Männer und Kinderwunsch: Männer ticken anders

Bei Frauen ist es Biologie, bei Männern Statistik: Mit Mitte 40 geht die Wahrscheinlichkeit, noch eine Familie zu gründen, gegen Null. Woran liegt es, wenn Männer kinderlos bleiben – und wie setzen sie sich damit auseinander? Das wollte ich genauer wissen und habe im Sommer 2016 für ein ausführliches BRIGITTE-Dossier mit Menschen gesprochen, die es wissen müssen: Kinderwunschberaterinnen, Familiensoziologen, Demographen – und natürlich mit den Männern selbst.

Da steht er dann also, mitten im Leben. Irgendwo zwischen 20jähriger Abiturfeier und 50. Geburtstag. Hat einige Jobs gehabt, Beziehungen und Umzüge hinter sich, möglicherweise auch einen Baum gepflanzt und ein Haus gebaut. Aber dennoch ist da diese Lücke im Lebenslauf. Denn einen Sohn gezeugt, das hat er nicht. Und auch keine Tochter. Vielleicht, weil er nie die Frau getroffen hat, mit der er sich ins Abenteuer stürzen mochte. Vielleicht auch, weil er gewollt hätte, sie aber nicht. Und nun? Hört auch er eine innere Uhr ticken, vielleicht nicht die biologische, sondern die soziale? Weil seine Freunde schon die Abifotos ihrer Kinder auf Instagram stellen und er nicht der letzte Kerl im Sandkasten sein will? Sucht er auf Dating-Portalen nach einer jüngeren Partnerin mit Baby-Sehnsucht? Wie geht es überhaupt Männern, wenn sie realisieren: Vater werde ich nicht mehr?

Wer die Entscheidung für ein Kind immer wieder vor sich herschiebt, für den entscheidet irgendwann das Leben – und zwar abschlägig. Frauen ist das sehr bewusst: Die gelten ab Mitte, Ende 30 als angezählt, ein paar Jahre später als tragische Nietenzieher in der Babylotterie oder als eiskalte Karrierezicken, und ab Mitte 40 macht der Körper irgendwann nicht mehr mit. Egal, ob Schicksal, Biologie oder freiwillige Entscheidung – ganz kalt lässt die K-Frage keine. „Die Möglichkeit, schwanger zu werden, die Auseinandersetzung damit, ist tief im weiblichen Körper verankert“, sagt die Familientherapeutin Petra Thorn, „allein deshalb, weil Frauen durch die Menstruation regelmäßig daran erinnert werden. Dieses körperliche Bewusstsein haben Männer nicht.“ Ach, die Glücklichen. Können sich auch noch entscheiden, wenn sie schon auf Blutdruckpräparate und Gehhilfen angewiesen sind. Social Freezing für Spermien? Kaum ein Thema. Gala-Grazia-Bunte-Fotos von Beckenbauers und Sky Dumonts, die als grauschläfige Opas ihre Neugeborenen in eine Kamera halten, suggerieren: Macht euch keinen Kopf, Männer.

Das ist nicht ganz falsch, aber ein arg geschöntes Bild der Realität, sagt der Soziologe und Demograph Christian Schmitt von der Uni Rostock: „Die Wahrscheinlichkeit, als Mann mit über 42, 43 Jahren erstmals Vater zu werden, liegt bei unter fünf Prozent.“ Wer jetzt kein Kind hat, bekommt wohl keines mehr. Denn zum einen lässt auch die männliche Fruchtbarkeit etwa ab dem 40. Lebensjahr nach, zum anderen ist die Kombination Sugar Daddy und junge, fruchtbare Frau nicht halb so verbreitet, wie man meinen könnte: Der durchschnittliche Altersabstand in Beziehungen, ob mit Trauschein oder ohne, liegt etwa bei drei Jahren. Ex-Fußballer und Wirtschaftskapitäne, die ihre ergraute Ehefrau gegen ein gebärfreudiges Modell eintauschen, sind eine winzige Minderheit.

Auch bei Männern läuft also der Baby-Countdown, es ist ihnen nur weniger bewusst – auch, weil das Umfeld mit ihnen meist gnädiger umgeht als mit kinderlosen Frauen. „Der Wunsch nach Selbstbestimmung wird bei ihnen viel höher gewertet“, sagt die Berliner Autorin und Filmemacherin Sarah Diehl, die selbst keine Kinder hat und auch keine möchte. „Wenn Männer keine Familie gründen, gelten sie in erster Linie als coole, einsame Wölfe mit Mut zur Lücke, nicht als gescheiterte Existenzen.“ Vielleicht müssen sie sich mal einen Spruch anhören wie „Und meine Kinder sollen später deine Rente finanzieren?“ – mehr aber auch nicht. Für ihr Buch über freiwillige Kinderlosigkeit („Die Uhr, die nicht tickt“, Arche Verlag) suchte Sarah Diehl zunächst sowohl weibliche als auch männliche Gesprächspartner, aber die hatten zu dem Thema wenig zu sagen. Nicht nur, weil sie sich weniger rechtfertigen müssen, auch, weil sie glauben: Wenn ich mit 70 den Baby-Blues bekomme, kann ich immer noch.

Wenn also rund ein Viertel aller deutschen Männer dauerhaft kinderlos bleibt – haben die dann schlicht den richtigen Zeitpunkt verpasst? Oder sind das diese Zeugungsstreiker, diese Beziehungs- und Entscheidungsvermeider, die lieber die Golfbag packen als die Wickeltasche? Die Wirklichkeit ist komplizierter: eine Gemengelage aus Job-Gegebenheiten, Geld und Gefühl. Soziologen und Demographen haben zwei Gruppen von Männern ausgemacht, in denen es besonders viele Nicht-Väter gibt: die Abgehängten und die Aufschieber. Die erste Gruppe besteht aus schlecht ausgebildeten Geringverdienern, die wenig Chancen haben auf dem „Partnerschaftsmarkt“, so der kaltherzige Begriff der Sozialwissenschaftler. Der Paketzusteller, der sich von Drei-Monats-Vertrag zu Drei-Monats-Vertrag hangelt, fällt eben eher durchs Raster. Weil die Mehrheit der Frauen heute zwar keinen Familienernährer mehr sucht, aber umgekehrt auch keine Lust hat, die Verantwortung als Hauptverdienerin für Vater, Mutter, Kinder zu wuppen. Die zweite Gruppe entspricht mehr dem Klischee, sagt Familienforscher Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB): karrierebewusst, individualistisch, großstädtisch, ultraflexibel. Mit allen Konsequenzen. Bujard: „Wer in der heißen Phase zwischen 30 und 40 weder partnerschaftlich noch beruflich abgesichert ist, für den ist der Zug irgendwann abgefahren. Sei es, weil der Job unsichere Perspektiven bietet oder häufige Ortswechsel erfordert, sei es, weil es so schwer fällt, sich festzulegen. Wer sich für ein Kind entscheidet, wählt damit in der Regel ja auch partnerschaftliche Treue. Oft fällt auch der Entschluss so spät, dass die Biologie einen Strich durch die Rechnung macht.“

Auf der Gefühlsseite spielt noch etwas anderes eine Rolle: In Sachen Baby-Sehnsucht ticken Männer und Frauen tatsächlich unterschiedlich. „Vereinfacht könnte man sagen: Frauen haben erst einen Kinderwunsch und suchen dann im entsprechenden Alter nach einem Partner, mit dem sie ihn verwirklichen können. Männer entwickeln oft erst einen konkreten Kinderwunsch, wenn sie eine Frau treffen, bei der sie merken: Die ist es, mit der könnte ich mir das vorstellen“, erklärt Claudia Zerle-Elsäßer, die als Soziologin am Deutschen Jugendinstitut zum Thema Familie forscht.

Kommt die Traumfrau und –mutter nicht zur rechten Zeit, kommt stattdessen ein Abschied auf Raten. Eigentlich eine gnädige Laune der Natur. Denn Gefühle wie Trauer, Zweifel und Reue lassen sich häppchenweise besser schlucken. Das brutale Aus durch die Menopause müssen Männer nicht verarbeiten. Angenehm? Ja – aber auch eine verpasste Chance, findet Björn Süfke, Männerberater und Autor (aktuell: „Männer! Erfindet! Euch! Neu!“, Mosaik): „Weil sie das Thema verdrängen und auf die lange Bank schieben, drücken sich kinderlose Männer häufig vor der inneren Auseinandersetzung, vor der Trauerarbeit.“ Das gilt auch für diejenigen, die nie sonderlich an Kindern interessiert waren, glaubt er: „Auch wenn der Schmerz von Mann zu Mann unterschiedlich groß ist: Jede Lebensmöglichkeit, die wir nicht verwirklichen, will betrauert werden.“ Und zwar nicht in kerniger Heldenmanier („Ich stelle mir ein Ultimatum bis 50, dann ist das Thema für mich durch!“), sondern als echte Auseinandersetzung mit Ängsten, Wünschen, Vorstellungen. Um damit abzuschließen und Raum für neues zu schaffen: Wenn ich das Projekt „Familie“ nicht verwirklicht habe – auf welche Weise möchte ich dann fruchtbar sein in meinem Leben? Alternativ-Projekte gibt es genügend: Landhaus renovieren, Buch schreiben, mit dem Kanu sämtliche masurischen Seen befahren. Eine Frage der Sinnstiftung, die übrigens irgendwann alle ereilt – Väter und Nicht-Väter, aber genau so Mütter und Nicht-Mütter. „Das Leben spielt sich immer zwischen den Gegensätzen Stagnation und Generativität ab“, sagt Süfke. „Ob nun jemand gar nicht erst Kinder bekommen hat oder ob einfach die Familienphase vorbei ist und die Kinder aus dem Haus, es stellt sich immer die Frage nach dem nächsten Projekt.“ Einem Projekt, das den Einzelnen ausfüllt, aber auch die Partnerschaft neu beleben kann. In dieser Lebensphase können sich Eltern manchmal sogar eine Scheibe von Kinderlosen abschneiden. Denn im besten Fall haben die schon ein paar Antworten auf Fragen, die sich Eltern erwachsener Kinder gerade erst stellen.

INTERVIEW:

„Die Passivität ist für Männer das Bitterste“

Das Herz sagt ja, die Partnerin sagt ja, der Körper sagt nein: Wie gehen Männer damit um, wenn sich ein Kinderwunsch aus medizinischen Gründen nicht erfüllt? Die Familientherapeutin Petra Thorn aus Mörfelden ist seit über 20 Jahren in der Kinderwunschberatung tätig und hat Bücher zum Thema geschrieben (www.pthorn.de). Sie sagt: Männer leiden nicht weniger als Frauen – sie drücken ihren Schmerz nur anders aus

 BRIGITTE: Manche Männer bleiben auch deshalb kinderlos, weil sie spät die passende Partnerin finden und mit zunehmendem Alter die Chancen auf eine Schwangerschaft sinken. Während die Gefühlslage ungewollt kinderloser Frauen aber gut erforscht ist, hat sich die Wissenschaft erst in den letzten Jahren für die beteiligten Männer interessiert. Warum?

Petra Thorn: Zum einen sind Frauen rein körperlich näher dran an den Themen Schwangerschaft und Geburt. Zum anderen dachte man lange Zeit, dass Männer weniger an einem unerfüllten Kinderwunsch leiden. Jüngste Forschungen zeigen aber, dass das nicht stimmt. Sie nehmen sich nur emotional zurück, um sich und ihre Partnerin zu schützen. Und sie haben andere, weniger offensichtliche Bewältigungsstrategien.

Zum Beispiel?

Die Autorinnen einer Studie erwähnen den Fall eines Paares, bei dem die Frau sich nach einer Fehlgeburt traurig in ihr Schlafzimmer zurückzieht, während der Mann anfängt, lautstark die Küche zu renovieren. Die Frau empfindet das als unsensibel, dabei ist es einfach nur ein Weg des Mannes, die Kontrolle über eine Situation zurückzugewinnen, in der er zu Passivität verdammt ist. Denn diese Hilflosigkeit quält Männer besonders. Solche Geschichten kenne ich auch aus meiner Beratungspraxis. Diese Art von Bewältigung ist völlig okay, so lange sie hilft und die Partnerin den Aktionismus nachvollziehen kann.

Während Frauen eher Redebedürfnis haben?

Ja, und damit können Männer häufig schlecht umgehen, weil die Gespräche sich ja oft im Kreis drehen. Ich schlage Paaren deshalb Kinderwunsch-Sprechzeiten vor: eine halbe Stunde, Stunde ist das Thema dran, danach wird das Gespräch beendet.

Gibt es Männer, die mehr unter Kinderlosigkeit leiden als andere?

Der Kulturkreis spielt eine große Rolle, das bestätigen auch aktuelle Studien. So haben Männer in traditionellen Gesellschaften wie Südafrika deutlich mehr daran zu knabbern, wenn sie nicht Vater werden, als in emanzipierten Gesellschaften wie Dänemark. Auch in Beratungsgesprächen bei Paaren mit türkischem Migrationshintergrund merke ich oft, dass dort das Thema stark tabuisiert wird, dass Männer sich sehr schämen und kaum darüber sprechen können.

Macht es einen Unterschied, ob die biologische Ursache beim Mann oder bei der Frau liegt?

Ja. Wenn ein Mann die Diagnose bekommt, dass er nicht zeugungsfähig ist, ist das ein Angriff auf sein eigenes Selbstverständnis. Die meisten holen sich in dem Fall eine zweite Meinung ein, weil sie es nicht glauben können. Denn ihre Sexualität funktioniert ja.

Eine Kinderwunschbehandlung kann die Beziehung sehr belasten. Wie verhindert man, dass die Lieber darunter leidet?

Ich rate: Auf Sicht fahren, immer wieder gemeinsam Grenzen definieren. Wie viele in-vitro-Versuche wollen wir machen? Denken wir über Alternativen wie Adoption nach? Gibt es einen Plan B? Schön ist, wenn Paare mit unerfülltem Kinderwunsch es schaffen, die schmerzliche Lücke anders zu füllen – in dem sie sich gemeinsam ein anderes Lebensprojekt suchen oder auch für andere engagieren. Und die Zeit ist auf ihrer Seite: Aus der Sozialforschung ist bekannt, dass Kinderlose langfristig nicht weniger zufrieden mit ihrem Leben.

NO, BABY: SECHS MÄNNER SPRECHEN KLARTEXT

 

DER AUFSCHIEBER: Björn, 41, Journalist, Single

Ich habe keine Kinder, weil sich das Thema in den letzten Jahren nicht ergeben hat. Meine Beziehungen waren eher kurz und wechselhaft, vielleicht habe ich mich auch das ein oder andere Mal selbst sabotiert. Denn ich mag das spontane Leben, ich mag meine Freiberuflichkeit, ich mag Abenteuer und Unberechenbarkeit – und das alles verträgt sich schlecht mit einer Familie.

Ich fühle mich dabei etwas unruhig. Vor allem, wenn mir Freunde überzeugend erklären, Vaterwerden sei die größte und schönste Erfahrung, die sie je gemacht haben. Trotz aller Einschränkungen, trotz durchwachter Nächte und kindlicher Wutanfälle. Das stimmt mich nachdenklich. Auch der Tod meines Vaters hat mich ins Grübeln gebracht: Obwohl unser Verhältnis zu Lebzeiten nicht immer einfach war, stand die Familie zusammen, als er starb. Wie wird das bei mir sein, wenn ich keine Kinder bekomme? Gleichzeitig merke ich, dass das Liebes- und Beziehungsleben nicht einfacher wird. Man wird eigener, lässt sich auch nicht mehr so leicht auf einen anderen Menschen ein wie früher. Aber ganz gezielt nach einer Frau mit Kinderwunsch suchen, vielleicht im Internet? Das fände ich entsetzlich unromantisch. Ehrlich, an diesem Punkt bin ich froh, dass ich ein Mann bin und deshalb noch ein bisschen mehr Zeit habe für eine endgültige Entscheidung. Ein Freund von mir ist gerade mit 46 zum ersten Mal begeisterter Papa geworden. Schlaflose Nächte bereitet das Thema mir also nicht – noch nicht.

Status: Vielleicht lieber morgen

DER PRAGMATIKER: Jens, 38, Krankenpfleger, in fester Partnerschaft

Ich habe keine Kinder, weil ich mir Sorgen machen würde um meine Partnerin. Denn in ihrer Familie gibt es eine schwere, genetisch bedingte psychische Erkrankung, und es besteht die Gefahr, dass diese bei einer Schwangerschaft ausbrechen könnte. Dazu kommt, dass sie die letzten Jahre sehr beschäftigt war mit dem Aufbau ihres kleinen Unternehmens. Und meine Arbeit im Schichtbetrieb eines Krankenhauses ist ebenfalls nicht familienfreundlich.

Ich fühle mich dabei die meiste Zeit wohl. Denn es war unsere gemeinsame Entscheidung, und jetzt, da meine Freundin 40 geworden ist, ist das Thema definitiv abgeschlossen. Nur selten habe ich einen melancholischen Moment. Dann schaue ich sie an und denke: Was wäre das wohl für ein Kind gewesen, das wir miteinander gehabt hätten? Ein Leben, wie wir es führen, hat aber auch viele Vorteile: Wir können reisen, unseren Hobbys nachgehen, intensiv Zeit miteinander verbringen. Und auch Phasen von Ruhe und Rückzug sind mir wichtig. Unser Leben ist ja nicht komplett kinderlos, es gibt Nichten, Neffen, den Nachwuchs von Freunden. Manchmal habe ich den Eindruck, für manche Menschen sind Kinder eher ein Programmpunkt im perfekten Lebenslauf, als dass sie ihnen wirklich gerecht werden. Wenn ich das sehe, tut mir das immer sehr Leid.

Status: kein unnötiges Risiko

DER TRAUERARBEITER: Theodor, 52, Agenturchef, verheiratet

Ich habe keine Kinder, weil meine Frau und ich nach mehreren Jahren Kinderwunschbehandlung beschlossen haben, es nicht weiter zu versuchen.

Ich fühle mich dabei manchmal immer noch traurig. Denn ich komme aus einer griechischen Großfamilie, und die Vorstellung von Kindern hat für mich immer ganz selbstverständlich zum Leben gehört. Für meine Frau auch, da waren wir uns sofort einig, als wir uns vor zwölf Jahren kennen und lieben lernten. Als feststand, dass sie auf natürlichem Wege nicht schwanger werden würde, kam das für uns völlig überraschend. Die Kinderwunschbehandlung hat uns beide sehr mitgenommen, auf unterschiedliche Weise. Die Eingriffe sind körperlich belastend, und für mich als Mann war es schwer, ihr das nicht abnehmen zu können. Was mich zusätzlich schockiert hat, war der oft kaltschnäuzige Ton der Fortpflanzungsmediziner. Das war keine Unterstützung. Meine eigene Trauer habe ich häufig mit mir allein abgemacht – typisch Mann. Schließlich haben wir gemeinsam dieses Kapitel abgeschlossen. Und sind als Paar gestärkt daraus hervorgegangen. Manchmal, wenn im Gespräch mit anderen die Frage nach Kindern auftaucht, merke ich, wie uns Leute verstohlen taxieren: An wem liegt’s? Ist er zu alt? Sie die solche egoistischen Konsumtrottel? Aber da stehen wir darüber. Wir genießen unser Leben heute wieder, weil wir frei und unabhängig sind und trotzdem Wege gefunden haben, wie unsere väterliche und mütterliche Seite nicht zu kurz kommt. In den letzten Jahren haben wir einen afghanischen Jungen intensiv begleitet, als Paten. Auch so kann man viel weitergeben

Status: Abschied auf Raten

DER FREIHEITSLIEBENDE: Christian, 54, Tourismusexperte, frisch verliebt

Ich habe keine Kinder, weil das nie zu meinem Lebensentwurf gepasst hat. Ich arbeite in der Tourismusbranche, auch, weil ich immer so unterwegs sein wollte: mit leichtem Gepäck, viel auf Reisen, immer wieder Neustarts. Das hält mich jung und lebendig.

Ich fühle mich dabei wohl. Denn ich habe mich nie wirklich als Vater gesehen. Als ich ganz jung war, hatte das eher ideologische Gründe: Das war die Zeit der Aufrüstungsdebatte in der frühen Achtzigern, und in diese Welt wollte ich kein Kind setzen. Später gab es durchaus romantische Momente, in denen ich dachte: Wow, das ist die Frau, mit der du mal eine Familie haben willst. Zum Beispiel in einer lauschigen Nacht auf einem Segelboot in Mexiko, vor 25 Jahren. Aber das hat nie zu Konsequenzen geführt. Später sind zwei Beziehungen daran gescheitert, dass Frauen sich ein Kind wünschten und ich mich nicht festlegen wollte, zumindest zu dem Zeitpunkt. Seit einiger Zeit bin ich glücklich mit einer Frau, die bereits einen erwachsenen Sohn hat und so alt ist wie ich, damit ist das Thema für mich auch endgültig durch. Wobei wir manchmal Gedankenspiele spielen: Was wäre gewesen, wenn wir uns vor 20 Jahren kennen gelernt hätten? Hätte ich für sie mein umtriebiges Leben aufgegeben? Denn eins bedauere ich schon: Es gibt Erlebnisse, die ich niemals haben werde. Zum Beispiel, dass ich nie mit meinen eigenen Kindern reisen und ihnen die schönsten Ecken der Welt zeigen kann.

Status: Immer unterwegs

 

DER ENTSPANNTE: Henning, 50, Jurist, verheiratet

Ich habe keine Kinder, weil es einfach nicht passiert ist – vielleicht auch, weil wir nicht mehr die jüngsten waren, als wir uns verliebten. In den ersten Jahren unserer Beziehung haben wir noch verhütet und erst nach unserer Hochzeit damit aufgehört, da war ich 40 und sie 37. Als meine Frau nicht schwanger wurde, haben wir uns aber nicht untersuchen lassen. Denn wir waren uns immer einig: Ein Kind ist herzlich willkommen, aber wenn keines kommt, ist unser Leben auch reich genug.

Ich fühle mich dabei mit mir im Reinen. Denn genau so hat es für uns gestimmt: Dem Schicksal weder auf die Sprünge helfen noch es aktiv vermeiden. Wenn es die Chance gar nicht gegeben hätte, dann würde ich heute vielleicht eher grübeln, ob wir etwas verpasst haben. Der Kinderwunsch stand bei uns aber nie an oberster Stelle, wir hatten immer auch andere Prioritäten. Unsere Berufe, die wir beide als sehr erfüllend und befriedigend empfinden, unsere Partnerschaft selbst. Da wir beide Geschwister mit Kindern haben, gab es auch keinen Druck seitens unserer eigenen Eltern. Enkel hatten sie ja bereits. Wenn meine Frau gegen jede Wahrscheinlichkeit jetzt noch schwanger werden würde, mit 47, dann würde mir das eher Angst machen. Schon allein wegen des medizinischen Risikos für Mutter und Kind. Ob wir befürchten, im Alter allein zu sein? Nicht wirklich. Die Gesellschaft hat sich ja stark verändert, Menschen bleiben länger fit und im Kopf flexibler, Netzwerke werden wichtiger, nicht nur familiäre. Vielleicht ziehen wir ja irgendwann in ein Mehrgenerationenhaus. Ich finde es nämlich sehr schön, Kinder um mich herum zu haben.

Status: Hat nicht sollen sein

DER BONUS-PAPA: Heinz-Willi, 45, Schlosser, verheiratet

Ich habe keine Kinder, weil die Frau, die ich liebe, bereits einen großen Sohn hatte, als wir uns vor 15 Jahren kennen lernten – sie ist sieben Jahre älter als ich und jung Mutter geworden. Wir hätten uns schon noch eigenen Nachwuchs gewünscht, aber da es bei der ersten Geburt große Komplikationen gegeben hatte, rieten die Ärzte ab.

Ich fühle mich dabei zufrieden. Denn es ist zwar traurig, dass unser gemeinsamer Wunsch nach einem Baby sich nicht erfüllt hat, aber trotzdem bin ich ja Vater, auf meine Weise. Das war nicht immer so. Als meine Frau und ich uns kennen lernten, war ihr Sohn in der Pubertät, hat viel Mist gebaut, war auf mich nicht gut zu sprechen. Er lebte auch nicht bei uns, sondern bei seinem Vater. Erst als er schon erwachsen war sind er und ich uns näher gekommen, über die Arbeit. Denn wir sind beide Handwerker, er Zimmermann, ich Schlosser. Nachdem wir gemeinsam zwei Wohnungen renoviert hatten, haben wir gelernt, uns zu schätzen, und gemerkt, dass wir ein gutes Team sein können. Zur gleichen Zeit ist seine Beziehung zu seinem leiblichen Vater ziemlich eingeschlafen. Heute sind wir uns so vertraut, dass es sich für uns beide anfühlt, als wären wir Vater und Sohn. Und die Geschichte geht ja weiter: Er ist mittlerweile Anfang 30 und hat selbst zwei Kinder, für die sind meine Frau und ich einfach die Großeltern. Wenn meine sechsjährige Enkelin zu Besuch kommt, auf mich zu rennt und „Opi, Opi!“ ruft, dann wird mir warm ums Herz – wenn sie mich anstrahlt, vergesse ich alles, was in unserem Familienleben auch schwer war.

Status: Vom Bonus-Papa zum Bonus-Opa

Elternrechte in den USA: ganz und gar nicht great

Zu wenig Elterngeld? Zu wenige Erzieher in der Krippe? Das sind Vereinbarkeitsprobleme, die Mütter und Väter in den USA gerne hätten. Elternzeit, Kündigungsschutz und bezahlbare Kitaplätze sind dort die große Ausnahme. Unter Präsident Trump könnte sich die Situation noch verschärfen. Im März 2017 habe ich fürs ELTERN-Magazin mit der Polit-Aktivistin, Autorin und Mutter Jessica Shortall darüber gesprochen

Ein Interview per Skype am Sonntag morgen um neun? Kein Problem. Denn erstens hat Jessica Shortall (38) zwei kleine Frühaufsteher zu Hause. Und zweitens kommt man dieser Tage ohnehin nicht zur Ruhe, wenn man in Amerika lebt und sich politisch engagiert. Kaum haben wir angefangen zu reden, flitzt Shortalls vierjährige Tochter Etta ins Arbeitszimmer und berichtet aufgeregt: „Mummy, Donald Trump ist gerade im Fernsehen!“ Auch unser Gespräch dreht sich immer wieder um den Mann in Orange – auch wenn wir eigentlich ein anderes Thema haben…

Wenn Sie den Mund aufmachen, hören Eltern gerne zu – nicht nur in Amerika. Ihr Vortrag über fehlenden Mutterschutz in den USA und Stillen im Job hat fast 50.000 Youtube-Hits, in ihrem aktuellen Buch* geben Sie Tipps, wie man Baby und Arbeit in Ihrem Heimatland einigermaßen jongliert. Persönliche Erfahrung?

Ursprünglich ja. Nach der Geburt meines Sohnes Otis vor sechs Jahren litt ich an einer postpartalen Angststörung, konnte nicht schlafen, machte mir übermäßige Sorgen um mein Kind. Ich tat mich sehr schwer mit der Rückkehr in den Job, obwohl ich nach amerikanischen Maßstäben das große Los gezogen hatte: Mein damaliger Arbeitgeber, ein Startup, gewährte mir acht Wochen bezahlten plus vier Wochen unbezahlten Mutterschutz. Ich konnte viel von Zuhause aus arbeiten und mir mit einer Nachbarin eine Nanny teilen. Aber es schien mir undenkbar, tagelang oder wochenlang allein auf Geschäftsreise zu gehen. Und das wäre erforderlich gewesen.

Zwölf Wochen Pause, das ist wirklich nicht viel….

Wissen Sie, die USA gehört zu einem kleinen, exklusiven Club industrialisierter Länder, in denen Auszeiten für frischgebackene Eltern fast ausschließlich eine freiwillige Leistung des Arbeitgebers sind. Die anderen Clubmitglieder sind im wesentlichen einige Südseeinseln – und gleich danach kommen wir, ein Land mit 320 Millionen Einwohnern. Fast 90 Prozent aller Mütter und Väter in den USA haben keinerlei Elternzeit.

Und die anderen zehn Prozent?

Entweder familienfreundliche Arbeitgeber, oder sie haben nach dem so genannten „Family and Medical Leave Act“ ein Anrecht auf bis zu drei Monate unbezahlte Auszeit. Die stehen Arbeitnehmern zu, wenn sie selbst ernsthaft krank werden, oder ein nahes Familienmitglied. Theoretisch auch nach einer Geburt. Aber das Gesetz greift nur in Firmen mit mindestens 50 Angestellten und gilt nur für Mitarbeiter mit mindestens einem Jahr Betriebszugehörigkeit. Vor allem muss man aber in der Zeit sowohl den eigenen Verdienstausfall überbrücken als auch den Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung mitbezahlen.

Schwer möglich, wenn man zu wenig verdient, um Rücklagen zu bilden.

Genau. Mütter sind die am schnellsten wachsende Gruppe von Arbeitnehmern in den USA, aber unter ihnen herrscht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Natürlich wollen Arbeitgeber hochqualifizierte Mitarbeiterinnen nicht verlieren und machen ihnen deshalb die schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz schmackhaft. Nehmen wir den Konzern IBM: In der Stillzeit können weibliche Angestellte ihre Muttermilch von Geschäftsreisen kostenlos nach Hause schicken lassen. Ganz anders sieht es im unteren Spektrum des Arbeitsmarktes aus. Zwei Drittel aller Niedriglohnjobs sind in den Händen von Frauen, häufig Schwarze und Latinas, aber auch ärmere Weiße, die schlecht bezahlte Arbeit annehmen müssen, um sich und ihre Familie über Wasser zu halten. Viele als Haupt- oder Alleinverdienerinnen. Die Obama-Regierung hat wenigstens kleine Verbesserungen für bestimmte Berufsgruppen erreicht. Etwa, dass der Arbeitgeber stillenden Frauen Zeit geben muss, während der Arbeitszeit Milch abzupumpen. In einem angemessenen Raum, nicht im Auto auf dem Parkplatz. Aber das ist Teil des „Obamacare“-Paketes, und auch das will Präsident Trump ja wieder abschaffen.

Abgesehen vom Stillen, wie machen Frauen das denn überhaupt – direkt von der Entbindung zurück ins Büro oder an die Supermarktkasse?

Jede vierte geht spätestens zwei Wochen nach der Geburt wieder arbeiten – oft unter Schmerzen, körperlich wie seelisch. Ich habe mit einer Kellnerin gesprochen, die sechs Wochen nach einem Kaiserschnitt wieder schwer schleppte und stundenlang auf den Beinen war. Mit der Mitarbeiterin einer Haftanstalt, deren Kollegen sich über ihre „ausgedehnten Ferien“ lustig machten, weil sie acht Wochen weg war, und absichtlich die Toilettentür aufrissen, wenn sie dort mit der Milchpumpe hantierte. Eine der bittersten Geschichten erzählte die Mutter eines Frühchens. Ihr stand so wenig Elternzeit zu, dass sie sich entscheiden musste: Entweder eine Woche nach der Entbindung zurück an die Arbeit, um nach der Entlassung aus der Klinik Zeit für das Baby zu haben – oder bei ihrem Kind auf der Intensivstation sein, und es dann sofort nach der Entlassung in Tagesbetreuung geben. Davon rieten die Ärzte aber dringend ab. Das Immunsystem des Babys war so unausgereift, dass diese Umgebung es in Lebensgefahr gebracht hätte.

Hängen Mütter unter solchem Druck ihren Job eher ganz an den Nagel?

Genau, und mit weitreichenden Folgen: Sie machen sich abhängig vom Verdienst ihres Mannes, stehen im Fall einer Scheidung schlecht da, sind später bedroht von Altersarmut, weil sie nicht in die Rentenkasse einzahlen.

Gibt es denn vernünftige Kinderbetreuungsmöglichkeiten? Oder springt den arbeitenden Eltern eher die eigene Familie bei?

Wir sind eine sehr mobile Nation, wechseln häufig Wohnorte und Jobs – es ist ein seltenes Glück, wenn man Familie am gleichen Ort hat. Gute Kinderbetreuung ist deshalb auch wieder eine Frage des Geldbeutels: Kitas, von denen Kinder wirklich profitieren, kosten etwa zwischen 800 und 1500 Dollar monatlich pro Kind. Wer sich das nicht leisten kann, landet schnell bei Einrichtungen, in denen Kinder mehr schlecht als recht beaufsichtigt werden und die häufig nicht einmal wirklich kindersicher sind.

Die Rechte junger Eltern waren auch Thema im vergangenen Wahlkampf. Donald Trumps Tochter Ivanka hat sich dafür stark gemacht, sechs Wochen bezahlten Mutterschutz für alle einzuführen. Klingt ganz vernünftig, oder?

Ein Journalist hat Ivanka Trump einmal als „weaponized graciousness“ bezeichnet – Liebenswürdigkeit, die als Waffe eingesetzt wird. Trump benutzt seine Tochter, um sein Image aufzupolieren. Und selbst wenn das wirklich Ivankas Meinung entspricht: Der Vorschlag ist kurzsichtig, ich halte ihn sogar für einen Rückschritt!

Warum? Sechs Wochen wären ein Anfang.

Also, erstens diskriminiert der Vorschlag die Väter. Und auch den zweiten Elternteil in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Denn in dem Entwurf stehen die sechs Wochen ausschließlich der Frau zu, die das Kind geboren hat. Mir hat mal ein Vater erzählt, wie froh er war, dass sein Baby an einem Freitag zur Welt kam, damit er wenigstens das Wochenende mit Mutter und Kind verbringen konnte. Zwei Tage! Dabei weiß man doch, dass Erziehung partnerschaftlicher geteilt wird, wenn von Anfang an beide Elternteile involviert sind. Außerdem könnte diese Regelung auf die Frauen zurückfallen: Personalchefs könnten Bewerberinnen im gebärfähigen Alter benachteiligen, weil sie ein finanzielles Risiko für die Firma sind.

Weiß man denn, was aus dem Plan wird?

Keine Ahnung. Die Trump-Regierung hatte einen chaotischen Start und bleibt unberechenbar. Was mir Hoffnung macht, sind eher die Gesetze einzelner Staaten. Dort sind die Gesetzgeber oft wesentlich weiter als in Washington. In Kalifornien, New Jersey, Rhode Island und Connecticut gibt es gerade als Pilotprojekt ein solidarisches Versicherungsmodell, das bezahlte Elternzeit auch für kleinere Unternehmen finanziell möglich macht. Und zwar nicht nur für Mütter!

Was mir auffällt: Ihre Landsleute sind sehr kinderfreundlich, keine Politikerrede kommt ohne das Schlagwort „Familienwerte“ aus. Andererseits wird es jungen Eltern so schwer gemacht. Woher dieser Widerspruch?

Unsere Kultur ist zutiefst individualistisch. Von klein auf lernen wir: Wenn du nur hart genug arbeitest und dich anstrengst, kannst du alles schaffen. Im Umkehrschluss heißt das aber: Wenn es dir nicht gut geht, bist du selbst schuld, dann hast du nicht alles gegeben. Deshalb misstrauen hier so viele Leute Sozialleistungen, weil sie das Gefühl haben: Damit belohnt man Faulheit. Dabei rutschen gerade Mütter so eher in staatliche Abhängigkeit, als wenn man sie unterstützen würde. Und das ist nur einer von mehreren Widersprüchen. Auf der einen Seite extremer Individualismus, auf der anderen Seite der fast kindliche Glauben an den starken Mann, der sagt, wo’s langgeht.

Wie man jeden Tag in den Nachrichten sieht.

Ja, leider. Nur eines macht mir Hoffnung: Für viele Menschen in meiner Umgebung war die Wahl von Trump eine Art Weckruf, sie verstehen zum ersten Mal im Leben, dass es wichtig ist, ihr politisches Geschick selbst in die Hand zu nehmen. Meine Tochter hat mich heute morgen schon gefragt: Gehen wir heute wieder demonstrieren?

Und, gehen Sie?

Ausnahmsweise nicht. Ab und zu braucht man auch als Familie eine Auszeit.

 

Jessica Shortalls Plädoyer auf Youtube anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=TdQ1eaZH-J8

 

„Kinder brauchen digitale Mischkost“ – ein Plädoyer für entspannten Medien-Umgang

Smartphones machen dumm und Computerspiele aggressiv – oder nicht? Der psychologische Psychotherapeut und Verhaltensbiologe Georg Milzner nahm im Frühjahr 2016 mit seinem Buch* pauschale Digital-Kritik aufs Korn und plädierte für einen entspannteren Umgang mit neuen Technologien. Für das Magazin ELTERN family habe ich mit ihm gesprochen

ELTERN family: Bei uns zu Hause gibt es klare Regeln – eigentlich: 30 Minuten „Fifa 15“ für meinen 7jährigen Sohn und „Minecraft“ für meine 10jährige Tochter sind pro Tag okay, danach werden elektronische Geräte weggelegt. Warum geht das nie ohne Diskussionen – weder bei uns, noch bei den meisten anderen?

Georg Milzner: Warum ist Ihnen die Zeitbeschränkung denn so wichtig?

Weil sonst anderes zu kurz kommt: lesen, sich bewegen, Lego bauen…

Erstmal ganz konkret: Diese Zeitbeschränkungen funktionieren nicht, weil Spiele nicht in Minuten aufgebaut sind, sondern in Aufgaben und Levels. Sie würden ja auch beim Vorlesen nicht per Stoppuhr mitten im Satz aufhören. Besser, Sie vereinbaren gemeinsam, was ein sinnvoller Zeitpunkt zum Schlussmachen ist. Ich würde auch einen Unterschied machen, ob ein Kind reglos vor dem Monitor sitzt oder sich davor austobt, zum Beispiel mit einer bewegungsgesteuerten Konsole. Bildschirm ist nicht gleich Bildschirm. Aber Ihre Skepsis, die Sie mit vielen Eltern teilen, hat sicher noch einen tiefer liegenden Grund.

Da bin ich aber gespannt.

Jeder Kulturwandel stößt erstmal auf Widerstand. Eltern früherer Generationen waren irritiert, wenn ihre Kinder Comics lasen, fernsahen oder Rockmusik hörten. Sogar das Lesen von Romanen galt im 19. Jahrhundert als schädliche Geistesverwirrung, vor allem für Jungen. Genau so befürchten heutige Eltern: Kinder werden durch Computerspiele dümmer, aggressiver, verlernen das phantasievolle Spielen, gehen nicht mehr raus….

Und Sie glauben das nicht?

Wenigstens nicht so pauschal. Eltern verklären rückblickend ihre eigene Kindheit, die ja noch wenig computerisiert war, jedenfalls bei Menschen ab 40, und kommen zum Schluss: Heute läuft da etwas falsch. Das führt zu einer merkwürdigen Spaltung: Einerseits möchte man den Umgang mit digitalen Medien fördern, um Kinder auf die spätere Arbeitswelt vorzubereiten, andererseits verteufelt man sie. Zu Hause wie in der Schule. Dabei findet ja jede Zeit und jede Kultur neue Formen, in denen Kindheit stattfindet. Auch weil Kinder heute tendenziell behüteter aufwachsen, weniger äußere Freiräume haben, erschließen sie sich neue Zonen – auch digitale.

Kinder haben die gleichen Bedürfnisse wie früher, leben sie nur anders aus?

Genau. Denken Sie an die Faszination von Märchen und Mythen: früher drei dicke Bände „Herr der Ringe“ lesen, heute eher „World of Warcraft“ spielen. Oder den Spaß an der Selbstdarstellung: früher nur auf der Schulbühne, heute mit Youtube-Filmchen. Manche Eltern projizieren sicherlich auch ihre eigenen Ängste vor dem technologischen Wandel auf ihre Kinder. Die haben eigentlich Angst, selbst nicht fit zu sein für die Welt von morgen, und sind vielleicht auch etwas neidisch auf die Leichtigkeit, mit der sich ihre Kinder darin bewegen.

Machen Sie es sich da nicht ein wenig einfach? Wenn ich sehe, wie manche Eltern sogar ihre Zwei- und Dreijährigen stundenlang mit Hilfe von Tablets ruhig stellen, frage ich mich schon, was Kinder sich dadurch für ein Bild von der Welt machen.

Bei so kleinen Kindern gebe ich Ihnen völlig recht, das hat fast etwas von unter Drogen setzen. Ein Tablet ist ein miserabler Babysitter, denn er macht kein Beziehungsangebot. Bei Kindern im Kita- und frühen Grundschulalter würde ich immer sagen: ruhig der kindlichen Neugier auf elektronische Spiele Raum geben, aber auch beizeiten ein Alternativangebot machen. Und sei es, in dem man das Bildschirm-Match mit echten Bällen nachspielt, oder das Flugzeug aus dem Spiel mit Lego nachbaut.

Das setzt wiederum voraus, dass Eltern immer ein Auge darauf haben, was die Kinder tun. Dabei ist es ja oft so praktisch, wenn der Nachwuchs beschäftigt ist, so dass man in Ruhe die Steuererklärung machen kann, oder ein Nickerchen…

Es hat ja auch keiner behauptet, dass Elternsein eine leichte Aufgabe ist! Je jünger das Kind, desto wichtiger, dass Sie es in der digitalen Welt nicht allein lassen, sondern immer wieder dabei sind. Zuschauen, darauf achten, dass das Kind nicht an Inhalte gerät, die es überfordern. Das Netz ist wie eine Buchhandlung, da finden Sie fast alles für fast jede Altersstufe, vom Trash bis zur Hochkultur.

Klar gibt es da nicht nur blutige Ego-Shooter und Youporn. In Ihrem Buch erwähnen Sie einige grafisch schön gemachte Rätselspiele, die ich mir selbst sofort herunterladen würde. Aber auch die sollten Siebenjährige wohl nicht stundenlang spielen

Auf einer langen Autofahrt kann das ein Segen sein! Aber davon abgesehen: Ihr Kind zeigt ihnen schon, wie viel digitales Spielen ihm bekommt, auch wenn es das selbst nicht spürt. Sie sehen ja, wie es sich danach benimmt, ob es extrem aufgekratzt ist oder abends schlecht schläft, wenn es zu spät am Computer war. Wenn meine Kinder vor dem Bildschirm zappelig wurden, als sie kleiner waren, habe ich ihnen zum Beispiel vorgeschlagen: „Ich sehe, dass deine Augen noch wollen, aber deine Beine was anderes brauchen – lass uns mal eine Runde Fußball spielen.“

Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie auf Anhieb begeistert waren…

Sicher nicht immer, aber da muss man eben seine Funktion als Eltern wahrnehmen. Sie würden ja auch nicht zulassen, dass Ihr Kind ausschließlich Fischstäbchen mit Pommes isst. Ich bin für eine digitale Mischkost: Es spricht überhaupt nichts gegen Bildschirmspiele, wenn andere Lebensbereiche nicht zu kurz kommen. Übrigens frustriert es Kinder, wenn Eltern ihre digitalen Erfolge abwerten, weil sie die für minderwertig halten. Wir loben unser Kind für ein gelungenes Lego-Bauwerk, ein tolles Bild oder eine sportliche Leistung – Anerkennung hat es genau so verdient, wenn das Kind ein neues Level geschafft oder ein Rätsel geknackt hat.

Dennoch bleibt ein Problem: Digitale Spiele sprechen nicht alle Sinne an, und sie haben ein fest programmiertes Regelwerk – völlig anders, als wenn ich auf einen Baum klettere, oder mich mit meinen Freunden als Außerirdische verkleide….

Auch analoge Kinderspiele funktionieren nach Regeln. Egal ob „Fischer, wie tief ist das Wasser“ oder „Mensch ärgere dich nicht“! Aber es stimmt, der Spieloberfläche fehlt etwas, und das ist wiederum auch ganz gut so, weil die reale Welt dadurch für Kinder nicht an Reiz verliert. Ein digitales Kuscheltier kann ich nicht mit ins Bett mitnehmen, eine Banane aus Pixeln macht nicht satt. Das merken Kinder, deshalb verlieren sie nach einer Weile meistens ganz von allein die Lust. Sicher kann es Phasen geben, in denen der Computer das Leben sehr bestimmt, aber das finde ich nicht dramatisch. Das ist Leidenschaft, die ist ihrem Wesen nach radikal und exklusiv. Danach kommt vielleicht eine Phase, in der sich alles um Fußball oder Pferde dreht.

Viele Eltern sehen nicht gerne, wenn ihre Kinder am Bildschirm hängen, checken aber selbst im Minutentakt ihr Smartphone – auch ich ertappe mich manchmal dabei. Wie wichtig ist eigentlich unser elterliches Vorbild?

Sehr! Es gibt Wissenschaftler, die befürchten, Kinder lernten zu wenig Selbststeuerung, zu wenig Abwarten, weil viele Spiele einseitig die schnelle Reaktion trainieren – dabei sind es oft vor allem die Eltern, die ein Problem damit haben. Die hechten wie ein dressierter Affe zu ihrem Smartphone, sobald es ein Geräusch macht. Ich finde es wichtig, eine klare Hierarchie in der Kommunikation zu haben: Anwesende haben immer Vorrang, das heißt, mein Kind auf der Schaukel ist wichtiger als die Freundin, die gerade anruft. Noch besser, wenn man sich in der Familie auf bestimmte computer- und handyfreie Zeiten einigt, und die gelten dann für alle.

Zum Abschluss eine Prognose: Was glauben Sie, wie Computerspiele und Social-Media-Kommunikation unsere Kinder in ihrer Entwicklung beeinflussen werden?

Was sicherlich weniger wird ist die Fähigkeit, lange, komplexe Geschichten zu erzählen und zu erfassen. Dafür werden Menschen um so mehr in der Lage sein, komplexe Sachverhalte auf das Wesentlich herunterzubrechen, und ihre Problemlösungsfähigkeit, ihr strategisches Denken und ihre Reaktionsschnelligkeit werden hoch sein. Auch das räumliche Orientierungsvermögen und die visuelle Kreativität nehmen zu, außerdem die Fähigkeit zur Selbstdarstellung. Ich bin ganz zuversichtlich, dass Kinder dadurch ganz gut gerüstet sind für ihr zukünftiges Leben in der Digitalzeit.

 

*“Digitale Hysterie – warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen“, Georg Milzner, Beltz Verlag, 18,95 €

Interview mit Karoline Herfurth: „Macht Kinder stark für das Leben!“

Was für eine schöne Kinderbuchverfilmung: „Rico, Oscar und die Tieferschatten“ hob sich wirklich positiv vom grellen Marketing-Buhei anderer Kinderfilme ab. Zum Filmstart im Juli 2014 durfte ich dazu fürs ELTERN-Magazin Karoline Herfurth in einem Berliner Hotel treffen und war gleich zweifach fasziniert: zum einen von der fast unwirklichen Schönheit dieser Frau, und zum zweiten von ihrer Professionalität. Denn obwohl Karoline Herfurth kein Wort über ihr Privatleben verliert, hat sie doch einige Einblicke in ihre Seele gestattet. Schade, dass ich nur einen 45-Minuten-Slot hatte!

 ELTERN: In Ihrem neuen Film spielen Sie eine junge Alleinerziehende, die ihre Aufgabe ziemlich locker nimmt: Lässt den zehnjährigen Rico nachts allein, um in einem Striplokal zu arbeiten, schickt ihn zum Lebensmittel einkaufen und geht derweil mit einer Freundin shoppen. Ist Ihnen diese Frau eigentlich sympathisch?

Karoline Herfurth: Ich finde sie sehr erfrischend. Denn bei aller Lässigkeit merkt man, dass sie ihren Sohn wahnsinnig liebt. Sie traut ihm eine Menge zu, obwohl er nicht der Hellste ist, er bezeichnet sich ja selbst als „tiefbegabtes“ Kind. Und wenn es Schwierigkeiten gibt, stellt sie nie ihn in Frage, sondern immer die Welt um ihn herum. Da wird sie zur Löwenmutter. Dass sie sich dazu noch eigene Freiheiten nimmt, statt alles dem Kind unterzuordnen – das sind doch ganz gute Zutaten für eine Mama.

Hört sich fast so an, als würden Kinder heute zu sehr in Watte gepackt.

Eine sehr kluge Frau hat mal zu mir gesagt: „Man soll Kindern keine Lederstraße bauen, sondern ihnen Lederschuhe nähen“ – sie also nicht vor dem Leben da draußen beschützen, sondern im Gegenteil sie dafür ausrüsten und stark machen. Das finde ich sehr bedenkenswert. Außerdem ist die Mutter im Film zwar Single, aber nicht allein. Denn da ist auch noch die Hausgemeinschaft, Menschen, die alle zusammen ein Auge auf Rico haben. Wie ein Dorf, wie eine Großfamilie, die nicht nur aus Blutsverwandten besteht. Das erinnert mich an meine eigene Kindheit.

Erzählen Sie mal!

Ich bin selbst in einer großen Patchworkfamilie mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Mein Vater hat nach dem Mauerfall in Ostberlin so ein altes Mietshaus saniert und selbst ausgebaut, das war sehr ähnlich wie das im Film. Unten im Haus haben sie einen Kinderladen gegründet, auf jedem Stockwerk gab es Spielkameraden, meine beste Freundin wohnte gegenüber. Da war so ein Gefühl: Wir gehören alle zusammen und passen aufeinander auf.

Aber nicht ständig und überall…

Nein, ich habe das Gefühl Kindern wurde damals mehr zugetraut. Ich hatte als Grundschülerin eine Stunde Schulweg mit der Straßenbahn, meine Freundin nahm ihre kleine Schwester mit in die erste Klasse, ohne dass jemand uns begleitet hätte. Das war völlig normal. Ich erinnere mich auch gut an die langen Nachmittage im Prenzlauer Berg, der ja damals überhaupt noch nicht schick war. Wir sind über die Plätze gestromert, auf Dächern herumgeklettert….

Da hat sich ja viel geändert, nicht nur im Prenzlauer Berg. Kinder werden heute sehr viel mehr beobachtet, stehen mehr im Mittelpunkt.

Ja, auf Müttern, auf Eltern generell, lastet heute ein großer Perfektionsdruck. Ein Leistungsanspruch. Dabei haben wir haben ja in Deutschland heute zum Großteil gute Voraussetzungen, um ein Kind gut großzuziehen. Ich glaube nicht an die perfekte Kindheit, wichtig ist nur, Kind sein zu dürfen und sich geliebt zu fühlen. Ich glaube, Kinder brauchen das gar nicht, so wahnsinnig beschützt zu werden. Viel wichtiger ist, dass sie spüren: Die Großen haben Vertrauen in meine Fähigkeiten.

Haben Eltern zu viel Angst?

Ich glaube, zu viel Angst lähmt die Kinder. Ich bin zum Beispiel ein Mensch, der keine Angst davor hat, Fehler zu machen. Wenn etwas schiefläuft, na und, dann probiere ich es eben noch mal. Das verdanke ich meinen Eltern, denn sie haben mir immer zugetraut, dass ich meinen Weg schon machen würde. Weniger feste Erwartungen an Kinder, aber auch an sich selbst – ich glaube das würde den meisten Menschen guttun. An zu vielen Idealbildern im Kopf kann man ja nur scheitern.

Was haben Sie für sich noch aus Ihrer Kindheit mitgenommen?

Das Leben war wild, bunt, chaotisch, und das hat mich gestärkt. Mir beigebracht, mich in immer neuen Situationen rasch zurechtzufinden. Vor allem aber ist mir eine ganz starke Gemeinschaft in Erinnerung geblieben. Diese große Selbstverständlichkeit, über die Familie hinaus enge Verbindungen zu knüpfen. Das gibt einem Kind eine ganz andere Kraft, weil sich die Last der Erziehung auf mehrere Schultern verteilt. Bis heute habe ich diesen großen, warmen Pool von Menschen, die mir nahe stehen. Das habe ich immer als sehr reich empfunden.

Aber es muss doch vieles stimmen, damit ein Kind in einer Patchworkfamilie so glücklich aufwächst. Zum Beispiel, dass die Eltern trotzdem gemeinsam Verantwortung übernehmen, dass es wenig Eifersucht gibt…

Na klar muss viel stimmen, damit alle glücklich sind – aber muss es das in der klassischen Otto-Normal-Familie nicht genau so? Man kann doch unterschiedliche Modelle bauen, die das Leben mit Kindern tragen. Das kann im Kleinen funktionieren wie im Großen.

Als Kind der 80er Jahre gehören Sie zur „Generation Scheidungskind“. Es gibt Wissenschaftler, die sagen: Die Sehnsucht nach Beständigkeit, nach eigener Familie, nach Verbindlichkeit, wächst wieder, weil Menschen um die 30 da ein Nachholbedürfnis haben. Glauben Sie das auch?

Ich finde das zu simpel, solche gesellschaftlichen Trends aus der Kindheit her zu erklären. Mein Gefühl ist eher: Früher wurde die Vielfalt der Lebensformen erkämpft, heute kann sich jeder aussuchen, was ihm passt. Mein Traum zur Zeit wäre ein Häuschen im Grünen, vielleicht ein alter Bauernhof, denn ich war als Kind auch jedes Wochenende auf dem Land. Als Ergänzung zum Großstadtleben in Berlin. Das wäre für mich das beste aus beiden Welten. So stellt sich jeder das eigene Lebensmodell zusammen.

Das heißt, die klassische Familie, in der Papa Vollzeit arbeitet und Mama erst einmal zu Hause bleibt, ist einfach eine Option unter vielen?

Genau, ein solches Leben ist ja heute nicht mehr unausweichlich, das wählt man. Obwohl die Strukturen in Politik und Gesellschaft das konservative Modell schon befördern. Zum Beispiel, dass Frauen länger in Elternzeit gehen, weil der Mann der Hauptverdiener ist und man auf dessen Gehalt schlecht verzichten kann. Oder, wenn man sich Studien anschaut, wie ungerecht Hausarbeit bei Paaren mit Kindern verteilt ist nach wie vor – das ist schon krass.

Wer ist da gefragt – die Politik, oder die Köpfe der Menschen?

Das ist ein Zusammenspiel von beiden. Vor allem wenn es um Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, finde ich: Das muss dringend eine Elterndiskussion werden, nicht nur eine Mütterdiskussion, es geht doch schließlich auch um die Männer. Häufig bin ich ganz vor den Kopf gestoßen, wie über dieses Thema öffentlich geredet wird, denn das kenne ich aus meiner DDR-Herkunft anders. Mein Vater war ganz selbstverständlich an Hausarbeit und Erziehung beteiligt!

Sie reden offen über Ihre eigene Kindheit, über Ihre Ansichten zum Familienleben, aber Ihr aktuelles Privatleben schirmen Sie konsequent ab. Das persönlichste, das man auf Ihrer Facebook-Seite zu sehen bekommt, ist ein Weihnachtsbraten im Ofen. Warum?

Wenn man als Schauspielerin in der Öffentlichkeit steht, hat man nur zwei Optionen: die Tür ganz auf machen, oder ganz zu lassen. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Auch, weil ich vor der Kamera gerne immer wieder in neue Rollen schlüpfe und Projektionsfläche für andere bin. Dass der Privatmensch Karoline Herfurth dahinter verschwindet, ist mir nur recht.

Die Frage nach Öffentlichkeit wird heute ja auch für Normalos immer wichtiger: In Social Networks kann jeder versuchen, zum Star zu werden.

Ich glaube, viele Leute machen sich keinen Begriff davon, wie transparent sie sich machen. Und dass das Netz kein kuscheliger, wohliger Ort ist. Ich würde jedem empfehlen, mal an einen belebten Ort zu gehen, zum Beispiel an den Alexanderplatz oder auf den Kudamm, sich ein paar hundert Leute anschauen, die da vorbeikommen und überlegen: Will ich wirklich, dass diese Menschen mein Baby ohne Windeln sehen? Und komme ich mit dem Feedback klar? Wer damit kein Problem hat, soll das ruhig tun. Sonst kann man das ja ganz gut dosieren, im dem man private Einträge nur in geschlossenen Gruppen teilt.

Können Sie diesen Drang nach Öffentlichkeit eigentlich verstehen?

Ich glaube, dahinter steckt einfach die Sehnsucht, gesehen und wahrgenommen zu werden. Die kann ich nachfühlen. Aber das kann kein Social Network der Welt leisten.

 

 

 

Facebook zum Anfassen: Blind-Dates mit online-Freunden

Facebook ist ein Ego-Schaufenster – aber wer sind die Menschen dahinter wirklich? Gibt es wahre Freundschaft online? Und was passiert eigentlich mit der Verbindlichkeit in Zeiten ständiger Vernetzung? Für die BARBARA war ich im Herbst 2015 unterwegs, um Leute im wahren Leben zu treffen, die ich vorher nur online kannte.

„Tanzt du?“, will Bruno wissen. Vor uns stehen zwei Gläser Weißwein und eine Platte Antipasti, draußen vor dem Restaurantfenster fegt der Wind über den Kirchplatz von Bad Kreuznach, und ich lasse mir Zeit mit der Antwort. Gute Frage. Noch könnte ich fast alles sein, Tänzerin oder Nicht-Tänzerin, Frühaufsteherin oder Langschläferin, Rucksackreisende oder Grand-Hotel-Geschöpf. Bruno kennt ja nur einen kleinen Ausschnitt meines Lebens. Mein digitales Schaufenster, von mir selbst dekoriert. Gilt auch umgekehrt. Dabei sind wir schon seit zwei Jahren befreundet, Bruno und ich. Behauptet jedenfalls Facebook.

Dass ich an diesem Dienstag fast 600 Kilometer durch Deutschland gefahren bin, um mit ihm eine Doppelportion Mozarella und eingelegte Auberginen zu essen, hat keine romantischen Gründe. Beziehungsstatus: In festen Händen, er wie ich. Trotzdem bin ich nach knapp fünf Jahren im Social-Media-Land neugierig geworden. Etwa die Hälfte meiner 489 Facebook-Kontakte ist zustande gekommen wie der unsere: Kommentar auf den Post eines gemeinsamen Bekannten, ein Like, eine Antwort, eine Freundschaftsanfrage. Von manchen höre ich nie wieder etwas, andere sind in meinem Alltag gegenwärtig wie Nachbarn oder Kollegen. Früher war die Teeküche im Büro mein Soziales Medium, aber da ich seit Jahren hauptsächlich im Home Office arbeite, haben Facebook und Co das übernommen. Wie wäre es, ein paar der Menschen zu treffen, die ständig dort herumstehen? Die mir vertraut scheinen, obwohl ich ihre Stimme noch nie gehört habe, ihre Handschrift nicht kenne, und ihr Gesicht nur so, wie sie es selbst der Welt zeigen? Im Netz ist jeder der Regisseur seines eigenen Lebens, Kameramann und PR-Beauftragter. Ich möchte das ganze Bild, inklusive „deleted scenes“. Wohl wissend, dass ich mich umgekehrt genau so nackig mache.

Vier Online-Bekannte habe ich angeschrieben, ob sie Lust haben auf das Experiment, alle hatten spontan Lust, drei davon auch Zeit. Dumm nur: Das erste Date ist schon geplatzt, während ich gerade mal südlich von Hamburg am Maschener Kreuz im Stau stehe. Dafür gibt’s kein Like, und es ist meine Schuld – auch wenn ich es gerne auf die böse Multitasking-Kultur im Netz schieben würde. Vier parallel geöffnete Chat-Fenster, und bei einem habe ich mich im Datum vertan. Deshalb hat Greta an diesem Vormittag umsonst in einem Frühstückscafé in Köln gewartet und mir besorgte Nachrichten auf mein Smartphone geschickt. Auf Twitter bekäme das den Hashtag #EpicFail. Im wahren Leben gelte ich als beinahe pathologisch pünktlich und zuverlässig. Macht Facebook mich zum Freundschafts-Nerd?

Immerhin: Bei meiner Abendverabredung mit Bruno stimmen Zeit und Ort. Im Netz ist er ein Frauenversteher. Ein Gefühlsmensch, der gern Bonmots über die Liebe postet. Ein freundlicher Buddha mit Hipster-Brille. Auch: Einer, der sich ganz gerne reden hört. Stört mich das? Ach was. So völlig ohne Hang zur Selbstdarstellung ist wohl keiner, der vom Social-Media-Virus angesteckt wird. Da kann ich mir auch an die eigene Nase fassen. Die Frage ist eher: Hält der offline-Charme, was er online verspricht? Dass wir sofort ins Plaudern kommen und auf dem 5-Minuten-Fußweg von seinem Büro zu seinem Lieblings-Italiener bereits VW-Krise, Wohnungspreise in Hamburg und im Rheinland sowie gemeinsame Facbook-Bekannte abgehakt haben, überrascht mich nicht. Sondern etwas anderes: wie viel es doch ausmacht, was der Körper erzählt, jenseits der geschriebenen Sprache. Bruno sieht zwar exakt so aus wie auf seinem Profilfoto, mit Werberbrille und Buddha-Bäuchlein, wirkt dabei aber trotzdem jünger, beweglicher, lebhafter. Nicht gar so weise, dafür nahbarer. Ein Mann, der tanzt – auch über 40 und jenseits des perfekten Body Mass Index. Genau wie ich, übrigens. Wir verabreden, dass wir mal zusammen ausgehen, wenn er geschäftlich in Hamburg ist. Zehn Minuten später stellen wir fest, dass wir beide in einer Familie mit starken Frauen und abwesenden Vätern aufgewachsen sind.

Aber sich über einen halben Liter Chardonnay seine Lebensgeschichte erzählen, garniert mit etwas Hobby-Psychologie, ist das nun der Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn was heißt das in digitalen Zeiten? Stammt diese Trennung – wahre, analoge Seelenverwandtschaft hier, oberflächliche Online-Bekanntschaft da – nicht aus dem simplen Weltbild von Kulturpessimisten, die Computer schon in den 80er Jahren bäh fanden? Wie fast überall im Leben gilt: It’s complicated. Auch wir Forty-Somethings hatten ja schon immer beides: einen kleinen Kreis echter Vertrauter, bei denen man ungestraft auch nachts um drei angeschickert und mit Liebeskummer vor der Tür stehen konnte. Und einen viel größeren Kreis aus Ex-Mitschülern, Interrail-Begegnungen, Lerngruppen-Mitgliedern. Nur, dass damals ständig Menschen aus diesem weiteren Kreis auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Weil der Abreißzettel mit der Telefonnummer im Altpapier landete oder die WG-Adresse nicht mehr stimmte. Heute werden diese Kontakte höchstens zu elektronischen Karteileichen. Und sind manchmal auf einen Klick wieder zum Leben erweckt: Der große Blonde aus dem Deutsch-LK von 1988, der indische Yogalehrer von 2007. Ich hatte schon Visitenkarten in der Hand, auf denen nur noch Mailadresse und Twitter-Account vermerkt waren. Die sind heute oft dauerhafter als Postadresse oder Beziehungsstatus.

Es hat Vorteile, wenn keiner mehr verloren geht. Man muss nur aufpassen, dass diese Unverbindlichkeit des äußeren Kreises nicht einsickert in den inneren. Denn dann droht die Facebookisierung der persönlichen Beziehungen: Statt sich zum Geburtstag anzurufen, schicken sich langjährige Freunde rasche WhatsApp-Nachrichten, und bei wirklich Bad News gibt’s einen weinenden Emoji. Schluck. Umgekehrt hat mir Facebook bisweilen erstaunlich profundes über Menschen verraten, von denen ich immer dachte, dass ich sie in- und auswendig kenne. Kontroverse politische Ansichten, die ich im Kneipengespräch lieber umschiffe. Oder völlig ironiefreie Begeisterung für Katzenbilder. So werden Facebook & Co immer wieder zu menschlichen Abenteuerspielplätzen inklusive Abgründen. Und analoge Freundschaften können digital scheitern.

Das schöne an reinen Online-Begegnungen ist: Im Netz lerne ich ständig Menschen kennen, die ich sonst niemals getroffen hätte. Höchstens im ICE-Bistro. Andere Jobs, andere Orte, viel jünger, viel älter – oft ist es nur eine einzige Überschneidung, die uns online verbindet. Kinder, zum Beispiel. Deshalb bin ich auch auf Facebook mit Ines befreundet. Die lebt in Castrop-Rauxel, ist 15 Jahre jünger als ich und macht beruflich nichts mit Medien. Wie erfrischend. Mittwoch mittags um eins komme ich bei ihr zu Hause an. Mit ihrer entzückenden, einjährigen Tochter Henriette und ihrem Mann Marko wohnt Ines in einer Neubausiedlung mit Reihenhäuschen, die so modern, praktisch und freundlich aussehen, als könnte man sie samt Einrichtung bei Ikea kaufen. Ein Leben, in dem alles passt, auch das Drumherum: das abstrakte Gemälde, farblich abgestimmt auf das Sofa, die Fotogalerie an den Wänden, mit Hochzeits- und Babybildern ab der ersten Ultraschall-Aufnahme, das Retro-Muster auf Henriettes Kleidchen und auch, dass zwischendrin der Schwiegervater mit einem Fünferpack neuer Söckchen für seine Enkelin hereinschneit, genau so fröhlich und herzlich wie Ines selbst. Harmonisch, zufrieden, aufgeräumt – das schaffe ich in meinem Leben und meiner Wohnung lange nicht immer. In diesem Punkt sind wir wohl verschieden.

Trotzdem hat unser Treffen etwas sehr vertrautes. Liegt es an Ines’ rheinischer Unkompliziertheit, an unserer gemeinsamen Online-Geschichte, unserem gemeinsamen Thema, oder ist es alles zusammen? Umarmung zur Begrüßung, bei einer Tasse Tee dann gleich dieser freundlich interessierte Eltern-unter-sich-Ton: Mensch, Ines, das sind ja tolle Nachrichten, du bist wieder schwanger? Wow, Henriette isst ja freiwillig Blaubeeren, meine beiden sind solche Obsthasser, schlimm. Muttersein verbindet – vor allem, wenn beide Seiten nicht zu der Sorte gehören, die Glaubenskriege über die richtige Tragehilfe oder die perfekte Schulform anzettelt. Da ticken sie und ich dann wieder völlig gleich. Mütter-Parlando wird oft sehr schnell privat, inklusive blutiger Geburts-Details. Ob das auf Facebook passiert oder auf dem Spielplatz, ist eigentlich egal. In den letzten zehn Jahren habe ich viele solche Gespräche geführt. Was davon bleibt, ob aus der glücklichen Schicksalsgemeinschaft echte Freundschaft wird, das merke ich in meinem Offline-Umfeld aber erst jetzt, da meine Kinder größer werden. Und die Frauen um mich herum wieder mehr spüren, was sie sonst noch ausmacht. Ich frage mich, worüber mein 30jähriges Ich mit Ines geredet hätte, damals Single und kinderlos. Oder worüber wir uns in zehn Jahren austauschen werden.

So lange wird es aber wohl nicht dauern, bis ich wieder in ihre Gegend komme. Schon wegen Greta. Die hat nämlich eine Frühstückseinladung in Köln bei mir gut. Hat zwar nicht geklappt mit dem Kennenlernen, die erste Krise haben wir aber gut gemeistert, finde ich. Ganz old school, mit einer ehrlichen Entschuldigung, die ich unbedingt am Telefon loswerden musste, vom Autobahnparkplatz aus, und nicht per Direktnachricht. „Aber schreib das unbedingt in deinen Text mit der verpatzten Verabredung“, hat sie gesagt und gelacht, „das ist doch typisch Facebook!“ Mach ich, Greta. Die verschwendete Stunde im Café? „Ach was, verschwendet, ich hab immer Ideen im Kopf und etwas zum Schreiben dabei.“ Kenne ich, denke ich. Fünf Minuten am Telefon, und es fühlt sich an, als hätten wir noch deutlich mehr gemeinsam. Greta und ich – ich glaube, wir sind da einer heißen Sache auf der Spur.

Heldinnen der Arbeit – ein Programm schafft Job-Perspektiven für junge Mütter

Jung, alleinerziehend und ohne Ausbildung: Das sind schwierige Startbedingungen für Mütter. Ein Förderprogramm macht sie fit für den Arbeitsmarkt und unabhängig von staatlicher Unterstützung. Aber der Weg dorthin ist oft hart – auch für die Kinder. Fürs ELTERN-Magazin habe ich im Dezember 2016 mehrere von ihnen besucht.

 Neulich, beim Abholen aus der Kita. „Mama?“ „Ja, Leon?“ „Mama, heute laufen wir ganz, ganz langsam nach Hause.“ „Bist du müde, mein Schatz?“ „Mama! Du bist müde.“ Mareike (25) lächelt gerührt, als sie von der Unterhaltung mit ihrem Sohn erzählt: „Leon spürt immer ganz genau, wie es mir geht. Und er sieht mir an, wenn ich nach der Arbeit kaputt bin.“ Bei einem schnellen Mittags-Cappuccino im Einkaufszentrum zeigt sie auf dem Smartphone Fotos von ihrem Dreieinhalbjährigen. Ein Blondschopf mit mehlverklebten Händchen beim Keksebacken. Idyllische Momentaufnahmen aus einem Alltag, der viel verlangt von Mutter und Kind. Aber der auch eine Erfolgsgeschichte erzählt. Die Geschichte einer neuen Chance.

Seit fünf Monaten ist Mareike Auszubildende beim Hamburger Malerbetrieb Antosch. Das heißt: morgens um viertel nach sechs zur Arbeit antreten, Decken verspachteln, über Kopf mit einer kiloschweren, motorbetriebenen Schleifmaschine hantieren, oder draußen bei Wind und Wetter Fassaden streichen. Ein Knochenjob für die zarte Erdbeerblonde mit den coolen Sneakers, die ihren Sohn allein erzieht. Aber auch eine Art Traumjob. „Ich mag es, wenn ich das Ergebnis meiner Arbeit sehen kann. Wenn ich am Ende des Tages sagen kann: Dieser olle Heizkörper, der jetzt wieder glänzt wie neu, das ist mein Werk.“ Für Leon heißt das: Frühstück mit der Tagesmutter, Kindergarten von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends, fünf Tage pro Woche. Es heißt aber auch: eine Mutter, auf die man verdammt stolz sein kann. „Immer, wenn wir auf einer Baustelle Handwerker sehen, zupft er aufgeregt an meinem Ärmel: Mama, sowas machst du doch auch!“ Mareikes Fernziel: der Meisterbrief. Und die wenige gemeinsame Zeit mit ihrem Kind? „Klar, das ist schon manchmal hart“, sagt sie. „Aber dafür genießen wir die Wochenenden jetzt doppelt, unternehmen viel. Früher hatte ich mehr Zeit, aber war auch antriebsloser.“

Es gibt viele solche Frauen. Mit niedrigen Schulabschlüssen, jung auf das Abenteuer Kind eingelassen, häufig wieder Single, mit schlechten Karten auf dem Arbeitsmarkt. Mareike hatte nach einem Hauptschulabschluss gerade eine Ausbildung in einer Bäckerei abgebrochen („arbeiten war einfach nicht meins“), als sie von ihrem damaligen Freund schwanger wurde. Aber von solchen Frauen ist selten die Rede, wenn es um das Thema „Kinder und Karriere“ geht, in Talkshows, Konferenzen oder Leitartikeln. Da wird über Home-office-Lösungen für Eltern diskutiert, oder die Frage, ob ein Baby Karriereschritte verzögert. Mittelstandsprobleme.

Anders ist das bei der deutschlandweite Initiative „Joblinge“, die Mareike bei ihrem Neustart unterstützt. Ein Startup, vor zehn Jahren gegründet, um Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Hier finden junge Männer und Frauen Hilfe, die bisher keinen Zugang zu regulären Jobs gefunden haben: etwa, weil das eigene, kaputte Elternhaus nicht den nötigen Rückhalt bietet, oder weil andere Wendungen im Leben bisher alle Energie in Anspruch genommen haben – etwa die Geburt eines Babys. Wer bei den „Joblingen“ landet – meist auf Vermittlung des Jobcenters – , bekommt hier eine neue Chance: einen Vorbereitungskurs mit Bewerbungstraining, Auffrischungskurse in Kernfächern wie Rechtschreibung und Rechnen, Unterstützung bei der Suche nach Praktika und einer Lehrstelle. Für sieben von zehn Teilnehmern eine Geschichte mit Happy End, sie bekommen am Ende einen Ausbildungsvertrag.

Ein Drittel der so Geförderten sind Frauen, und fast in jedem der Vorbereitungskurse sitzen auch ein, zwei Mütter wie Mareike, meistens alleinerziehende. Doppelt schwer vermittelbar? Simon Busch und Helen Dähne aus der Hamburger Niederlassung sehen’s positiv: „Mütter sind meist sehr viel focussierter, strukturierter, wissen genau, was sie wollen.“ Denn ein Leben mit Kind erfordert Organisations-Qualitäten: U-Untersuchungen planen, Kitaplatz beantragen, neue Gummistiefel kaufen. Wer so gefragt ist, verdaddelt seine Tage kaum mit Online-Games auf dem Sofa. Die wenigsten Frauen in „Joblinge“-Maßnahmen haben ihre Kinder geplant – aber Wunschkinder sind sie dennoch. „Eine eigene Familie, ein Zuhause, ein Stück heile Welt, davon träumen fast alle unsere Schützlinge. Aber es ist ihnen auch wichtig, auf eigenen Beinen zu stehen. Dabei sind sie hochmotiviert, weil sie nicht nur für sich kämpfen, sondern auch für ihren Nachwuchs“, erzählt Busch. Haben sie eine Ausbildung, ziehen sie die auch durch.

Dieser Drive macht sie zu exzellenten Bewerberinnen für Handwerk, Einzelhandel oder Büro-Management – eigentlich. Das sehen aber längst nicht alle Arbeitgeber so. Auch Malerlehrling Mareike musste um ihren regulären Ausbildungsplatz kämpfen – ihr Chef hätte lieber nochmal das unbezahlte Praktikum verlängert. „Er hat mich richtiggehend getestet“, erzählt sie. „Einmal hat er mir absichtlich kurzfristig einen Nachmittagstermin gegeben um zu sehen, wie ich das von jetzt auf gleich mit Leon organisiere.“ Spontan sprang Mareikes Mutter ein, Meister Antosch war beeindruckt: „Kurz danach hatte ich seine Zusage.“ Und die Kollegen? „Es gibt solche und solche. Manche bewundern mich für mein Durchhaltevermögen. Von anderen kommen auch mal Sprüche wie: ‚Selbst schuld, dass du so früh schwanger geworden bist, deshalb hast du hier keine Sonderrechte.“ Mareike zuckt mit den Achseln: „Das ist halt so auf der Baustelle, da geht es mal unter die Gürtellinie. Da brauchst du als Frau ein dickes Fell.“

Das weiß auch Jennifer (24). Sie ist nach Mareike zu den „Joblingen“ gestoßen, besucht im Moment noch die Vorbereitungsgruppe und schreibt Praktikumsbewerbungen. An einem Montag vormittag sitzt sie im Seminarraum in einem Eckbüro in Hamburg-Hammerbrook mit Blick auf eine S-Bahn-Trasse, und erzählt ihre Geschichte. Eine Geschichte von geplatzten Träumen, aber auch von Mut und Zuversicht. Die Kurzversion: knapp am Fachabitur gescheitert, auf Reisen gewesen, gejobbt, verliebt, plötzlich der positive Schwangerschaftstest. „Ich wusste genau, was das für mein Leben heißt, aber mir war auch klar: Ich stelle mich dieser Verantwortung, und ich bin auch bereit, auf einiges zu verzichten.“ Ausgehen, shoppen, persönliche Freiheit. Jetzt ist ihr Sohn zwei, die Liebe hat nicht gehalten, aber immerhin hat Luis-Aslan einen engagierten Vater. Und Großeltern, die sich mit um ihn kümmern.

Jennifer würde gerne eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten machen, oder bei der Polizei. Den nötigen Realschulabschluss hat sie, aber dennoch landen ihre Bewerbungen immer wieder ganz unten auf dem Stapel: „Wenn Arbeitgeber erfahren, dass man ein Kind hat, läuten bei denen gleich die Alarmglocken.“ Laut sagt das aber keiner, erzählt Jennifer. „Ich habe mal einen Personaler angerufen und ihm ins Gesicht gesagt: Ich nehmen Ihnen die Gründe für die Ablehung nicht ab. Der hat schließlich zugegeben: Allein die 20 Krankentage fürs Kind, die mir als Single-Mutter pro Jahr zustehen, würden ihn abschrecken.“ Susanne Linardatos, die das Vorbereitungsseminar leitet, ärgert sich über solche Geschichten: „Ich würde mir mehr Solidarität wünschen gegenüber Müttern, auch von Seiten der Arbeitgeber. Stattdessen wird die Verantwortung einseitig den Frauen zugeschoben, als wäre ein Kind eine reine Privatangelegenheit. So wie ein exotisches Hobby.“ Nur in wenigen Branchen werden weibliche Azubis mit Nachwuchs gern genommen, etwa in Pflegeberufen. Weil sie ein Plus an Empathie und Verantwortungsbereitschaft mitbringen – aber eben auch, weil dort händeringend Nachwuchs gesucht wird, der bereit ist, einen schlecht bezahlten, körperlich wie seeelisch belastenden Job anzutreten.

Wichtig für die jungen Mütter sind nicht nur Arbeitgeber, die bereit sind, ein Stück gesellschaftliche Verantwortung, sondern auch ein gutes Netzwerk, weiß Joblinge-Mitarbeiter Simon Busch: „Wenn die eigene Familie mit am gleichen Strang zieht, ist das schon die halbe Miete.“ Die Realität sieht oft anders aus, sagt er: „Häufig ist da einen Oma im Hintergrund, die verständnislos reagiert: Du musst doch für dein Kind da sein, was willst du mit einer Ausbildung?“ Manchmal scheitert der Job-Einstieg auch an eigener Zerrissenheit: Da lehnt schon mal eine Kandidatin einen Ausbildungsplatz ab, weil sie im Schichtdienst ihr Kind nicht mehr jeden Abend selbst ins Bett bringen könnte. Schlimmstenfalls kämpfen die Teilnehmerinnen an drei Fronten: Mit den eigenen Eltern, dem Ex-Partner und dem Arbeitgeber.

So gesehen hat Anna (24) doppelt Glück gehabt. Ihre Eltern und ihre Schwester sind für sie da, ihre Beziehung ist nach einer Zeit der Trennung jetzt wieder intakt. Annas Freund ist Busfahrer, so dass die beiden sich Job und Familienarbeit meistens gut aufteilen können – er im Schichtdienst bei den Hamburger Verkehrsbetrieben, sie seit einigen Monaten als Azubi in Teilzeit bei der Drogeriemarktkette Budni. Allerdings haben er und Anna auch doppelt zu tun: Sie sind Eltern von Zwillingen, Jeremias Noel und Jayden Elias, vier Jahre alt. Noch ein Doppel-Glück, und einer der Gründe, warum es mit einer Lehrstelle nicht gleich nach dem Schulabschluss geklappt hat. Sabine Schuldt, Annas Ausbilderin in der Volksdorfer Filiale, hat das bei der Bewerbung nicht abgeschreckt: „Schon als Anna bei uns ihr Praktikum machte, haben wir gemerkt: Das ist eine junge Frau, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann. Das hat uns überzeugt.“ Und wenn Anna mal am Limit ist, die Kinder krank sind, die Nacht kurz war? „Dann nehme ich sie beiseite, suche ihr eine weniger anstrengende Aufgabe, setze sie zum Beispiel an die Kasse, wenn nicht viel los ist. Dafür weiß ich: Wenn viel zu tun ist, packt sie auch extra mit an. Das ist ein Geben und Nehmen.“

Annas freundliche und mütterliche Art kommt gut an. Einfühlsam hilft sie einer älteren Dame mit Rollator an der Kasse, berät eine andere beim Handcremekauf, räumt zwischendrin ein Regal um. Aber hinter der sanften Fassade steckt auch eine Person mit neuem Stolz und Selbstbewusstsein: „Freunde sagen zu mir: Wir erkennen dich gar nicht wieder, du warst immer so schüchtern, jetzt haust du auch mal richtig auf den Tisch! In der Lehre habe ich gelernt, zu verhandeln und mich durchzusetzen. Schon, weil ich sonst zu oft auf den unbeliebten Abendschichten sitzen geblieben wäre.“

Eine harte Schule. Dabei könnte es Anna leichter haben: das Gehalt ihres Freundes plus 450-Euro-Job, damit würde die Familie klarkommen. Dann könnte sie jeden Abend den Kinder vorlesen, müsste morgens nicht aus dem Haus, wenn eines krank ist. Verlockend? Ja, aber, sagt Anna: „Ohne Ausbildung erreicht man nichts im Leben, und ich möchte nicht abhängig sein. Weder vom Staat, noch von einem Mann.“ Eine Frau mit klaren Zielen: Ausbildung abschließen, ein fester Job, ein Vorbild sein für ihre Kinder. Die Hilfe der „Joblinge“ wird sie bald nicht mehr brauchen.

 

Wer sind die „Joblinge“?

Aus dem Integrations-Projekt einer Stiftung und einer großen Unternehmensberatung entstand 2007 ein Startup, das heute über ein breites Unterstützer-Netzwerk mit 1500 Partnerunternehmen und 1300 ehrenamtlichen Mitarbeitern verfügt. Finanziert werden die Förderprogramme von der öffentlichen Hand und aus Spendengeldern, deutschlandweit gibt es derzeit 23 Niederlassungen. Info: www.joblinge.de

Mütter und Bildung: mehr Durchstarter, mehr Abgehängte

Wir werden immer schlauer – wenigstens auf den ersten Blick. Während vor 20 Jahren knapp über die Hälfte der Frauen in Deutschland (mit und ohne Kinder) einen Hauptschulabschluss hatte und nur 14 Prozent Abitur, erreichen heute 23,5 Prozent die Hochschulreife und nur 37,2 den niedrigsten Abschluss. Dafür hat sich die Quote der Frauen ganz ohne Abschluss in der gleichen Zeit fast verdoppelt: von 2,7 auf 4,3 Prozent.

Single-Väter: die Belastung kommt von innen

Später Jobeinstieg und Kinder – nur ein Thema für Mütter? Nein, sagt Simon Busch von den Hamburger „Joblingen“: „Immer wieder sind auch junge Väter in unseren Gruppen, aber deren Belastung ist eher eine psychische als eine praktische – häufig fließt viel Zeit und Energie in Sorgerechts- und Unterhalts-Streitigkeiten. Den Alltag der Kinder müssen sie in der Regel aber nicht organisieren, das wird an die Mütter delegiert.“