Netz mal ehrlich

Im Sommer 2019 durfte ich das neue Coaching-Magazin BRIGITTE LEBEN redaktionell mit entwickeln, und habe auch einige Texte beigetragen – unter anderem diesen hier.

Makellose Körper, traumhafte Strände, lässige Outfits: Viele Jahre waren Instagram und Co vor allem Schaufenster fürs optimierte Ego. Doch seit kurzem dreht sich was: Selbstironie, offene Worte, filterlose Optik. Haben wir uns sattgesehen am schönen Schein?

Irgendwann war sie nicht mehr zu übersehen. Facebook, Twitter, Instagram: Auf allen Kanälen tauchten plötzlich Fotos einer nicht mehr ganz jungen, nicht besonders perfekt geshapten, aber offensichtlich gut gelaunten Frau auf, die mit Bordmitteln die überspannten Posen der Social-Media-Prominenz nachstellt. Comedien Celeste Barber, wie ein Sack Kartoffeln über einem Balkongeländer hängend; in Omas Schlüpfer, mit strammen Beinen eine Palme umklammernd; in einem dieser Mini-Outfits, die bei Normalos so aussehen, als hätten sie im Tran vergessen, eine Hose anzuziehen. Streckt ein Insta-Sternchen ein Plakat mit der Aufschrift „Love who you are“ in die Kamera, hält Barber mit einem handgeschriebenen Schild dagegen: „There’s no point in trying if you don’t look like this“ – das mit der Selbstliebe hat eh keinen Zweck, wenn man nicht so aussieht wie du.

Ein Witz natürlich, denn die Enddreißigerin aus Australien wirkt alles andere als unzufrieden mit sich. Allenfalls ein bisschen überrascht von ihrem viralen Erfolg. „Seit Jahren bin ich mit Kabarett und Schauspiel unterwegs, aber seitdem ich 2015 mit diesem Foto-Satire-Ding angefangen haben, kennt mich plötzlich die halbe Welt“, erzählt sie US-Talkshow-Host Jimmy Kimmel. Was ihre Followerzahl angeht, kann sie es mittlerweile locker mit den Beyoncés und Kardashians dieser Welt aufnehmen: Sechs Millionen Instagram-Nutzer*innen lieben ihr Spiel mit der Ego-Inszenierung. Darunter sogar einige der Celebrities, die von ihr aufs Korn genommen werden.

Damit ist Barber zur Postergirl einer Bewegung geworden, die seit einiger Zeit die Social-Media-Welt aufmischt: Sein statt Schein, Wahrhaftigkeit statt Fake News, mal lustig, mal schmerzhaft, aber immer nach dem Motto: Netz mal ehrlich. Influencer werden zu „Sinnfluencern“: Fitnessbloggerin Louisa Dellert widmet sich neuerdings Klima- und Umweltthemen, die New Yorker Instagram-Ikone Cleo Wade hat gerade ein Buch über Selbstfürsorge veröffentlicht und schreibt darin „über ihre bewegenden Erfahrungen zu Themen wie Angst, Veränderung, Dankbarkeit und Beziehungen“, so die blumige Verlagswerbung.

Tristan Horx, Anthropologe und Zukunftsforscher, erkennt darin ein Muster: „Sinnsuche passt zum Zeitgeist. Wir haben Fake News und künstliche Identitäten satt, sehnen uns nach verbindlichen Wahrheiten und echter Resonanz.“ Nicht erst seit dem Aufruhr um virtuell generierte Influencer und Chatbots : „Wir reden aneinander vorbei, inszenieren uns, lügen anderen und uns selbst in die Tasche.“ Und sparen dabei aus, was uns menschlich und nahbar macht: Ängste, Fehler, Unperfektion.

„Menschen haben genug von der coolen Gleichgültigkeit vergangener Jahrzehnte. Sie sehnen sich nach Erdung und Bodenhaftung“, hat auch Stephan Grünewald, Psychologe, Autor und Gründer des Kölner Rheingold-Instituts festgestellt. Für ihn lässt sich der Trend zu mehr Ehrlichkeit im Netz besonders am Siegeszug der Podcasts ablesen. Seit drei Jahren steigen die Nutzerzahlen, jede*r fünfte Deutsche lässt sich heute regelmäßig was erzählen. „Das gesprochene Wort schafft Nähe und Urvertrauen, man bindet sich akustisch an die Welt an – eine Erfahrung, die schon Ungeborene im Mutterleib machen“, analysiert Grünewald.

Tatsächlich geht’s in erfolgreichen Hörformaten häufig ans Eingemachte. So wie bei Caroline Kraft und Susann Brückner aus Berlin, die sich seit bald zwei Jahren den letzten Dingen widmen: Unter dem Titel „endlich“ sprechen die beiden über das Thema Tod und Sterben. Offen, anrührend, und dabei – man wagt es kaum zu schreiben – unterhaltsam. Geboren wurde die Idee in einer Kreuzberger Kneipe, erzählt Caroline Kraft: „Als mein Exfreund sich vor vier Jahren das Leben nahm, war ich mit Mitte dreißig plötzlich auf brutale Weise mit der Endlichkeit des Daseins konfrontiert, mit Schuld, Scham und Trauer. Eines Tages nahm mich meine Arbeitskollegin Susann beiseite und sagte: ‚Wenn du reden willst, ohne dass dich jemand betroffen anschaut – ich bin da.’ Denn Susann hatte auf diese Weise sowohl ihren Vater als auch ihren Bruder verloren.“ Abends beim Bier kamen die beiden rasch von eigenen Erfahrungen auf eine höhere Ebene: „Was macht Trauer mit Menschen, wie findet man eine Sprache dafür, was hilft?“ Von dort war es nur noch ein kurzer Weg zu Susanns Bemerkung: „Wenn wir jetzt ein Mikro hinstellen würden, hätten wir schon die erste Folge für einen Podcast.“

Für Caroline ist das gemeinsame Projekt viel mehr als Selbsttherapie. „Wir wollen ein Signal an die Welt senden: Das Thema Tod darf kein Tabu sein, und es gibt andere, modernere Wege für den Umgang damit als pietätvolle Selbsthilfegruppen.“ Die beiden schonen sich nicht, gehen dort hin, wo es richtig weh tut – etwa: was macht Trauer mit dem Körper, mit der Sexualität – und balancieren oft zwischen Humor und Verzweiflung. Ein Psycho-Striptease, der sich lohnt, sagt Caroline: „Für uns zahlt die Beschäftigung mit dem Thema auf das Leben ein und hilft, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren. Und von vielen unserer Hörer*innen bekommen wir Rückmeldungen: Endlich versteht mich jemand.“

Aber auch jenseits der ganz großen Themen wie Klimawandel, Krankheit und Tod machen viele Podcast-Produzent*innen, Blogger*innen und Youtuber*innen heute die Unebenheiten des Lebens sichtbar und klopfen ihren Nutzer*innen damit virtuell auf die Schulter: Hey, uns geht es wie euch! Da ist zum Beispiel die TV-Journalistin Joanna Castillo. Auf Instagram teilt sie Familienthemen (@frau.kakao.macht.tv), seit zwei Jahren betreibt sie einen Blog, in dem sie Menschen auch zu sperrigen Themen befragt: Wochenbettdepression, vorgeburtliche Diagnostik. „Ich möchte die ewige Selbstoptimierungsschleife durchbrechen.“ Die Trendwende weg vom höher, schneller, weiter findet sie gut: „Online ständig eine vermeintlich heile Welt zu sehen, macht doch nur depressiv.“ Lisa Harmann, mit Kollegin Katharina Nachtsheim seit sieben Jahren unter „Stadt Land Mama“ im Netz zu finden (eine halbe Million Seitenaufrufe pro Monat), formuliert es so: „Wir sind nicht nur für die schönen Seiten des Familienlebens da, sondern auch als Ventil für alles, das dabei unter den Teppich gekehrt wird.“ Dazu passen auch jene Fotos der beiden im aktuellen Buch zum Blog („Wow Mom“, Krüger 16,99 €), auf denen sie nicht nach Glamour-Mums aussehen. Sondern übernächtigt, erschöpft, hungrig, rechts ein Baby im Arm und links eine schlappe Wurststulle.

Der Trend zur Online-Ehrlichkeit hat nichts mit Altersmilde zu tun. Selbst wenn einige der Akteur*innen um die Vierzig sind und dadurch näher dran an Midlife-Sinnkrisen, Neuorientierung und dem Wunsch nach mehr Tiefgang. Auch die Generation Selfie ist vertreten. Zum Beispiel mit Nora Wunderwald, 21. Sie hat das Online-Jugendmagazin „tierindir“ mit gegründet, betreibt einen Youtube-Kanal und hat als Social-Media-Native die Wende am eigenen Leib erlebt: „Mit 14 wollte ich so sein wie meine Vorbilder, habe mich in meinem Mode-Vlog ausschließlich von meiner Schokoladenseite gezeigt. Heute denke ich, ich hätte damals selbst andere, bessere Role Models gebraucht.“ Das könnte nun sie selbst für die jüngeren sein, mit Clips über Feminismus, Tierschutz oder Einkaufen im Unverpackt-Laden. Der mutigste und persönlichste ist allerdings erst ein paar Wochen alt: „Hallo Leute, wenn ihr das hier seht, bin ich schon auf dem Weg in eine psychiatrische Klinik.“ Darin erzählt sie, wie sie sich immer mehr verloren hat zwischen Digital-Projekten, Studium und Privatleben, schließlich ein Burnout erlitt, nicht mehr weiter wusste, sich Hilfe suchte. Sechs Wochen Intensiv-Therapie, das heißt auch: sechs Wochen offline, kein Laptop, kein Smartphone, kein Youtube, kein Instagram. Es wird ihr schwerfallen, und sie weiß: Das ist Teil des Problems. Viele ehrliche Sätze, von denen der wichtigste kurz vor Ende fällt: „Fotos, Erlebnisse, Erfahrungen, man muss nicht alles teilen. Manches gehört einfach nur mir.“