Wir sind dann mal bei uns!

Zusammen ist man weniger allein! So sehr ich meine Selbständigkeit und Unabhängigkeit beim Arbeiten schätze, es gibt Projekte, die könnte keine:r für sich so gut stemmen wie zwei gemeinsam. Und so haben meine geschätzte Kollegin Anne Otto (www.anne-otto.de) und ich für den Beltz Verlag von Januar bis Dezember 2020 einen ausführlichen Selbstversuch gemacht, von dem wir zu Beginn nicht ahnten, wie sehr er uns auch persönlich unterstützen würde. In einem Jahr, das viele von uns an ihre Grenzen gebracht hat, haben wir uns zwölf verschiedene Methoden aus dem großen Feld der Selbstfürsorge herausgepickt und auf Herz und Nieren geprüft – von verschiedenen Meditationstechniken über achtsames Essen, von intensiven Naturerlebnissen über Slow Art bis zu Methoden, die Großzügigkeit und Dankbarkeit kultivieren. Nun, in einem weiteren Jahr, das vielen von uns nicht minder viel abverlangt und in dem das Bedürfnis groß ist, sich selbst ein guter Freund zu sein (und damit auch Familie, Freund:innen und Kolleg:innen), erscheint unser Resümee – zwölf essaystische Erfahrungsberichte von mir, dazu jeweils Annes Expertise als Psychologin und Coach, die erklärt, warum welche Methoden für wen geeignet sind, weshalb Selfcare kein Luxusproblem ist und nichts mit Egozentrik zu tun hat, und was die Wissenschaft zur Wirksamkeit verschiedener Techniken sagt. Dazu Übungs- und Selbstreflexionsangebote für alle, die Lust haben, aktiv mitzumachen. Wir freuen uns sehr über unser neues, gemeinsames Baby: „Ich bin dann mal bei mir„, Beltz Verlag, 19 Euro als TB oder zum Download als E-Book. Das schöne Foto von uns beiden verdanken wir Susanne Baade.

Irre entspannend: Warum mir DIY auf die Nerven geht

Deutschland ist DIY-Land. Jetzt sollen wir also auch noch Brotteig selbst kneten und zwirbelige Zopfmuster stricken, als wäre unser Alltag nicht vollgestopft genug. Denn selbermachen ist ja so gut für die Seele. Echt jetzt? Ich bezweifle das stark – und öffentlich im Winter 17 in der BARBARA

He, Sie da! Haben Sie mal einen Moment? Und könnten Sie mir vielleicht rasch einen Kuchen backen? Nein, nicht diese simple Marmorapfelstreuselnummer, sondern eine dreistöckige Schokotorte in Schiffsform, bitte. Ich schick Ihnen auch ein Youtube-Tutorial rüber. Der Mast und die Segel sind ein bisschen tricky, aber ich sag Ihnen, dieses selbstbestimmte Werkeln in der Küche, das ist ja wie Meditation, irgendwie. Es ist nämlich so, mein kleiner Sohn hat Geburtstag, der steht auf Schiffe, aber ich hab hier diese enorme To-Do-Liste: 148 Mails checken, drei Interviews anfragen, dann pünktlich zum Yoga. Und da ist auch noch dieser Text über Do-it-yourself-Stress, der muss fertig werden. Kennen Sie, oder? Ah, verstehe. Sie haben keine Kinder, aber trotzdem keine Zeit. Weil Sie nach dem 17-Uhr-Meeting das Flohmarktschränkchen abschleifen müssen und das Drachenfruchtkompott im Asia Style ansetzen, für das Brunch mit ihren 20 besten Freundinnen. Seit wann ist das ganze Gebastel, Gebacke und Gestricke eigentlich zur Messlatte für ausgefülltes Leben geworden? Obwohl unsere Tage immer stärker durchgetaktet sind, mit Arbeit, Familie, Freunden, Freizeitstress? Und finden Sie das irre entspannend, oder irre anstrengend?

Stopp, Einspruch!, höre ich Sie sagen. Ist doch ein selbstgemachtes Problem! Wenn die Alte zwei linke Hände hat oder keine Zeit oder beides, soll sie halt einen Fertigkuchen kaufen. Klar, ist nicht verboten. Ist auch nicht verboten, sein Wohnzimmer eins zu eins nach dem Vorbild des Ikea-Katalog-Covers einzurichten. Oder an hohen Feiertagen eingeschweißte Industriekäsescheiben auf den Frühstückstisch zu knallen. Kann man alles machen. Wenn man kein Problem damit hat, sich dabei wie Cindy aus Marzahn auf einer Society-Party in München-Grünwald zu fühlen. Billig, minderbemittelt, phantasielos.

Wo Muße zur Mangelware wird, wird sie zum Statussymbol. Und Selbstgemachtes ist ihre sichtbare Währung. Nimm hin den selbstgestrickten Schal, liebe Schwester, beiß hinein ins krokodilförmig geschnitzte Gurkenstück, liebes Kind, du bist es mir wert, dass ich meine kostbare Zeit für dich opfere. Manchmal kommt das ganz schön bitchy rüber: Ich backe, also bin ich (was besseres). Und jetzt liket gefälligst meine veganen Ingwerschnitten auf Instagram! Do-it-yourself als Egotrip und Social-Beauty-Contest. Denn auch die Mußestunden sind in einer – Achtung, Soziologensprech! – durchökonomisierten Gesellschaft ganz schön ergebnisorientiert. Runterkommen, ja bitte. Aber nicht, in dem man eine halbe Stunde die Wand anstarrt oder ein paar Containerschiffe auf der Elbe. Es soll schon etwas dabei rauskommen: selbstgezimmerte Gewürzkisten im Shabby Chic, selbstgeschneiderte Blusen. Wie praktisch, dass man sich Stoff, Garn und Schnittform im Netz ordern kann. Das spart Zeit, die man fürs Schultütendeko-Googeln braucht.

Sicher, natürlich geben handwerkliche Tätigkeiten auch Bodenhaftung in einer entfesselten Welt. Ein Signal an die Trumps und Erdogans des Planeten: Egal, welchen Wahnsinn ihr ausheckt, ich hab mein Leben im Griff und meine Cupcakes auch! Eine Message an alle Silicon-Valley-Startup-Nerds: Mir doch egal, wenn ihr 3-D-Drucker für Socken und Sonntagsbraten konstruiert, ich mach’s mir immer noch selbst. Dass man sich dabei leicht in die Tasche lügt, weil auch hinter dem Selfmade-Trend eine florierende Industriebranche steckt – geschenkt.

Ich soll mal halblang machen, weil das sonst heute nichts mehr wird mit der Drachenfruchtpampe fürs Brunch? Tschuldigung. Vielleicht habe ich auch einfach nur ein Basteltrauma. Meine schmallippige Handarbeitslehrerin aus der 3c und ihr bärtiger Kollege aus dem Werk-Unterricht mit seinem Fimmel für eine christliche Sekte tragen sicher eine Mitschuld daran, dass ich seit 1979 allergisch bin auf Stricknadeln und Laubsägen. Und besonders geschickt war ich noch nie. Aber Sie haben Recht, so ein Kuchen in Schiffsform, der kann eigentlich nicht schwer sein. Wissen Sie was? Wecken Sie mich einfach heute Nacht um drei. Da hätte ich noch ein Zeitfenster offen.