaltet. Das sichtbare Ergebnis ist traurig: Die Kinder zeigen ähnliche Symptome wie nach einem Trauma und sind später oft emotional wie taub. Je älter ein Kind ist, desto schwieriger lässt sich das noch ändern. Deshalb ist es in den ersten Monaten und Jahren auch so wichtig, dass wir die Gefühle unserer Kinder wahrnehmen und mit unserem Gesichtsausdruck spiegeln. In Worte fassen, wenn sie wütend, traurig, fröhlich sind, damit sie verstehen, was mit ihnen los ist.

Bei der Lektüre Ihres neuen Buches fällt auf: Sie schreiben sehr viel mehr über die Mutter- als über die Vaterbeziehung. Ist das nicht etwas rückwärtsgewandt?

Nein, selbstverständlich können Väter sich nicht minder gut auf Kinder einlassen – auch wenn sie oft anders mit ihnen umgehen. Die Vaterbeziehung ist allerdings nicht so gut erforscht. Im besten Fall bekommt ein Kind durch mehrere nahestehende Menschen eine Bandbreite von guten Einflüssen mit. Wichtig ist aber, dass es eine primäre Bezugsperson gibt, bei der es sich vollkommen sicher fühlt – wenn es dazu noch weitere nahestehende Menschen gibt, Großeltern, Eltern, in einer klassischen Familie oder einer homosexuellen Partnerschaft, umso besser.

Und Erzieher in der Kita? Es wird ja noch wie vor gestritten, was Fremdbetreuung mit Kleinkindern macht.

Schwierige Frage. Man hat bei Kindern in Krippenbetreuung oder Tageseltern mit vielen zu betreuenden Kindern einen untypischen Verlauf der Cortisol-Kurve gefunden: Statt im Lauf des Tages abzufallen, stieg der Level des Stresshormons an. Dieser Effekt war stärker, je jünger die Kinder waren und je schlechter der Betreuungsschlüssel, außerdem abhängig vom Temperament des Kindes. Wie stark das langfristig prägt, das ist jedoch umstritten. Man kann nicht sagen: Krippenbetreuung führt zu Depressionen oder Aufmerksamkeitsproblemen, das wäre zu einfach. Aber man sollte im Auge behalten, wie das Leben sonst aussieht: Wenn ein Kleinkind nach fünf Stunden von gut gelaunten Eltern abgeholt wird, die sich mit ihm auf den Spielplatz setzen, ist das sicherlich vorteilhafter für sein Stresssystem, als wenn es nach acht Stunden auf überlastete Eltern trifft, die nach einem harten Arbeitstag noch den Haushalt wuppen müssen.

Was sich ja manchmal auch nicht vermeiden lässt…

Ja, ich sehe da nicht nur bei den Einzelnen eine Verantwortung, auch bei der Gesellschaft. Wir sollten endlich die Grabenkämpfe, die Schuldzuweisungen zwischen Raben- und Gluckeneltern hinter uns lassen und uns fragen: Wenn das Kitasystem so schlecht ausgestattet ist wie derzeit, wäre es dann nicht besser, den Familien den Vortritt zu lassen, die wirtschaftlich dringend auf frühe Betreuung angewiesen sind? Es gibt sicherlich viele, die es finanziell möglich machen könnten, ein Kind auch zwei, drei Jahre zu Hause zu betreuen. Und die es nicht tun, weil sie fürchten, dass sie ihm etwas vorenthalten oder als Helikoptermütter diffamiert werden.

Wir haben jetzt viel über die Wichtigkeit stabiler Bindungen geredet. Aber was ist mit Eltern, die fürchten, sie könnten keine gute Mutter, kein guter Vater sein? Weil sie selbst unter schwierigen Umständen aufgewachsen sind?

Kommt darauf an, wie schwierig genau! Für manche Eltern mit ungünstigen Erfahrungen reicht es völlig, wenn sie in einer Gruppe lernen, die Signale ihres Babys besser zu deuten. Nehmen Sie etwa Babymassage: Wenn man sich jeden Tag 20, 30 Minuten intensiv mit dem Kind beschäftigst, wird auch bei Vater oder Mutter Oxytocin freigesetzt. Das wiederum hilft, das Schreien eines unruhigen Kindes besser auszuhalten, nicht so schnell selbst nervös zu werden, wenn es länger dauert, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. So entstehen Engels- statt Teufelskreise. Der nächste Schritt wäre, sich Hilfe zu holen: durch die Hebamme, bei Erziehungsberatungsstellen. Solche Angebote anzunehmen, darf kein Stigma sein sondern eher ein Signal: Was du für dich tust, für deine eigene Kompetenz als Mutter oder Vater, das tust du für dein Kind! Und wenn auch das nicht reicht, hilft auch eine Psychotherapie, die eigenen emotionalen Kompetenzen zu stärken und dadurch einen neuen Zugang zu den eigenen Kindern zu bekommen.

Wenn wir also unseren Kindern einen guten Start geben und bei schwierigen Veranlagungen gegensteuern – was haben sie dann später davon?

Menschen, die einen guten Zugang zu ihren eigenen Emotionen haben, schaffen es später im Leben auch besser, mit schwierigen Situationen umzugehen, sich Hilfe zu holen, sich auf andere zu verlassen und Belastendes zu überwinden. Weil sie als Kinder gelernt haben: Ich darf traurig sein, ich kann mir Hilfe holen. Nicht nur bei gewöhnlichen Alltagsärgernissen, auch in traumatischen Situationen sind die körperlichen Systeme optimal aufeinander eingestellt, Hormone, Regelkreise, Hirnstrukturen.

Und das ist mit dem Modewort „Resilienz“ gemeint?

Ja, als resilient bezeichnen wir Menschen, die Krisen stabil überwinden, die es schaffen, Schicksalsschläge in ihrem Leben zu integrieren und nach vorne zu schauen. Wir können unsere Kinder ja nicht auf Dauer vor Frustration und Unglück bewahren – aber wir können sie stark machen, damit sie besser mit Widrigkeiten klarkommen. Und das ist eines der wertvollsten Geschenke, die wir ihnen mitgeben können.

Buchtipp: „Risiko Kindheit – die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern“ (Klett Cotta, 22 €) lautet der Titel von Nicole Strübers umfangreichem Wissenschafts-Schmöker – darin erläutert sie ausführlich und gut lesbar, wie das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt den Charakter formt und erklärt dabei ganz nebenbei nicht nur, was schief gehen kann, sondern genauso, was weiterhilft

Heimat zu verkaufen

Das weltweite Geschäft mit Wohnraum produziert wenige Sieger auf Konzernseite und massenhaft Verlierer in der Bevölkerung. Für die BRIGITTE-Rubrik „Die Stunde der Frauen“ habe ich im Herbst 2019 UN-Sonderberichterstatterin Leilani Farha porträtiert

Vielleicht muss man mit ihrem Vater beginnen, um Leilani Farhas Geschichte zu erzählen. Einem Bauernjungen aus dem Südlibanon, dessen Familie durch neue Grenzziehungen in den Vierziger Jahren ihre Felder und damit ihre Existenzgrundlage verlor und in Folge nach Kanada auswanderte. „Das hat mich von Kindheit an sensibel gemacht für Fragen nach Zugehörigkeit und der Notwendigkeit, ein Zuhause zu haben“, sagt die studierte Anwältin, Sozialarbeiterin und Anti-Armuts-Aktivistin mit Wohnsitz in Kanadas Hauptstadt Ottawa. Seit 2014 ist sie für die Vereinten Nationen weltweit unterwegs als Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen. Ein Recht, das von Organisationen wie der UN und der europäischen Sozialcharta eingefordert wird, aber längst nicht überall umgesetzt wird. Auch das deutsche Grundgesetz äußert sich nicht explizit.

Heute sind es weniger kriegerische Auseinandersetzungen, die Menschen weltweit um ihr Dach über dem Kopf bangen lassen. Sondern vielmehr Konzerne und ihre Gewinnstrategien. Die „globale Wohnkrise“, wie Farha es nennt, findet ja nicht nur in Weltmetropolen wie London und New York ihren Niederschlag, auch aus ihrer Nachbarschaft hat sie ein Beispiel parat: „Erst letztes Jahr wurde 100 Mietparteien im Viertel Heron Gate erst Modernisierung verweigert, dann gekündigt – hauptsächlich Einwanderern aus Somalia und arabischen Staaten, sprachlich und finanziell benachteiligt. Der Eigentümer, eine große Investment-Firma, wollte die Häuser abreißen und neue, lukrativere Wohnanlagen bauen.“

Typisch Gentrifizierung? Da lacht sie trocken: „Wenn’s das nur wäre!“ Der vegane Bio-Bäcker, das Yogastudio, das sind klischeehafte Feindbilder, die häufig in der Debatte um Verdrängung und Preisexplosion genannt werden, auch in Deutschland. Zu kurz gesprungen, findet Farha. Das wahre Problem seien nicht Kleingewerbetreibende, sondern jene internationalen Fondsgesellschaften, die Städte ausbeuteten wie Goldminen: einfallen, plattmachen, hochziehen, verkaufen. Möglichst ohne störende Mieter mit Ansprüchen. Farha bringt das in Rage: „Gold ist ein verkäufliches Gut – Wohnen ein Menschenrecht!“ Deshalb tourt sie unermüdlich durch die Metropolen, trifft sich mal mit dem Bürgermeister von Berlin und mal mit Menschenrechtsaktivisten in Seoul, mit Architekten, Stadtplanern und Vertretern der Finanzindustrie, um für Gesetze zu werben, die auch sozial Schwächeren ein Großstadt-Zuhause ermöglichen. Name ihrer Initiative: The Shift, die Verschiebung. Druck soll Gegendruck erzeugen. Erste Erfolge gibt es etwa in Barcelona, wo sich die Politik gegen die Verdrängung von Mietern zugunsten von lukrativen Ferienappartements zu wehren beginnt. Hier zeigt die Sharing-Economy ihr böses Gesicht.

Deutschland stellt die Vielfliegerin ein optimistisches Zeugnis aus: „Die kreativen Mieterproteste und Lösungsansätze in Städten wie Berlin und Frankfurt machen mir Hoffnung – das könnte zum Modell für andere Länder werden.“ Dass sie und ihre Familie fast per Zufall auf der Gewinnerseite des weltweiten Betongold-Booms stehen, irritiert sie dagegen nachhaltig: „Das Haus, in dem wir leben, ist heute doppelt so viel wert wie vor zwölf Jahren. Wir wären also nicht mehr in der Lage, es zu kaufen – zwei gut verdienende, gebildete Menschen aus der Mittelschicht. Das ist doch absurd!“ Und so kämpft sie weiter einen Kampf, der sich nur vordergründig um Klingelschilder, Hausgemeinschaften und funktionierende Heizungen dreht – im Grunde aber um die Frage, ob Städte auch künftig Lebensraum für eine bunt gemischte Gesellschaft bieten. Oder sich in Geschäftsmodelle für wenige Wohlhabende verwandeln.

INFO

Leilani Farha macht ein Geheimnis aus ihrem Alter: „Ich habe zwei Teeangerkinder und bin nicht besonders jung Mutter geworden – reicht das?“ Im Dokumentarfilm „Push – für das Grundrecht auf Wohnen“ geht die UN-Sonderberichterstatterin der internationalen Immobilienkrise nach (ab 18.10. als DVD/VoD)

Netz mal ehrlich

Im Sommer 2019 durfte ich das neue Coaching-Magazin BRIGITTE LEBEN redaktionell mit entwickeln, und habe auch einige Texte beigetragen – unter anderem diesen hier.

Makellose Körper, traumhafte Strände, lässige Outfits: Viele Jahre waren Instagram und Co vor allem Schaufenster fürs optimierte Ego. Doch seit kurzem dreht sich was: Selbstironie, offene Worte, filterlose Optik. Haben wir uns sattgesehen am schönen Schein?

Irgendwann war sie nicht mehr zu übersehen. Facebook, Twitter, Instagram: Auf allen Kanälen tauchten plötzlich Fotos einer nicht mehr ganz jungen, nicht besonders perfekt geshapten, aber offensichtlich gut gelaunten Frau auf, die mit Bordmitteln die überspannten Posen der Social-Media-Prominenz nachstellt. Comedien Celeste Barber, wie ein Sack Kartoffeln über einem Balkongeländer hängend; in Omas Schlüpfer, mit strammen Beinen eine Palme umklammernd; in einem dieser Mini-Outfits, die bei Normalos so aussehen, als hätten sie im Tran vergessen, eine Hose anzuziehen. Streckt ein Insta-Sternchen ein Plakat mit der Aufschrift „Love who you are“ in die Kamera, hält Barber mit einem handgeschriebenen Schild dagegen: „There’s no point in trying if you don’t look like this“ – das mit der Selbstliebe hat eh keinen Zweck, wenn man nicht so aussieht wie du.

Ein Witz natürlich, denn die Enddreißigerin aus Australien wirkt alles andere als unzufrieden mit sich. Allenfalls ein bisschen überrascht von ihrem viralen Erfolg. „Seit Jahren bin ich mit Kabarett und Schauspiel unterwegs, aber seitdem ich 2015 mit diesem Foto-Satire-Ding angefangen haben, kennt mich plötzlich die halbe Welt“, erzählt sie US-Talkshow-Host Jimmy Kimmel. Was ihre Followerzahl angeht, kann sie es mittlerweile locker mit den Beyoncés und Kardashians dieser Welt aufnehmen: Sechs Millionen Instagram-Nutzer*innen lieben ihr Spiel mit der Ego-Inszenierung. Darunter sogar einige der Celebrities, die von ihr aufs Korn genommen werden.

Damit ist Barber zur Postergirl einer Bewegung geworden, die seit einiger Zeit die Social-Media-Welt aufmischt: Sein statt Schein, Wahrhaftigkeit statt Fake News, mal lustig, mal schmerzhaft, aber immer nach dem Motto: Netz mal ehrlich. Influencer werden zu „Sinnfluencern“: Fitnessbloggerin Louisa Dellert widmet sich neuerdings Klima- und Umweltthemen, die New Yorker Instagram-Ikone Cleo Wade hat gerade ein Buch über Selbstfürsorge veröffentlicht und schreibt darin „über ihre bewegenden Erfahrungen zu Themen wie Angst, Veränderung, Dankbarkeit und Beziehungen“, so die blumige Verlagswerbung.

Tristan Horx, Anthropologe und Zukunftsforscher, erkennt darin ein Muster: „Sinnsuche passt zum Zeitgeist. Wir haben Fake News und künstliche Identitäten satt, sehnen uns nach verbindlichen Wahrheiten und echter Resonanz.“ Nicht erst seit dem Aufruhr um virtuell generierte Influencer und Chatbots : „Wir reden aneinander vorbei, inszenieren uns, lügen anderen und uns selbst in die Tasche.“ Und sparen dabei aus, was uns menschlich und nahbar macht: Ängste, Fehler, Unperfektion.

„Menschen haben genug von der coolen Gleichgültigkeit vergangener Jahrzehnte. Sie sehnen sich nach Erdung und Bodenhaftung“, hat auch Stephan Grünewald, Psychologe, Autor und Gründer des Kölner Rheingold-Instituts festgestellt. Für ihn lässt sich der Trend zu mehr Ehrlichkeit im Netz besonders am Siegeszug der Podcasts ablesen. Seit drei Jahren steigen die Nutzerzahlen, jede*r fünfte Deutsche lässt sich heute regelmäßig was erzählen. „Das gesprochene Wort schafft Nähe und Urvertrauen, man bindet sich akustisch an die Welt an – eine Erfahrung, die schon Ungeborene im Mutterleib machen“, analysiert Grünewald.

Tatsächlich geht’s in erfolgreichen Hörformaten häufig ans Eingemachte. So wie bei Caroline Kraft und Susann Brückner aus Berlin, die sich seit bald zwei Jahren den letzten Dingen widmen: Unter dem Titel „endlich“ sprechen die beiden über das Thema Tod und Sterben. Offen, anrührend, und dabei – man wagt es kaum zu schreiben – unterhaltsam. Geboren wurde die Idee in einer Kreuzberger Kneipe, erzählt Caroline Kraft: „Als mein Exfreund sich vor vier Jahren das Leben nahm, war ich mit Mitte dreißig plötzlich auf brutale Weise mit der Endlichkeit des Daseins konfrontiert, mit Schuld, Scham und Trauer. Eines Tages nahm mich meine Arbeitskollegin Susann beiseite und sagte: ‚Wenn du reden willst, ohne dass dich jemand betroffen anschaut – ich bin da.’ Denn Susann hatte auf diese Weise sowohl ihren Vater als auch ihren Bruder verloren.“ Abends beim Bier kamen die beiden rasch von eigenen Erfahrungen auf eine höhere Ebene: „Was macht Trauer mit Menschen, wie findet man eine Sprache dafür, was hilft?“ Von dort war es nur noch ein kurzer Weg zu Susanns Bemerkung: „Wenn wir jetzt ein Mikro hinstellen würden, hätten wir schon die erste Folge für einen Podcast.“

Für Caroline ist das gemeinsame Projekt viel mehr als Selbsttherapie. „Wir wollen ein Signal an die Welt senden: Das Thema Tod darf kein Tabu sein, und es gibt andere, modernere Wege für den Umgang damit als pietätvolle Selbsthilfegruppen.“ Die beiden schonen sich nicht, gehen dort hin, wo es richtig weh tut – etwa: was macht Trauer mit dem Körper, mit der Sexualität – und balancieren oft zwischen Humor und Verzweiflung. Ein Psycho-Striptease, der sich lohnt, sagt Caroline: „Für uns zahlt die Beschäftigung mit dem Thema auf das Leben ein und hilft, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren. Und von vielen unserer Hörer*innen bekommen wir Rückmeldungen: Endlich versteht mich jemand.“

Aber auch jenseits der ganz großen Themen wie Klimawandel, Krankheit und Tod machen viele Podcast-Produzent*innen, Blogger*innen und Youtuber*innen heute die Unebenheiten des Lebens sichtbar und klopfen ihren Nutzer*innen damit virtuell auf die Schulter: Hey, uns geht es wie euch! Da ist zum Beispiel die TV-Journalistin Joanna Castillo. Auf Instagram teilt sie Familienthemen (@frau.kakao.macht.tv), seit zwei Jahren betreibt sie einen Blog, in dem sie Menschen auch zu sperrigen Themen befragt: Wochenbettdepression, vorgeburtliche Diagnostik. „Ich möchte die ewige Selbstoptimierungsschleife durchbrechen.“ Die Trendwende weg vom höher, schneller, weiter findet sie gut: „Online ständig eine vermeintlich heile Welt zu sehen, macht doch nur depressiv.“ Lisa Harmann, mit Kollegin Katharina Nachtsheim seit sieben Jahren unter „Stadt Land Mama“ im Netz zu finden (eine halbe Million Seitenaufrufe pro Monat), formuliert es so: „Wir sind nicht nur für die schönen Seiten des Familienlebens da, sondern auch als Ventil für alles, das dabei unter den Teppich gekehrt wird.“ Dazu passen auch jene Fotos der beiden im aktuellen Buch zum Blog („Wow Mom“, Krüger 16,99 €), auf denen sie nicht nach Glamour-Mums aussehen. Sondern übernächtigt, erschöpft, hungrig, rechts ein Baby im Arm und links eine schlappe Wurststulle.

Der Trend zur Online-Ehrlichkeit hat nichts mit Altersmilde zu tun. Selbst wenn einige der Akteur*innen um die Vierzig sind und dadurch näher dran an Midlife-Sinnkrisen, Neuorientierung und dem Wunsch nach mehr Tiefgang. Auch die Generation Selfie ist vertreten. Zum Beispiel mit Nora Wunderwald, 21. Sie hat das Online-Jugendmagazin „tierindir“ mit gegründet, betreibt einen Youtube-Kanal und hat als Social-Media-Native die Wende am eigenen Leib erlebt: „Mit 14 wollte ich so sein wie meine Vorbilder, habe mich in meinem Mode-Vlog ausschließlich von meiner Schokoladenseite gezeigt. Heute denke ich, ich hätte damals selbst andere, bessere Role Models gebraucht.“ Das könnte nun sie selbst für die jüngeren sein, mit Clips über Feminismus, Tierschutz oder Einkaufen im Unverpackt-Laden. Der mutigste und persönlichste ist allerdings erst ein paar Wochen alt: „Hallo Leute, wenn ihr das hier seht, bin ich schon auf dem Weg in eine psychiatrische Klinik.“ Darin erzählt sie, wie sie sich immer mehr verloren hat zwischen Digital-Projekten, Studium und Privatleben, schließlich ein Burnout erlitt, nicht mehr weiter wusste, sich Hilfe suchte. Sechs Wochen Intensiv-Therapie, das heißt auch: sechs Wochen offline, kein Laptop, kein Smartphone, kein Youtube, kein Instagram. Es wird ihr schwerfallen, und sie weiß: Das ist Teil des Problems. Viele ehrliche Sätze, von denen der wichtigste kurz vor Ende fällt: „Fotos, Erlebnisse, Erfahrungen, man muss nicht alles teilen. Manches gehört einfach nur mir.“

Waschen und geben

1946 will eine 16jährige Rheinländerin ihre langen Zöpfe loswerden. 72 Jahre später verliert eine Studentin aus Norddeutschland bei einem Unfall Haare und Kopfhaut. In einer Hamburger Werkstatt werden beide Frauenschicksale miteinander verknüpft – Reportage aus BARBARA, April 2019

Köln, im ersten Jahr nach Kriegsende. Gerda Dübbers ist 16 Jahre alt und aufgeregt. Heute ist der Tag, an dem sie erwachsen werden will. Am Morgen fährt sie mit dem Zug aus ihrem Eifeldorf in die Stadt, von der kaum noch etwas steht außer dem Dom. Sie trägt ein Säckchen Briketts und ein Handtuch bei sich, so hat es der Friseur verlangt. Denn Heizmaterial ist 1946 genau so knapp wie Frottierstoff. Die Mutter hat ihr Geld zugesteckt, nach vielen Diskussionen: Lange Haare kosten nichts, halblang mit Dauerwelle schon! Aber jetzt ist Schluss mit Affenschaukeln und Schnecken. Ab heute ist Gerda kein kleines Mädchen mehr, sondern eine Dame. Auf der Rückfahrt, den ungewohnten Luftzug im Nacken, wird sie etwas anderes bei sich tragen: siebzig Zentimeter lange, rötlichblonde Zöpfe, zusammengelegt in einer kleinen Tüte.

Flensburg, im Mai 2018. Julina Engert ist 20 Jahre alt und hat keinen Grund, aufgeregt zu sein. Dazu macht sie ihren Job schon zu lang und zu routiniert: den Eissalon aufschließen, Waffeln über die Theke reichen, kassieren. Sie und ihr Freund sind ein eingespieltes Team, auch beim Arbeiten. Noch ein bisschen Geld verdienen, bis im Herbst das erste Semester an der Uni beginnt. Ihre langen dunkelblonden Haare trägt sie im Pferdeschwanz. Praktisch, hygienisch, und hilft auch gegen Bad Hair Days.

Aber an diesem Morgen passiert etwas, das niemals hätte passieren dürfen: Als Julina eine eingeschaltete Eismaschine reinigt, beugt sie sich zu weit in den Kessel hinein. Schon verfängt sich der Zopf in der rotierenden Metallspirale im Inneren, erst nur ein Büschel, dann immer mehr. Sie versucht sich zu befreien, sie schreit, ein fürchterlicher Schmerz, es geht sekundenschnell. Ihr Freund stürzt herbei, will sie losschneiden, erst mit einer Schere, dann mit einem Messer, aber da ist es schon passiert. Mit ungeheurer Kraft reißt die Maschine das Haar mitsamt Kopfhaut los. Am Abend, nach einer zwölfstündigen Operation, wird sie aus Ohnmacht und Narkose erwachen und erst Wochen danach das Krankenhaus verlassen, nach vielen weiteren Eingriffen und einer Hauttransplantation. Die Ärzte haben alles gegeben. Aber auf mehr als der Hälfte ihrer Kopfoberfläche wird nie wieder etwas wachsen.

Zwei Frauen, beide jung, beide lebenslustig, und zwei Geschichten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Um sie miteinander zu verflechten wie die Stränge eines Zopfes, über Kilometer und Jahre hinweg, braucht es noch eine dritte. Diese handelt von den Hamburger Maskenbildnerinnen Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi, beide 49, die vor einigen Jahren beschlossen: Haarteile für Musicaldarsteller und Filmschauspielerinnen herstellen, okay, aber das kann noch nicht alles im Leben gewesen sein. So gründeten die beiden eine Werkstatt für Echthaar-Perücken mit dem strahlenden Namen „Königinnen“. Jetzt arbeiten sie für Menschen, die nicht in eine Rolle schlüpfen wollen. Sondern am liebsten sie selbst bleiben möchten. Krebspatientinnen, Frauen mit Haarausfall, Unfallopfer. Haare kosten nichts? Nicht, wenn man sie hat. Verliert man sie, kosten sie einen viel: Würde, Selbstbewusstsein, Zuversicht.

„Ich las in einer Illustrierten davon und dachte: Jetzt weißt du endlich, warum du all die Jahre die Zöpfe mit dir herumgeschleppt hast!“, erinnert sich Gerda Dübbers. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, Frühlingssonne scheint durch das Fenster, und erinnert sich. Wie sie das Tütchen immer wieder in Umzugskisten ein- und ausgepackt hat, nach ihrer Hochzeit, als sie mit ihrer eigenen Familie in ein größeres Haus zog, beim Wechsel in eine Etagenwohnung. Mit dem unbestimmten Gefühl: Eines Tages wird das für etwas gut sein. „Es macht mich so froh, dass ich helfen konnte!“

Für Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi sind alte Zöpfe in der Post ein Geschenk. Denn Haar lässt sich fast endlos aufbewahren und verarbeiten, wenn es gesund ist, naturbelassen und nicht von Motten oder Feuchtigkeit angegriffen wird. Das meiste in ihrem Lager hat einen unspektakulären Hintergrund – Langhaarträgerin mit Lust auf Typveränderung – , aber es stecken auch Geschichten dahinter, die unter die Haut gehen. Kleine Mädchen, die ihre Haare opfern, weil die Lieblingstante Krebs hat. Oder ein Zopf mit einem sauber beschrifteten Zettel, datiert auf Sommer 45. Von einer Berlinerin, die fürchtete, von Soldaten der anrückenden Roten Armee vergewaltigt zu werden. Viele versuchten, sich und ihre Töchter zu schützen, in dem sie sich kahl schoren. Haare sind Lockstoff, Weiblichkeit, Ausstrahlung – das ist in manchen Zeiten Fluch statt Segen.

Julina Engert betritt im Sommer 2018 zum ersten Mal den freundlichen Souterrain-Laden in Hamburg-Eimsbüttel. Als norddeutsches Pferdemädchen weiß sie, was man tut, wenn es einen aus dem Sattel schleudert: aufstehen und wieder aufsitzen. Sogar im Eisladen hat sie schon wieder gearbeitet, um die schlimmen Erinnerungen nicht so stehen zu lassen. Aber sie ist es Leid, mit Kopftuch vor die Tür zu gehen und fragend angeschaut zu werden. Lieber wäre sie wieder eine von vielen, auf der Straße, beim Ausgehen. Als sie die Kölner Zöpfe in der Hand hält, weiß sie: die oder keine.

Jetzt beginnt der handwerkliche Teil. Ansätze entschuppen, waschen, schließlich noch ein paar Strähnchen aus anderen Beständen dazu nehmen, damit das Ergebnis so aussieht wie natürlich gewachsen. Mit unterschiedlichen Farbnuancen, unterschiedlichen Längen. Dann wird Haar für Haar mit einer Art Häkelnadel auf ein feines Netz geknüpft, das genau der Kopfform angepasst ist. 80 Arbeitsstunden dauert es, bis so ein Kunstwerk fertig ist. Im September begrüßt Julina ihr neues Ich im Spiegel. Haare, länger und leuchtender denn je. „Ich wollte bewusst nicht genau so aussehen wie vorher.“ Wie ein Memo an sich selbst: Dieses Erlebnis ist nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Aber ich lasse mich davon nicht unterkriegen.

Sie besitzt noch eine Alltagsperücke, nicht ganz so kunstvoll gemacht und kürzer. Es ist ein weiterer Schritt zurück ins Leben, wenn man von einem Tag auf den anderen anders aussieht, und Mitstudenten verwundert nachhaken: Hast du Extensions? Warst du beim Friseur? Wer fragt, bekommt eine Antwort. Manchmal sieht Julina ihre tägliche Kopfbedeckung ganz pragmatisch: „Ich muss nur noch alle sechs Wochen Haare waschen. Und ich kann ohne Spiegel kontrollieren, ob hinten auch alles sitzt.“

Was sie nervös macht: Wenn Bekannte sie umarmen, dabei versehentlich an den langen Strähnen ziehen und das Netz ins Rutschen kommt. Wenn sich auf der Tanzfläche in der Disco jemand darin verfängt. Die kommende Studienfahrt, vor der sie ihren Mitstudentinnen erklären muss: Nicht erschrecken, wenn ich zum Schlafen die Haare ablege. Was ihr keine Angst macht: die Vorstellung, ihr Freund könnte sie nicht mehr schön finden. Am Anfang hat er kämpfen müssen, gegen die Bilder in seinem Kopf, vom Unfalltag. Das ist vorbei. Wenn sie mit ihm allein zu Hause ist, lässt sie die Perücke weg. Liebe heißt, sich nackt zu zeigen. Nicht nur von der Schokoladenseite.

Gerda Dübbers hat fast sieben Jahrzehnte lang die Frisur getragen, von der sie 1946 geträumt hat. Halblang und Dauerwelle. Erst vor ein paar Jahren hat sie diese gegen einen Kurzhaarschnitt getauscht. Sie kann ihre Arme nur noch unter Schmerzen heben, da fällt das Frisieren schwer. Auch Altwerden ist ein Schicksal, mit dem man fertig werden muss. „Ich bin jetzt 88, ich hab nicht mehr lang“, sagt sie trocken. Und grinst sofort spitzbübisch. „Aber meine Haare, die werden noch spazieren getragen, wenn ich nicht mehr bin. Wer kann das schon von sich sagen?“

„Mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Können bereits Kitas für Chancengerechtigkeit sorgen – in Zeiten, in denen es immer stärker vom Elternhaus abhängt, welche Bildungskarriere Kinder einschlagen? Dieser Frage bin ich im Januar 2019 für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ nachgegangen, am Beispiel meiner Heimatstadt Hamburg.

Was wir uns angeschaut haben: Hamburg ist eine vielfach gespaltene Stadt. Im wohlhabenden Nienstedten liegt das Durchschnittseinkommen bei 120.000 Euro im Jahr, den Bewohnern der Elbinsel Veddel stehen nur 16.000 Euro zur Verfügung. Fast jedes zweite Kind in Hamburg hat einen Migrationshintergrund, dazu kamen seit 2015 50.000 Geflüchtete. Die Forschung weiß: Ob soziale Durchlässigkeit gelingt, dafür werden entscheidende Weichen schon in Kita und Vorschule gestellt. Klappt das hier?

Das sagt der Experte:

„Manche Kinder haben mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Martin Peters ist Fachreferent für Frühe Bildung, Betreuung und Erziehung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, der 350 Kitas vertritt

Kitas legen Grundlagen für spätere Schulabschlüsse und damit für Lebenschancen. Unterstützt die Stadt Einrichtungen, die besonders viel Aufholarbeit leisten müssen?

Seit 2013 gibt es das „Plus-Programm“, durch das Kitas in sozial belasteten Vierteln ein zusätzliches Budget für Mitarbeiter bekommen. Das ist ein guter Schritt. Andere Ungerechtigkeiten können Sie mit Geld allein nicht ausgleichen.

Und zwar?

Wir haben Kitas, in denen 90 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache haben als deutsch. Deutschsprachige Eltern meiden diese häufig, so bleiben diese Gruppen um so mehr unter sich. Aber Wortschatz und Grammatik sind das A und O für spätere Bildung – sonst haben Kinder mit der Schultüte in der Hand schon verloren. Seit einiger Zeit versucht die Stadt, mit einem neuen Sprachförderprogramm gegenzusteuern. Das zeigt auch messbare Erfolge.

Es gibt auch andere Gründe, warum Eltern ihre Kinder weniger gut unterstützen können – Gesundheitsprobleme, Geldsorgen…

Das Platzvergabesystem belohnt Erwerbstätigkeit. Mehr als fünf Kita-Stunden pro Tag bekommen nur Familien, in denen beide Eltern arbeiten. Dabei bräuchten häufig gerade die Kinder aus Familien, in denen einer oder beide Eltern erwerbslos sind, mehr Förderung. Und dann gibt es noch Communities, die erreichen wir mit dem Kita-Angebot einfach nicht, die melden ihre Kinder nicht an.

Welche sind das?

Vor allem Familien mit afrikanischem und arabischem Hintergrund. Dort wird häufig die individuelle Bildung weniger wichtig genommen, ein Kind soll sich eher für die Gemeinschaft nützlich machen. Ab kommendem Jahr wollen wir gemeinsam mit der Sozialbehörde Tagesmütter ausbilden, die selbst aus diesen Kreisen stammen und zwischen den Kulturen vermitteln. Möglicherweise wird das besser angenommen.

Betrifft das vor allem Geflüchtete?

Nein, da hat die Stadt vieles richtig gemacht! Anders als andere hat sie nicht in den Sammelunterkünften für Betreuung gesorgt, sondern die Kinder zügig auf die Einrichtungen der jeweiligen Umgebung verteilt. Da funktioniert Integration.

Das sagt die Erzieherin:

„Bindung ist das Problem, nicht nur Bildung“

Bei Claudia Brillinger wäre man gerne Kind. Eine herzliche blonde Frau in Jeans und Blümchen-Sneakers, die wirkt, als könnte sie einiges schultern. Seit 22 Jahren arbeitet sie in einer Kita im Bezirk Bergedorf-Neuallermöhe. Der Flachbau liegt zwischen Genossenschafts-Hochhäusern und bescheidenen zweistöckigen Klinkerbauten, in einem Viertel, das wie ein Brennglas die Widersprüche der Hansestadt bündelt. Weder Ghetto noch Wohlstands-Oase, sondern eine Mischung aus Ethnien, Gehaltsklassen, Lebensstilen. Die Namen an den niedrig hängenden Garderobenhaken verraten: Hier toben, essen, basteln und malen Cheyenne und Emil, Murat und Jewegenija*. 170 Kinder vom Baby bis zum Sechsjährigen, vom Arztsohn bis zur Tochter einer Teenager-Mutter aus einem Hartz-IV-Haushalt. Wie reagiert man als Erzieherin auf so unterschiedliche Startbedingungen?

Grundsätzlich findet Claudia Brillinger: Nicht mangelnde Bildung ist das Hauptproblem, eher mangelnde Bindung. Quer durch alle Milieus. „Viele Eltern sind heute stark verunsichert, was ihre eigene Rolle angeht – und das überträgt sich auf die Kinder.“ Die Folge: Mädchen und Jungen, denen das nötige Grundvertrauen ins Leben fehlt. Die so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie gar nicht in der Lage sind, neugierige Fragen zu stellen oder sich die Zahlen bis zehn zu merken. Auch Sprache, die Grundlage allen Lernens, ist nicht nur in bildungsfernen Zuwandererfamilien ein Handicap, findet Brillinger: „Mütter und Väter reden einfach zu wenig mit ihren Kindern.“ Als Notwehrmaßnahme haben die Kita-Erzieher jetzt ein Handy-Verbotsschild über dem Eingang aufgehängt: „Mama, sprich mit mir, nicht mit deinem Telefon.“

Man muss sich Claudia Brillingers Beruf vorstellen wie den eines Kapitäns, dem ständig von einer anderen Seite der Wind ins Gesicht weht. Hier leistungshungrige Eltern, denen es nicht früh genug losgehen kann mit Schreiben, Rechnen und Leistungssport – auf der anderen die, in deren Haushalt der Angebots-Zettel vom Discounter der einzige Lesestoff ist. Dabei kann die Kita durchaus Zusatznahrung bieten. Nicht nur, wenn Kinder beim Frühstück Gurken und Sellerie knabbern, die sonst eher Fast Food kennen. Auch wenn die eloquenteren ihren Spielkameraden helfen, einen Streit mit Worten zu schlichten. Oder wenn Eltern zur Abendgruppe zusammenkommen und sich mit Brillinger und ihren Kollegen über Erziehungsfragen austauschen. „Das ist eine Frage des Vertrauens. Weil sie sich nicht verurteilt fühlen, sondern angenommen.“ Oft leistet sie auch Alltagshilfe: etwa, wenn sie mit Müttern oder Vätern den Antrag für das „Bildungs- und Teilhabepaket“ ausfüllen, das sozial Schwächeren kostenlosen Eintritt für Kindertheater, Schwimmbad oder Sportverein ermöglicht – jedes dritte Kind in ihrer Kita profitiert davon.

Manchmal sieht Brillinger erst viele Jahre später, ob die Mühe sich gelohnt hat. Wie bei dem jungen Mann aus schwierigen Verhältnissen, den sie als Kind begleitet hat und der jetzt mit beiden Beinen im Leben steht: Ausbildung zum Mechatroniker, Weiterbildung zum Autolackierer. „Er sagte mir: Als ich klein war, habt ihr mir Struktur gegeben, habt mir beigebracht, was falsch und richtig ist. Davon zehre ich immer noch.“ Erfolgserlebnisse, die vieles aufwiegen. Aber nicht alles. Denn die tägliche Arbeit ist nicht nur psychisch und geistig, sondern auch körperlich belastend. Der Lärmpegel, das Heben, Tragen und Bücken. Zwar sind Erzieher in der teuren Stadt per Tarifvertrag höher eingruppiert als in anderen Bundesländern, aber das reicht nicht, findet Brillinger: „Die Zeiten für Vor- und Nachbereitung, die Elternarbeit, Feedbackgespräche mit Praktikanten – die zahlt uns keiner!“ Deshalb engagiert sie sich in der Volksinitiative „Kita-Netzwerk Hamburg“, die seit Monaten mit dem Senat über bessere Rahmenbedingungen verhandelt. „Ich liebe meinen Job, weil er Sinn ergibt“, sagt Claudia Brillinger. „Weil ich jedem Kind vermitteln kann: Es ist schön, dass du da bist.“ Aber so wie der Arbeitsalltag heute aussieht, fürchtet sie, könnten in Zukunft noch weniger Schulabgänger dafür zu begeistern sein. Ausbaden müssten das Cheyenne und Emil, Murat und Jewgenija. Und eines steht fest: Es träfe sie unterschiedlich hart.

*Namen der Kinder geändert

Das sagt die Politik:

„Bildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen“

Uwe Lohmann, familienpolitischer Sprecher der Regierungspartei SPD:

„Seit 2014 ist das Kita-Basisangebot – fünf Stunden Betreuung plus Mittagessen – für alle Hamburger Eltern gratis. Freie Bildung für alle Schichten, von der Kita bis zur Uni, gehört zu den Grundsätzen sozialdemokratischer Politik. In einer wachsenden Stadt mit jährlich 15000 bis 30000 Neubürgern haben wir in den letzten Jahren massiv den Krippen- und Kita-Ausbau voran getrieben, jetzt steuern wir nach bei der Qualität: Bis 2020 wollen wir 2700 zusätzliche Fachkräfte gewinnen, davon allein 2100 im Krippenbereich. Das bedeutet auch Nachwuchsförderung: Unbezahlte Praktika wird es nicht mehr geben, und mittelfristig sollen Erzieher ein Ausbildungsgehalt bekommen. Kitas können aber soziale Härten nicht alleine auffangen. Dazu braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen, etwa der Jugendhilfe.“

„Chancengerechtigkeit heißt nicht Abi für alle“

Philipp Heißner, familienpolitischer Sprecher der CDU

„Die Abschaffung der Kita-Gebühr war ein reines Wahlkampfgeschenk des ehemaligen ersten Bürgermeisters Olaf Scholz. Die falsche Entscheidung in einer Zeit, in der Experten wie die Bertelsmann-Stiftung Hamburg massiven Nachholbedarf beim Krippenpersonal nachweisen, also ausgerechnet bei den Jüngsten. Es wäre sinnvoller gewesen, die Gebühren schrittweise zurückzunehmen, und auch später. Dazu kommt: Die Qualität der Kitas wird nicht von staatlicher Seite überprüft, obwohl es dazu eine gesetzliche Grundlage gibt. In eher gutbürgerlichen Stadtteilen organisieren sich Eltern und protestieren, wenn es nicht rund läuft, in sozial schwächeren Quartieren wird das eher so hingenommen. Das ist doppelt ungerecht. Soziale Durchlässigkeit heißt aber nicht, dass jedes Kita-Kind später Abitur machen muss: Wir brauchen Menschen mit allen Bildungsabschlüssen, nicht nur Akademiker!“

Das sagt die Mutter:

„Ich hatte Angst um meine Töchter“

Nach der Kita-Zeit hören die Schwierigkeiten nicht auf – die Spaltung nimmt eher noch zu. Sabine Dreher* lebt in einer Gegend, in der soziale Gegensätze besonders sichtbar sind: Auf der einen Seite ihrer Neubauwohnung liegt das grün-bürgerliche Ottensen, auf der anderen Seite St. Pauli mit seinem hohen Anteil an Transferleistungs-Empfängern und Migranten. Dort befindet sich auch die zuständige Grundschule. Ihre sechsjährigen Zwillingstöchter hat sie aber auf einer Privatschule angemeldet, zahlt Schulgeld und nimmt einen weiteren Weg in Kauf. Warum?

„Ich kenne niemanden in unserer Nachbarschaft, der sein Kind in St. Pauli eingeschult hätte. Da alle Kinder mit viereinhalb Jahren an der zuständigen Grundschule vorgestellt werden müssen, haben auch wir sie uns angesehen, wussten aber gleich, dass sie nicht in Frage kommt – schon den Umgangston empfanden wir als rau und lieblos. Manche Familien ziehen weg, wenn ihre Kinder ins Schulalter kommen, viele melden ihre Kinder an der Grundschule in Ottensen an. Dafür gibt es aber keine Garantie, weil Plätze nach Zuständigkeit vergeben werden. Manche denken deshalb darüber nach, zum Schein den Wohnsitz zu wechseln.

Weil ich selbst im sozialen Bereich arbeite, kenne ich viele schwierige Familienverhältnisse, und ich habe großes Mitgefühl mit den Kindern, die so aufwachsen. Ich verstehe auch, dass manche davon profitieren würden, wenn die Klassen gemischter wären. Und vielleicht bin ich auch Opfer meiner Vorurteile. Aber wenn ich meine Kinder anschaue, denke ich:  Die beiden sind noch so klein – ich möchte nicht, dass sie dort untergehen. Oder jeden zweiten Tag mit einen blauen Auge heimkommen. Die harte Lebenswirklichkeit lernen sie noch früh genug kennen.“

Und was heißt das jetzt? Wenn Kitas Chancengerechtigkeit fördern sollen, braucht es zwei Bausteine. Der eine ist simpel: Geld und nachhaltige Planung. Mehr Erzieherstellen, attraktivere Bedingungen für Berufseinsteiger, Fortbildungen, angemessene Vergütung auch für Aufgaben jenseits des Normalbetriebs – etwa für die Arbeit an pädagogischen Konzepten. Der zweite Baustein kostet nichts, ist aber komplexer: Einfühlungsvermögen und Kommunikationstalent. Damit Förderung für alle greift, müsste man auch alle Eltern mit ins Boot holen. Solche, die selbst Unterstützung und Beratung brauchen. Und auch solche, die sich aus Sorge um ihre Kinder dem staatlichen Bildungssystem entziehen – und dadurch soziale Gräben noch vertiefen.

Facts and Figures:

  • Für das laufende Haushaltsjahr sind in Hamburg 822 Millionen für Kitas eingeplant, damit haben sich die Ausgaben gegenüber 2010 mehr als verdoppelt. Die Milliardengrenze wird voraussichtlich 2020 erreicht.
  • In Hamburg werden vergleichsweise viele Kinder in einer Kita betreut: 44,7 Prozent der unter Dreijährigen, fast 100 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen
  • Besonderen Nachholbedarf für Hamburg sieht die Bertelsmann-Stiftung bei der Betreuung der unter Dreijährigen: Auf eine Erzieherin kommen im Schnitt 5,2 Kinder, empfohlen wird ein Schlüssel von 1 :4. Bei den Drei- bis Sechsjährigen liegt er mit 1 : 8,4 Kindern im bundesdeutschen Durchschnitt, empfehlenswert wäre ein Verhältnis von 1 : 7,5.
  • Laut Bertelsmann-Stiftung wären rund 3850 neue Erzieherstellen notwendig, um in Hamburg gute pädagogische Arbeit zu leisten – also deutlich mehr als die angekündigten 2700.
  • Laut dem „Gute-Kita-Gesetz“ der Bundesregierung werden bis 2020 5,5 Milliarden Bundesgelder für Kita-Ausbau und Qualitätsverbesserung bereit gestellt. Wie sie die Mittel einsetzen, entscheiden die Länder selbst.
  • Erzieher und Erzieherinnen sind eine Hochrisikogruppe für Burnout und andere durch Stress verursachte Erkrankungen, so eine Studie der katholischen Hochschule Aachen. Hauptgrund: der Personalmangel in den Einrichtungen.
  • „Eine gute Kita mit mehr Erziehern würde ich mir auch etwas kosten lassen“ – diesen Satz unterschreiben laut einer Bertelsmann-Studie mehr als die Hälfte aller Eltern. Das gilt sogar für Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben.

Mein Andersmädchen

Für die „Barbara“, Ausgabe Februar 19, habe ich über die Frage geschrieben: Warum sehen eigentlich alle 13jährigen Mädchen heutzutage gleich aus – bis auf meine Tochter? Und wie finde ich das?

Manchmal, wenn ich sehr junge Mädchen sehe, denke ich an einen sehr alten Sketch von Loriot. Darin steht eine Gruppe identisch gekleideter Herren am Flughafengepäckband und versucht, aus einer Reihe völlig gleicher Koffer den richtigen herauszufischen. Danach folgt gleich die nächste Herausforderung: Am Ausgang wartet ein Grüppchen ebenso gleichförmiger Ehefrauen mit Föhnwelle und Seidentuch. Was das mit 13jährigen im Jahr 2019 zu tun hat? Nun: Wenn Pubertät ein Ringen um die eigene Identität ist, kloppen sich gerade alle um dasselbe Modell. Langhaarfrisur, Lama-Shirt, Lack-Kunst am Nagel. Da fragt man sich auch manchmal, wie die sich gegenseitig auseinanderhalten. Nur eine sticht heraus: meine Tochter. Nicht nur, weil sie fast immer die Kleinste ist, auch wegen Grunge-Boots, Kurzhaarschnitt und Karohemd. Ihre Fingernägel sind nur deshalb lang, weil sie vergisst, sie zu schneiden, als Handy-Hintergrundbild trägt sie die LGBT-Flagge, „weil’s cool ist“, und auf ihrer Playlist steht Mittelalter-Musik statt Cro & Co. Meistens bin ich stolz auf mein Andersmädchen. Aber manchmal auch verstört.

„Früher war mehr Lametta“, spricht Loriot. Als ich ein Teenager war, in den Achtzigern, gab es diverse Gruppen und Untergrüppchen: Ob man pastellfarbene Pullover über dem Blouson geknotet trug, Schnallenschuhe zum langen schwarzen Mantel oder barfuß zu Batik, war ein Statement. Manche Mädchenfrisuren sahen aus wie aus dem „Denver Clan“, andere wie von der Bundeswehr. Heute ist Artenvielfalt out. Vielleicht, weil die 13-jährigen von damals die Erwachsenen von heute sind, und gegen die lässt es sich schlecht rebellieren. Jedenfalls nicht mit Klamotten und Playlists. Dann wiederum: Vielleicht war dieses ganze Punk-Pop-Psych-Ding auch damals mehr Attitüde als echte Individualität. Genau so wenig rebellisch wie ein 60-jähriger, der in einem gebügelten „Wild & Free“-T-Shirt zum Rockfestival fährt und dort alkoholfreies Pils kippt. Und ob man Gruftie oder Softie wurde, hatte oft weniger mit Überzeugung zu tun als mit der Frage, ob man zufällig in der 8b war oder in der 8a.

Meine Tochter steht da drüber, und das bleibt nicht ohne Folgen. Nicht, dass sie gemobbt wird, weil sie nicht „Bibi’s Beauty Palace“ auf YouTube folgt. Aber zur coolen Clique gehört sie auch nicht, und es gibt Tage, da versinkt sie in ihren schlammfarbenen Rollis wie eine kleine Schildkröte, die den Kopf einzieht. In solchen Momenten steht auf meiner linken Schulter ein Engelchen in Regenbogen-Tunika und reckt die Faust: Gegen den Strom schwimmen gibt Muckis! Lamas sind eh uncool! Und wenn sie sich später tatsächlich in Emily verliebt und nicht in Emil: so what? Auf meiner rechten Schulter sitzt ein Teufelchen im Paillettentop, macht sich die Nägel und stichelt: Was ist bloß aus deiner pinkfarbenen Prinzessin vom Kita-Fasching geworden? Hättest du nicht lieber so ein kleines Mini-Me, dem du einen Lockenstab zum Geburtstag schenken kannst?

Manchmal gewinnt das Teufelchen. Dann suche ich morgens im Schrank meiner Tochter das einzige Oberteil, das mehr nach Bluse als nach Hemd aussieht, hänge es nach vorn und hoffe, sie greift danach. Aber es gibt auch die guten Tage. An denen pappe ich dem Pailletten-Heini mit Kleber aus dem Nail-Art-Set den Mund zu und schaue mir entspannt an, wie mein Andersmädchen T-Shirts aus der Jungs-Abteilung in die Umkleidekabine schleppt. „Ich bin halt so’n bisschen genderfluid“, sagt sie dann halb entschuldigend, halb kokett, und ich finde das vor allem eins: ganz schön mutig. Denn anders sein, wenn alle anderen genau so anders sind, das ist für Anfänger. Ich habe übrigens auch noch einen Sohn, der Fußball spielt, sich eine Playstation wünscht und Mädchen doof findet. Seine Schwester allerdings nicht immer. Extrem normal halt. Er ist allerdings erst zehn. Vielleicht wird das noch.

„Menschen werden immer füreinander einstehen“

Für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ habe ich im April 2018 eine Gesprächsrunde moderiert zum Thema „Zukunft der Familie“. Eine spannende, auch kontroverse Diskussion!

 

Die Diskussionsteilnehmer:

Ines Imdahl, 51, ist Diplompsychologin und Gründerin des „Rheingold Salon“, eines Unternehmens mit dem Schwerpunkt Kultur- und Frauenforschung. Mit ihrem Mann hat sie vier Kinder und lebt in Köln.

Sarah Diehl, 39, ist Aktivistin und Schriftstellerin. Sie setzt sich mit der Organisation Ciocia Basia für ungewollt schwangere Frauen in Ländern ein, in denen Abbrüche gesetzlich verboten sind; 2015 veröffentlichte sie das Sachbuch „Die Uhr, die nicht tickt – kinderlos glücklich“ (Arche). Sarah Diehl lebt in Berlin in einer WG.

Andreas Rödder, 51, ist Professor für neueste deutsche Geschichte an der Uni Mainz. Seine Bücher (zuletzt: „21.0 – eine kurze Geschichte der Gegenwart“, C.H. Beck) richten sich an ein breiteres Publikum. Er ist Mitglied der CDU, verheiratet und Vater dreier Töchter.

Verena Carl: Ehe für alle, Patchwork, Regenbogen-Paare – historisch gesehen scheinen Familienformen immer bunter und vielfältiger zu werden. Oder, Herr Rödder?

Rödder: Ja und nein. Gerade für die alte Bundesrepublik haben wir ein Modell im Kopf, das wir für eine Art Normalnull halten: die Fünfziger und Sechziger Jahre, mit der klassischen Familie aus Vater, Mutter, Kindern, wie im Rama-Werbespot. Dabei ist das die historische Ausnahme. Familie ist zwar eine Konstante, schon immer haben Menschen ihr Leben miteinander geteilt. Aber die Form wandelt sich ständig: etwa von der ländlich-agrarischen Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie. Verwitwete, Wiederverheiratete, Alleinerziehende, das gab es immer. Neu ist die Pluralität von Lebensformen im Sinne von Wahlfreiheit.

Diehl: Ich frage mich dabei immer: Warum haben wir solche Angst, uns innerlich vom klassischen Konzept der Familie freizumachen?

Mann und Frau verlieben sich, bekommen Nachwuchs – was stört Sie daran?

Diehl: Nichts, das soll jeder halten wie er will! Was mich stört, sind diese pseudo-biologischen Argumente – was ist vermeintlich „natürlich“, was ist „weiblich“? Gehört ein Kinderwunsch zum Frausein? Ich denke, dass das Mutterideal eine geschlechtliche Arbeitsteilung zementieren soll, damit Frauen unbezahlte Fürsorgearbeit machen, unsere ganze Ökonomie basiert darauf. Gleichberechtigung ist nicht erreicht, nur weil Frauen in die Männerbereiche wie Lohnarbeit vorgedrungen sind.

Sie haben sich gegen leibliche Kinder entschieden und leben in einer Gemeinschaft mit Freunden. Müssen Sie sich dafür rechtfertigen?

Diehl: Nicht in meinem Umfeld, das habe ich mir ja selbst gesucht. Aber dennoch begegnet mir die Unterstellung, meine innere Uhr müsse ticken. Häufiger von Männern als von Frauen. Darüber kann ich nur noch lachen.

Imdahl: Mit Ihrer Lebensplanung sind Sie die Ausnahme. Der Trend geht in eine andere Richtung. Wir haben für den Rheingold-Salon gerade 19- bis 29jährige nach Kinderwunsch und Familienplanung befragt. Auch wenn sie noch so tolerant sind gegenüber anderen Lebensentwürfen, 80 Prozent der Befragten wünschen sich eine klassische Familie. Frauen wie Männer. In der Werteskala steht die Familie sogar über der Liebe zu Partner, übrigens auch die Freundschaft. Ein echter „Game Change“, den ich in 25 Jahren als Psychologin nicht erlebt habe.

Obwohl sicherlich viele dieser jungen Leute aus eigener Erfahrung wissen, dass Familien zerbrechen können….

Imdahl: Gerade deshalb! Die Sehnsucht nach Stabilität erwächst aus Kontrollverlusten. Nicht nur die Herkunftsfamilie kann sich als brüchig erweisen, auch die Gesellschaft gibt keinen oder wenig Halt. In den letzten 15 Jahren haben Kinder so sprechen gelernt: Mama, Papa, Krise. Ob Migration oder Finanzmärkte, immer tun sich neue Unsicherheiten auf. Darauf reagieren junge Menschen mit dem Versuch, die Kontrolle zurück zu gewinnen: Sie gehen extrem diszipliniert mit dem eigenen Körper um, kleiden sich konservativ, tun alles dafür, dass die eigene Familie heil bleibt.

Klingt nach ziemlich viel Druck.

Imdahl: Mehr Freiheit bedeutet immer auch mehr Druck. Studieren, eine Familie gründen, dabei auch noch gut aussehen – das sind ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr Optionen, sondern Pflichten. Dann kommen die Fragen: Wieso hast du kein Kind? Du brauchst doch keinen Mann dafür, geht doch heute auch anders. Oder nach einer Geburt: Wieso ist der Bauch nicht weg nach drei Monaten?

Rödder: Diese Zunahme an Maximen und Imperativen ist typisch für die Moderne! Die bürgerliche Familie ist ihr Produkt, ihr Spiegel, und gleichzeitig ihr Gegenentwurf. Denn die industrielle Gesellschaft ist geprägt von Markt, Arbeitswelt, Mobilität. Die Familie ist der Ort der Emotion, der Geborgenheit, Zugehörigkeit, jedenfalls in ihrer idealen Ausprägung. Und die Frage ist immer, was man wie bewertet. Bis in die Fünfziger galt es als Privileg, wenn Mutti kein Geld mehr verdienen musste. Dann hatte die Arbeiterfamilie es geschafft. Heute nehmen wir das im Zusammenhang mit patriarchalischen Geschlechterverhältnissen wahr.

Diehl: Ich habe den Eindruck, Mutterschaft ist Teil der Leistungsgesellschaft geworden. Frauen machen einander Konkurrenz, weil sie immer noch mehr Anerkennung im Privatleben bekommen als im Beruf: Wer gibt sich selbst am stärksten auf in der Erziehung? Wer macht sein Kind am besten fit für die moderne Arbeitswelt?

Imdahl: …und Männer haben sich da elegant rausgehalten. Die neue Norm bei jungen Familien ist: Er 40 Stunden, sie Zuverdienerin. Hausarbeit und Kinderbetreuung bleiben zum Großteil an ihr hängen.

Diehl: Gleichberechtigung kann aber nur funktionieren, wenn Männer auch die Arbeit machen, die von Frauen erwartet wird.

Aber haben sich familiäre Rollen nicht doch nachdrücklich verändert, wenn heute vermehrt junge Väter Auszeiten nehmen und sich Babys im Tragetuch vor die Brust binden?

Rödder: Ganz offenkundig. Sowohl die Beziehungen zwischen Partnern als auch zwischen Eltern und Kindern sind ganz andere als bis in die Sechziger, als Kinder eher Befehlsempfänger waren als gleichwertige Familienmitglieder. Gleichzeitig sind die Verantwortlichkeiten für Lebensbereiche doch sehr konstant geblieben.

Imdahl: Ich bin ja dafür, dass Frauen wie Männer sich frei entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten. Aber wenn eine Mutter freiwillig zu Hause bleibt, führt das zu negativen Konsequenzen für Unterhaltsansprüche, Altersabsicherung und so fort.

Rödder: Es hat oft ungeahnte Folgen, wenn man einen Entwurf aufwertet – so wie die Politik der letzten 15 Jahre den der berufstätigen Mutter – und dagegen einen anderen abwertet. Setzen wir einseitig Anreize für eine paritätische Aufgabenverteilung zwischen Müttern und Vätern, und übergehen damit individuelle Entscheidungen? Das ist die Gratwanderung einer liberalen Gesellschaft.

Könnte das auch der Grund sein für jene erzkonservative Gegenbewegung, die sich in Gruppierungen wie der AfD oder den „Besorgten Eltern“ formiert?

 Rödder: Ja, es kommt zu einer Polarisierung von Leitbildern. Wenn die Familienministerin keine Partei mehr für die Vollzeitmutter ergreift, dann ist diese vielleicht froh, wenn eine konservative Publizistin wie Birgit Kelle das tut. Weil sonst ihre Erfahrung in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch vorkommt.

Frau Diehl, bei einer freiwillig kinderlosen Frau wie Ihnen denken sicherlich viele Menschen: Beruf und Karriere waren ihr wohl wichtiger.

 Diehl: Ein Vorurteil. Auch von Frauen, die ich für mein Buch interviewt habe, habe ich gehört: Wenn ich mich diesem Mutterideal ausliefere, dann muss ich mich immer daran abarbeiten. Das will ich nicht. Ein weiteres Vorurteil ist: Kinderlose sind egoistisch. Dabei kann ich mich viel stärker gesellschaftlich engagieren, wenn ich nicht in der Kleinfamilie eingebunden bin. Ich bin eine heiße Verfechterin von sozialer Elternschaft und würde gern Familie nicht nur biologisch definieren, sondern als Netzwerk von Menschen, die aus freien Stücken verbunden sind und sich umeinander kümmern.

Aber wie belastbar ist das – in Krisenzeiten und Notsituationen?

Diehl: Gegenfrage: Wie belastbar sind Ehen? Ich glaube eher, in der typischen Konstellation sind tendenziell viele überfordert. In Kanada gibt es seit vier Jahren das „Social Guardianship“-Gesetz, da können bis zu vier Personen mit den gleichen Rechten und Pflichten für ein Kind da sein. Zum Beispiel ein alleinerziehender Elternteil, der kinderlose Freunde mit hineinnimmt in die Verantwortung. Das finde ich zukunftsweisend.

Ist es überhaupt nötig, dass der moderne Staat neuen Beziehungsformen einen rechtlichen Rahmen gibt?

Rödder: Im Grunde könnte man sagen: alles Privatsache. Ich halte den staatlichen Eingriff aber aus zwei Gründen für gerechtfertigt: Zum einen das Kindeswohl, weil ein Kind sich nicht schützen kann; zum anderen das Gemeinwohl, im Sinne der Bereitschaft, füreinander einzustehen. Das müsste aber nicht auf Ehe oder biologischer Elternschaft beruhen.

Diehl: Sage ich doch! Deshalb halte ich es auch für eine Sackgasse, dass wir so sehr an der Idee leiblicher Elternschaft hängen. Etwa wenn ich daran denke, was Frauen sich und einander antun, um auf medizinischem Wege ein Kind zu bekommen. Ich finde es recht tragisch, wenn Menschen glauben, dass sie ihr Bedürfnis nach Liebe und Gemeinschaft nur über biologische Nachkommenschaft herstellen können und damit ziemlich gewaltsame Strukturen etablieren. Leihmutterschaft und Eizellenspende sind zu einem brutalen Millionengeschäft geworden. In der dritten Welt wird die ökonomische Not ausgebeutet, in den westlichen Ländern unterziehen sich Frauen quälenden Hormonbehandlungen und medizinischen Eingriffen.

… weil sie sich nun einmal sehnlichst ein Kind wünschen.

Diehl: Das kritisiere ich nicht, auch nicht die Technologie an sich. Ich würde nur die Frage stellen: Warum müssen es die eigenen Gene sein? Was ist daran so wichtig?

Imdahl: Der medizinische Fortschritt führt dazu, dass wir uns nicht mehr damit abfinden müssen, wie wir geboren sind – ob unsere Nase schief ist oder unsere Fruchtbarkeit eingeschränkt. Was die Ausbeutung angeht, bin ich ganz bei Ihnen, Frau Diehl. Aber die neuen Technologien schaffen auch Freiheitsgrade. Junge Frauen sagen: Wenn der Traumprinz nicht kommt, dann lasse ich meine Eizellen einfrieren. Oder ich fahre nach Holland und lasse mich künstlich befruchten. Und parallel suche ich mir online jede Woche einen neuen Sexpartner.

Rödder: Im Grunde sehen wir auch hier, wie sich die moderne Gesellschaft immer weiter ausdifferenziert: Sexualität und Reproduktion werden voneinander abgekoppelt. In die eine Richtung gibt es das schon lange, durch sichere Schwangerschaftsverhütung. Dass umgekehrt Fortpflanzung ohne Sexualität möglich ist, das ist historisch neu.

Ist das ein Gewinn oder eine Bedrohung?

 Rödder: Das lässt sich nicht seriös beantworten. Allerdings: Häufig stellt sich erst mit großer Verzögerung heraus, welche Folgen Entwicklungen haben. Denken Sie daran, dass Teile der Grünen in den Achtzigern Sex mit Minderjährigen legalisieren wollten….

Imdahl: Die katholische Kirche hat es leider Jahrhunderte lang im Verborgenen gemacht!

Rödder: Schlimm genug. Ich frage mich dennoch, von welchen aktuellen Entwicklungen Psychologen in 25 Jahren sagen werden: Was habt ihr den Kindern angetan? Beim Thema Kindeswohl bin ich besonders konservativ. Auch, wenn es um die „Ehe für alle“ geht: So lange erwachsene Partner sich dazu entscheiden, kein Einwand, wenn Kinder involviert sind, wäre ich viel vorsichtiger.

Schwierige psychische Umstände gibt es doch gerade auch in der klassischen Kernfamilie – bis zu Gewalt und Missbrauch. Während nach Studienlage Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften geborgen aufwachsen können.

Rödder: Alles richtig. Ich habe ja nicht behauptet, man müsste alles beim Alten belassen. Ich würde eine solche Gesetzesentscheidung nur nicht übers Knie brechen.

Diehl: Mit diesem Argument kann man jede progressive Idee im Keim ersticken. Das wichtigste ist doch, dass Kinder stabile Bezugspersonen haben. Warum nicht zwei Männer, zwei Frauen oder eben mehrere Erwachsene? Mir hat auf einer Lesung einmal eine ältere Frau erzählt, dass sie auf dem Bauernhof aufgewachsen ist und ihre Kindheit sehr schön empfand, weil es viele verschiedene Leute gab, die sich um sie kümmerten. Die Isolierung in der Kleinfamilie empfand sie als historischen Unfall.

Blicken wir noch nach vorne: Wie sehen Familien in 20 Jahren aus? Und welchen Anteil haben die Themen unserer Gegenwart daran?

Imdahl: Digitalisierung verändert, wie Menschen zusammen finden. Man spricht ja heute schon von Tinder-Babys und Tinder-Hochzeiten, nach dem Namen einer Dating-App. Das ist ähnlich beim Thema medizinische Eingriffe, das wird so schnell voranschreiten, dass Gesetzgebung, gesellschaftliche Regeln und Normen kaum hinterher kommen. Neue Technologien sind ein mächtiger Treiber für gesellschaftliche Veränderungen.

Ein weiterer Aspekt: Wird sich Deutschland verändern, wenn Migranten ihre eigenen Vorstellungen von Familie und Geschlechterbeziehungen mitbringen?

Imdahl: Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin meilenweit von AfD-Positionen entfernt und sehe das individuelle Leid von Flüchtlingen. Ich denke aber schon, dass das Familienbild einiger weniger uns gesellschaftlich zurückwerfen kann. Ich möchte hier keine Männer haben, die Frauen begrabschen, schlagen, ihnen das Rad- und Autofahren verbieten oder ihren achtjährigen Töchtern ein Kopftuch vorschreiben.

Diehl: Ich will diese Ängste nicht wegwischen, Frau Imdahl. Aber liegt das nicht auch am schweren Stand der Migranten? Wird die vermeintliche Ehre der Frau nicht auch deshalb so hochgehalten, weil sie das Einzige ist, an dem sie sozialen Status darstellen können? Ich finde die AfD bedrohlicher für meine Freiheit als Frau.

Rödder: Wir erleben eine zweifache Doppelmoral: Auf der einen Seite geben sich Menschen plötzlich als Frauenrechtler, die damit nur ihre eigene Islamophobie ummänteln. Auf der anderen sind jene, die einer biodeutschen Vollzeitmutter ihr Lebensmodell absprechen, aber bei einer vollverschleierten, nicht erwerbstätigen Muslima sagen: Das ist kulturelle Diversität. Da stimme ich Frau Imdahl zu, die Schwierigkeiten würde ich nicht unterschätzen. Als Historiker ist mir eines wichtig: Offenheit im Blick auf die Zukunft. Sowohl für Risiken als auch für Chancen.

Und die wären?

Rödder: Meine Prognose ist: Punkt a, die Zukunft wird anders als die Gegenwart. Punkt b, sie wird auch anders, als wir sie uns vorstellen. Weil zu allen Zeiten unvorhergesehene Ereignisse den Gang der Geschichte verändern. Aber eines wird wohl nicht verschwinden: dass Menschen, in welcher Form auch immer, gemeinsam leben und füreinander einstehen. Familie wandelt sich permanent ­– und bleibt.

 

Mehrere kurze Videoclips der Teilnehmer gibt’s in der Online-Version des Magazins hier zu sehen.

 

 

 

 

 

Tanzen auf Rädern

Conny Runge (40) trägt gern neonfarbene Shirts, hat eine imposante Tattoo-Sammlung und arbeitet neben ihrem Job auch als Zumba-Trainerin. War da noch was? Ach ja: Sie sitzt dabei im Rollstuhl. Das hat mich beeindruckt und ich habe mich gefreut, dass ich ein Porträt über sie für die BARBARA schreiben durfte – veröffentlicht im Mai 2018

Es gibt Orte, an denen ist man sofort per du. Dort, wo das Leben zu leicht ist für Förmlichkeit: Ferienclub, Fitnessstudio. Oder dort, wo es zu schwer ist, um Distanz zu wahren: Selbsthilfegruppe, Notaufnahme. In der Zumba-Stunde der Rehaklinik „Godeshöhe“ in Bonn gilt beides.

Ein Donnerstag im Frühling, 11.15 Uhr. „Geht’s euch allen gut?“, ruft Trainerin Conny Runge. Blonder Zopf zum neonfarbenen Shirt, breites Lächeln, leicht sächsischer Zungenschlag. Der Hallenboden ist grün, durch die Fenster dringt blasses Licht ins Souterrain. Salsa-Bläsersätze plärren aus dem Lautsprecher. Hände bewegen sich durch die Luft, mal zaghaft, mal gekonnt. Schultern rotieren rhythmisch. Als könnten die Teilnehmer jeden Moment aufspringen und tanzen. Aber das wird nicht geschehen. Die fünf Männer und die drei Frauen werden ihre Beine wohl nie wieder bewegen können. Sie sitzen im Rollstuhl. Genau wie ihre Trainerin.

„Man behauptet ja gern mal unbedacht: Wenn ich querschnittsgelähmt wäre, ich würde mich umbringen.“ Conny schüttelt amüsiert den Kopf, wenn sie an ihr eigenes, früheres Ich denkt. 19 war sie, schwang im Karnevalsverein ihrer Lausitzer Heimat als „Funkemariechen“ die Beine, studierte Sport, war zum ersten Mal ernsthaft verliebt. Ein Leben in Bewegung, bis zur Vollbremsung: eine Party, das Fenster offen, sie auf dem Sims, ein Bekannter, der sie erschreckte, so dass sie das Gleichgewicht verlor. Vier Meter tiefer prallte sie mit dem Rückgrat auf einen Betonpfeiler, in Höhe des siebten Brustwirbels. Als ihre Freunde gelaufen kamen, bat sie: Nehmt mal meine Beine auf den Boden, die stehen so komisch hoch. Die anderen sahen sie entsetzt an: Conny, die sind doch unten! „Da wusste ich instinktiv: Ich werde nie wieder laufen.“

Aber, ernsthaft: sich umbringen? Keine Frage für die Tochter eines Sportlehrerpaars. „Ich hab von meinem Vater den Kampfgeist, von meiner Mutter das Gefühlvolle. Ich wollte einfach nur leben.“ Auch wenn sie sich von vielem verabschieden musste: bauchfreie Shirts, 15 Kilo an Beinmuskulatur, sogar von ihrer ersten großen Liebe: „Ich habe ihn regelrecht weggestoßen, habe gesagt: Schau mich an, was willst du noch mit mir?“ Die Grenzen ihrer Welt verliefen jetzt anders. Zwischen „Rollis“ und „Fußgängern“. Zwischen vorher und nachher.

Nun steht wieder alles auf Anfang. Conny sattelt um auf ein Maschinenbaustudium, besorgt sich ein Auto mit Handgas, lässt sich von ihren Freunden zu Party und Picknick schieben, trainiert ihr neues Leben, als wär’s eine olympische Disziplin. Und noch etwas treibt sie an: der Sport. Sie fährt einen Liegebike-Marathon auf Lanzarote mit, singt beim Kundalini-Yoga Mantras, spielt Basketball. Spaß macht ihr vieles, ganz das Richtige ist es nie. Das Bike braucht zu viel Platz, vom Basketball tun ihr Schultern und Handgelenk weh. Yoga? Nichts für eine quirlige Frau, die spricht und gestikuliert, als käme sie aus Palermo statt aus Sachsen. Dann freundet sie sich mit der Physiotherapeutin Jacqueline an, die Zumba-Kurse für Neurologie-Patienten gibt. Und Conny dazu einlädt. Bämm – Volltreffer. „Die Musik, die Lebensfreude, und dann noch ein Sport, den man immer und überall machen kann – ich war sofort angefixt. Sofort habe ich mir eigene Choreographien ausgedacht, für die man nur Arme und Schultern braucht.“

Es bleibt nicht beim Mitmachen. Conny möchte selbst Kurse leiten, neben ihrem Job bei einer Firma für Rehatechnik. Aber in Deutschland hat alles seine Ordnung, sogar Fitness-Funsport. Wer als Zumba-Trainerin arbeiten will, braucht einen Schein. Und so steht sie an einem Spätsommertag vor zwei Jahren mit ihrem Rollstuhl vor einer Trainingshalle. Davor ein paar Stufen, aber keine Rampe. „Ich da unten, und 40 Fußgänger, die auf mich herunterschauten. Alle die gleiche Frage im Blick: Was macht die hier? Das habe ich mich in dem Moment auch gefragt.“ Aber wenn man Conny Runge heißt, scheitert man nicht so schnell. Schon gar nicht an einer Treppe. Zwei Tage darauf hat sie ihr Zertifikat, kurz darauf veranstaltet sie mit Freundin Jacqueline die erste Zumba-Inklusions-Party Deutschlands: Tanzschritte für die Fußgänger, Arm-Choreographie für die Rollifahrer, brasilianische Cocktails und Käsebällchen für alle.

11.45 Uhr. Conny ballt die Fäuste, boxt im Rhythmus der Musik in die Luft: „Ja, lasst es raus! Gegen alles, das wütend macht!“ Dass oft die alltäglichsten Wünsche unerfüllbar sind, zum Beispiel. Ein Tag ohne Blasenkatheter, ein Nachmittag am Strand, das Handtuch ausbreiten, in die Wellen laufen. Wenn sie den linken Arm hoch wirft, sieht man unter ihrer Achsel ein Vogelkopf-Tattoo. Ein Phönix, der aus der Asche steil nach oben steigt. Den hat eine andere Freundin entworfen, Grafikdesignerin, ebenfalls Rollstuhlfahrerin. Boxt Conny mit rechts, entblößt sie dabei das Bild eines Speers aus dem Film „Avatar“. Die Heldengeschichte eines gelähmten Ex-Soldaten, der in einer Parallelwelt Abenteuer besteht. Starke Message, starke Bilder – und ganz schön sexy. Das findet auch ihr Freund Rainer. Mit ihm macht sie Witze über ihre „Schlenkerbeine“, ihre „Trommelstöcke“, denn sie weiß: Er liebt sie von Kopf bis Fuß. Als ganze Frau. Kann sie Sex genießen? Und wie: „Nacken, Hals, Brust, der ganze Oberkörper wird zur erogenen Zone. Und ist nicht das wichtigste Körperteil dabei sowieso der Kopf?“

Auf die „Godeshöhe“ kam Conny Runge ursprünglich als Patientin, ein paar Monate ist das her. Und sie ging als Trainerin. Während eines Kur-Aufenthaltes brachte sie den Therapeuten ihre Lieblings-Fitness näher. Genau das, was die suchten: Neue, coole Sportangebote, die nicht nur den Körper, sondern auch der Seele in Schwung bringen. Bewegung ist wichtig für die Reha-Patienten, weil sie den Kreislauf und die Verdauung anregt, Druckstellen auf der Haut vorbeugt, Verspannungen abbaut. Vor allem aber ist sie das beste Anti-Depressivum. Chemiefrei und ohne Nebenwirkungen. Das kennen Gesunde ja auch. Dem Liebeskummer davon joggen, den Job-Frust an einem Boxsack auslassen. „Beim Zumba ist es manchmal für Momente, als würde ich meine Beine wieder spüren. Ich merke richtig die Nervenimpulse“, erklärt Conny. Wenn fehlende Gliedmaßen weh zu tun scheinen, spricht man von Phantomschmerz – vielleicht gibt es ja auch das Gegenteil. Phantomfreude.

Krankheit ist ein großer Gleichmacher, Sport auch. Die 40-something-Frau mit den pinken Schnürsenkeln, die junge Muslima mit Kopftuch, der ältere Herr mit Seidenschal und pastellfarbenem V-Ausschnitt-Pulli – Körper, die sich gemeinsam zurück ins Leben kämpfen, mal mehr, mal weniger geschickt. Da spielt es keine Rolle, was einer verdient, an was einer glaubt, was auf seiner Visitenkarte steht. Gleichzeitig empfindet Conny ihr Schicksal als etwas Besonderes. Als Aufgabe, aber auch als Chance. „Ohne meinen Unfall hätte ich weiter Sport studiert und wäre jetzt vielleicht eine von vielen. So bin ich die Frau, die den Rollstuhl-Zumba nach Deutschland gebracht hat.“ Und das ist ja erst der Anfang: Warum nicht auch Stunden für Kinder und Jugendliche anbieten? Trainer im Ausland ausbilden?

12 Uhr, Cooldown. „Das war besser als acht Wochen Reha“, sagt eine Frau mit graublonden Strähnen. „What a wonderful world“ , steht auf ihrem T-Shirt. Aus den Boxen klingen noch immer fröhliche Posaunen, Trompeten und Bongos. Aber wenn man auf den spanischen Text hört, sind die Worte tieftraurig: „Ach, lass mich diesen Schmerz vergessen, der mich zum Weinen bringt!“ Das Leichte und das Schwere – sie passen nicht nur in der Musik gut zusammen. Sondern auch im Leben.

Ich muss gar nichts!

„Ich muss gar nichts“ hieß das Dossier, das die BRIGITTE im Juli 2018 veröffentlichte. Das fand ich gut, da hatte ich auch etwas beizutragen: Warum bei einem Rennen mitlaufen, das man ohnehin nicht gewinnen kann? Hier ist mein Beitrag, den die BRIGITTE in einer leicht gekürzten Version veröffentlichte.

Mein Gesicht kann etwas Neues. Letzte Woche habe ich es entdeckt, vor dem Badezimmerspiegel im Büro: Wenn ich lache, wirft die Haut unter meiner Nase eine Querfalte. Die war da vorher nicht. Mein Mann amüsiert sich: Schau lieber zu Hause in den Spiegel, der ist schlechter beleuchtet! Dabei macht die Falte mich eher neugierig: Körper, alter Freund, was hast du noch für Tricks auf Lager? Nächstes Jahr werde ich 50, da feiern mein Körper und ich goldene Hochzeit. Eine Zweckverbindung – wir können nun mal nicht ohne einander leben -, aber liebevoller denn je. Das ist eine schlechte Nachricht für den Fachverband der ästhetisch-plastischen-Chirurgie und für die Entwickler von „zehn Kilo in drei Tagen“-Apps. Für mich ist es eine gute.

Ich war mal jünger, dünner und faltenfreier, klar. Aber ausgerechnet damals war das anders. Da blickte ich in den Spiegel, als stände ich vor dem Türsteher eines hippen Clubs. Bin ich schön? Mein innerer Berghain-Mannes rollte ironisch mit den Augen: Ernsthaft? Du glaubst doch nicht, dass ich dich hier reinlasse! Ich dachte damals, ich muss mich nur genügend bemühen, dann geht irgendwann die Tür auf. Und dahinter spielt das wahre Leben. Weil schönere Menschen das Anrecht haben auf größere Gefühle, Leidenschaft, Drama. Weil sie sogar dann besser aussehen, wenn sie am Küchentisch weinen. Dafür strampelte ich mich ab, in jeder Hinsicht: mit Sport, der mir keinen Spaß machte, Fastenkuren, die mich langsam im Kopf machten, Frisuren, für die ich morgens eine Stunde früher aufstehen musste. Das fraß so viel Energie, dass ich ansonsten auf kleinerer Flamme kochte: ein Leben mit handlichen Gefühlen, erreichbaren Träumen, lauwarmen Beziehungen.

Aber Beauty ist ein Biest, Schönheit ist relativ. Egal wie man sich bemüht, irgendwo ist immer jemand mit einem strafferen Bauch und längeren Beinen, mit mehr Haar und größeren Augen. Daneben ich: Mittelgroß, mittelschlank, mittelblond. Hübscher Mund, hässliche Füße. So weit, so normal. Keine Frau, die Blicke auf sich zieht, wenn sie den Raum betritt. Ein Rennen, das ich nicht gewinnen konnte. Irgendwann dachte ich mir: Was für eine gigantische Verschwendung. Ich hatte vergeblich versucht, mich fremden Bildern anzupassen. Von da an machte ich mir die Bilder passend. Ließ meine Haare an der Luft trocknen, verlangte von Klamotten, dass sie mich auch in Größe 40/42 gut aussehen ließen, ging nur noch zum Sport, wenn ich Lust hatte. Sah meinen Körper nicht mehr als ewigen Low-Performer, sondern als prima Wohnung für mich und meine Gedanken. Plötzlich, zack, ging die Tür auf und machte Platz für das, was mir wichtig war. Bücher schreiben, eine Zeitlang im Ausland leben, große Liebesgeschichten, eine eigene Familie. Mein Schminktäschchen behielt ich. Aber das angestrengte Schaulaufen anderer betrachtete ich künftig, wie ich heute manchmal Model-Castingshows sehe: als seltsames Spiel, bei dem ich weder mitspielen muss noch will.

Manchmal kommt das Gute, wenn man aufhört, zu warten. Pickel bis Mitte 20, dafür vergleichsweise glatte Gesichtshaut mit Ende 40. Feine Haare, die früher nicht für Big Hair-Frisuren taugten, aber heute noch kaum grau sind. Danke, nettes Geschenk, aber wäre nicht nötig gewesen. Ich bin ja raus aus dem Rennen. Dagegen beobachte ich, wie Freundinnen und Kolleginnen an die Startblöcke gehen: plötzlich nur noch Low-Carb oder Clean Eating, antrainieren gegen die Schwerkraft, oder sogar anoperieren. Ist ja heute alles minimalinvasiv und unblutig: Fadenlifting, Mikrodermabrasion, Mikroneedling. Kann man machen. Tut mir aber Leid. Dieser verzweifelte Versuch, an einem Oldtimer herumzuschrauben, bis er fast aussieht wie ein Sportflitzer. Aber eben nur fast. Letztlich sind wir doch alle gleich, egal, welches Los uns die Gen-Lotterie zuteilt, ob wir eher früher oder eher später die Nase vorn haben: Wir enden als alte Frauen, mit dünnem Haar und hängender Haut. Das Rennen kann keine gewinnen. Irgendwann ist die längste Partynacht vorbei und der Club zu. Wäre es nicht schön, wenn wir dann in der Morgensonne lachend am Kantstein sitzen, Nasenfalten vergleichen und dann so richtig einen losmachen? Platz dafür ist ja genug.