„Mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Können bereits Kitas für Chancengerechtigkeit sorgen – in Zeiten, in denen es immer stärker vom Elternhaus abhängt, welche Bildungskarriere Kinder einschlagen? Dieser Frage bin ich im Januar 2019 für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ nachgegangen, am Beispiel meiner Heimatstadt Hamburg.

Was wir uns angeschaut haben: Hamburg ist eine vielfach gespaltene Stadt. Im wohlhabenden Nienstedten liegt das Durchschnittseinkommen bei 120.000 Euro im Jahr, den Bewohnern der Elbinsel Veddel stehen nur 16.000 Euro zur Verfügung. Fast jedes zweite Kind in Hamburg hat einen Migrationshintergrund, dazu kamen seit 2015 50.000 Geflüchtete. Die Forschung weiß: Ob soziale Durchlässigkeit gelingt, dafür werden entscheidende Weichen schon in Kita und Vorschule gestellt. Klappt das hier?

Das sagt der Experte:

„Manche Kinder haben mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Martin Peters ist Fachreferent für Frühe Bildung, Betreuung und Erziehung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, der 350 Kitas vertritt

Kitas legen Grundlagen für spätere Schulabschlüsse und damit für Lebenschancen. Unterstützt die Stadt Einrichtungen, die besonders viel Aufholarbeit leisten müssen?

Seit 2013 gibt es das „Plus-Programm“, durch das Kitas in sozial belasteten Vierteln ein zusätzliches Budget für Mitarbeiter bekommen. Das ist ein guter Schritt. Andere Ungerechtigkeiten können Sie mit Geld allein nicht ausgleichen.

Und zwar?

Wir haben Kitas, in denen 90 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache haben als deutsch. Deutschsprachige Eltern meiden diese häufig, so bleiben diese Gruppen um so mehr unter sich. Aber Wortschatz und Grammatik sind das A und O für spätere Bildung – sonst haben Kinder mit der Schultüte in der Hand schon verloren. Seit einiger Zeit versucht die Stadt, mit einem neuen Sprachförderprogramm gegenzusteuern. Das zeigt auch messbare Erfolge.

Es gibt auch andere Gründe, warum Eltern ihre Kinder weniger gut unterstützen können – Gesundheitsprobleme, Geldsorgen…

Das Platzvergabesystem belohnt Erwerbstätigkeit. Mehr als fünf Kita-Stunden pro Tag bekommen nur Familien, in denen beide Eltern arbeiten. Dabei bräuchten häufig gerade die Kinder aus Familien, in denen einer oder beide Eltern erwerbslos sind, mehr Förderung. Und dann gibt es noch Communities, die erreichen wir mit dem Kita-Angebot einfach nicht, die melden ihre Kinder nicht an.

Welche sind das?

Vor allem Familien mit afrikanischem und arabischem Hintergrund. Dort wird häufig die individuelle Bildung weniger wichtig genommen, ein Kind soll sich eher für die Gemeinschaft nützlich machen. Ab kommendem Jahr wollen wir gemeinsam mit der Sozialbehörde Tagesmütter ausbilden, die selbst aus diesen Kreisen stammen und zwischen den Kulturen vermitteln. Möglicherweise wird das besser angenommen.

Betrifft das vor allem Geflüchtete?

Nein, da hat die Stadt vieles richtig gemacht! Anders als andere hat sie nicht in den Sammelunterkünften für Betreuung gesorgt, sondern die Kinder zügig auf die Einrichtungen der jeweiligen Umgebung verteilt. Da funktioniert Integration.

Das sagt die Erzieherin:

„Bindung ist das Problem, nicht nur Bildung“

Bei Claudia Brillinger wäre man gerne Kind. Eine herzliche blonde Frau in Jeans und Blümchen-Sneakers, die wirkt, als könnte sie einiges schultern. Seit 22 Jahren arbeitet sie in einer Kita im Bezirk Bergedorf-Neuallermöhe. Der Flachbau liegt zwischen Genossenschafts-Hochhäusern und bescheidenen zweistöckigen Klinkerbauten, in einem Viertel, das wie ein Brennglas die Widersprüche der Hansestadt bündelt. Weder Ghetto noch Wohlstands-Oase, sondern eine Mischung aus Ethnien, Gehaltsklassen, Lebensstilen. Die Namen an den niedrig hängenden Garderobenhaken verraten: Hier toben, essen, basteln und malen Cheyenne und Emil, Murat und Jewegenija*. 170 Kinder vom Baby bis zum Sechsjährigen, vom Arztsohn bis zur Tochter einer Teenager-Mutter aus einem Hartz-IV-Haushalt. Wie reagiert man als Erzieherin auf so unterschiedliche Startbedingungen?

Grundsätzlich findet Claudia Brillinger: Nicht mangelnde Bildung ist das Hauptproblem, eher mangelnde Bindung. Quer durch alle Milieus. „Viele Eltern sind heute stark verunsichert, was ihre eigene Rolle angeht – und das überträgt sich auf die Kinder.“ Die Folge: Mädchen und Jungen, denen das nötige Grundvertrauen ins Leben fehlt. Die so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie gar nicht in der Lage sind, neugierige Fragen zu stellen oder sich die Zahlen bis zehn zu merken. Auch Sprache, die Grundlage allen Lernens, ist nicht nur in bildungsfernen Zuwandererfamilien ein Handicap, findet Brillinger: „Mütter und Väter reden einfach zu wenig mit ihren Kindern.“ Als Notwehrmaßnahme haben die Kita-Erzieher jetzt ein Handy-Verbotsschild über dem Eingang aufgehängt: „Mama, sprich mit mir, nicht mit deinem Telefon.“

Man muss sich Claudia Brillingers Beruf vorstellen wie den eines Kapitäns, dem ständig von einer anderen Seite der Wind ins Gesicht weht. Hier leistungshungrige Eltern, denen es nicht früh genug losgehen kann mit Schreiben, Rechnen und Leistungssport – auf der anderen die, in deren Haushalt der Angebots-Zettel vom Discounter der einzige Lesestoff ist. Dabei kann die Kita durchaus Zusatznahrung bieten. Nicht nur, wenn Kinder beim Frühstück Gurken und Sellerie knabbern, die sonst eher Fast Food kennen. Auch wenn die eloquenteren ihren Spielkameraden helfen, einen Streit mit Worten zu schlichten. Oder wenn Eltern zur Abendgruppe zusammenkommen und sich mit Brillinger und ihren Kollegen über Erziehungsfragen austauschen. „Das ist eine Frage des Vertrauens. Weil sie sich nicht verurteilt fühlen, sondern angenommen.“ Oft leistet sie auch Alltagshilfe: etwa, wenn sie mit Müttern oder Vätern den Antrag für das „Bildungs- und Teilhabepaket“ ausfüllen, das sozial Schwächeren kostenlosen Eintritt für Kindertheater, Schwimmbad oder Sportverein ermöglicht – jedes dritte Kind in ihrer Kita profitiert davon.

Manchmal sieht Brillinger erst viele Jahre später, ob die Mühe sich gelohnt hat. Wie bei dem jungen Mann aus schwierigen Verhältnissen, den sie als Kind begleitet hat und der jetzt mit beiden Beinen im Leben steht: Ausbildung zum Mechatroniker, Weiterbildung zum Autolackierer. „Er sagte mir: Als ich klein war, habt ihr mir Struktur gegeben, habt mir beigebracht, was falsch und richtig ist. Davon zehre ich immer noch.“ Erfolgserlebnisse, die vieles aufwiegen. Aber nicht alles. Denn die tägliche Arbeit ist nicht nur psychisch und geistig, sondern auch körperlich belastend. Der Lärmpegel, das Heben, Tragen und Bücken. Zwar sind Erzieher in der teuren Stadt per Tarifvertrag höher eingruppiert als in anderen Bundesländern, aber das reicht nicht, findet Brillinger: „Die Zeiten für Vor- und Nachbereitung, die Elternarbeit, Feedbackgespräche mit Praktikanten – die zahlt uns keiner!“ Deshalb engagiert sie sich in der Volksinitiative „Kita-Netzwerk Hamburg“, die seit Monaten mit dem Senat über bessere Rahmenbedingungen verhandelt. „Ich liebe meinen Job, weil er Sinn ergibt“, sagt Claudia Brillinger. „Weil ich jedem Kind vermitteln kann: Es ist schön, dass du da bist.“ Aber so wie der Arbeitsalltag heute aussieht, fürchtet sie, könnten in Zukunft noch weniger Schulabgänger dafür zu begeistern sein. Ausbaden müssten das Cheyenne und Emil, Murat und Jewgenija. Und eines steht fest: Es träfe sie unterschiedlich hart.

*Namen der Kinder geändert

Das sagt die Politik:

„Bildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen“

Uwe Lohmann, familienpolitischer Sprecher der Regierungspartei SPD:

„Seit 2014 ist das Kita-Basisangebot – fünf Stunden Betreuung plus Mittagessen – für alle Hamburger Eltern gratis. Freie Bildung für alle Schichten, von der Kita bis zur Uni, gehört zu den Grundsätzen sozialdemokratischer Politik. In einer wachsenden Stadt mit jährlich 15000 bis 30000 Neubürgern haben wir in den letzten Jahren massiv den Krippen- und Kita-Ausbau voran getrieben, jetzt steuern wir nach bei der Qualität: Bis 2020 wollen wir 2700 zusätzliche Fachkräfte gewinnen, davon allein 2100 im Krippenbereich. Das bedeutet auch Nachwuchsförderung: Unbezahlte Praktika wird es nicht mehr geben, und mittelfristig sollen Erzieher ein Ausbildungsgehalt bekommen. Kitas können aber soziale Härten nicht alleine auffangen. Dazu braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen, etwa der Jugendhilfe.“

„Chancengerechtigkeit heißt nicht Abi für alle“

Philipp Heißner, familienpolitischer Sprecher der CDU

„Die Abschaffung der Kita-Gebühr war ein reines Wahlkampfgeschenk des ehemaligen ersten Bürgermeisters Olaf Scholz. Die falsche Entscheidung in einer Zeit, in der Experten wie die Bertelsmann-Stiftung Hamburg massiven Nachholbedarf beim Krippenpersonal nachweisen, also ausgerechnet bei den Jüngsten. Es wäre sinnvoller gewesen, die Gebühren schrittweise zurückzunehmen, und auch später. Dazu kommt: Die Qualität der Kitas wird nicht von staatlicher Seite überprüft, obwohl es dazu eine gesetzliche Grundlage gibt. In eher gutbürgerlichen Stadtteilen organisieren sich Eltern und protestieren, wenn es nicht rund läuft, in sozial schwächeren Quartieren wird das eher so hingenommen. Das ist doppelt ungerecht. Soziale Durchlässigkeit heißt aber nicht, dass jedes Kita-Kind später Abitur machen muss: Wir brauchen Menschen mit allen Bildungsabschlüssen, nicht nur Akademiker!“

Das sagt die Mutter:

„Ich hatte Angst um meine Töchter“

Nach der Kita-Zeit hören die Schwierigkeiten nicht auf – die Spaltung nimmt eher noch zu. Sabine Dreher* lebt in einer Gegend, in der soziale Gegensätze besonders sichtbar sind: Auf der einen Seite ihrer Neubauwohnung liegt das grün-bürgerliche Ottensen, auf der anderen Seite St. Pauli mit seinem hohen Anteil an Transferleistungs-Empfängern und Migranten. Dort befindet sich auch die zuständige Grundschule. Ihre sechsjährigen Zwillingstöchter hat sie aber auf einer Privatschule angemeldet, zahlt Schulgeld und nimmt einen weiteren Weg in Kauf. Warum?

„Ich kenne niemanden in unserer Nachbarschaft, der sein Kind in St. Pauli eingeschult hätte. Da alle Kinder mit viereinhalb Jahren an der zuständigen Grundschule vorgestellt werden müssen, haben auch wir sie uns angesehen, wussten aber gleich, dass sie nicht in Frage kommt – schon den Umgangston empfanden wir als rau und lieblos. Manche Familien ziehen weg, wenn ihre Kinder ins Schulalter kommen, viele melden ihre Kinder an der Grundschule in Ottensen an. Dafür gibt es aber keine Garantie, weil Plätze nach Zuständigkeit vergeben werden. Manche denken deshalb darüber nach, zum Schein den Wohnsitz zu wechseln.

Weil ich selbst im sozialen Bereich arbeite, kenne ich viele schwierige Familienverhältnisse, und ich habe großes Mitgefühl mit den Kindern, die so aufwachsen. Ich verstehe auch, dass manche davon profitieren würden, wenn die Klassen gemischter wären. Und vielleicht bin ich auch Opfer meiner Vorurteile. Aber wenn ich meine Kinder anschaue, denke ich:  Die beiden sind noch so klein – ich möchte nicht, dass sie dort untergehen. Oder jeden zweiten Tag mit einen blauen Auge heimkommen. Die harte Lebenswirklichkeit lernen sie noch früh genug kennen.“

Und was heißt das jetzt? Wenn Kitas Chancengerechtigkeit fördern sollen, braucht es zwei Bausteine. Der eine ist simpel: Geld und nachhaltige Planung. Mehr Erzieherstellen, attraktivere Bedingungen für Berufseinsteiger, Fortbildungen, angemessene Vergütung auch für Aufgaben jenseits des Normalbetriebs – etwa für die Arbeit an pädagogischen Konzepten. Der zweite Baustein kostet nichts, ist aber komplexer: Einfühlungsvermögen und Kommunikationstalent. Damit Förderung für alle greift, müsste man auch alle Eltern mit ins Boot holen. Solche, die selbst Unterstützung und Beratung brauchen. Und auch solche, die sich aus Sorge um ihre Kinder dem staatlichen Bildungssystem entziehen – und dadurch soziale Gräben noch vertiefen.

Facts and Figures:

  • Für das laufende Haushaltsjahr sind in Hamburg 822 Millionen für Kitas eingeplant, damit haben sich die Ausgaben gegenüber 2010 mehr als verdoppelt. Die Milliardengrenze wird voraussichtlich 2020 erreicht.
  • In Hamburg werden vergleichsweise viele Kinder in einer Kita betreut: 44,7 Prozent der unter Dreijährigen, fast 100 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen
  • Besonderen Nachholbedarf für Hamburg sieht die Bertelsmann-Stiftung bei der Betreuung der unter Dreijährigen: Auf eine Erzieherin kommen im Schnitt 5,2 Kinder, empfohlen wird ein Schlüssel von 1 :4. Bei den Drei- bis Sechsjährigen liegt er mit 1 : 8,4 Kindern im bundesdeutschen Durchschnitt, empfehlenswert wäre ein Verhältnis von 1 : 7,5.
  • Laut Bertelsmann-Stiftung wären rund 3850 neue Erzieherstellen notwendig, um in Hamburg gute pädagogische Arbeit zu leisten – also deutlich mehr als die angekündigten 2700.
  • Laut dem „Gute-Kita-Gesetz“ der Bundesregierung werden bis 2020 5,5 Milliarden Bundesgelder für Kita-Ausbau und Qualitätsverbesserung bereit gestellt. Wie sie die Mittel einsetzen, entscheiden die Länder selbst.
  • Erzieher und Erzieherinnen sind eine Hochrisikogruppe für Burnout und andere durch Stress verursachte Erkrankungen, so eine Studie der katholischen Hochschule Aachen. Hauptgrund: der Personalmangel in den Einrichtungen.
  • „Eine gute Kita mit mehr Erziehern würde ich mir auch etwas kosten lassen“ – diesen Satz unterschreiben laut einer Bertelsmann-Studie mehr als die Hälfte aller Eltern. Das gilt sogar für Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben.

Mein Andersmädchen

Für die „Barbara“, Ausgabe Februar 19, habe ich über die Frage geschrieben: Warum sehen eigentlich alle 13jährigen Mädchen heutzutage gleich aus – bis auf meine Tochter? Und wie finde ich das?

Manchmal, wenn ich sehr junge Mädchen sehe, denke ich an einen sehr alten Sketch von Loriot. Darin steht eine Gruppe identisch gekleideter Herren am Flughafengepäckband und versucht, aus einer Reihe völlig gleicher Koffer den richtigen herauszufischen. Danach folgt gleich die nächste Herausforderung: Am Ausgang wartet ein Grüppchen ebenso gleichförmiger Ehefrauen mit Föhnwelle und Seidentuch. Was das mit 13jährigen im Jahr 2019 zu tun hat? Nun: Wenn Pubertät ein Ringen um die eigene Identität ist, kloppen sich gerade alle um dasselbe Modell. Langhaarfrisur, Lama-Shirt, Lack-Kunst am Nagel. Da fragt man sich auch manchmal, wie die sich gegenseitig auseinanderhalten. Nur eine sticht heraus: meine Tochter. Nicht nur, weil sie fast immer die Kleinste ist, auch wegen Grunge-Boots, Kurzhaarschnitt und Karohemd. Ihre Fingernägel sind nur deshalb lang, weil sie vergisst, sie zu schneiden, als Handy-Hintergrundbild trägt sie die LGBT-Flagge, „weil’s cool ist“, und auf ihrer Playlist steht Mittelalter-Musik statt Cro & Co. Meistens bin ich stolz auf mein Andersmädchen. Aber manchmal auch verstört.

„Früher war mehr Lametta“, spricht Loriot. Als ich ein Teenager war, in den Achtzigern, gab es diverse Gruppen und Untergrüppchen: Ob man pastellfarbene Pullover über dem Blouson geknotet trug, Schnallenschuhe zum langen schwarzen Mantel oder barfuß zu Batik, war ein Statement. Manche Mädchenfrisuren sahen aus wie aus dem „Denver Clan“, andere wie von der Bundeswehr. Heute ist Artenvielfalt out. Vielleicht, weil die 13-jährigen von damals die Erwachsenen von heute sind, und gegen die lässt es sich schlecht rebellieren. Jedenfalls nicht mit Klamotten und Playlists. Dann wiederum: Vielleicht war dieses ganze Punk-Pop-Psych-Ding auch damals mehr Attitüde als echte Individualität. Genau so wenig rebellisch wie ein 60-jähriger, der in einem gebügelten „Wild & Free“-T-Shirt zum Rockfestival fährt und dort alkoholfreies Pils kippt. Und ob man Gruftie oder Softie wurde, hatte oft weniger mit Überzeugung zu tun als mit der Frage, ob man zufällig in der 8b war oder in der 8a.

Meine Tochter steht da drüber, und das bleibt nicht ohne Folgen. Nicht, dass sie gemobbt wird, weil sie nicht „Bibi’s Beauty Palace“ auf YouTube folgt. Aber zur coolen Clique gehört sie auch nicht, und es gibt Tage, da versinkt sie in ihren schlammfarbenen Rollis wie eine kleine Schildkröte, die den Kopf einzieht. In solchen Momenten steht auf meiner linken Schulter ein Engelchen in Regenbogen-Tunika und reckt die Faust: Gegen den Strom schwimmen gibt Muckis! Lamas sind eh uncool! Und wenn sie sich später tatsächlich in Emily verliebt und nicht in Emil: so what? Auf meiner rechten Schulter sitzt ein Teufelchen im Paillettentop, macht sich die Nägel und stichelt: Was ist bloß aus deiner pinkfarbenen Prinzessin vom Kita-Fasching geworden? Hättest du nicht lieber so ein kleines Mini-Me, dem du einen Lockenstab zum Geburtstag schenken kannst?

Manchmal gewinnt das Teufelchen. Dann suche ich morgens im Schrank meiner Tochter das einzige Oberteil, das mehr nach Bluse als nach Hemd aussieht, hänge es nach vorn und hoffe, sie greift danach. Aber es gibt auch die guten Tage. An denen pappe ich dem Pailletten-Heini mit Kleber aus dem Nail-Art-Set den Mund zu und schaue mir entspannt an, wie mein Andersmädchen T-Shirts aus der Jungs-Abteilung in die Umkleidekabine schleppt. „Ich bin halt so’n bisschen genderfluid“, sagt sie dann halb entschuldigend, halb kokett, und ich finde das vor allem eins: ganz schön mutig. Denn anders sein, wenn alle anderen genau so anders sind, das ist für Anfänger. Ich habe übrigens auch noch einen Sohn, der Fußball spielt, sich eine Playstation wünscht und Mädchen doof findet. Seine Schwester allerdings nicht immer. Extrem normal halt. Er ist allerdings erst zehn. Vielleicht wird das noch.

Ich muss gar nichts!

„Ich muss gar nichts“ hieß das Dossier, das die BRIGITTE im Juli 2018 veröffentlichte. Das fand ich gut, da hatte ich auch etwas beizutragen: Warum bei einem Rennen mitlaufen, das man ohnehin nicht gewinnen kann? Hier ist mein Beitrag, den die BRIGITTE in einer leicht gekürzten Version veröffentlichte.

Mein Gesicht kann etwas Neues. Letzte Woche habe ich es entdeckt, vor dem Badezimmerspiegel im Büro: Wenn ich lache, wirft die Haut unter meiner Nase eine Querfalte. Die war da vorher nicht. Mein Mann amüsiert sich: Schau lieber zu Hause in den Spiegel, der ist schlechter beleuchtet! Dabei macht die Falte mich eher neugierig: Körper, alter Freund, was hast du noch für Tricks auf Lager? Nächstes Jahr werde ich 50, da feiern mein Körper und ich goldene Hochzeit. Eine Zweckverbindung – wir können nun mal nicht ohne einander leben -, aber liebevoller denn je. Das ist eine schlechte Nachricht für den Fachverband der ästhetisch-plastischen-Chirurgie und für die Entwickler von „zehn Kilo in drei Tagen“-Apps. Für mich ist es eine gute.

Ich war mal jünger, dünner und faltenfreier, klar. Aber ausgerechnet damals war das anders. Da blickte ich in den Spiegel, als stände ich vor dem Türsteher eines hippen Clubs. Bin ich schön? Mein innerer Berghain-Mannes rollte ironisch mit den Augen: Ernsthaft? Du glaubst doch nicht, dass ich dich hier reinlasse! Ich dachte damals, ich muss mich nur genügend bemühen, dann geht irgendwann die Tür auf. Und dahinter spielt das wahre Leben. Weil schönere Menschen das Anrecht haben auf größere Gefühle, Leidenschaft, Drama. Weil sie sogar dann besser aussehen, wenn sie am Küchentisch weinen. Dafür strampelte ich mich ab, in jeder Hinsicht: mit Sport, der mir keinen Spaß machte, Fastenkuren, die mich langsam im Kopf machten, Frisuren, für die ich morgens eine Stunde früher aufstehen musste. Das fraß so viel Energie, dass ich ansonsten auf kleinerer Flamme kochte: ein Leben mit handlichen Gefühlen, erreichbaren Träumen, lauwarmen Beziehungen.

Aber Beauty ist ein Biest, Schönheit ist relativ. Egal wie man sich bemüht, irgendwo ist immer jemand mit einem strafferen Bauch und längeren Beinen, mit mehr Haar und größeren Augen. Daneben ich: Mittelgroß, mittelschlank, mittelblond. Hübscher Mund, hässliche Füße. So weit, so normal. Keine Frau, die Blicke auf sich zieht, wenn sie den Raum betritt. Ein Rennen, das ich nicht gewinnen konnte. Irgendwann dachte ich mir: Was für eine gigantische Verschwendung. Ich hatte vergeblich versucht, mich fremden Bildern anzupassen. Von da an machte ich mir die Bilder passend. Ließ meine Haare an der Luft trocknen, verlangte von Klamotten, dass sie mich auch in Größe 40/42 gut aussehen ließen, ging nur noch zum Sport, wenn ich Lust hatte. Sah meinen Körper nicht mehr als ewigen Low-Performer, sondern als prima Wohnung für mich und meine Gedanken. Plötzlich, zack, ging die Tür auf und machte Platz für das, was mir wichtig war. Bücher schreiben, eine Zeitlang im Ausland leben, große Liebesgeschichten, eine eigene Familie. Mein Schminktäschchen behielt ich. Aber das angestrengte Schaulaufen anderer betrachtete ich künftig, wie ich heute manchmal Model-Castingshows sehe: als seltsames Spiel, bei dem ich weder mitspielen muss noch will.

Manchmal kommt das Gute, wenn man aufhört, zu warten. Pickel bis Mitte 20, dafür vergleichsweise glatte Gesichtshaut mit Ende 40. Feine Haare, die früher nicht für Big Hair-Frisuren taugten, aber heute noch kaum grau sind. Danke, nettes Geschenk, aber wäre nicht nötig gewesen. Ich bin ja raus aus dem Rennen. Dagegen beobachte ich, wie Freundinnen und Kolleginnen an die Startblöcke gehen: plötzlich nur noch Low-Carb oder Clean Eating, antrainieren gegen die Schwerkraft, oder sogar anoperieren. Ist ja heute alles minimalinvasiv und unblutig: Fadenlifting, Mikrodermabrasion, Mikroneedling. Kann man machen. Tut mir aber Leid. Dieser verzweifelte Versuch, an einem Oldtimer herumzuschrauben, bis er fast aussieht wie ein Sportflitzer. Aber eben nur fast. Letztlich sind wir doch alle gleich, egal, welches Los uns die Gen-Lotterie zuteilt, ob wir eher früher oder eher später die Nase vorn haben: Wir enden als alte Frauen, mit dünnem Haar und hängender Haut. Das Rennen kann keine gewinnen. Irgendwann ist die längste Partynacht vorbei und der Club zu. Wäre es nicht schön, wenn wir dann in der Morgensonne lachend am Kantstein sitzen, Nasenfalten vergleichen und dann so richtig einen losmachen? Platz dafür ist ja genug.

 

 

Das! Ist! So! Ungerecht! – kommen Familien wirklich zu kurz?

Ob es um Reiswaffeln und den Platz auf Papas Schoß geht oder um Steuern und Kita-Plätze: Zu kurz kommen ist ein mieses Gefühl. Warum ist Gerechtigkeit gerade so ein großes Thema – und werden Familien in Deutschland tatsächlich benachteiligt? Dem bin ich im Sommer 2015 fürs ELTERN-Magazin nachgegangen

An einem kühlen Sommertag vor sieben Jahren kam Henri auf die Welt, und er kam nicht allein. Neben drei Kilo konzentrierter Niedlichkeit brachte mein zweites Kind auch etwas mit, das wir vorher in unserer kleinen Familie nicht kannten: ein Päckchen Ungerechtigkeit. Ihn nahm ich mit Leichtigkeit eine halbe Stunde nach der Entbindung auf den Arm, meine Zweieinhalbjährige konnte ich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht vom Boden hochheben. Und als Helen verstand, dass sie diese Nacht bei ihrer Großmutter verbringen sollte, während das neue Baby zwischen uns im Doppelbett des Krankenhaus-Gästetraktes schnuffelte, da sah sie mich auf eine Weise an, bei der ich dachte: So etwa müssen die französischen Bürger dreingeblickt haben beim Sturm auf die Bastille. Wo der Adel seine Petits Fours schlemmte, während sie höchstens ein trockenes Baguette zu beißen hatten.

Ungerechtigkeit, das ist ein Thema, an dem keiner vorbeikommt – schon, wenn er das Wort noch nicht einmal aussprechen kann. Dass bereits die Jüngsten einen ausgeprägten Sinn dafür haben, wies kürzlich eine Studie des Leipziger Max-Planck-Instituts und der Uni Manchester nach: Bei einem Spiel, in dem Handpuppen willkürlich Gegenstände weggenommen und zugeteilt wurden, gingen schon Dreijährige engagiert dazwischen. Aber auch in der Erwachsenenwelt feiert die Frage nach der richtigen Verteilung ein stürmisches Comeback – von der Diskussion um Erbschaftssteuern bis zum Erzieher-Gehalt. „Das Thema steht je nach Zeitgeist immer wieder hoch im Kurs “, erklärt der Soziologe Stefan Liebig, der an der Uni Bielefeld dazu forscht. „Sieht man sich beispielsweise die Programme der politischen Parteien in den letzten zehn bis zwanzig Jahre durch, fällt auf, dass Gerechtigkeit deutlich häufiger genannt wird – rechts genau so wie links.“

Diese Sehnsucht hat mehrere Gründe. Zum einen ist unsere Gesellschaft tatsächlich ungleicher geworden, etwa bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Zum anderen wird sie immer komplizierter – und damit auch die G-Frage. Denn was ist ungerechter: dass Erzieherinnen schlechter bezahlt werden als Grundschullehrerinnen – oder dass Familien die Folgen eines Kita-Streiks privat ausbaden müssen? Wenn ein Junge mit Down-Syndrom nicht aufs Gymnasium darf – oder wenn Lehrern ihren anderen Schülern Zeit entziehen, die sie für Inklusionskinder extra brauchen? Fast jede Klientel führt ihre eigene Debatte, hat ihre eigenen Vertreter. Und es geht noch eine Nummer größer: Homo-Ehe, Grexit, Flüchtlingskatastrophe – lässt sich alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren.

„Gerechtigkeit ist ein Werkzeug, das uns erkennen hilft, ob wir in einer sozialen Gruppe, im Unternehmen oder der Gesellschaft als gleichwertiges Mitglied anerkannt und unsere Interessen angemessen berücksichtigt werden. Aber was wir darunter verstehen, unterscheidet sich je nach dem System, in dem wir uns bewegen“, erklärt Stefan Liebig. In der Familie verhandeln wir nach dem „Bedarfsprinzip“: Wenn der Sechsjährige einen zweiten Burger isst und die Zweijährige nur einen halben, ist das nicht unfair, sondern eine Frage von Hunger und Körpergewicht. Am Arbeitsplatz gilt dagegen das „Leistungsprinzip“: Völlig okay, dass die Chefin mehr verdient als ich, jedenfalls so lange, wie sie ihren Job gut macht. Nicht, weil sie unbedingt eine teurere Wohnung braucht als ich, sondern weil sie die anspruchsvollere Tätigkeit hat.

Ein gewisses Maß von Ungleichbehandlung finden wir also durchaus okay – aber das hat seine Grenzen. „Dass wir heute mehr über Gerechtigkeit diskutieren, ist ein Zeichen von zunehmender Sensibilität“, findet Liebig. Also absolut positiv. Und das nagende Gefühl von Unfairness ist ein guter Motor für Veränderung. Mit Wut im Bauch organisieren wir Rathaus-Sit-Ins oder starten Online-Petitionen. Häufig braucht es dafür aber eine Art Initialzündung – Menschen, die zum ersten Mal eine Ungerechtigkeit benennen, die andere achselzuckend hingenommen haben. „Kinder bekommen die Leute sowieso“, sagte Altbundeskanzler Konrad Adenauer noch in den 50er Jahren, und fand deshalb familienpolitische Leistungen eher überflüssig. Das hat sich gedreht, weiß Stefan Liebig: „Babys zu bekommen ist heute nicht mehr selbstverständlich, sondern Eltern verstehen sich auch als Leistungsträger, und erwarten eine Gegenleistung vom Staat.“ Der gerät dadurch in Zugzwang. Kindergeld, Elterngeld, subventionierte Kita-Plätze für unter 3jährige – noch vor 20 Jahren wäre man für solche Forderungen ausgelacht worden. Da gründeten berufstätige Eltern eher still und leise eine private Kita-Initiative, statt vor dem Rathaus zu demonstrieren.

Aber der „Yes, we can“-Elan hat auch eine Kehrseite. Denn wenn das „Alles-ist-so-fies“-Gefühl ständig an uns nagt, machen wir uns unglücklich. „Wir jammern manchmal auf hohem Niveau“, sagt auch Stefan Liebig, „in kaum einem anderen Staat wird mehr für Familienpolitik ausgegeben als in Deutschland.“ Stattdessen sehen wir gerne das sprichwörtliche grünere Gras auf der anderen Seite des Zaunes: familienfreundlichere Arbeitszeiten in Schweden, Krippenversorgung in Frankreich. Und fallen aus allen Wolken, wenn britische Bekannte unser eigenes Gras saftiger finden: Really, ihr habt Anrecht auf mehr als zwölf Monate bezahlten Eltern-Urlaub? Oder französische: Vraiment, Stillen in der Öffentlichkeit ist bei euch okay? Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen, um das ganze Bild zu sehen.

An einem kühlen Sommertag im Jahr 2015 saß ich mit meinen beiden Kindern im Auto, und alles war voll ungerecht. Helen, 9, wollte lieber die ‚Revolverheld’-CD hören als ‚Fünf Freunde’: „Immer darf Henri bestimmen!“ Und Henri, 7, gefielen die Gesprächsthemen nicht: „Mit mir redest du immer nur über kleine Sachen! Und mit Helen über wichtiges!“ Wir hatten zwei Stunden Fahrt vor uns. Viel Zeit für eine Aussprache, nicht die erste und nicht die letzte. Und während wir mal wieder verhandelten, was man tun könnte gegen die gefühlte Ungerechtigkeit, dachte ich: Das schönste daran ist, dass sie uns zum Reden bringt. Dass sie ein Türöffner ist, der uns hilft, unsere Gefühle in Worte zu fassen. Auch wenn es selten eine ganz einfache Lösung gibt. Das einzusehen, gehört vielleicht zu den wichtigsten Aufgaben am Erwachsenwerden. Ich bin jetzt 45. Ich arbeite weiter daran.

Fies – oder?

Wir haben auf der ELTERN-Facebookseite nachgefragt, welche Ungerechtigkeiten euch am meisten nerven. Und herausgefunden, was wirklich dran ist.

1.) Geld: Zu wenig des Guten

Gefühlte Wahrheit: „Unser Steuer- und Sozialsystem bevorzugt Kinderlose gegenüber Familien, Elternpaare gegenüber Alleinerziehenden, Reichere gegenüber Ärmeren.“

 Reality Check:

Rund 200 Milliarden gibt der Staat jährlich für eine Vielzahl familienpolitischer Leistungen aus – kein Pappenstiel. Kinderlose tragen diese Ausgaben mit, und das ist auch gerecht, sagt Siegfried Stresing, Sprecher des Deutschen Familienverbandes: „Die Kita-Kinder von heute sind die Ärzte, Altenpfleger und Busfahrer von morgen – deshalb sollte auch Kinderlosen ihre Ausbildung heute etwas wert sein.“ Auch der Staat fördert nicht uneigennützig: Jedes heute geborene Kind spült nämlich später als Steuer- und Beitragszahler Geld in die Kassen, laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung allein 77.000 Euro Überschuss in der Rentenversicherung. So weit, so fair? Nein, findet Siegfried Stresing: „Erwerbstätige Eltern finanzieren heute sowohl die Renten der Älteren als auch die nachkommende Generation.“ Zuschläge zahlen Kinderlose aber nur bei der Pflegeversicherung. Deshalb fordert sein Verband Entlastung bei allen Sozialabgaben (mehr unter www.elternklagen.de). Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, ist da anderer Meinung: „Bei Rentenansprüchen und über die beitragsfreie Familienversicherung unterstützt der Staat Familien heute schon.“ Ihm sind andere Punkte wichtig: steuerliche Entlastung mittlerer Einkommen, Anpassung der Tarife an die Preisentwicklung, höhere Grundfreibeträge für Kinder, eine Senkung der Grunderwerbs- und Verbrauchssteuern. Denn Abgaben auf Heizöl und Mehrwertsteuer auf Gummistiefel, Brotboxen und Spielzeug treffen Eltern überproportional. Ein wenig gerechter ist die Welt für Alleinerziehende geworden: Ihr jährlicher Entlastungsbeitrag wurde um 50 Prozent angehoben.

Ungerecht? Ja – aber wohl schwer zu ändern. Denn beim Werben um Wählerstimmen zählen andere Bevölkerungsteile mehr als junge Familien. Vor allem die wachsende Gruppe älterer Menschen. Es gibt aber immer wieder Teilerfolge: So hat die Bundesregierung beschlossen, ab 2016 die Steuerlast der Teuerungsrate anzugleichen.

2.) Wohnen: schwierig – aber nicht nur für Familien

Gefühlte Wahrheit: „Für Vermieter sind Kinder ein rotes Tuch. Familien finden schwerer eine Wohnung als Singles, und kaum kickt ein Zweijähriger einen Ball im Flur, steht die olle Nachbarin vor der Tür und wedelt mit der Hausordnung!“

 Reality Check:

  • „Familien werden bei der Wohnungssuche nicht grundsätzlich benachteiligt“, sagt Ulrich Ropertz, Sprecher des Deutschen Mieterbundes. „Andere Fakten spielen eine größere Rolle. Schlechte Karten hat, wer in unsicheren Arbeitsverhältnissen lebt und wenig Einkommen hat. Und Wohnungssucher mit ausländisch klingenden Namen haben es schwerer als solche mit deutsche – unabhängig von der Kinderzahl.“
  • Die Rechtssprechung ist generell kinderfreundlich. Sprich: Je kleiner ein Kind, desto selbstverständlicher müssen sich Nachbarn mit Lautstärke abfinden. Babys weinen nun mal auch nachts um drei, ein 14jähriger darf zur gleichen Zeit seine Musikanlage nicht voll aufdrehen. Ropertz rät: Schon bei der Wohnungssuche darauf achten, wer die anderen Mieter sind.
  • Wahr ist: Es gibt in Deutschland zu wenig bezahlbare Mietwohnungen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass jährlich 272.000 neue gebaut werden müssten, der Mieterbund sogar von 400.000 – tatsächlich sind es nur 000. In begehrten Großstadtlagen sind die Quadratmeterpreise am höchsten, Eltern haben aber häufig keine andere Wahl: Die meisten Arbeitsplätze gibt’s nun mal in Ballungszentren, und täglich stundenlange Pendelei ist auch nicht familienfreundlich. Gute Nachricht für Häuslebauer: Laut einer aktuellen Studie der Postbank können sich auch Durchschnittsverdiener immerhin in drei Viertel aller deutschen Kommunen Wohneigentum leisten.

 Ungerecht? Geht so. Am schwersten auf dem Wohnungsmarkt haben es die, die auch sonst zu kämpfen haben: Alleinerziehende Mütter und Väter, aber genau so der deutschtürkische Single in einem prekären Arbeitsverhältnis.

3.) Kinderbetreuung: von Spitze bis mangelhaft

Gefühlte Wahrheit: „Ob ich einen Kita-Platz finde, was ich selbst dafür zahlen muss und wie gut die Betreuung ist, ist Glücksache – je nach Wohnort“

 Reality Check:

ELTERN: Frau Bock-Famulla, Sie beschäftigen sich für die Bertelsmann-Stiftung mit der Kita-Landschaft in Deutschland. Geht es da tatsächlich so ungerecht zu?

Kathrin Bock-Famulla: Doch, das würde ich unterschreiben. Wenn Sie einen Krippenplatz suchen, haben Sie beispielsweise in Sachsen-Anhalt deutlich bessere Karten als in Baden-Württemberg. In Sachen Qualität ist es aber genau anders herum: In den neuen Bundesländern ist zwar der Bedarf an Plätzen nahezu gedeckt, aber im Schnitt kommen doppelt so viele Kinder auf eine Fachkraft wie in den alten.

Und völlig unabhängig davon, wie gut die Betreuung ist, müssen Eltern dafür auch noch ganz unterschiedlich viel bezahlen….

Ja, das hat vor allem damit zu tun, wie viel die Länder bei der Kita-Finanzierung zuschießen. In Berlin tun sie das zum Beispiel zu 25 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern nur zu neun Prozent. Dazu kommt, dass oft nicht mal die Kommunen die Höhe der Elternbeiträge festlegen, sondern jeder Träger für sich, zum Beispiel in Niedersachsen.

Können sich Eltern wenigstens aussuchen, wie viele Stunden täglich sie buchen?

Auch nicht unbedingt. Aus Nordrhein-Westfalen wissen wir, dass viele Kitas grundsätzlich nur 8-Stunden-Plätze vergeben, um sich leichter finanzieren zu können. Natürlich wird keiner gezwungen, sein Kind bis um vier dort zu lassen – aber bezahlen muss man den vollen Satz trotzdem.

 

Ungerecht? Aber hallo! Blickt man allerdings über den Tellerrand, sieht das schon wieder anders aus: Immerhin hat Deutschland ein staatlich organisiertes Kinderbetreuungs-System – in den USA ist „Day Care“ Privatsache. Und in Skandinavien ist zwar immer alles besser, aber insgesamt sind deutsche Erzieher durch ihre Ausbildung höher qualifiziert als schwedische und norwegische.

4.) Arbeiten: Eine Frage der Perspektive

Gefühlte Wahrheit: „Mütter im Job? Totale Schikane. Meetings finden statt, wenn wir nicht mehr im Haus sind, Chefs nehmen uns nicht für voll, Kollegen mobben uns – dabei leisten wir oft mehr als Kinderlose, weil wir uns ständig beweisen müssen.“

 Reality Check:

PRO: Christine Finke aus Konstanz, 49, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, ist gelernte Fach-Redakteurin und hat sich als Bloggerin und Autorin selbständig gemacht (www.mama-arbeitet.de): „Als Berufsanfängerin dachte ich häufig: Mütter, die am Arbeitsplatz ständig fehlen – wenn ich mal in der Situation bin, werde ich das anders handhaben. Und so war es auch: Über Jahre habe ich gearbeitet, als hätte ich keine Kinder, habe Unsummen für Kita plus Au-Pair plus Babysitting ausgegeben, und saß schon eine Woche nach den Geburten der Kinder wieder am Laptop. Was hat es mir genützt? Vor vier Jahren verlor ich meinen Job betriebsbedingt, und als Alleinerziehende mit drei Kindern über 40 fassen Personaler deine Bewerbung nur mit spitzen Fingern an. Ich kann das sogar verstehen: Mit Kinderkrankentagen und Urlaub könnte ich übers Jahr fast drei Monate fehlen. Über mein Blog schreiben mir häufig Mütter, die deshalb im Job schlecht behandelt werden: Es ist ein beliebter Trick, Frauen loszuwerden, in dem man ihnen nach der Babypause einen total inakzeptablen Arbeitsbereich zuweist und wartet, dass sie von selbst gehen.“

CONTRA: Edith Maack (Name geändert), 28, arbeitet im Marketing eines Reiseveranstalters in Frankfurt: „Meine Kolleginnen sind Mütter, meine Chefin hat Kinder – in meiner Branche ist Familie kein Karrierehindernis, und darüber freue ich mich auch. Aber: Wenn man die einzige in der Abteilung ist, die noch kein Baby hat, ist das oft hart. Bei mir bleibt nämlich immer alles liegen, auch wenn ich dann bis abends um sieben am Schreibtisch sitze, weil die Kolleginnen ja um drei losmüssen, ihre Kinder abholen. Die Chefin geht auch vor mir, und sieht deshalb nicht, wie ich für alle die Kohlen aus dem Feuer hole. Und als ich zu einem großen Familienfest im Hochsommer Urlaub beantragen wollte, wurde ich abgewiesen: Die Ferienzeiten sind für Kollegen mit Schulkindern reserviert.“

 Ungerecht? Mal so, mal so. Sicherlich haben Arbeitgeber noch einen weiten Weg zu einer familienfreundlicheren Arbeitswelt vor sich. Was den Alltag mit den kinderlosen Kollegen angeht: Reden und Blickwinkel wechseln hilft – auch von Elternseite.

5.) Am Wohnort: Mehr Grün für Omas und Enkel

Gefühlte Wahrheit: „Schmale Bürgersteige, zu wenig Grünflächen, U-Bahn-Stationen ohne Lift: Mit kleinen Kindern kann man sich in der Stadt nur schwer bewegen.“

 Reality Check: Christina Peterburs arbeitet im Planungsbüro „Stadtkinder“ in Dortmund und berät Kommunen und Wohnungsbauunternehmen und sagt: „Wenn es darum geht, neue Quartiere zu entwickeln oder alte zu modernisieren, muss man immer verschiedene Interessen unter einen Hut bringen – von Umweltbelangen bis zu den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen. Allerdings gibt es viele Punkte, in denen die Interessen von Kindern und Familien mit denen anderer Gruppen zusammenfallen: etwa, wenn es um barrierefreies Bauen für Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen geht, was ja heute Standard ist, oder um sichere Straßenübergänge. In den 50er und 60er Jahren stand oft mehr die Frage im Vordergrund, ob eine Stadt autogerecht ist, als ob Kinder sich dort wohlfühlen. Mittlerweile setzen sich aber Ideen durch, die mehr auf Interessenausgleich setzen. Das klappt sogar in der Großstadt, und nicht nur in einzelnen Vorzeige-Vierteln wie etwa dem Freiburger Vauban-Quartier. In Mülheim an der Ruhr wurde dazu sogar extra ein Masterplan unter dem Motto „Spielen und Bewegen“ erarbeitet. Der Architekt Jan Gehl hat in Kopenhagen ein Verkehrskonzept entwickelt, das auf Radfahren und öffentlichen Nahverkehr setzt. So erhält der öffentliche Raum mehr Aufenthaltsqualität und Kinder können gefahrlos unterwegs sein. Ein neuer Trend sind auch Mehrgenerationen-Spielplätze: mit Geräten, an denen ältere Menschen Gymnastik machen können und Kinder klettern und toben.“

Ungerecht? Nein – Städte sind sogar familienfreundlicher als früher. Aber wenn uns Singles die Mutter-Kind-Parkplätze wegschnappen – das ist wirklich fies!

6.) Reisen: Mit ein paar Tricks klappt’s günstiger

Gefühlte Wahrheit: „Spätestens, wenn das älteste Kind in die Schule kommt, sind wir gekniffen: Müssen ausgerechnet dann verreisen, wenn es überall am vollsten, am teuersten und außerdem am heißesten ist!“

 Reality Check: Klar, in der Hauptsaison wird abkassiert. Tipps für smarten Urlaub:

– Es muss nicht immer Juli sein: In vielen Bundesländern dauern Herbstferien zwei Wochen. Super Zeitpunkt für Sommerverlängerung im Süden.

– Urlaubspauschalen sind je nach Ferienkalender in benachbarten Bundesländern unterschiedlich teuer – manchmal lohnt sich die längere Airport-Anfahrt.

– Sommerurlaub entweder ganz früh buchen (an der Ostsee machen viele schon im August die Ferienwohnung für den nächsten Sommer klar), oder ganz spät – früh hat man die größte Auswahl, Last-minute die größten Preisnachlässe.

– Mit Haus- und Wohnungstausch (z.B. www.homelink.de) gibt’s die Unterkunft auch im Hochsommer fast zum Nulltarif.

– Große Veranstalter wie TUI, Alltours und ITS bieten auch in der Hauptsaison günstige Kinder-Festpreise. Online vergleichen z.B. unter www.preiswertbuchen.de

Unfair? Ja, aber nicht sehr. Schließlich hat der Urlaub zur Stoßzeit auch Vorteile: mehr Programm am Urlaubsort, alle Restaurants geöffnet, gleichaltrige Spielkameraden, so weit der Strand reicht….

 

 

 

 

 

 

Männer und Kinderwunsch: Männer ticken anders

Bei Frauen ist es Biologie, bei Männern Statistik: Mit Mitte 40 geht die Wahrscheinlichkeit, noch eine Familie zu gründen, gegen Null. Woran liegt es, wenn Männer kinderlos bleiben – und wie setzen sie sich damit auseinander? Das wollte ich genauer wissen und habe im Sommer 2016 für ein ausführliches BRIGITTE-Dossier mit Menschen gesprochen, die es wissen müssen: Kinderwunschberaterinnen, Familiensoziologen, Demographen – und natürlich mit den Männern selbst.

Da steht er dann also, mitten im Leben. Irgendwo zwischen 20jähriger Abiturfeier und 50. Geburtstag. Hat einige Jobs gehabt, Beziehungen und Umzüge hinter sich, möglicherweise auch einen Baum gepflanzt und ein Haus gebaut. Aber dennoch ist da diese Lücke im Lebenslauf. Denn einen Sohn gezeugt, das hat er nicht. Und auch keine Tochter. Vielleicht, weil er nie die Frau getroffen hat, mit der er sich ins Abenteuer stürzen mochte. Vielleicht auch, weil er gewollt hätte, sie aber nicht. Und nun? Hört auch er eine innere Uhr ticken, vielleicht nicht die biologische, sondern die soziale? Weil seine Freunde schon die Abifotos ihrer Kinder auf Instagram stellen und er nicht der letzte Kerl im Sandkasten sein will? Sucht er auf Dating-Portalen nach einer jüngeren Partnerin mit Baby-Sehnsucht? Wie geht es überhaupt Männern, wenn sie realisieren: Vater werde ich nicht mehr?

Wer die Entscheidung für ein Kind immer wieder vor sich herschiebt, für den entscheidet irgendwann das Leben – und zwar abschlägig. Frauen ist das sehr bewusst: Die gelten ab Mitte, Ende 30 als angezählt, ein paar Jahre später als tragische Nietenzieher in der Babylotterie oder als eiskalte Karrierezicken, und ab Mitte 40 macht der Körper irgendwann nicht mehr mit. Egal, ob Schicksal, Biologie oder freiwillige Entscheidung – ganz kalt lässt die K-Frage keine. „Die Möglichkeit, schwanger zu werden, die Auseinandersetzung damit, ist tief im weiblichen Körper verankert“, sagt die Familientherapeutin Petra Thorn, „allein deshalb, weil Frauen durch die Menstruation regelmäßig daran erinnert werden. Dieses körperliche Bewusstsein haben Männer nicht.“ Ach, die Glücklichen. Können sich auch noch entscheiden, wenn sie schon auf Blutdruckpräparate und Gehhilfen angewiesen sind. Social Freezing für Spermien? Kaum ein Thema. Gala-Grazia-Bunte-Fotos von Beckenbauers und Sky Dumonts, die als grauschläfige Opas ihre Neugeborenen in eine Kamera halten, suggerieren: Macht euch keinen Kopf, Männer.

Das ist nicht ganz falsch, aber ein arg geschöntes Bild der Realität, sagt der Soziologe und Demograph Christian Schmitt von der Uni Rostock: „Die Wahrscheinlichkeit, als Mann mit über 42, 43 Jahren erstmals Vater zu werden, liegt bei unter fünf Prozent.“ Wer jetzt kein Kind hat, bekommt wohl keines mehr. Denn zum einen lässt auch die männliche Fruchtbarkeit etwa ab dem 40. Lebensjahr nach, zum anderen ist die Kombination Sugar Daddy und junge, fruchtbare Frau nicht halb so verbreitet, wie man meinen könnte: Der durchschnittliche Altersabstand in Beziehungen, ob mit Trauschein oder ohne, liegt etwa bei drei Jahren. Ex-Fußballer und Wirtschaftskapitäne, die ihre ergraute Ehefrau gegen ein gebärfreudiges Modell eintauschen, sind eine winzige Minderheit.

Auch bei Männern läuft also der Baby-Countdown, es ist ihnen nur weniger bewusst – auch, weil das Umfeld mit ihnen meist gnädiger umgeht als mit kinderlosen Frauen. „Der Wunsch nach Selbstbestimmung wird bei ihnen viel höher gewertet“, sagt die Berliner Autorin und Filmemacherin Sarah Diehl, die selbst keine Kinder hat und auch keine möchte. „Wenn Männer keine Familie gründen, gelten sie in erster Linie als coole, einsame Wölfe mit Mut zur Lücke, nicht als gescheiterte Existenzen.“ Vielleicht müssen sie sich mal einen Spruch anhören wie „Und meine Kinder sollen später deine Rente finanzieren?“ – mehr aber auch nicht. Für ihr Buch über freiwillige Kinderlosigkeit („Die Uhr, die nicht tickt“, Arche Verlag) suchte Sarah Diehl zunächst sowohl weibliche als auch männliche Gesprächspartner, aber die hatten zu dem Thema wenig zu sagen. Nicht nur, weil sie sich weniger rechtfertigen müssen, auch, weil sie glauben: Wenn ich mit 70 den Baby-Blues bekomme, kann ich immer noch.

Wenn also rund ein Viertel aller deutschen Männer dauerhaft kinderlos bleibt – haben die dann schlicht den richtigen Zeitpunkt verpasst? Oder sind das diese Zeugungsstreiker, diese Beziehungs- und Entscheidungsvermeider, die lieber die Golfbag packen als die Wickeltasche? Die Wirklichkeit ist komplizierter: eine Gemengelage aus Job-Gegebenheiten, Geld und Gefühl. Soziologen und Demographen haben zwei Gruppen von Männern ausgemacht, in denen es besonders viele Nicht-Väter gibt: die Abgehängten und die Aufschieber. Die erste Gruppe besteht aus schlecht ausgebildeten Geringverdienern, die wenig Chancen haben auf dem „Partnerschaftsmarkt“, so der kaltherzige Begriff der Sozialwissenschaftler. Der Paketzusteller, der sich von Drei-Monats-Vertrag zu Drei-Monats-Vertrag hangelt, fällt eben eher durchs Raster. Weil die Mehrheit der Frauen heute zwar keinen Familienernährer mehr sucht, aber umgekehrt auch keine Lust hat, die Verantwortung als Hauptverdienerin für Vater, Mutter, Kinder zu wuppen. Die zweite Gruppe entspricht mehr dem Klischee, sagt Familienforscher Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB): karrierebewusst, individualistisch, großstädtisch, ultraflexibel. Mit allen Konsequenzen. Bujard: „Wer in der heißen Phase zwischen 30 und 40 weder partnerschaftlich noch beruflich abgesichert ist, für den ist der Zug irgendwann abgefahren. Sei es, weil der Job unsichere Perspektiven bietet oder häufige Ortswechsel erfordert, sei es, weil es so schwer fällt, sich festzulegen. Wer sich für ein Kind entscheidet, wählt damit in der Regel ja auch partnerschaftliche Treue. Oft fällt auch der Entschluss so spät, dass die Biologie einen Strich durch die Rechnung macht.“

Auf der Gefühlsseite spielt noch etwas anderes eine Rolle: In Sachen Baby-Sehnsucht ticken Männer und Frauen tatsächlich unterschiedlich. „Vereinfacht könnte man sagen: Frauen haben erst einen Kinderwunsch und suchen dann im entsprechenden Alter nach einem Partner, mit dem sie ihn verwirklichen können. Männer entwickeln oft erst einen konkreten Kinderwunsch, wenn sie eine Frau treffen, bei der sie merken: Die ist es, mit der könnte ich mir das vorstellen“, erklärt Claudia Zerle-Elsäßer, die als Soziologin am Deutschen Jugendinstitut zum Thema Familie forscht.

Kommt die Traumfrau und –mutter nicht zur rechten Zeit, kommt stattdessen ein Abschied auf Raten. Eigentlich eine gnädige Laune der Natur. Denn Gefühle wie Trauer, Zweifel und Reue lassen sich häppchenweise besser schlucken. Das brutale Aus durch die Menopause müssen Männer nicht verarbeiten. Angenehm? Ja – aber auch eine verpasste Chance, findet Björn Süfke, Männerberater und Autor (aktuell: „Männer! Erfindet! Euch! Neu!“, Mosaik): „Weil sie das Thema verdrängen und auf die lange Bank schieben, drücken sich kinderlose Männer häufig vor der inneren Auseinandersetzung, vor der Trauerarbeit.“ Das gilt auch für diejenigen, die nie sonderlich an Kindern interessiert waren, glaubt er: „Auch wenn der Schmerz von Mann zu Mann unterschiedlich groß ist: Jede Lebensmöglichkeit, die wir nicht verwirklichen, will betrauert werden.“ Und zwar nicht in kerniger Heldenmanier („Ich stelle mir ein Ultimatum bis 50, dann ist das Thema für mich durch!“), sondern als echte Auseinandersetzung mit Ängsten, Wünschen, Vorstellungen. Um damit abzuschließen und Raum für neues zu schaffen: Wenn ich das Projekt „Familie“ nicht verwirklicht habe – auf welche Weise möchte ich dann fruchtbar sein in meinem Leben? Alternativ-Projekte gibt es genügend: Landhaus renovieren, Buch schreiben, mit dem Kanu sämtliche masurischen Seen befahren. Eine Frage der Sinnstiftung, die übrigens irgendwann alle ereilt – Väter und Nicht-Väter, aber genau so Mütter und Nicht-Mütter. „Das Leben spielt sich immer zwischen den Gegensätzen Stagnation und Generativität ab“, sagt Süfke. „Ob nun jemand gar nicht erst Kinder bekommen hat oder ob einfach die Familienphase vorbei ist und die Kinder aus dem Haus, es stellt sich immer die Frage nach dem nächsten Projekt.“ Einem Projekt, das den Einzelnen ausfüllt, aber auch die Partnerschaft neu beleben kann. In dieser Lebensphase können sich Eltern manchmal sogar eine Scheibe von Kinderlosen abschneiden. Denn im besten Fall haben die schon ein paar Antworten auf Fragen, die sich Eltern erwachsener Kinder gerade erst stellen.

INTERVIEW:

„Die Passivität ist für Männer das Bitterste“

Das Herz sagt ja, die Partnerin sagt ja, der Körper sagt nein: Wie gehen Männer damit um, wenn sich ein Kinderwunsch aus medizinischen Gründen nicht erfüllt? Die Familientherapeutin Petra Thorn aus Mörfelden ist seit über 20 Jahren in der Kinderwunschberatung tätig und hat Bücher zum Thema geschrieben (www.pthorn.de). Sie sagt: Männer leiden nicht weniger als Frauen – sie drücken ihren Schmerz nur anders aus

 BRIGITTE: Manche Männer bleiben auch deshalb kinderlos, weil sie spät die passende Partnerin finden und mit zunehmendem Alter die Chancen auf eine Schwangerschaft sinken. Während die Gefühlslage ungewollt kinderloser Frauen aber gut erforscht ist, hat sich die Wissenschaft erst in den letzten Jahren für die beteiligten Männer interessiert. Warum?

Petra Thorn: Zum einen sind Frauen rein körperlich näher dran an den Themen Schwangerschaft und Geburt. Zum anderen dachte man lange Zeit, dass Männer weniger an einem unerfüllten Kinderwunsch leiden. Jüngste Forschungen zeigen aber, dass das nicht stimmt. Sie nehmen sich nur emotional zurück, um sich und ihre Partnerin zu schützen. Und sie haben andere, weniger offensichtliche Bewältigungsstrategien.

Zum Beispiel?

Die Autorinnen einer Studie erwähnen den Fall eines Paares, bei dem die Frau sich nach einer Fehlgeburt traurig in ihr Schlafzimmer zurückzieht, während der Mann anfängt, lautstark die Küche zu renovieren. Die Frau empfindet das als unsensibel, dabei ist es einfach nur ein Weg des Mannes, die Kontrolle über eine Situation zurückzugewinnen, in der er zu Passivität verdammt ist. Denn diese Hilflosigkeit quält Männer besonders. Solche Geschichten kenne ich auch aus meiner Beratungspraxis. Diese Art von Bewältigung ist völlig okay, so lange sie hilft und die Partnerin den Aktionismus nachvollziehen kann.

Während Frauen eher Redebedürfnis haben?

Ja, und damit können Männer häufig schlecht umgehen, weil die Gespräche sich ja oft im Kreis drehen. Ich schlage Paaren deshalb Kinderwunsch-Sprechzeiten vor: eine halbe Stunde, Stunde ist das Thema dran, danach wird das Gespräch beendet.

Gibt es Männer, die mehr unter Kinderlosigkeit leiden als andere?

Der Kulturkreis spielt eine große Rolle, das bestätigen auch aktuelle Studien. So haben Männer in traditionellen Gesellschaften wie Südafrika deutlich mehr daran zu knabbern, wenn sie nicht Vater werden, als in emanzipierten Gesellschaften wie Dänemark. Auch in Beratungsgesprächen bei Paaren mit türkischem Migrationshintergrund merke ich oft, dass dort das Thema stark tabuisiert wird, dass Männer sich sehr schämen und kaum darüber sprechen können.

Macht es einen Unterschied, ob die biologische Ursache beim Mann oder bei der Frau liegt?

Ja. Wenn ein Mann die Diagnose bekommt, dass er nicht zeugungsfähig ist, ist das ein Angriff auf sein eigenes Selbstverständnis. Die meisten holen sich in dem Fall eine zweite Meinung ein, weil sie es nicht glauben können. Denn ihre Sexualität funktioniert ja.

Eine Kinderwunschbehandlung kann die Beziehung sehr belasten. Wie verhindert man, dass die Lieber darunter leidet?

Ich rate: Auf Sicht fahren, immer wieder gemeinsam Grenzen definieren. Wie viele in-vitro-Versuche wollen wir machen? Denken wir über Alternativen wie Adoption nach? Gibt es einen Plan B? Schön ist, wenn Paare mit unerfülltem Kinderwunsch es schaffen, die schmerzliche Lücke anders zu füllen – in dem sie sich gemeinsam ein anderes Lebensprojekt suchen oder auch für andere engagieren. Und die Zeit ist auf ihrer Seite: Aus der Sozialforschung ist bekannt, dass Kinderlose langfristig nicht weniger zufrieden mit ihrem Leben.

NO, BABY: SECHS MÄNNER SPRECHEN KLARTEXT

 

DER AUFSCHIEBER: Björn, 41, Journalist, Single

Ich habe keine Kinder, weil sich das Thema in den letzten Jahren nicht ergeben hat. Meine Beziehungen waren eher kurz und wechselhaft, vielleicht habe ich mich auch das ein oder andere Mal selbst sabotiert. Denn ich mag das spontane Leben, ich mag meine Freiberuflichkeit, ich mag Abenteuer und Unberechenbarkeit – und das alles verträgt sich schlecht mit einer Familie.

Ich fühle mich dabei etwas unruhig. Vor allem, wenn mir Freunde überzeugend erklären, Vaterwerden sei die größte und schönste Erfahrung, die sie je gemacht haben. Trotz aller Einschränkungen, trotz durchwachter Nächte und kindlicher Wutanfälle. Das stimmt mich nachdenklich. Auch der Tod meines Vaters hat mich ins Grübeln gebracht: Obwohl unser Verhältnis zu Lebzeiten nicht immer einfach war, stand die Familie zusammen, als er starb. Wie wird das bei mir sein, wenn ich keine Kinder bekomme? Gleichzeitig merke ich, dass das Liebes- und Beziehungsleben nicht einfacher wird. Man wird eigener, lässt sich auch nicht mehr so leicht auf einen anderen Menschen ein wie früher. Aber ganz gezielt nach einer Frau mit Kinderwunsch suchen, vielleicht im Internet? Das fände ich entsetzlich unromantisch. Ehrlich, an diesem Punkt bin ich froh, dass ich ein Mann bin und deshalb noch ein bisschen mehr Zeit habe für eine endgültige Entscheidung. Ein Freund von mir ist gerade mit 46 zum ersten Mal begeisterter Papa geworden. Schlaflose Nächte bereitet das Thema mir also nicht – noch nicht.

Status: Vielleicht lieber morgen

DER PRAGMATIKER: Jens, 38, Krankenpfleger, in fester Partnerschaft

Ich habe keine Kinder, weil ich mir Sorgen machen würde um meine Partnerin. Denn in ihrer Familie gibt es eine schwere, genetisch bedingte psychische Erkrankung, und es besteht die Gefahr, dass diese bei einer Schwangerschaft ausbrechen könnte. Dazu kommt, dass sie die letzten Jahre sehr beschäftigt war mit dem Aufbau ihres kleinen Unternehmens. Und meine Arbeit im Schichtbetrieb eines Krankenhauses ist ebenfalls nicht familienfreundlich.

Ich fühle mich dabei die meiste Zeit wohl. Denn es war unsere gemeinsame Entscheidung, und jetzt, da meine Freundin 40 geworden ist, ist das Thema definitiv abgeschlossen. Nur selten habe ich einen melancholischen Moment. Dann schaue ich sie an und denke: Was wäre das wohl für ein Kind gewesen, das wir miteinander gehabt hätten? Ein Leben, wie wir es führen, hat aber auch viele Vorteile: Wir können reisen, unseren Hobbys nachgehen, intensiv Zeit miteinander verbringen. Und auch Phasen von Ruhe und Rückzug sind mir wichtig. Unser Leben ist ja nicht komplett kinderlos, es gibt Nichten, Neffen, den Nachwuchs von Freunden. Manchmal habe ich den Eindruck, für manche Menschen sind Kinder eher ein Programmpunkt im perfekten Lebenslauf, als dass sie ihnen wirklich gerecht werden. Wenn ich das sehe, tut mir das immer sehr Leid.

Status: kein unnötiges Risiko

DER TRAUERARBEITER: Theodor, 52, Agenturchef, verheiratet

Ich habe keine Kinder, weil meine Frau und ich nach mehreren Jahren Kinderwunschbehandlung beschlossen haben, es nicht weiter zu versuchen.

Ich fühle mich dabei manchmal immer noch traurig. Denn ich komme aus einer griechischen Großfamilie, und die Vorstellung von Kindern hat für mich immer ganz selbstverständlich zum Leben gehört. Für meine Frau auch, da waren wir uns sofort einig, als wir uns vor zwölf Jahren kennen und lieben lernten. Als feststand, dass sie auf natürlichem Wege nicht schwanger werden würde, kam das für uns völlig überraschend. Die Kinderwunschbehandlung hat uns beide sehr mitgenommen, auf unterschiedliche Weise. Die Eingriffe sind körperlich belastend, und für mich als Mann war es schwer, ihr das nicht abnehmen zu können. Was mich zusätzlich schockiert hat, war der oft kaltschnäuzige Ton der Fortpflanzungsmediziner. Das war keine Unterstützung. Meine eigene Trauer habe ich häufig mit mir allein abgemacht – typisch Mann. Schließlich haben wir gemeinsam dieses Kapitel abgeschlossen. Und sind als Paar gestärkt daraus hervorgegangen. Manchmal, wenn im Gespräch mit anderen die Frage nach Kindern auftaucht, merke ich, wie uns Leute verstohlen taxieren: An wem liegt’s? Ist er zu alt? Sie die solche egoistischen Konsumtrottel? Aber da stehen wir darüber. Wir genießen unser Leben heute wieder, weil wir frei und unabhängig sind und trotzdem Wege gefunden haben, wie unsere väterliche und mütterliche Seite nicht zu kurz kommt. In den letzten Jahren haben wir einen afghanischen Jungen intensiv begleitet, als Paten. Auch so kann man viel weitergeben

Status: Abschied auf Raten

DER FREIHEITSLIEBENDE: Christian, 54, Tourismusexperte, frisch verliebt

Ich habe keine Kinder, weil das nie zu meinem Lebensentwurf gepasst hat. Ich arbeite in der Tourismusbranche, auch, weil ich immer so unterwegs sein wollte: mit leichtem Gepäck, viel auf Reisen, immer wieder Neustarts. Das hält mich jung und lebendig.

Ich fühle mich dabei wohl. Denn ich habe mich nie wirklich als Vater gesehen. Als ich ganz jung war, hatte das eher ideologische Gründe: Das war die Zeit der Aufrüstungsdebatte in der frühen Achtzigern, und in diese Welt wollte ich kein Kind setzen. Später gab es durchaus romantische Momente, in denen ich dachte: Wow, das ist die Frau, mit der du mal eine Familie haben willst. Zum Beispiel in einer lauschigen Nacht auf einem Segelboot in Mexiko, vor 25 Jahren. Aber das hat nie zu Konsequenzen geführt. Später sind zwei Beziehungen daran gescheitert, dass Frauen sich ein Kind wünschten und ich mich nicht festlegen wollte, zumindest zu dem Zeitpunkt. Seit einiger Zeit bin ich glücklich mit einer Frau, die bereits einen erwachsenen Sohn hat und so alt ist wie ich, damit ist das Thema für mich auch endgültig durch. Wobei wir manchmal Gedankenspiele spielen: Was wäre gewesen, wenn wir uns vor 20 Jahren kennen gelernt hätten? Hätte ich für sie mein umtriebiges Leben aufgegeben? Denn eins bedauere ich schon: Es gibt Erlebnisse, die ich niemals haben werde. Zum Beispiel, dass ich nie mit meinen eigenen Kindern reisen und ihnen die schönsten Ecken der Welt zeigen kann.

Status: Immer unterwegs

 

DER ENTSPANNTE: Henning, 50, Jurist, verheiratet

Ich habe keine Kinder, weil es einfach nicht passiert ist – vielleicht auch, weil wir nicht mehr die jüngsten waren, als wir uns verliebten. In den ersten Jahren unserer Beziehung haben wir noch verhütet und erst nach unserer Hochzeit damit aufgehört, da war ich 40 und sie 37. Als meine Frau nicht schwanger wurde, haben wir uns aber nicht untersuchen lassen. Denn wir waren uns immer einig: Ein Kind ist herzlich willkommen, aber wenn keines kommt, ist unser Leben auch reich genug.

Ich fühle mich dabei mit mir im Reinen. Denn genau so hat es für uns gestimmt: Dem Schicksal weder auf die Sprünge helfen noch es aktiv vermeiden. Wenn es die Chance gar nicht gegeben hätte, dann würde ich heute vielleicht eher grübeln, ob wir etwas verpasst haben. Der Kinderwunsch stand bei uns aber nie an oberster Stelle, wir hatten immer auch andere Prioritäten. Unsere Berufe, die wir beide als sehr erfüllend und befriedigend empfinden, unsere Partnerschaft selbst. Da wir beide Geschwister mit Kindern haben, gab es auch keinen Druck seitens unserer eigenen Eltern. Enkel hatten sie ja bereits. Wenn meine Frau gegen jede Wahrscheinlichkeit jetzt noch schwanger werden würde, mit 47, dann würde mir das eher Angst machen. Schon allein wegen des medizinischen Risikos für Mutter und Kind. Ob wir befürchten, im Alter allein zu sein? Nicht wirklich. Die Gesellschaft hat sich ja stark verändert, Menschen bleiben länger fit und im Kopf flexibler, Netzwerke werden wichtiger, nicht nur familiäre. Vielleicht ziehen wir ja irgendwann in ein Mehrgenerationenhaus. Ich finde es nämlich sehr schön, Kinder um mich herum zu haben.

Status: Hat nicht sollen sein

DER BONUS-PAPA: Heinz-Willi, 45, Schlosser, verheiratet

Ich habe keine Kinder, weil die Frau, die ich liebe, bereits einen großen Sohn hatte, als wir uns vor 15 Jahren kennen lernten – sie ist sieben Jahre älter als ich und jung Mutter geworden. Wir hätten uns schon noch eigenen Nachwuchs gewünscht, aber da es bei der ersten Geburt große Komplikationen gegeben hatte, rieten die Ärzte ab.

Ich fühle mich dabei zufrieden. Denn es ist zwar traurig, dass unser gemeinsamer Wunsch nach einem Baby sich nicht erfüllt hat, aber trotzdem bin ich ja Vater, auf meine Weise. Das war nicht immer so. Als meine Frau und ich uns kennen lernten, war ihr Sohn in der Pubertät, hat viel Mist gebaut, war auf mich nicht gut zu sprechen. Er lebte auch nicht bei uns, sondern bei seinem Vater. Erst als er schon erwachsen war sind er und ich uns näher gekommen, über die Arbeit. Denn wir sind beide Handwerker, er Zimmermann, ich Schlosser. Nachdem wir gemeinsam zwei Wohnungen renoviert hatten, haben wir gelernt, uns zu schätzen, und gemerkt, dass wir ein gutes Team sein können. Zur gleichen Zeit ist seine Beziehung zu seinem leiblichen Vater ziemlich eingeschlafen. Heute sind wir uns so vertraut, dass es sich für uns beide anfühlt, als wären wir Vater und Sohn. Und die Geschichte geht ja weiter: Er ist mittlerweile Anfang 30 und hat selbst zwei Kinder, für die sind meine Frau und ich einfach die Großeltern. Wenn meine sechsjährige Enkelin zu Besuch kommt, auf mich zu rennt und „Opi, Opi!“ ruft, dann wird mir warm ums Herz – wenn sie mich anstrahlt, vergesse ich alles, was in unserem Familienleben auch schwer war.

Status: Vom Bonus-Papa zum Bonus-Opa