„Wut ist eine Einladung, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen“

Schlechte Gefühle haben ein schlechtes Image – also versuchen wir sie wegzuatmen, wegzumeditieren, und suchen nach Harmonie um jeden Preis. Großer Fehler, findet Coach und Autorin Friederike von Aderkas: Wenn wir uns ärgern, steckt darin eine wichtige Botschaft und jede Menge Energie. Wir müssen nur lernen, sie klug umzusetzen (mein Interview stammt aus einem Brigitte-Dossier unter dem Motto „Los-Lassen“, veröffentlicht im Spätsommer 2021)

Was haben Greta Thunberg, Seenotretterin Carola Rackete und Schauspielerin und MeToo-Initiatorin Alyssa Milano gemeinsam? So unterschiedlich ihre Anliegen sind – den Klimawandel bekämpfen, unmenschliche Migrationspolitik oder toxische Männlichkeit – , ihr Treibstoff ist derselbe. Drei Wutbürgerinnen im allerbesten Sinne, die zu Role Models geworden sind. Weibliche Wut ist Talkshowthema, Bestsellertitel, Trendthema. Aber tut Wut wirklich gut? „Klar, sie kann auch zerstörerisch, gewalttätig und verletzend sein, aber das ist nur ihre Schattenseite. Wenn ich sie spüre, steckt darin zuerst eine Information: Hier stimmt etwas nicht für mich. Und diese Lebensenergie lädt mich ein, für meine Bedürfnisse einzustehen“, sagt Friederike von Aderkas, Pädagogin und systemischer Coach, die auch Seminare zum Thema gibt. Ihr aktuelles Buch* ist eine Ehrenrettung für jene Emotion, die wir häufig verdrängen, abspalten, die uns unheimlich ist. Mit schwerwiegenden Folgen, sagt von Aderkas: Sie ist überzeugt, dass sowohl körperliche Symptome wie Verspannungen, Kopfschmerzen und Auto-Immunkrankheiten als auch Depressionen häufig mit unterdrückter Wut zu tun haben. „Sie gibt uns eine Richtung vor. Wenn ich mich stattdessen wie mit angezogener Handbremse durchs Leben bewege, werde ich gedämpft und lethargisch.“ Aber wie geht das, die Handbremse lösen? Fünf Situationen, fünf Tipps von der Expertin.

Im Job: Kurz vor Feierabend knallt Ihnen die Kollegin einen Stapel Vorgänge auf den Schreibtisch: „Sorry, die Kita schließt in einer halben Stunde und das muss heute noch raus. Könntest du so lieb sein?“ Kein einmaliger Notfall, so geht das schon seit Monaten.

Was meistens passiert: Fast in jedem Team gibt es die eine, die für alle die Kohlen aus dem Feuer holt. Vielleicht, weil sie als Kinderlose vermeintlich weniger private Aufgaben hat, oder weil sie als besonders effizient gilt. Sie sind das? Dann wissen Sie ja, wie sich das anfühlt. Sie ballen die Faust in der Tasche und schweigen. Vielleicht laden Sie Ihren Frust beim Partner ab, aber wehren sich nicht, schließlich brauchen Sie den Job noch. Vielleicht gefallen Sie sich auch in der Rolle als „verantwortungsvolles Opfer“, als stille Heldin. Schlimmstenfalls bis zum Burnout.

Was besser wäre: Beim nächsten Mal Stellung beziehen und sich abgrenzen: „Ich sehe deine Not, aber mir wird es gerade auch zu viel. Lass uns das ins nächste Teammeeting einbringen, ich unterstütze dich gern.“ Das ist solidarisch und gibt den Druck dorthin zurück, wo er entsteht – nach oben. Aber bitte nicht gleich voller Aktionismus voranmarschieren („Ich formuliere schon mal eine Mail an die Chefin!“), denn auch die permanente Retter-Rolle tut nicht gut. 

Im Alltag: Der neue Drucker steht, hat Papier, den richtigen Treiber, und ist ans W-LAN angeschlossen. Er blinkt freundlich. Was er nicht tut: drucken. Und das, obwohl wir in zwei Stunden ein Papierdokument brauchen.

Was wir häufig tun: Wenn Technik unsere Pläne durchkreuzt, macht uns das hilflos – und wütend. Typische Reaktionen: meckern (laut oder leise), jammern (bis jemand aufmerksam wird, der Partner, die Kollegin), aggressive Selbstbefragung: Wer spinnt, der neue Drucker/Staubsauger/das Internet, oder ich? Bei etwas robusteren Geräten auch: Draufhauen. Bringt in den seltensten Fällen eine Lösung, klar.

Was wir lieber tun sollten: Uns fragen, woher die Wut kommt (zweifle ich an mir und meinen Fähigkeiten?) und gegen wen sie sich richtet: den Hersteller, die Verkäuferin im Elektronikmarkt, mich selbst? Verstehen, was uns so aufregt, überlegen, wer uns helfen kann, unser Nachbar, der Kundendienst, das Handbuch. So bringt Ärger uns in Aktion, ohne dass etwas zu Bruch geht.

In der Liebe: „Wollen wir nicht am Sonntag in diese neue Fotokunstausstellung?“, hat sie gefragt, und er hat irgendwie zustimmend gebrummelt. Am Sonntag sieht sie ihm fassungslos zu, wie er sein Rennrad aus der Garage holt: Und ihr schöner Vorschlag?

Plan A, leider typisch: Weil wir in der Liebe besonders verletzlich sind, sprechen wir häufig in verschlüsselten Botschaften. Ein Verhalten, das wir oft schon als Kinder eingeübt haben, um Konflikte mit den Eltern zu vermeiden. Kommt die Message nicht so an, wie wir es gerne hätten, nörgeln wir danach oft anlasslos an unserem Partner herum, oder schmollen („Ob was los ist mit mir? Nein, wieso?“)

Plan B, leider selten: Klare Kommunikation macht den Kanal zwischen den Beteiligten frei – vorausgesetzt, es handelt sich wirklich um einen Vorschlag und nicht um eine Forderung (die eigentlich lauten müsste: „Ich will ins Museum, und wehe, du sagst nein!“). Wer Verantwortung übernimmt für das, was er oder sie in der Partnerschaft will, ob beim Sonntagsausflug, in der Lebensplanung oder im Bett, legt die Karten auf den Tisch und bereitet den Weg: zu Einigkeit, zu einem Kompromiss, oder auch zu getrennten Wegen hier und da. Das kann auch mal wehtun, ist aber ehrlich.

In Freundschaften: Wenn Sie die Nummer Ihrer Freundin auf dem Display sehen, ist fast immer Not am Mann. Beziehungsprobleme, die schwierige Mutter, Der Job. Allmählich fühlen Sie sich wie Alexa, nur aus Fleisch und Blut: Egal, was Sie sagen oder wie es Ihnen geht, Ihre Freundin redet, Sie hören zu und versuchen zu helfen. Nervt.

Beim nächsten Mal: Vielleicht werden Sie irgendwann laut: „Merkst du eigentlich, dass ich nur dein Seelenmüllplatz bin?“ Vielleicht gefallen Sie sich in der Rolle der Heiligen: Die Arme, sie hat es ja auch schwer. Oder Sie greifen zu Zynismus. „Oh, hallo, da ist ja das Traumpaar!“, wenn Sie sie innig mit dem Typen im Straßencafé sehen, über den sie sich gestern noch bitter beklagt hat.

Beim übernächsten Mal: Klartext reden: Ich fühle mich nicht gesehen, ich wünsche mir unsere Freundschaft anders, fällt dir eigentlich auf, wie sich die Gespräche im Kreis drehen? Gut möglich, dass die Aussprache die Freundschaft entgiftet, sie hat ja kaum aus Berechnung so gehandelt. Übrigens: Kann es sein, dass auch sie ein verkorkstes Verhältnis zu Wut hat, wenn sie lieber mit Ihnen über ihren Partner, ihre Mutter oder ihren Chef lästert, als denen gleich reinen Wein einzuschenken?

In der Politik: Sie sind der Souverän, schließlich leben wir in einer Demokratie. Praktisch fühlen Sie sich aber nicht so: ob Kohleausstieg, Maskenpflicht oder Vermögenssteuer, ständig werden Entscheidungen getroffen, die Sie sauer machen.

Wohin mit der Wut? Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sich Luft zu machen: eine Fülle von Social Networks, Freund*innen, Kolleg*innen. Problem: Wir fühlen uns danach häufig nicht besser. Wut mobilisiert Energie, sie kommt aber nirgends an.

Wohin mit der Wut – aber richtig? Erstmal schauen, woher das Gefühl kommt: Habe ich generell ein Problem mit Autorität, oder geht es wirklich um Sachfragen? Dann weitersehen: Inwieweit betrifft mich das Problem, und was beendet das Gefühl der Ohnmacht? Ich kann mich einer Initiative anschließen, Unterschriften sammeln, mich an meine*n Abgeordnete*n wenden. Aber auch beschließen: Nicht mein Zirkus, das sind nicht meine Affen, ich bleibe lieber als Beobachterin im Energiesparmodus. Keine Feigheit, sondern auch mal gesunder Selbstschutz. 

*“Wutkraft – Energie gewinnen, Beziehungen beleben, Grenzen setzen“, Beltz, 17,95 €