Mittlere Reife

Sind wir nicht alle unvergleichlich – und deshalb auch unvergleichlich schön? Ich musste ganz schön alt werden, um das zu kapieren. Dann habe ich mir vor lauter Freude darüber erst einen Bikini gekauft, dann für die BARBARA darüber geschrieben (Oktoberheft 2021)

Vor Jahren hatte ich einmal beinahe ein Schlüsselerlebnis. Da war ich innerhalb einer Woche erst bei einer Modedesignerin und ihrem Team zu Gast, eines Interviews wegen, und dann mit einer Freundin in einem Schwimmbad in Süddeutschland. Eben im Pariser Atelier noch Rhinozeros unter Elfen, jetzt Poolnudel unter Bojen. Ein Jojo-Effekt ohne jede Gewichtsschwankung. Mit einem After-Two-Babys-Body in Größe 42 bei knapp Einssiebzig hängt das Selbstbild eben stark davon ab, wer noch mit im Bild ist.

In dem Moment hätte eigentlich der Groschen fallen sollen: Wenn Schönheit so relativ ist, kann ich mich dann nicht einfach gut finden, und alle anderen auch, egal ob XL oder Size Zero? Die ganze Fülle des Lebens? Aber statt meinen inneren Kritiker gefesselt und geknebelt über Bord zu werfen, fand ich weiterhin, ich könnte meinen Anblick in einem Bikini jetzt echt niemandem mehr zumuten. Nicht mal meinem eigenen Spiegel. Ich trug damals jahrelang brav Badeanzug in gedeckten Farben, oberarmverhüllende Shirts, zeltartige Mäntel. Schluss mit lustig. Ich Dummerle dachte, das muss so. Aber ich war auch erst Ende 30, also praktisch ein halbes Kind.

Und dann kam der Tag im Sommer 2021, als ich feststellte: Ich bin 51, also endlich alt genug, mir wieder einen Zweiteiler zu kaufen. Einfach, weil ich Lust darauf habe. Obwohl ich in Zwischenzeit weder schöner noch dünner geworden bin, und außerhalb jeder Konkurrenz um die Miss Beachbody laufe. Oder vielleicht gerade deswegen? Unter Umkleidekabinenoberlicht, mit FFP2-Maske im Gesicht und Coronaspeck auf den Schenkeln, entdeckte ich die Leichtigkeit des Loslassens. Und das lang vermisste Gefühl von Freiheit, wenn Luft an den Bauchnabel kommt. Mit über zehn Jahren Verspätung fiel der Groschen. Sofort buchte ich einen Slot im Freibad. Erst nach dem Schwimmen fiel mir auf, was fehlte. Ich hatte nicht ein Mal kritisch meine Silhouette beäugt, wenn ich an spiegelnden Glasscheiben vorbeilief. So wie mit 15, 25, 35. Ob sonst jemand geguckt hat, und wie? Egal. Vielleicht waren Blicke einmal eine gültige Währung. Aber das waren auch Lire, Gulden und Peseten. Was heute mehr Wert hat: Wohlfühlen mit mir selbst.

Der Sommer war groß und ist vorbei, der neue Bikini noch da, die Freude am Älterwerden auch. Klar pushen auch Buzzwords wie „Body Positivity“ mein neues Selbstbewusstsein – wenn auf Instagram auch Körperformen Applaus bekommen, die nicht nach Diätmargarinewerbung aus den Neunzigern aussehen, fühle ich mich sichtbar in besserer Gesellschaft. Aber das gute Gefühl geht tiefer als der kurvenfreundliche Zeitgeist. Ein Teil davon ist pandemiebedingt: Wenn ein Virus Gesundheit und Leben bedroht, wird erst klar, wie dankbar man sein kann für einen Körper, der treu seinen Dienst tut. Der atmet und stoffwechselt und dabei seinen wichtigsten Teil spazieren trägt, den eigenen Kopf mit den eigenen Gedanken. Auch wenn er dabei nicht immer bella figura macht. Ein anderer Teil ist corona-unabhängig: Ich achte besser auf meine Energiebilanz. Denn Energie verschwendet, das habe ich in den letzten Jahrzehnten mehr als genug. Mit erfolglosen Versuchen, mich in eine Form zu zwängen, die mir nicht entspricht. Oder damit, mich darüber zu grämen. Stattdessen gehe ich mit 70 Kilo Leichtigkeit durchs Leben. Und nicht mehr mit untertänigem Gefühl shoppen („Ist mein armseliger Körper gut genug für diesen und jenen Schnitt, diese oder jene Länge?“), sondern mit einer königlichen Attitüde: „Na, ihr Wichte, seid ihr schön genug für mich?“ Manchmal guckt jemand, und ich habe eine Ahnung, was Leute in mir sehen. Eine Frau, die in sich selbst zu Hause ist und mit ihrem unperfekten Aussehen im Reinen. Was wir alle sein sollten, jederzeit, nicht erst mit 51. Das wäre ein Glück.