Vor 120 Jahren entstand die Ahrenshooper Künstlerkolonie, zwischendrin fiel die Schöne auf dem Fischland vorübergehend in einen Dornröschenschlaf. Bis eine Reihe von Menschen mit Leidenschaft für Kunst und Kultur sie wieder wachküsste. 2014 war ich dort und habe für MERIAN diesen Text geschrieben
Manchmal liegt das Paradies ganz nah. Manchmal muss man nur einen Hügel überqueren, um an den Ort zu kommen, an dem alles stimmt: die Farben, das Licht, die Inspiration. Manchmal muss man aufbrechen, um Heimat zu finden.
So etwa muss er gedacht haben, der Berliner Künstler Paul Müller-Kaempff, als er im Jahr 1889 mit einem Malerfreund von seinem Urlaubsort Wustrow zu einem Spaziergang am Ostsee-Hochufer aufbrach und ein paar Kilometer weiter nördlich, hinter einer Anhöhe, auf ein verwunschenes Fischerdorf stieß. Die See auf der einen, der Bodden, das salzärmere Binnengewässer, auf der anderen Seite der schmalen Halbinsel, wie zwei riesige Spiegel, die das Licht reflektierten. Dünen und bunte, schilfgedeckte Katen, knorrige, vom ständigen Wind geformte Bäume, großäugige Kühe, Fischer, die am Strand ihre Netze flickten – ein Ort wie geschaffen für den Kunst-Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts. Denn der hieß: Raus aus den Städten, rein in die Natur, mit Hilfe von Leinwand, Palette und Klappstaffelei das Licht einfangen. So wie es die französischen Kollegen im Dorf Barbizon vorgemacht hatten.
Ahrenshoop, das war die norddeutsche Antwort auf Barbizon. Zwar hatten schon Künstler vor Müller-Kaempff die besondere Stimmung des Ortes auf Gemälde gebannt. Aber er war es, der kam, sah und blieb. Geistes- und Geschäftsmann zugleich, gründete er die „Malschule St. Lucas“ („Vollpension und Malunterricht 100 Mark monatlich“), eröffnete die erste Pension, machte den Ort zum Anziehungspunkt sowohl für seine Künstlerfreunde als auch für Höhere Töchter mit kreativen Ambitionen. Und schuf damit eine Verbindung, die bis heute prägend ist für den schmucken Ort an der Grenze zwischen Fischland und dem Darß: Kunst und Tourismus. Ausstellungen und Auktionen locken ein gebildetes und gut betuchtes Publikum. Tendenz: Lieber Gucci als Gummistiefel, lieber „Trilogie vom Seefisch“ als Heringsbrötchen. Kenner kommen im Mai oder im milden Oktober, nicht im August, wenn sich Tagesgäste in solchen Massen über die Dorfstraße ergießen, als wär’s eine Mai-Parade in Ostberlin 1970.
Ziemlich genau dort, wo Müller-Kaempff vor mehr als einem Jahrhundert über den Hügel kam, entstand 2013 ein Bau, der an die Gründer erinnert, und alle, die nach ihnen kamen: Das Kunstmuseum Ahrenshoop, entworfen vom renommierten Berliner Architektenbüro Staab. Wie bei einem traditionellen Gehöft stehen hier fünf einzelne Häuser dicht zusammen, verbunden unter einem Flachdach, verkleidet mit Baubronze. Ein Material, das im Lauf der Jahre seinen Hochglanz verliert und nachdunkelt wie die Rohrdächer der Fischerkaten. Eine Mischung aus Bauhaus-Schlichtheit und Tradition, ein Kunst-Tempel, aber kein Denkmal der Vergangenheit, sagt die junge Museumschefin Katrin Arrieta: „Ahrenshoop hat immer einen lebendigen Bezug gehabt zu den Kunstströmungen Europas, von der Gründungszeit der Kolonie bis heute.“ In wechselnden Ausstellungen macht die Rostocker Kunsthistorikerin diese Verknüpfungen sichtbar: mal klassische Seestücke, kombiniert mit sperrigen Video-Installationen, mal ein sattfarbiges Strandbild der Expressionistin Marianne Werefkin im gleichen Saal wie die düsteren Meeres-Ansichten von Michael Morgner, einem Chemnitzer Künstler aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung.
Überhaupt, die DDR. War nach dem ersten Weltkrieg der Ruhm der frühen Jahre etwas verblasst, besann sich 1946 Johannes R. Becher, der erste Kulturstaatsminister der jungen Republik, auf den inspirierenden Platz am Meer. Er machte die frühere Malschule des Künstlerkolonie-Mitbegründers Friedrich Wachenhusen zu seinem Sommerhaus und erklärte Ahrenshoop zum „Bad der Kulturschaffenden.“ Das ließen die sich nicht zwei Mal sagen: Alle waren sie hier, von der ostdeutschen Malerei-Ikone Willi Sitte bis zu Uwe Johnson, der seine mecklenburgische Heimat in sperrig-modernen Romanen feierte. Eine Ferienkolonie für Linientreue war das Dorf trotzdem nicht, glaubt der Mittsechziger Hans Götze, seit 1994 ehrenamtlicher Bürgermeister des Ortes: „Hier war einiges möglich, das woanders nicht ging. Abstrakte Kunst, Avantgarde.“ Vielleicht auch, weil das Dorf noch lange Zeit gefühlte Lichtjahre entfernt lag von allem. Die Straße wurde erst Mitte der 50er Jahre geteert, vorher war hinter dem Nachbarort Wustrow die Welt zu Ende.
Auch Götze, gebürtiger Sachse, kam erst einmal nicht weiter als Wustrow: Als junger Mann machte er eine Ausbildung zum Funkoffizier an der dortigen Seefahrtsschule. Allerdings stand nicht nur Navigation auf dem Stundenplan, sondern auch Malen und Zeichnen. Als Freizeitbeschäftigung, damit die jungen Kerle in den langen Tagen auf See etwas Sinnvolles mit sich anzufangen wussten. Bei Götze wurde mehr aus dem Flirt mit Farbe und Pinsel: Der drahtige Bartträger nimmt heute mit seinen Zeichnungen und Aquarellen an Ausstellungen teil und gibt Ferienkurse für Hobby-Maler. An Ahrenshoop sattsehen kann er sich noch immer nicht: „Es gibt so viele interessante Ecken hier, verschachtelte alte Katen, die Schichtungen von Himmel, Meer und Land – man muss nur die Augen offen halten.“ Klar, dass einer wie er auch als Bürgermeister die Kunst fördert, wo er kann. Nur wenn er selbst mit der Klappstaffelei unterwegs ist, wird Lokalpolitik zur Nebensache: „So lange ich male, kann neben mir das Dorf abbrennen, ohne dass ich etwas davon merke.“
Es sind Menschen wie Hans Götze, die mit ihrem Engagement nach der Wende dafür gesorgt haben, dass Ahrenshoop nicht zu einem angestaubten Freilichtmuseum verkam. Sondern zu einem Gesamtkunstwerk wurde, wo manchmal nur ein paar Schritte das Solide vom Surrealen trennen, das Avantgardistische vom rein Dekorativen. Hier die Verkaufsgalerie mit den zweitklassigen Stilleben, dort der verwunschene Skulpturengarten des „Neuen Kunsthauses“, wo wie von Zauberhand weißes Garn die Baumstämme umwebt und mannshohe Mikadostäbchen sich im Gras aneinander lehnen; auf der einen Straßenseite schnelle Strandaquarelle, auf der anderen der traditionsreiche „Kunstkaten“, erbaut 1909 auf Initiative von Paul Müller-Kaempff, in dem zwischen kühlen, grauen Stellwänden zeitgenössische Künstler präsentiert werden. Man kennt sich am Ort, man spricht Ausstellungsthemen ab, man schätzt sich. In Ahrenshoop entstehen Künstlerfreundschaften, gemeinsame Projekte, Ideen.
Und dann ist da, last but not least, auch noch die Liebe. Die hat Renate Löber von Berlin an die Ostseeküste gebracht. Ohne sie und ihren Mann Friedemann gäbe es wohl einen der schönsten Kunst-Treffpunkte nicht, das „Dornenhaus“. Ein Magnet, der alle gleichermaßen anzieht: Sammler wie Kunstbanausen, manchmal auch Kulturprominenz wie die Schauspieler Jan Josef Liefers und Henry Hübchen.
Zehn Jahre nach der Wende war es, als die Löbers gemeinsam die uralte Kate auf der Boddenseite kauften und damit vor dem Verfall bewahrten. Die beiden waren damals schon nicht mehr ganz jung, er verwitwet, sie geschieden, und wagten einen gemeinsamen Neuanfang in diesem Haus mit seiner beeindruckenden Geschichte: Ab dem 17. Jahrhundert Bauern-, Seefahrer und Zollhaus, zu DDR-Zeiten Feriendomizil für illustre Gäste wie Bert Brecht und Helene Weigel. Friedemann Löber, Sohn einer Künstler- und Keramikerfamilie, stellt in seinem Atelier im Gartenhaus die traditionsreiche Fischlandkeramik her. Teller, Tassen, Vasen mit ländlichen Motiven wie Fische, Vögelchen, Stechmücken, in aufwändiger Ritz-Mal-Technik gestaltet. Renate, eine charismatische Person mit grauer Lockenmähne und blitzenden Augen, ist die Seele des Hauses: Sie organisiert nicht nur wechselnde Ausstellungen von Künstlern mit Bezug zum Ort, sie bäckt auch selbst große Bleche mit Butterkuchen, Streuselkuchen und Schoko-Kirsch für die Vernissagen.
„Wir sind ein offenes Haus“, sagt sie, und sie meint das ernst. Im Sommer zieht der Skulpturengarten mit den Holzbänken Spaziergänger an, im Winter dürfen Gäste auch mal auf einer alten Kirchenbank in der Wohnküche Platz nehmen, zwischen Wänden voller Kunst und alter Kuchenformen. Dann erzählt Renate aus der langen, Löber’sche Familiensaga. Eine Geschichte wie von Thomas Mann erdacht, voller Leidenschaft und Betrug, Kunstsinn und Überlebenskampf. Mit bemerkenswerten Figuren wie Friedemanns Mutter Frida, die ihr Leben gern noch mehr der Kunst gewidmet hätte, wären da nicht die vier Söhne und die vier Töchter gewesen. „Die schönsten Porträts hat Frida Löber von ihren schlafenden Kindern gemacht“, sagt Renate Löber, „denn erst wenn die abends im Bett waren, hatte sie Zeit zum Malen.“
Ahrenshoop ist eben nicht nur ein Ort der Bilder, sondern auch ein Ort der Geschichten. Im heutigen „Künstlerhaus Lukas“, der ehemaligen Müller-Kaempff’schen Malschule, geben sich im Vier-Wochen-Takt Schriftsteller und Künstler, Komponisten und Choreographen aus Deutschland, Skandinavien und dem gesamten Ostseeraum die Klinke in die Hand. Hier, in dieser verwinkelten Villa mit den Holzdielen, den schönen alten Türbeschlägen und den Appartements von klösterlicher Schlichtheit, schlägt das kreative Herz der Ahrenshooper Gegenwart.
Die simple Beschwörung der Schönheit, um die geht es hier jedoch nur selten. 120 Jahre nach Gründung der Künstlerkolonie wird das Idyll lieber lustvoll gegen den Strich gebürstet. Etwa in den Montagen des Berliner Fotokünstlers Martin Tervoort, wo sich die Boddenlandschaft im Lack eines Autos spiegelt und der frühere Busfahrer des Ortes mit leeren Augen in die Kamera blickt. „Mich interessiert das Gebrochene, das Störende in der Schönheit“, erzählt Tervoort. Gemeinsam mit anderen Stipendiaten bereitet er gerade eine Ausstellung vor, der Titel bezieht sich auf Übervater Müller-Kaempff: „Wir sind Paul – oder das unperfekte Paradies.“
Doch selbst die Generation iPad tut sich mitunter nicht leicht mit der Kritik am Idyll. Und wird ganz weich angesichts von Himmel, Meer und Dünen. Die preisgekrönte Schriftstellerin und Lukas-Stipendiatin Judith Zander, Jahrgang 1980, bezeichnet Ahrenshoop als „pommer’sches Arkadien“, als „Anderland“, und wenn darin Ironie mitschwingt, dann kaum hörbar. „Was würde hier wohl ein Häuschen kosten?“, fragt sie sich bei einer Lesung, und verwirft den Gedanken gleich wieder: „Seine große Liebe heiratet man nicht.“ Genau so wenig, wie man das Paradies jemals ganz erreichen kann. Aber es gibt diese Orte und diese Momente, da ist es verdammt nah.