Facebook ist ein Ego-Schaufenster – aber wer sind die Menschen dahinter wirklich? Gibt es wahre Freundschaft online? Und was passiert eigentlich mit der Verbindlichkeit in Zeiten ständiger Vernetzung? Für die BARBARA war ich im Herbst 2015 unterwegs, um Leute im wahren Leben zu treffen, die ich vorher nur online kannte.
„Tanzt du?“, will Bruno wissen. Vor uns stehen zwei Gläser Weißwein und eine Platte Antipasti, draußen vor dem Restaurantfenster fegt der Wind über den Kirchplatz von Bad Kreuznach, und ich lasse mir Zeit mit der Antwort. Gute Frage. Noch könnte ich fast alles sein, Tänzerin oder Nicht-Tänzerin, Frühaufsteherin oder Langschläferin, Rucksackreisende oder Grand-Hotel-Geschöpf. Bruno kennt ja nur einen kleinen Ausschnitt meines Lebens. Mein digitales Schaufenster, von mir selbst dekoriert. Gilt auch umgekehrt. Dabei sind wir schon seit zwei Jahren befreundet, Bruno und ich. Behauptet jedenfalls Facebook.
Dass ich an diesem Dienstag fast 600 Kilometer durch Deutschland gefahren bin, um mit ihm eine Doppelportion Mozarella und eingelegte Auberginen zu essen, hat keine romantischen Gründe. Beziehungsstatus: In festen Händen, er wie ich. Trotzdem bin ich nach knapp fünf Jahren im Social-Media-Land neugierig geworden. Etwa die Hälfte meiner 489 Facebook-Kontakte ist zustande gekommen wie der unsere: Kommentar auf den Post eines gemeinsamen Bekannten, ein Like, eine Antwort, eine Freundschaftsanfrage. Von manchen höre ich nie wieder etwas, andere sind in meinem Alltag gegenwärtig wie Nachbarn oder Kollegen. Früher war die Teeküche im Büro mein Soziales Medium, aber da ich seit Jahren hauptsächlich im Home Office arbeite, haben Facebook und Co das übernommen. Wie wäre es, ein paar der Menschen zu treffen, die ständig dort herumstehen? Die mir vertraut scheinen, obwohl ich ihre Stimme noch nie gehört habe, ihre Handschrift nicht kenne, und ihr Gesicht nur so, wie sie es selbst der Welt zeigen? Im Netz ist jeder der Regisseur seines eigenen Lebens, Kameramann und PR-Beauftragter. Ich möchte das ganze Bild, inklusive „deleted scenes“. Wohl wissend, dass ich mich umgekehrt genau so nackig mache.
Vier Online-Bekannte habe ich angeschrieben, ob sie Lust haben auf das Experiment, alle hatten spontan Lust, drei davon auch Zeit. Dumm nur: Das erste Date ist schon geplatzt, während ich gerade mal südlich von Hamburg am Maschener Kreuz im Stau stehe. Dafür gibt’s kein Like, und es ist meine Schuld – auch wenn ich es gerne auf die böse Multitasking-Kultur im Netz schieben würde. Vier parallel geöffnete Chat-Fenster, und bei einem habe ich mich im Datum vertan. Deshalb hat Greta an diesem Vormittag umsonst in einem Frühstückscafé in Köln gewartet und mir besorgte Nachrichten auf mein Smartphone geschickt. Auf Twitter bekäme das den Hashtag #EpicFail. Im wahren Leben gelte ich als beinahe pathologisch pünktlich und zuverlässig. Macht Facebook mich zum Freundschafts-Nerd?
Immerhin: Bei meiner Abendverabredung mit Bruno stimmen Zeit und Ort. Im Netz ist er ein Frauenversteher. Ein Gefühlsmensch, der gern Bonmots über die Liebe postet. Ein freundlicher Buddha mit Hipster-Brille. Auch: Einer, der sich ganz gerne reden hört. Stört mich das? Ach was. So völlig ohne Hang zur Selbstdarstellung ist wohl keiner, der vom Social-Media-Virus angesteckt wird. Da kann ich mir auch an die eigene Nase fassen. Die Frage ist eher: Hält der offline-Charme, was er online verspricht? Dass wir sofort ins Plaudern kommen und auf dem 5-Minuten-Fußweg von seinem Büro zu seinem Lieblings-Italiener bereits VW-Krise, Wohnungspreise in Hamburg und im Rheinland sowie gemeinsame Facbook-Bekannte abgehakt haben, überrascht mich nicht. Sondern etwas anderes: wie viel es doch ausmacht, was der Körper erzählt, jenseits der geschriebenen Sprache. Bruno sieht zwar exakt so aus wie auf seinem Profilfoto, mit Werberbrille und Buddha-Bäuchlein, wirkt dabei aber trotzdem jünger, beweglicher, lebhafter. Nicht gar so weise, dafür nahbarer. Ein Mann, der tanzt – auch über 40 und jenseits des perfekten Body Mass Index. Genau wie ich, übrigens. Wir verabreden, dass wir mal zusammen ausgehen, wenn er geschäftlich in Hamburg ist. Zehn Minuten später stellen wir fest, dass wir beide in einer Familie mit starken Frauen und abwesenden Vätern aufgewachsen sind.
Aber sich über einen halben Liter Chardonnay seine Lebensgeschichte erzählen, garniert mit etwas Hobby-Psychologie, ist das nun der Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn was heißt das in digitalen Zeiten? Stammt diese Trennung – wahre, analoge Seelenverwandtschaft hier, oberflächliche Online-Bekanntschaft da – nicht aus dem simplen Weltbild von Kulturpessimisten, die Computer schon in den 80er Jahren bäh fanden? Wie fast überall im Leben gilt: It’s complicated. Auch wir Forty-Somethings hatten ja schon immer beides: einen kleinen Kreis echter Vertrauter, bei denen man ungestraft auch nachts um drei angeschickert und mit Liebeskummer vor der Tür stehen konnte. Und einen viel größeren Kreis aus Ex-Mitschülern, Interrail-Begegnungen, Lerngruppen-Mitgliedern. Nur, dass damals ständig Menschen aus diesem weiteren Kreis auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Weil der Abreißzettel mit der Telefonnummer im Altpapier landete oder die WG-Adresse nicht mehr stimmte. Heute werden diese Kontakte höchstens zu elektronischen Karteileichen. Und sind manchmal auf einen Klick wieder zum Leben erweckt: Der große Blonde aus dem Deutsch-LK von 1988, der indische Yogalehrer von 2007. Ich hatte schon Visitenkarten in der Hand, auf denen nur noch Mailadresse und Twitter-Account vermerkt waren. Die sind heute oft dauerhafter als Postadresse oder Beziehungsstatus.
Es hat Vorteile, wenn keiner mehr verloren geht. Man muss nur aufpassen, dass diese Unverbindlichkeit des äußeren Kreises nicht einsickert in den inneren. Denn dann droht die Facebookisierung der persönlichen Beziehungen: Statt sich zum Geburtstag anzurufen, schicken sich langjährige Freunde rasche WhatsApp-Nachrichten, und bei wirklich Bad News gibt’s einen weinenden Emoji. Schluck. Umgekehrt hat mir Facebook bisweilen erstaunlich profundes über Menschen verraten, von denen ich immer dachte, dass ich sie in- und auswendig kenne. Kontroverse politische Ansichten, die ich im Kneipengespräch lieber umschiffe. Oder völlig ironiefreie Begeisterung für Katzenbilder. So werden Facebook & Co immer wieder zu menschlichen Abenteuerspielplätzen inklusive Abgründen. Und analoge Freundschaften können digital scheitern.
Das schöne an reinen Online-Begegnungen ist: Im Netz lerne ich ständig Menschen kennen, die ich sonst niemals getroffen hätte. Höchstens im ICE-Bistro. Andere Jobs, andere Orte, viel jünger, viel älter – oft ist es nur eine einzige Überschneidung, die uns online verbindet. Kinder, zum Beispiel. Deshalb bin ich auch auf Facebook mit Ines befreundet. Die lebt in Castrop-Rauxel, ist 15 Jahre jünger als ich und macht beruflich nichts mit Medien. Wie erfrischend. Mittwoch mittags um eins komme ich bei ihr zu Hause an. Mit ihrer entzückenden, einjährigen Tochter Henriette und ihrem Mann Marko wohnt Ines in einer Neubausiedlung mit Reihenhäuschen, die so modern, praktisch und freundlich aussehen, als könnte man sie samt Einrichtung bei Ikea kaufen. Ein Leben, in dem alles passt, auch das Drumherum: das abstrakte Gemälde, farblich abgestimmt auf das Sofa, die Fotogalerie an den Wänden, mit Hochzeits- und Babybildern ab der ersten Ultraschall-Aufnahme, das Retro-Muster auf Henriettes Kleidchen und auch, dass zwischendrin der Schwiegervater mit einem Fünferpack neuer Söckchen für seine Enkelin hereinschneit, genau so fröhlich und herzlich wie Ines selbst. Harmonisch, zufrieden, aufgeräumt – das schaffe ich in meinem Leben und meiner Wohnung lange nicht immer. In diesem Punkt sind wir wohl verschieden.
Trotzdem hat unser Treffen etwas sehr vertrautes. Liegt es an Ines’ rheinischer Unkompliziertheit, an unserer gemeinsamen Online-Geschichte, unserem gemeinsamen Thema, oder ist es alles zusammen? Umarmung zur Begrüßung, bei einer Tasse Tee dann gleich dieser freundlich interessierte Eltern-unter-sich-Ton: Mensch, Ines, das sind ja tolle Nachrichten, du bist wieder schwanger? Wow, Henriette isst ja freiwillig Blaubeeren, meine beiden sind solche Obsthasser, schlimm. Muttersein verbindet – vor allem, wenn beide Seiten nicht zu der Sorte gehören, die Glaubenskriege über die richtige Tragehilfe oder die perfekte Schulform anzettelt. Da ticken sie und ich dann wieder völlig gleich. Mütter-Parlando wird oft sehr schnell privat, inklusive blutiger Geburts-Details. Ob das auf Facebook passiert oder auf dem Spielplatz, ist eigentlich egal. In den letzten zehn Jahren habe ich viele solche Gespräche geführt. Was davon bleibt, ob aus der glücklichen Schicksalsgemeinschaft echte Freundschaft wird, das merke ich in meinem Offline-Umfeld aber erst jetzt, da meine Kinder größer werden. Und die Frauen um mich herum wieder mehr spüren, was sie sonst noch ausmacht. Ich frage mich, worüber mein 30jähriges Ich mit Ines geredet hätte, damals Single und kinderlos. Oder worüber wir uns in zehn Jahren austauschen werden.
So lange wird es aber wohl nicht dauern, bis ich wieder in ihre Gegend komme. Schon wegen Greta. Die hat nämlich eine Frühstückseinladung in Köln bei mir gut. Hat zwar nicht geklappt mit dem Kennenlernen, die erste Krise haben wir aber gut gemeistert, finde ich. Ganz old school, mit einer ehrlichen Entschuldigung, die ich unbedingt am Telefon loswerden musste, vom Autobahnparkplatz aus, und nicht per Direktnachricht. „Aber schreib das unbedingt in deinen Text mit der verpatzten Verabredung“, hat sie gesagt und gelacht, „das ist doch typisch Facebook!“ Mach ich, Greta. Die verschwendete Stunde im Café? „Ach was, verschwendet, ich hab immer Ideen im Kopf und etwas zum Schreiben dabei.“ Kenne ich, denke ich. Fünf Minuten am Telefon, und es fühlt sich an, als hätten wir noch deutlich mehr gemeinsam. Greta und ich – ich glaube, wir sind da einer heißen Sache auf der Spur.