Die Blauen Reiterinnen

Geliebt und gefördert, aber auch unterschätzt und ausgenutzt: Die Künstlerinnen des „Blauen Reiters“ standen lange Zeit im Schatten der männlichen Stars Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Franz Marc. Zu Unrecht (veröffentlicht in Merian Bayern, Sommer 2016, aber immer noch schön…)                                       

Alles hätte so schön sein können. Der Himmel über dem Murnauer Moos leuchtete blau, als hätte der Sommer zum Abschied noch einmal einen vollen Farbtopf auf einer riesigen Leinwand ausgekippt. Die Sonne verzierte den Staffelsee mit Lichttupfen, die Frühherbstkühle erfrischte die Körper und machte die Gedanken leicht. Oktober 1911 war es, als sich die Künstlerclique um Wassily Kandinsky, Franz Marc und August Macke im Murnauer Sommerhaus zur Redaktionssitzung für ihren neuen Almanach „Der Blaue Reiter“ traf. „Es waren unvergessliche Stunden, als jeder der Männer sein Manuskript ausarbeitete, feilte, änderte, und wir Frauen es dann getreulich abschrieben“, so schwärmt August Mackes Frau Elisabeth in ihren Lebenserinnerungen. Aber dann geschah etwas, das Elisabeth die Stimmung verhagelte. Gründlich. „Wir fanden es nicht sehr geschmackvoll, dass Marc und Kandinsky jeder mit seiner Amazone auf dem Plan erschienen, während von August keine vollwertige Reproduktion eines Bildes gebracht werden sollte“, notierte sie pikiert.

Die „Amazonen“, das waren Franz Marcs Frau Maria und Kandinskys Lebensgefährtin Gabriele Münter, der das Sommerhaus gehörte. Nicht, dass Frau Macke ein Problem mit kreativen Frauen gehabt hätte. Diese so genannten „Malweiber“ drängten ja schon seit Jahren in die Klassen privater Kunstschulen, weil die Kunstakademien keine weiblichen Studentinnen aufnahmen. Aber ihre Bilder an prominenter Stelle im Jahrbuch? Später kam’s dann doch anders: Macke rein, Maria Marc raus, Münter blieb. Als hätte man vorausgesehen, wie sich der Kunst-Kanon der klassischen Moderne entwickeln würde.

Mit ihrem biederen Frauenbild stand Künstlergattin Elisabeth selbstredend nicht alleine, sondern entsprach völlig dem Zeitgeist. Ob im niedersächsichen Worpswede, im mecklenburgischen Ahrenshoop oder im bayerischen Bermudadreieck zwischen Tegernsee, Murnau und Sindelsdorf: Überall, wo sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Künstler trafen, um in ländlicher Abgeschiedenheit das Spiel mit Licht und Farbe neu zu erfinden, spielten die Männer die erste Geige. Zwar waren die Herren der Schöpfung sich grundsätzlich einig, dass auch Frauen zu Innerlichkeit und kreativem Ausdruck befähigt wären – aber zu viel Selbstentfaltung wirkte auch auf einige Mitglieder des Blauen Reiters befremdlich. „Der Lebensberuf der Frau und Mutter ist so ungleich heilig und hoch, dass es geradezu lächerlich ist, wie die Emanzipierten noch dazu das Feld des Mannes haben wollen“, tönte August Macke. Bis heute sind Namen wie Kandinsky, Macke und Marc als Vertreter der klassischen Moderne weltberühmt, dagegen kennt man ihre Frauen oft weniger als Künstlerinnen denn als dekoratives Bildmotiv.

Immerhin: Das postkartenbekannte Porträt Marianne Werefkins, der exaltierten Förderin und Muse Alexej Jawlenskys, hat kein Mann gemalt. Sondern ihre Freundin Gabriele Münter. Münter, die wohl bekannteste weibliche Vertreterin des blauen Reiters, geboren 1877 in Berlin, gilt heute als Künstlerin von Weltrang, ist aber dennoch vor allem in Deutschland und Skandinavien ein Begriff. Ganz anders als ihr langjähriger Lebensgefährte Wassily Kandinsky, dessen abstrakte Farb-Explosionen weltweit bekannt sind. „Münter hat immer wieder neu experimentiert, mit Farben, Formen, Bildausschnitten. Ihre Stillleben, ihre Interieurs, die charakteristischen Porträts ihrer Künstlerfreunde, ihre Neuinterpretation volkstümlicher Hinterglasmalerei machen sie einzigartig und unverwechselbar – vor allem aber auch ihre Bereitschaft, sich ständig neu zu erfinden und den eigenen Stil in Frage zu stellen“,  urteilt Annegret Hoberg, die als Kuratorin am Münchner Lenbachhaus schon für die große Münter-Retrospektive von 1992 verantwortlich war und ihre Expertise für eine Münter-Schau im Jahr 2017 mit 60 bis 70 bislang ungezeigten Werken zur Verfügung stellte.

Ein Ausnahmetalent, das auch Wassily Kandinsky früh erkannte. In beinahe komischer Verzweiflung schrieb er seiner Malschülerin und späteren Geliebten: „Du bist hoffnungslos als Schüler – man kann dir nichts beibringen. Du hast alles von Natur. Was ich für dich tun kann ist dein Talent so zu hüten und zu pflegen, das nichts falsches dazukommt.“ Um so mehr ärgert es Isabelle Jansen, Kunsthistorikerin, Geschäftsführerin der Münter-Eichner-Stiftung und Kuratorin des Münter-Hauses, wenn Gabriele Münter bis heute zu sehr aufs Private reduziert wird: „In der Rezeption von Künstlerinnen spielt die eigene Biographie eine überdimensionale Rolle, und so gilt Münter vielfach völlig zu Unrecht als Anhängsel von Kandinsky. Bei männlichen Malern fragt niemand zuerst nach ihren Liebschaften und Familienverhältnissen!“

Interessant sind sie aber durchaus, diese neuen Liebes- und Beziehungsvarianten, die sich damals vor allem in der Bohème deutscher Großstädte herausbildeten, gerade in München-Schwabing. Ein früher Hauch von 1968, aber auch eine Andeutung von Emanzipation, die sich da neben dem bürgerlichen Mackertum eines August Macke Bahn brach. Man schätzte Frauen eben nicht nur als Kaffeekocherinnen und Schreibkräfte, sondern auch als Gesprächspartnerinnen und als Künstlerinnen, lud sie zu gemeinsamen Ausstellungen ein, und natürlich ergaben sich daraus auch Liebesbeziehungen. Dass die junge Malschülerin Gabriele und der elf Jahre alte, verheiratete Lehrer Wassily während eines Malkurses in Kochel am See im Sommer 1902 schließlich mehr tauschten als Bildkompositionstipps, lag auch daran, dass Gabriele für die damalige Zeit ausgesprochen freiheitliche Vorstellungen hatte: Auf Fotos dieser Zeit ist sie in lockerer „Reformkleidung“ zu sehen, und seit ihrer Jugend fuhr sie Fahrrad, was damals als höchst unschicklich für eine junge Dame galt. Kandinsky hatte auch eines, und so bekamen die Malausflüge in die Natur wohl bald eine erotische Note.

Dabei waren Gabrieles Vorstellungen auch durchaus geprägt von einem traditionellen Rollenbild: „Meine Idee von Glück ist eine Häuslichkeit, so gemütlich und harmonisch, wie ich sie eben bereiten könnte“, schrieb sie nach dem Sommer 1902 sehnsüchtig an Kandinsky. Andere Künstlerinnen der Gruppe nahmen sich sogar noch mehr zurück, stellten eigene Ambitionen in den Schatten ihrer vermeintlich größeren Lebensaufgabe: Die russische Großbürgerstochter Marianne Werefkin sah sich lange Jahre fast ausschließlich als Muse ihres jüngeren Protegés und Geliebten Alexej Jawlensky, den sie mit Geld und Beziehungen unterstützte, und für den sie die Miete der herrschaftlichen Wohnung in der Münchner Giselastraße bezahlte. Sogar dann noch, als er das minderjährige Hausmädchen Helene schwängerte. „Ich bin Frau, bin bar jeder Schöpfung, ich kann alles verstehen und nichts schaffen“, so stapelte sie in ihrem Tagebuch tief. Erst im Alter etwa 50 Jahren entstand ihr künstlerisches Hauptwerk, das allerdings nach Expertenmeinung nicht an die Begabung und Innovationsbereitschaft Gabriele Münters heranreicht. Und Maria Marc? Ähnlich wie Gabriele Münter hatte sie einen Mann an ihrer Seite, der sie künstlerisch förderte, aber ihr dafür einiges zumutete. Den Sommer 1906 verbrachten die beiden in Kochel, in Begleitung von Franz Marcs Kunstlehrerin Marie Schnür, die sich dort auch nicht nur aus künstlerischen Gründen auszog. Als „Thränenhügel“ bezeichnete Maria Marc später einen Berghang bei Kochel, auf dem sich manche unschönen Szenen des amourösen Dreiergespanns abgespielt haben müssen. Erst spät fand Maria Marc ihre ganz persönliche künstlerische Ausdrucksform in Form von Webteppichen mit abstrakten Mustern. 1952, bei ihrer ersten und einzigen Solo-Ausstellung in einer Münchner Galerie, war sie 76 Jahre alt.

So unterschiedlich die Stile der Künstler und Künstlerinnen, so sehr zieht sich ein immer wiederkehrendes Motiv durch ihre Bilder: die oberbayerische Landschaft. Sindelsdorf, Lenggries, Kochel, Ried, so hießen die Sehnsuchts- und zeitweiligen Lebensorte der Gruppe – und immer wieder Murnau. Ohne die Atmosphäre und Lichtstimmung der Voralpenlandschaft wäre die Kunst des Blauen Reiters kaum denkbar, erklärt Lenbachhaus-Kuratorin Annegret Hoberg: „Die häufig changierende Beleuchtung, die klaren, starken Farben, die Föhnstimmung, in der die Konturen noch deutlicher hervortreten, das findet man nirgends so wie dort.“ „Das Blaue Land“, so taufte Franz Marc die Voralpenlandschaft, und auch die sonst eher nüchterne Gabriele Münter kam ins Schwärmen: „Weiße dünne Windwolken, die Berge im Schatten so dunkelblau!“ Die Künstler fanden dort auch das Volkstümliche, das Einfache, den Stoff, nachdem die Expressionisten so sehr gierten. Besonders Gabriele Münter interessierte sich für die traditionelle Glasmalerei und fand in Murnau Meister, die sie in das alte Kunsthandwerk einführen konnten.

Den Sommer 1908 hatten Münter und Kandinsky gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky dort verbracht, eine Phase explosiver Kreativität. Im August 1909 erwarb Gabriele Münter auf Kandinskys Drängen hin zum Preis von 12.500 Reichsmark das Haus in der Kottmüllerallee, damals das einzige Gebäude außerhalb der Bahnlinie. Endlich ein Ort, um ihre Liebe mit Kandinsky zu leben und Zeit mit den Künstlerfreunden zu verbringen. Die Einheimischen tauften es auf den Spitznamen „Russenhaus“, was keineswegs liebevoll gemeint war: Diese kreative Clique mit ihren wilden Verhältnissen, teilweise auch noch begleitet von unehelichen Kindern, wurde misstrauisch beäugt.

Dem Glück tat das keinen Abbruch. Liest man Briefe und Tagebucheintragungen und sieht man sich Fotos aus den Murnauer Schaffensperioden an, hat man den Eindruck: Hier stehen ein paar frühe Vertreter der „Generation Landlust.“ Detailliert beschreibt Gabriele Münter, in welche Reihen Pflücksalat am besten gedeiht, und auf den Bildern sieht man Kandinsky in Lederhose im eigenen Beet. Murnau erdete die verkopften Künstler, der Föhn pustete ihre Gedanken frei, und die unmittelbare Nähe zur Natur ermöglichte es ihnen gleichzeitig, den Schritt zu machen von kunstvoller Wiedergabe zu einer ganz persönlichen Handschrift: „Durch die malerische Auseinandersetzung mit dieser Landschaft fanden die Mitglieder der Gruppe ihre jeweils eigene, reduzierte und zugleich ausdrucksstarke Bildsprache “, erklärt Kunsthistorikerin Isabelle Jansen. „Bei Kandinsky führte der Weg schließlich in die Abstraktion.“ Ein Weg voller spannender Zwischenstationen: So zeigt etwa Kandinskys Bild „Improvisation Klamm“ von 1914 auf den ersten Blick eine dynamische Farben- und Formenkomposition, nur wer genau hinsieht, entdeckt das winzige Paar in alpenländischem Outfit in seinem Zentrum.

Heute hängt dieses Bild im Münchner Lenbachhaus. Dass dieses Museum über eine derart beeindruckende Sammlung von Kunstwerken des Blauen Reiters verfügt, ja, dass überhaupt so eine große Zahl dieser Bilder die Nazizeit und ihre Jagd auf „entartete Kunst“ überstanden hat – das ist neben den eigenen Werken wohl der größte Verdienst der Blaue-Reiter-Frauen. Maria Marc versteckte Gemälde ihres im ersten Weltkrieg gefallenen Mannes jahrelang hinter einem Wandpaneel im Schlafzimmer des Hauses in Ried, Gabriele Münter hortete Kandinsky-Werke in einem trockenen Kellerraum. Zwar hatte ihr langjähriger Gefährte sie zwischenzeitlich verlassen und eine jüngere Frau in zweiter Ehe geheiratet. Aber ihrer künstlerischen Wertschätzung für ihn konnte diese Enttäuschung nichts anhaben.

Münter engagierte sich auch dafür, dass die Bilder des Blauen Reiters schon in den ersten Nachkriegsjahren wieder in München gezeigt wurden, und schenkte der Stadt 1957 über 90 Ölgemälde und zahlreiche Temperabilder, Aquarelle, Zeichnungen, Grafiken und Hinterglasbilder Kandinskys. Die Frauen des „Blauen Reiters“ hielten auch als Freundinnen lebenslang zusammen: vor allem Gabriele Münter und Maria Marc blieben stets in Kontakt, zu ihrem Kreis gehörte auch Elisabeth Macke, die sich als junge Frau noch über die Ambitionen der „Amazonen“ mokiert hatte. Vergeben und vergessen.

Im Alter von beinahe achtzig Jahren erhielt Gabriele Münter den Kunstpreis der Stadt München. „Es ist nun eingetreten, was Kandinsky mir schon früh prophezeit hatte, wenn ich als Frau immer zurückgesetzt und übersehen wurde, dass spät, aber sicher die allgemeine Anerkennung kommen würde“, sagte sie in ihrer Preisrede voller Genugtuung. 1962 starb sie in ihrem Schlafzimmer im „Russenhaus“. An einem Maimorgen, unter einem Himmel, der sich so mächtig ins Zeug legte, als wollte er einen strahlenden Sommer vorwegnehmen.

Von Menschen und Möwen

Der Hamster braucht ein weites Feld für sich allein, Seevögel hocken dicht an dicht mit ihrer Brut, Menschenfamilien halten es unterschiedlich mit dem Abstand. Schon während des ersten Lockdowns habe ich mich im Namen des ELTERN-Magazins gefragt: Woran liegt das eigentlich – und wie findet jeder seinen Wohlfühl-Platz? Aus aktuellem Anlass hier nochmal mein Text.

Als ich noch jünger, kinderloser und acht Kilo leichter war, führte ich eine innige Beziehung mit einem Sofa. Es war rot, plüschig, und stand mitten in einer Zwei-Zimmer-Maisonettewohnung. Der Kernbereich meines Reviers, zwei Etagen, 50 Quadratmeter. Alles meins. Seitdem hat rund um mich die Bevölkerungsdichte zugenommen – erst ein Mann, dann ein Kind, dann ein zweites -, während mein eigener Platz weniger wurde. Obwohl wir schon lang in einer deutlich größeren Wohnung wohnen. Eigenes Zimmer? Nicht für mich. Eigenes Sofa? Negativ. Das dient heute Helen (14) und Henri (11) als Wohnzimmer-Stammplatz. Außerdem ihren Chipstüten, Controllern und dreckigen Socken. Wie ich das finde, hängt von der Tagesform ab. Manchmal schaue ich sie dabei an wie eine verliebte Vogelmutter ihre Jungen im Nest. Manchmal fauche ich wie eine Raubkatze: Wozu habt ihr Betten, Sessel, Sitzsäcke! Chillt woanders!

Familien unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Burger oder Biopastinake, Multiplayer oder Mau-Mau, und auch in der Frage: Wie hältst du’s mit der Nähe? Unsere Freunde schwärmen vom Urlaub im VW-Bus, von Team-Spirit und großer Freiheit – ich bekomme schon bei dem Gedanken einen Lagerkoller, zu viert die Nacht in so einem rollenden Kasten zu verbringen. Anderes Extrem: eine Mutter im Bekanntenkreis braucht überall ihr eigenes Schlafzimmer, zu Hause wie im Urlaub. Trotzdem ist sie glücklich verheiratet, oder vielleicht deshalb. Wir befinden uns in der Mitte der Skala. Verbrachten jahrelang Nacht für Nacht im Kleinkindergewühl, machten aber auch eine Flasche Crémant auf, als endlich keins mehr bei uns schlafen wollte. Die Kinder wiederum haben unterschiedliche Vorlieben. Helen ist der kuschelige Typ, Team VW-Bus, Henri eher Team Einhandsegler. Zog sich schon als Kleinkind immer mal aus Gruppenspielen heraus, um sein Solo-Ding zu machen. Auf den ersten Corona-Lockdown  – Eltern im Home Office, Teenager in der Home School – haben wir allerdings alle vier ähnlich reagiert: mit verstärktem social distancing. An den Kinderzimmertüren hingen „Keep out“-Schilder. Sogar mein Sofa hatte ich manchmal wieder für mich.

Warum sind Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Alleinsein so unterschiedlich – unsere, aber auch die der anderen? Zum Teil ist es Veranlagung. Wir brauchen Bindung genau wie Autonomie, nur in unterschiedlichem Mischungsverhältnis. „Bindungstypen suchen Sicherheit durch Nähe“, sagt die Psychotherapeutin und Buchautorin Stefanie Stahl („Das Kind in dir muss Heimat finden“), „bei den Autonomietypen ist es genau umgekehrt. Die verlassen sich am liebsten auf sich selbst und haben eher Angst, sich im anderen zu verlieren.“ Darin erkenne ich mich wieder: Ich brauche meine eigene Ecke und mein eigenes Bankkonto, um mich wohlzufühlen. Dazu kommt, was uns geprägt hat. Ich wuchs als Einzelkind auf, mit großem Zimmer plus Balkon. Mich haben schon die Doppelstockbetten auf Klassenreisen gestresst. Eine Kollegin, die in einer fröhlichen Späthippiekommune groß geworden ist, liebt dagegen das Gewusel, hat vier Kinder bekommen und in den letzten dreizehn Jahren kaum ein paar Tage am Stück ohne sie verbracht. Ich weiß nicht genau, was auf ihrer Wunschliste ans Leben steht, aber: ein Zimmer für sich allein ist es nicht.

Es gibt auch noch eine zweite Möglichkeit, unsere Unterschiede zu ergründen: biologisch. Auch Tiere zeige ja ganz unterschiedliches Territorialverhalten. Norbert Sachser ist Professor für Verhaltensbiologie an der Uni Münster und Experte für diese Frage. Während er mir erklärt, wie einzelne Spezies ihr Gebiet und ihre Ressourcen aufteilen, möchte ich ständig dazwischenrufen: solche Leute kenne ich auch! Die treusorgenden Vogel-Eltern, die monogam leben und gemeinsam ihr Revier verteidigen, genau so wie den nerdigen Feldhamster, der Weibchen nur zur Paarung in seiner Nähe duldet und auf jeden losgeht, der in seinem Feld nach Nahrung wildert. Die Schimpansensippe, die gerne eng aufeinander hockt, aber regelrechte Kriege gegen andere Gruppen anzettelt. Die Silbermöwen, die gemeinsam ihr Nest beschützen, aber im weiten Umkreis Fische fangen, oder die Stare, die mit höflichem Abstand auf Stromleitungen hocken. Alles Typfrage? „Ob Säuger, Vögel oder Fische, in allen Klassen gibt es Beispiele für Kontakttiere und für Distanztiere“, fasst Sachser zusammen.

Allerdings ist auch das nicht in Stein gemeißelt. In den letzten Jahren hat sich unter Biologen die Erkenntnis durchgesetzt: Ähnlich wie Menschen werden Tiere individuell von Erfahrungen und Umwelt geprägt – von mütterlichen Hormonen während der Tragezeit bis zu den Lebensumständen in der Zeit des Heranwachsens. Am Beispiel von Meerschweinchen hat Sachser erforscht, wie Tiere mit höherer Dichte umgehen – eine Erfahrung, die auch Menschenfamilien in der Corona-Krise machen. Die überraschende Erkenntnis: Wer enger aufeinander hockt, wird nicht zwangsläufig aggressiv. Sondern jetzt schlägt die Stunde der Diplomaten. Wer Kontaktpflege und Sozialverhalten gelernt hat, gerät auch weniger unter Stress als machtbewusste Alphatypen, die unter anderen Lebensumständen die Nase vorn haben.

In der Familie bleibt nur eins: Immer wieder aufs Neue aushandeln, wie man Nähe schafft, aber auch Grenzen wahrt. Und respektieren, dass sich die Wohlfühldistanz von Erwachsenem und Erwachsenem und Kind zu Kind unterscheidet – genauso wie Schmerzempfindlichkeit, Essensvorlieben und Musikgeschmack. Außerdem ist Raum nicht nur eine Frage von Quadratmetern, sondern auch Kopfsache. Es muss ja nicht das eigene Sofa sein, ich kann mir auch mit einem Sessel ein Stück Privatsphäre sichern. Oder das Revier nicht räumlich, sondern zeitlich abstecken. Etwa: Das eigene Schlafzimmer ist erwachsene Zone – aber erst nach 21 Uhr. Und, a propos Zeit: Jedes Nest, das sich im Lauf der Jahre füllt, wird auch irgendwann wieder leerer. Sollte meine Tochter im gleichen Alter von zu Hause ausziehen wie ich damals, dann bleiben uns nur noch fünf Jahre unter einem Dach. Dann könnte ein Zimmer für mich wieder drin sein. Ich fürchte aber, es wird sich ziemlich leer anfühlen….

Schluss mit lustig?

Internationale Erhebungen kommen zu einem ähnlichen, irritierenden Ergebnis: Jüngere Menschen haben heute deutlich weniger Sex als vor einigen Jahrzehnten. Für das April-Heft (2021) der BRIGITTE WOMAN habe ich nachgefragt: Woran liegt das? Hier der etwas längere Ursprungstext, im Heft ist der leicht gekürzt.

Neulich, kurz vor meinem einundfünfzigsten Geburtstag, las ich ein paar Zahlen, die mich alt aussehen ließen. Es war weder mein BMI im Fünfjahresvergleich noch die zunehmende Länge der täglichen Joggingstrecken, die coronamüde Mitmenschen auf Social Media teilen. Sondern die aktuelle Statistik der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BzgA), die besagt: Für Jugendliche ist Sex deutlich weniger attraktiv als zu Dr. Sommers Glanzzeiten. Noch vor zehn Jahren hatte jedes fünfte Mädchen bis zum 15. Geburtstag bereits sein „erstes Mal“ hinter sich, 2019 nur jedes zehnte. Und auch die Älteren warten lieber ab. Top-Gründe: „Ich habe den Richtigen noch nicht gefunden“ und „Ich fühle mich zu jung.“ Noch erstaunlicher fand ich eine drei Jahre alte Erhebung der Uni Leipzig. Danach ist vor allem die Gruppe lendenlahm, von der man es am wenigsten erwarten würde: die 18- bis 30jährigen Singles. Fast jeder und jede Dritte von ihnen gibt an, in den zwölf Monaten vor der Befragung nicht einen einzigen intimen Kontakt gehabt zu haben – 2005 waren dies nur zehn Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen. Der Sex des 21. Jahrhunderts: gar kein Sex.

Das zeigt: Es braucht keine staatlichen Kontaktbeschränkungen, um bei Millenials und ihren älteren Geschwistern die unbeschwerte Neugier aufeinander zu drosseln. Die sind auch sonst anders drauf als meine eigene Alterskohorte in dieser Lebensphase war. Und ich weiß nicht, wie ich das finden soll: erwachsen und verantwortungsbewusst – oder vor allem bedauerlich? Auch wenn ich mir meine eigenen Zwanziger nicht zurückwünsche, mit all ihren Unsicherheiten, überzogenen Konten und ungeputzten WG-Klos, eines waren sie für meine Freundinnen und mich ganz sicher: eine Love Parade in wechselnder Besetzung. Wochenenden, an denen man seinen Zweier-Futon nur verließ, um tanzen zu gehen oder Zigaretten zu kaufen. Mal war’s nur für eine Nacht, mal folgten drei bis zwölf Monate wahre Liebe. Woher dieser grundlegende Wandel? Oder, wie meine Großmutter formuliert hätte: Was ist nur mit den jungen Leuten los?

Ich weiß, bei solchen Vergleichen lacht das Labor. Fallzahl n = 1, eine einzelne Biographie aus den Neunzigern taugt nicht für empirische Erhebungen. Vergleicht man aber weitere aktuelle Statistiken, bestätigt sich: die Jugend der westlichen Welt hat einen Durchhänger. Auch schon vor 2020, als weltweit außer Herstellern von Sextoys und Videokonferenzanbietern kaum jemand Grund zum Feiern hatte. Von einer „Sex-Rezession“ schreibt das US-Magazin „The Atlantic“, Dänen und Skandinavier klagen über Frust im Bett, Niederländer, US-Amerikaner und Deutsche machen ihre ersten Erfahrungen später, auch Großbritannien probt den Sexit. Am schnellsten schreitet die erotische Versteppung in Japan voran. 2005 war ein Drittel der 20-somethings komplett unberührt, 2015 schon fast jeder zweite.

Why, Generation Y? Zelebrieren Millennials vor dem Aufstehen lieber ein Power-Morning-Ritual, statt vor dem Zähneputzen übereinander herzufallen? Haben sie zu viel Angst vor Kontrollverlust in ihrem durchgecoachten, durchgetakteten Leben? Schlagen Twenty-Something-Männer im Zeitalter von MeToo eingeschüchtert die Augen nieder, weil sie fürchten, schon ein falscher Blick könnte im Shitstorm enden? Oder sind das nur die kulturpessimistischen Mutmaßungen einer alten, weißen Frau?

Eine, die es wissen könnte, heißt Theresa Lachner. Die 34jährige ist systemische Sexualberaterin, und dazu so etwas wie die Erica Jong der Gegenwart: Kaum eine schreibt so klug über den Zusammenhang von Sex und Gesellschaft, Seele und Frausein, per Podcast, Blog und in Buchform. „Klar ist auch Corona ein Game Changer“, sagt sie. „Es zwingt Menschen zu einer neuen Ernsthaftigkeit, schon früh stellt sich die Frage: Was sind wir – ein oder zwei Haushalte? Das macht wählerischer, es entschleunigt auch. Man geht lieber einmal mehr spazieren, ehe man Körperflüssigkeiten austauscht.“ Das Gegenteil von „Gamification“ im Stil von: Erst per App eine Pizza bestellen, dann per Tinder den Pizzapartner für eine Nacht dazu. Voll 2019.

Aber auch ehe Covid19 unser Alltagsleben auf Links gedreht hat, wurden die Weichen für das Liebesleben auf viele Weise neu gestellt. Stichwort: Porno und Körperbild. Vom „Selfie-Blick beim Sex“ spricht der Kölner Forscher und Psychologe Stephan Grünewald. Frauen fragen sich häufiger, was im Bett gut aussieht als was sich gut anfühlt, Männern kommen nicht nur unrealistische Sehgewohnheiten aus Hechel-Clips in die Quere, sie leiden selbst unter Attraktivitätsdruck. Das weiß auch Lachner aus erster Hand: „Fitness und Muskelaufbau sind ein Riesenthema, ‚Lauch’ das schlimmste denkbare Schimpfwort.“ Dazu passt eine Studie des Deutschen Sportlehrerverbandes, die besagt: keine Teenagergeneration zuvor war so schamhaft. Nackt vor anderen duschen? Krasse Vorstellung, für Boys wie Girls. Body Positivity? Vielleicht werden die Breithüftigen und Kurzbeinigen, die Schmalbrüstigen und Untrainierten auf Instagram gefeiert, deshalb aber noch lange nicht im Real Life begehrt. Hohe Ansprüche sowohl an sich selbst wie an mögliche Liebespartner. Und es macht die Sache nicht besser, wenn sich seit Monaten zusätzlich die Erkenntnis in den Köpfen breitmacht: Jeder Körper, ob schön oder nicht, kann eine fiese Virenschleuder sein. Und Sex ist irgendwie bäh.

Aber die wirkliche Überraschung in unserem Gespräch ist: Trotz all dieser Tristesse zieht Theresa Lachner ein optimistisches Fazit. Sie ist überzeugt: Kein Sex – oder weniger Sex – ist nicht nur ein Teil eines Problems, sondern auch Teil der Lösung. Gerade, wenn wir uns hoffentlich bald wieder freier bewegen können. „Die Geschlechterdebatte hat junge Frauen selbstbewusster gemacht. Wenn sie seltener mit Männern schlafen, heißt das auch: Sie versäumen nur selten eine großartige Nacht – aber dafür jede Menge schlechte.“ Eine coole Gourmet-Haltung: sich lieber aus dem Büffet der Möglichkeiten das herauspicken, was wirklich schmeckt, als fade Kost zu akzeptieren. Moderne Sexgöttinnen fordern nicht nur mehr Einfühlsamkeit und Respekt während des Aktes, auch drum herum. Etwa bei der Verhütung: Allein in den letzten sechs Jahren ist die Nutzung der Pille bei jungen Mädchen von 45 auf 30 Prozent zurückgegangen, so die BzgA. Lieber eine Nacht ohne Sex als 365 Tage pro Jahr künstliche Hormone.

Diese Haltung kann zu längeren Single-Phasen führen, aber diese streifen auch ihr Loser-Image ab. 20 Jahre nach „Sex and the City“ gilt Mr. Big nicht mehr als einzig möglicher Hauptgewinn. Die Schauspielerin Emma Watson bezeichnete sich 2019 in einem Interview als „self-partnered“ – mehr Ich-bin-mir-selbst-genug geht nicht. Und wenn sich dann noch der Sextoyhersteller „Wow Tech“ auf die Fahnen schreibt, den „Gender Masturbation Gap“ zu schließen, könnte man angesichts der Statistiken noch auf eine andere Idee kommen. Nämlich: Ein Viertel der jungen Single-Frauen hat durchaus erfüllenden Sex, aber mit sich selbst. Für alle anderen Körper als den eigenen gilt: Sorry, we’re closed. Wenigstens vorübergehend. Die Verkaufszahlen von Hightech-Vibratoren sprechen dafür.

Ist die sinkende Sexfrequenz also auch ein Zeichen von Empowerment? Kombiniert mit hohen Erwartungen: Wenn ich mich schon ernsthaft auf jemanden einlasse, muss es auch rundum perfekt sein, körperlich, seelisch, geistig? Und was ist mit den Männern – müssten die uns eigentlich Leid tun, weil die Regeln für Begegnungen ständig umgeschrieben werden und immer neu verhandelt? „Natürlich ist das ständige Diskutieren anstrengend“, weiß Lachner, „anstrengender jedenfalls, als sich allein in seine Pornowelt zurück zu ziehen.“ Männlicher Sexstreik als Preis dafür, dass zwischen den Geschlechtern etwas ins Rutschen gekommen ist.

Das unterschreibt auch Anja Henningsen, Professorin für Soziale Arbeit und Gesundheit an der FH Kiel. „Sexualität wird demokratischer, weiblicher. Im besten Fall zum Verhandlungsgegenstand, im schlechteren zur Kampfzone der Geschlechter. Wo es kein nonverbales Skript mehr gibt, kein inneres Drehbuch, wie eine Begegnung abzulaufen hat, hilft nur Kommunikation.“ Ob sich Befriedigung und Begehren tatsächlich in Beischlafzahlen ausdrückt, daran zweifelt sie: „Die Lust ist ja nicht weniger geworden. Sie sucht sich nur zunehmend andere Kanäle.“ Auch wenn die Effizienz dabei auf mich ein wenig erschreckend wirkt: Orgasmus als Wellness, lieber zehn Minuten mit dem Hightech-Vibrator (sie) oder bei Pornhub (er) als ein Wochenende im Lotterbett.

Henningsen kritisiert aber auch den Begriff von Sex und Partnerschaft, der manchen Studien zugrunde liegt. Und das in Zeiten, in denen so viel Raum entsteht jenseits des Mainstreams. Meine Schulfreundin, die auf dem 30jährigen Abitreffen erzählte, dass sie ihre Hetero-Ehe beendet hat und jetzt eine Frau liebt, passt nicht so leicht in klar definierte Schubladen. Oder Fetisch-Liebhaber, die auf Partys lässig einen Satz wie „penetrative Sexualität ist nicht so mein Ding“ raushauen.

Insgesamt ist die Geschichte also doch nicht so trostlos wie befürchtet. Und als Mutter einer Teenagertochter finde ich das beruhigend – sie und ihre Freundinnen haben das ja alles noch vor sich. Selbst wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass all diese Verhandlungsrunden Platz lassen für Hingabe, Überwältigung, Ekstase. Ein Problem, das auch Henningsen sieht: „Erfüllende sexuelle Erfahrungen haben auch mit Grenzüberschreitung zu tun.“ Nicht immer verträgt sich das mit Selbstermächtigung. Wie wohl alles weitergeht, im Jahr zwei nach Corona und danach? Theresa Lachner sieht zwei Szenarien: „Kann schon sein, dass wir uns auf ein neues Biedermeier zubewegen, in dem Genuss ohne feste Bindung verpönt ist. Genau so gut ist es möglich, dass der Hedonismus, die Lust sich neue Ventile suchen: etwa auf Sexpartys, auf denen nur reinkommt, wer einen negativen PCR-Schnelltest vorweisen kann. Vielleicht passiert auch beides parallel.“

Die eingangs zitierte Studie aus Leipzig brachte übrigens noch ein zweites, nicht minder überraschendes Ergebnis. Die Babyboomer haben deutlich mehr Sex als die Kriegskindergeneration. 1994 ging nur ein Drittel der gebundenen Frauen zwischen 60 und 70 noch regelmäßig mit dem Partner ins Bett, heute sind es 42 Prozent dieser Altersgruppe. Bei den Singles ist es jede zehnte Frau, vor 25 Jahren war es nur jede zwanzigste. Und laut der Befragung einer Dating-App sind vier von fünf Ü-50-Singles spielerisch im digitalen Raum unterwegs. Auch das sagt noch nichts darüber aus, wie glücklich und befriedigt sie sind, und ob die Suche erfolgreich ist. Aber ich finde, die nackten Zahlen machen Lust – vor allem aufs Älterwerden.

Mach mal halblang

Die BRIGITTE hat gerade ein Büchlein mit den schönsten „Geht das nur mir so?“-Kolumnen der letzten Jahre veröffentlicht, und ich freue mich, dabei zu sein. Hier nochmal meine Betrachtungen zum Thema Fürsorge und Selbstfürsorge zum Nachlesen.

Da saßen wir also im Café, sie und ich, und bestellten zwei Mal Apfel-Streusel mit Sahne. Ein Kellner kam und stellte uns die Teller hin, meine Mutter warf einen prüfenden Blick darauf. Ihr Stück hatte den schöneren Rand, meines war etwas bröselig. Wortlos tauschte sie die Teller aus. Mütter machen so was, nehmen sich lieber selbst das beschädigte Gebäck oder das angeknackste Frühstücksei. Offenbar hört dieser Reflex nicht einfach auf, bloß weil das Kind kurz vor seinem neunundvierzigsten Geburtstag steht. Aber plötzlich war ich gerührt, mehr, als es angemessen war. Und fragte mich: Wenn ich wegen eines heilen Kuchenstücks feuchte Augen bekomme – fehlt dann vielleicht etwas in meiner sonst so glatten, durchgeplanten Existenz?

Für den Gesetzgeber, den Arbeitsmarkt und das ganze globalisierte Drumherum bin ich eine Traumfrau: schon mein halbes Leben finanziell unabhängig, eine freiberufliche Ich-AG, die ganz nebenbei ihr demographisches Soll erfüllt hat. Zwei Kinder, Ehemann, Verdienst etwa Fifty-Fifty, ein Rentenbescheid, bei dem ich immerhin nicht in Tränen ausbrechen muss. Ich kann besser einparken als viele Männer, melde meine Tochter lieber zum Code- als zum Kochkurs an und wuppe mehrere Leben parallel. So, wie wir’s fast alle tun. Allerdings manchmal mit einer Härte gegen uns selbst, die wir unseren Kindern oder der besten Freundin niemals zumuten würden: Jetzt reiß dich mal zusammen! Eine Frau weint nicht! Glaubenssätze aus dem Handbuch der schwarzen Pädagogik. Bedürftigkeit sourcen wir lieber aus: Einjährige in die Kita, halblegale Helfer für pflegebedürftige Verwandte. Nur eines lässt sich ganz schwer outsourcen: dass wir selbst auch manchmal hilfsbedürftig sind und uns fallen lassen möchten, verwöhnt werden wollen und das bessere Kuchenstück. Um sich Schwäche zu erlauben, braucht es schon einen handfesten Grund: Burnout, Hörsturz, Migräne oder mindestens Wochenbett. Obwohl, war da was? Nennenswerte Babypausen habe ich jedenfalls keine gemacht. Bloß nicht den Anschluss verlieren.

Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser schreibt: „Der Feminismus ist der Steigbügelhalter der neoliberalen Gesellschaftsordnung.“ Klingt nach konservativer Verschwörungstheorie, ist aber eine ziemlich einleuchtende Erklärung dafür, warum wir oft so auf dem Zahnfleisch gehen. Weil das Rollenbild des ehrgeizigen, vollzeitbeschäftigten Mannes unsere Blaupause für ein erfolgreiches Leben ist. Weil wir unsere Leistungen vor allem wertschätzen, wenn sie sich in Euro beziffern lassen, uns unabhängig und stark machen. So richtig toxisch wird die Mischung, wenn dann noch eine Portion traditionelle weibliche Tiefstapelei dazukommt: Sei wie das Veilchen im Moose… Dabei haben wir doch alle diese Sehnsucht, dass da jemand kommt, uns ein schönes Kuchenstück hinlegt oder eine Wolldecke, und uns sagt: Mach mal halblang. Und mit „wir“ meine ich nicht nur uns Frauen. Es geht auch unseren Freunden so, unseren Eltern, und unseren Männern. Ich schätze, sogar den alten, weißen.

Ein wenig mehr Fürsorge tut uns allen gut. Und ist gar nicht so schwer. Mal die Kollegin heim schicken, die seit Tagen über der Tastatur hustet, mal den Partner fragen, wie es ihm eigentlich geht, statt „Hast du eigentlich beim Finanzamt angerufen wegen der Umsatzsteuervorauszahlungen?“ Wir sollten dabei aber nicht ausgerechnet einen Menschen vergessen, der uns ziemlich nahe steht. Uns selbst. Wenn wir eine Mutter zu haben, die uns gelegentlich daran erinnert: Um so besser.

Es lebe die gut-genug-Mutter

Mach dich doch mal locker! Kinder brauchen keine perfekten Mütter! Wissen wir alles, entlastet uns aber trotzdem nicht richtig. Weil wir in der Zwickmühle zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, privaten Vergleichen und widersprüchlichen Idealen feststecken. Wie kommen wir da raus – und was ist eigentlich mit den Vätern? Das habe ich für ein Titelthema der ELTERN im Januar 2021 recherchiert.

Vielleicht fing alles mit dieser TV-Werbung an, Mitte der Nuller Jahre. Junges Paar trifft auf Party eiskalte Zicke, Zicke mustert Frau abschätzig: „Und, was machen Sie beruflich?“ Film ab: Staubsaugen, kranke Kinder pflegen, Hausaufgabenhilfe, dem Gatten ein Stäubchen vom Hemd zupfen. Immer mit einem Lächeln auf den Lippen, ist ja ein schöner Job. Ihre Antwort: „Ich leite ein gutgehendes, kleines Familienunternehmen.“

Klar war das schlagfertig, cool und sympathisch. Aber es war auch ein neues Etikett: die Mutter als menschliche Aktie mit Top-Kursentwicklung. Im Nachfolge-Werbeclip zählte eine frische Blonde beim Vorstellungsgespräch ihre Qualifikationen auf, die sie im „Familienunternehmen“ erworben hat. Die Karrierezicke als Feindbild hatte ausgedient, jetzt waren beide zu einer Person verschmolzen. Die (un-)heimliche Botschaft: Mütter können alles (und müssen alles können!), im Job performen, ohne dabei im Kinderzimmer nachzulassen. Schon beim Zuschauen bekam man Schnappatmung. Irgendwie logisch, dass 2019 vier von fünf Frauen, die zu einer Kur des „Müttergenesungswerkes“ antraten, mindestens eine psychische Belastung mitbrachten: von Angstzuständen, Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen bis zum Burnout. Diagnose: akute Perfektionitis.

Nicht etwa die Schuld des Haushaltsgeräteherstellers, auch nicht die der Werbeagentur. Die hatten nur den Zeitgeist auf den Punkt gebracht.

Natürlich gibt es gute oder wenigstens gut gemeinte Tipps für die gestresste Wonder Woman: Versuch’s doch mal mit Yoga/Meditation/Sauna, fahr ein Wochenende weg, lass mal Fünfe gerade sein. Wenn das nur so einfach wäre, sagt Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften, die in der Schweiz zu Fragen von Familie und Gesellschaft forscht und gerade ein Buch* über den Perfektionswahn veröffentlicht hat. Sie ist überzeugt: „Entlastung ist im Einzelfall sicher hilfreich – aber mit solchen Ratschlägen wird ein gesellschaftliches Problem auf die einzelne Mutter abgewälzt, als Selbsttherapie. Sie soll funktionieren, statt ein System zu hinterfragen, das immer neuen Druck schafft.“ Doch wodurch entsteht dieser Druck genau?

Druckmacher Nummer eins: Der neoliberale Zeitgeist

Wie wir im Privaten leben, ist immer auch Spiegel der Gesellschaft. Die US-amerikanische Anthropologin Wednesday Martin berichtet in ihrem Sachbuch „Die Primaten von der Park Avenue“, wie New Yorker Millionärs-Ehemänner ihren Frauen einen Jahresbonus für erfolgreiches Familienmanagement zahlten, sprich: gepflegtes Haus, repräsentatives Äußeres, gute Noten der Kinder…

Eine kuriose Blüte aus dem Biotop der Reichen und Schönen? Vielleicht. Aber wenn wir ehrlich sind, gilt das in abgeschwächter Form auch in der Mietwohnung in Münster oder im Reihenhaus in Rosenheim. Welcher After-Baby-Body als erstes aussieht wie ein Before-Baby-Body, und welches Schulkind später bei der Mathe-Olympiade aufs Treppchen klettert, wird zum stillen Wettbewerb. Der perfide Glaubenssatz dahinter: Wer es nur richtig anstellt, kann in unserer Gesellschaft alles schaffen.  Und wer die Kinder nicht zu Höchstleistungen bringt, hat eben was falsch gemacht als Mutter.

Frage an Frau Stamm …

In ihrem Buch schreiben Sie: „Weil bei vielen Müttern die Fäden zusammenlaufen, sind erfolgreiche Kinder ein Zeichen mütterlicher Ernsthaftigkeit. Erfolgreiche Mütter haben erfolgreiche Kinder….“ Haben nicht auch früher Mütter und Väter ihren Ehrgeiz auf ihre Kinder projiziert, etwa: Der Kleine soll später in Vaters Fußstapfen treten?

Margrit Stamm: Ja, aber mit einem Unterschied: Früher war die Vaterrolle quasi das Außenministerium der Familie, die Mutterrolle das Innenministerium. Jetzt sind die Mütter für alles zuständig: Das Kind soll erfolgreich sein, die eigene Karriere laufen, und auch noch der Geburtstagskuchen selbst gebacken. Der Feminismus, so begrüßenswert er war und ist, hat ungewollt seinen Teil dazu beigetragen. Weil er das Leitbild der berufstätigen Frau befördert hat, Mutterschaft aber sehr randständig behandelt hat.

Bei so vielen Ansprüchen ist es doch auch verständlich, wenn Frauen sich nach einer kuscheligen Gegenwelt sehnen, in der Liebe mehr zählt als Leistung.

Sogar sehr. Ein emotionsgesteuerter Gegenentwurf zur Wettbewerbsgesellschaft, in dem das Muttersein aus dem Bauch kommt und die Aufgabenteilung in der Partnerschaft ganz von selbst klappt, weil die Liebe so groß ist. Kommt dann der Realitätsschock, klinken sich gerade höher gebildete Frauen eher aus dem Beruf aus, weil sie lieber als Mutter perfekt sein wollen als den schwierigen Spagat zu versuchen. Aber das muss man sich leisten können, und es ist ja nicht die Lösung, gesellschaftlich gesehen.

Druckmacher Nummer zwei: Medien, Lehrer, Ärztinnen und Co.

Mütter stehen ständig unter Beobachtung, schon vor der Geburt bringt sich ein Team von Schiedsrichtern in Stellung, die sich nicht selten widersprechen. Die eine Fachbuchautorin macht sich für Langzeitstillen und Familienbett stark, der andere prangert in seinen Büchern Helikoptereltern an. Einerseits lernen wir: Die wichtigste Basis unserer Kinder ist eine glückliche Kindheit, in der auch mal Zeit zum Nichtstun ist. Andererseits wird uns suggeriert: Ohne eine optimale Förderung und später einen guten Schulabschluss hat unser Kind keine Chance. Also üben Mütter mit ihren Kindern für U-Untersuchungen das Rückwärtshüpfen, als könnten sie sonst schlechte Noten kassieren.

ELTERN FAMILY: Eltern und vor allem Mütter stehen heute auch deshalb unter Druck, weil sie mehr falsch machen können. Nicht zuletzt hängt das auch mit den Erkenntnissen der modernen Bindungsforschung und Entwicklungspsychologie zusammen. Durch sie wissen wir: Kinder sind verletzlich, in vielerlei Hinsicht.

Margrit Stamm: Ja, wir nehmen die Bedürfnisse der Kinder ernster und erwarten nicht, dass sie einfach nur funktionieren. Das ist prinzipiell gut.

Andererseits erwächst daraus aber auch schnell ein Konflikt: Denn mit einer Erziehung, die sich stark an den Bedürfnissen der Kinder orientiert, gerät eine Mutter mit ihren Bedürfnissen schnell ins Hintertreffen.

Das stimmt, wobei man sich mit Blick auf die Kinder wirklich auch fragen muss, ob die Latte nicht zu hoch liegt. Und Fachleute sich zu sehr an möglichen Defiziten orientieren. Der englische Kinderarzt Donald Winnicott hat in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Begriff der „good enough mother“, der „ausreichend guten Mutter“ geprägt. Er hat recht. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, um zu glücklichen, selbstbewussten Menschen heranzuwachsen.

Sollten wir uns also innerlich unabhängig machen von allen Expertenstimmen?

Jedenfalls das eigene Urteil nicht weniger wichtig nehmen als das der anderen. Immerhin wird das Problem erkannt. Der Chefarzt einer großen Frauenklinik schrieb mir kürzlich: Es stimmt, auch Ärztinnen und Ärzte sollten den mütterlichen Perfektionismus nicht noch mehr verstärken. Sondern Frauen den Rücken stärken.

Bei älteren Kindern trägt ja auch die Schule ihren Teil zum Druck auf die Mütter bei – nicht erst beim Homeschooling in der Corona-Krise. Oft sind auch hier die Erwartungen widersprüchlich: Einerseits soll man das Kind im eigenen Tempo lernen lassen, aber die ein oder andere Zusatzübung kann schon nicht schaden.

Ich denke, das wichtigste ist, das eigene Bewusstsein zu schärfen. Optimierte Kinder sind eine unrealistische Erwartung. Man sollte sich von niemandem weismachen lassen, dass es nur die richtige Diagnose, Therapie, Lernmethode braucht, um das Kind zum Überflieger zu machen. Vieles hat man schlicht nicht in der Hand.

Druckmacher Nummer drei: Der lange Atem der Vergangenheit

Wie eine ideale Mutter zu sein hat, darüber haben sich im deutschsprachigen Raum schon Menschen Gedanken gemacht, ehe die moderne Psychologie auf den Plan trat. Martin Luther (16. Jahrhundert) erklärte Hausarbeit und Kinderbetreuung zum „Heimgottesdienst“, der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi sah 200 Jahre später in der „Wohnstubenerziehung“ die Basis des Lernens und der Liebesfähigkeit. Und seine Zeitgenössin, die Preußenkönigin Luise, wurde zum Role Model, weil sie ihre Kinder selbst erzog. Ganz anders die Vorbilder in Frankreich, wo Fremdbetreuung immer eine Selbstverständlichkeit war – bei Hof und in Adelskreisen machten Ammen diesen Job, heute werden schon die Allerjüngsten selbstverständlich in der Krippe abgegeben. Nur ein Beispiel von vielen, wie uns kulturelle Vorbilder langfristig beeinflussen, selbst wenn die tapfere Luise heute den meisten Müttern kein Begriff mehr ist. Auch Margrit Stamm ist überzeugt: Diese Prägungen machen es Müttern hierzulande schwer, Verantwortung abzugeben.

ELTERN FAMILY: In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen „intensiver“ und „extensiver“ Mutterschaft. Das zweite Modell bedeutet: Eine Mutter hat gar nicht den Anspruch, die einzige und jederzeit beste Bezugsperson für ihr Kind zu sein.

Margit Stamm: Ja, ich spreche dabei auch von „Schattenmüttern“ – also Kita-Erzieherinnen und -Erzieher, Tagesmütter, Nannys, Großeltern. Im besten Fall gelingt es, einen Teil der Verantwortung zu delegieren, ohne dass sich eine Seite dabei schlecht fühlt. Allerdings kommt es gerade hierzulande häufig zu einer versteckten Konkurrenz: Mütter fürchten, dass die Helferinnen ihnen ihre Position als Nummer eins streitig machen, oder versuchen, deren Arbeit stark zu überwachen.

Das hat wahrscheinlich aber nicht nur psychologische, sondern auch praktische Gründe: Viele Mütter fürchten, dass Erzieherinnen ihren Job oft nicht optimal machen können, weil sie unterbezahlt und Kitas unterbesetzt sind und alle miteinander das ausbaden.

Wobei wir aus Schweizer Perspektive finden: Deutschland und auch Österreich sind auf einem richtigen Weg, Betreuung ist dort besser, diversifizierter und bezahlbarer. In den allermeisten Einrichtungen kann man sein Kind guten Gewissens lassen – und selbst mal loslassen. Natürlich gibt es auch Kinder, die nicht so pflegeleicht sind, die sich mit ihrem Temperament nicht einfach in ein Leben mit zwei berufstätigen Eltern einfügen, selbst wenn die Kita perfekt ist. Aber warum definieren wir das als Problem der Mutter, und nicht als Herausforderung an Politik und Wirtschaft? Die sind genauso gefragt!

Druckmacher Nummer vier: Die Macht der perfekten Bilder

„Als vor neun Jahren mein erstes Kind geboren wurde, steckte Social Media noch in den Kinderschuhen“, erinnert sich Nathalie, Autorin und Bloggerin aus Lübeck (ganznormalemama.com). „Seitdem ist die Vergleichbarkeit rasant gewachsen. Weil man nicht mehr nur den Rückbildungskurs um sich hat, sondern tausende vermeintlich perfekter Instagram-Familien.“ Folge: „Man stellt das eigene Leben dar wie ein pastellfarbenes Kinderzimmer.“ Auch wenn man ahnt, dass vieles bei den anderen auch nur Fassade ist. So wird man beim „Mom-Blaming“ Opfer und Täterin zugleich.

ELTERN FAMILY: Bringt die Netzkommunikation und der Wettbewerb auf Social Media manchmal das Schlechteste in uns hervor?

Margit Stamm: Ich glaube, unsere Vergleichs- und Rankingmentalität ist nicht die Ursache des steigenden Drucks, eher ein Symptom davon. Jeder meint, sich von seiner Schokoladenseite zeigen zu müssen, um zu beweisen, dass er oder sie alles richtig macht, ob im Fitnessstudio oder auf Instagram.

Aber immer ist irgendwer besser als wir…

Genau. Und so entsteht ein anstrengender Teufelskreis.

Problem erkannt – und jetzt?

Wir können den gesellschaftlichen Druck nicht im Alleingang abschalten – aber wir können uns besser wappnen, wenn wir verstehen, woher er kommt. Vier Leitsätze, die dabei helfen, die inneren Daumenschrauben zu lockern:

Zusammen ist man weniger allein: Ehrlichkeit entlastet. Egal, ob auf dem Instagram-Account, beim Treffen mit der Schwester oder auf dem Elternabend: Zuzugeben, dass man selbst manchmal nicht weiter weiß oder frustriert ist, sorgt für Verständnis und Aha-Erlebnisse. Und hilft gegen das „Alle-anderen-sind-perfekt-nur-ich-nicht“-Gefühl.

Rosinen picken hilft: Web-Portal, Erziehungsberatung oder unser Heft – alles Fundgruben für Tipps, wie man das Familienleben noch besser, leichter, schöner gestalten kann. Super, dass es das gibt – aber bitte nicht unter Zugzwang setzen lassen. Sondern wählerisch sein: Was passt zu uns, was ignorieren wir nonchalant?

Kinder sind Kinder, kein Leistungsnachweis: Das können wir uns aufs Kopfkissen sticken, wenigstens mental. Merke: Es tut weder unseren Kindern gut, noch uns, noch unserer Beziehung, wenn wir ihre Noten, ihre Torchancen in der E-Jugend oder ihre Beliebtheit zur Grundlage unseres Selbstbewusstseins machen.

Viele Schultern helfen beim Tragen: Statt uns immer noch eine Schippe aufladen zu lassen, sollten wir den Druck verteilen und Hilfe einfordern: vom Partner, von der Politik, von unseren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Für flexiblere Arbeitszeitlösungen, für ein modernes Rollenverständnis, für die Freiheit, auch mal nicht zu funktionieren. Ein dickes Brett, klar. Aber wer soll es bohren, wenn nicht wir?

„Vätern wird Lässigkeit eher verziehen“

Mütter, Mütter, Mütter – war da nicht noch was? Ach ja: in der Mehrheit der Haushalte lebt noch ein zweiter Elternteil! Männerberater und Buchautor Björn Süfke erklärt, warum die Ansprüche an Väter andere sind, aber oft nicht weniger schwer wiegen

Die 50:50-Quote ist in Sicht, wenigstens auf Google: Auf die Wortkombination „Perfektionismus“ und „Mütter“ spuckt die Suchmaschine rund 400.000 Treffer aus, tauscht man den zweiten Begriff gegen „Väter“, sind es immerhin 300.000. Was heißt das: Haben Väter mit ähnlich belastenden Ansprüchen zu kämpfen? Und was ist mit der Alltagserfahrung, die sagt: Klar sind Väter heute im Leben ihrer Kinder präsenter – aber den Hut auf hat trotzdem meistens die Mutter, ob freiwillig oder nicht?

„Auch heute noch empfinden Frauen die Mutterrolle meist stärker als Teil ihrer Identität, und fühlen sich schneller schuldig, wenn sie persönliche oder berufliche Interessen vor die Bedürfnisse ihrer Kinder stellen – von Männern wird erwartet, dass der Job oberste Priorität hat“, weiß Björn Süfke, tätig in der Männerberatung und selbst engagierter Vater von drei Kindern. Ausnahme: Väter in Rollentauschbeziehungen, die sich teils ähnlich stark über ihre Kinder definieren wie sonst die Mütter.

In der Mehrheit der Familien läuft es allerdings so: Jede Seite bekommt Vorschusslorbeeren für das, was er oder sie vermeintlich am besten kann, muss sich aber umso stärker rechtfertigen, wenn sie sich entgegen der Erwartungen verhält. „Geht eine Mutter früher aus dem Büro, weil ihr Kind krank ist, kann sie eher mit Verständnis rechnen als ein Vater. Der soll dafür auch im Homeoffice mit drei Kindern noch reibungslos funktionieren.“ Auch eine Form von Perfektionswahn. Umgekehrt: Väter dürfen sich mehr Lässigkeit erlauben als Mütter, glaubt Süfke – aber nur, so lange nichts schief geht: „Wenn sie auf dem Spielplatz an Rand stehen und miteinander über Fußball reden, finden das alle ganz cool. Aber wehe, das Kind fällt vom Klettergerüst und bricht sich den Arm, dann heißt es: Klar, Kerle können‘s halt nicht.“ Der im Netz viel diskutierte Muttertags-Film einer Supermarktkette, der unfähige, überforderte Väter zeigt („Danke, Mama, dass du nicht Papa bist!“ (www.youtube.com/watch?v=9PLKVNBcF3s) haute genau in diese Kerbe. Wenn Papa es nicht rafft, muss Mutti eben doch die Beste bleiben. Manche fanden’s lustig, Süfke kein Stück: „Das ist etwa so menschenverachtend wie Achtziger-Jahre-Blondinenwitze und Werbung, in der sich nackte Frauen auf Autoreifen rekeln.“ Seine Wunschvorstellung: „Wenn wir uns als Eltern weniger über das Mann- oder Frausein definieren könnten und vermeintlich natürlichen Zuständigkeiten, sondern mehr über unsere individuellen Werte und Eigenschaften, dann könnten wir uns auch gemeinsam vom Perfektionsdruck befreien.“

Was sagen Mütter dazu?

Nicht perfekt sein müssen heißt für mich….

…das Thema Erfolg nicht so hoch hängen

„Als unser ältester Sohn in die Schule kam, waren alle Mütter sich einig, jedenfalls scheinbar: bloß kein Leistungsdruck, die Kinder Kind sein lassen. Friede, Freude, Bullerbü. Bis einer seiner Freunde erzählte, seine Mutter lasse ihn jeden Tag zehn Extraminuten im Rechtschreibheft üben. Mathe ebenfalls, zusätzlich zu den Hausaufgaben. Erstaunt hörte ich mich um: kein Einzelfall! Die Lässigkeit war Fassade, dahinter wurde optimiert, was das Zeug hält. Ich habe mich entschieden, da nicht mitzumachen. Viele Talente lassen sich ohnehin nicht an Noten ablesen.“

Nathalie, 40, zwei Söhne, 9  und 7, eine Tochter, 3

…nicht alles selbst machen

„Mein Mann und ich haben einen Deal: Jeder ist primär zuständig für ein Kind, von den passenden Turnschuhen bis zum Geburtstagsgeschenkekaufen, und hält sich beim anderen heraus. Genau so klar haben wir die Haushaltsaufgaben geteilt, auch die Jungs ziehen mit: Socken gehören in den Wäschekorb, Jacke an den Haken. Wenn schmutzige Wäsche im Kinderzimmer auf dem Boden liegt, wird sie nicht gewaschen, Punkt. Da bin ich konsequent. Der Effekt: Wenn jeder klare Aufgaben hat, wird die Belastung besser verteilt, und es fällt nicht so schwer, den eigenen Part ordentlich zu machen.“

Katrin, 44, zwei Söhne, 10 und 11

….eigene Grenzen akzeptieren

„Ich glaube, für meine ältere Tochter war ich tatsächlich eine fast perfekte Mutter, jedenfalls habe ich mich bemüht: präsent, empathisch, ihre Bedürfnisse im Blick. In ihren ersten sieben Lebensjahren war sie mir nah wie überhaupt nie zuvor ein Mensch. Als vor anderthalb Jahren unser Sohn auf die Welt kam, war ich innerlich zerrissen: Auf einmal hatte ich zwei Kinder mit großem Altersunterschied, ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und Geschwindigkeiten, und ich kann meine eigene Hingabe nicht einfach verdoppeln. Mein Mann war gern bereit, sich als Vater mehr einzubringen, aber ich konnte schwer loslassen. Ich musste richtig um diese exklusive Beziehung zu meiner Großen trauern. Die Ansprüche an mich selbst herunterschrauben. Am schönsten ist es, wenn die Geschwister miteinander innig sind und ich verstehe: Sie müssen nicht nur verzichten, sie sind auch ein Geschenk füreinander.“

Myriam, 39, eine Tochter, 8, ein Sohn, eineinhalb

…nicht jede Mode mitmachen

„Kurz bevor meine Älteste fünf wurde sind wir nach Jahren im Ausland wieder nach Deutschland gezogen, und ihr Kindergeburtstag hat mich schlaflose Nächte gekostet: Verprellen wir ihre neu gefundenen Kita-Freunde, wenn wir kein teures Mega-Event veranstalten? Dann hatte ich die rettende Idee. Relativ simple Spiele, Topfschlagen und Co., aber ein Motto: Steinzeitgeburtstag. Stockbrotgrillen am Lagerfeuer, weglaufen vor dem Säbelzahntiger, Äxte basteln. Kam super an, seitdem halte ich mich daran, auch bei den beiden jüngeren: keep it simple. Ich mache diese höher-schneller-weiter-Spirale nicht mit, bei mir gibt es auch keine Mitgebseltüten. Denn das geht ja gerade so weiter: Heute Kindergeburtstag, morgen Abiball, übermorgen Junggesellenabschied…“

Simone, 48, drei Kinder (10, 13, 17)

…immer wieder: back to the roots

„Nach fast 20 Jahren als Mutter würde ich sagen: Es hilft, sich immer wieder zu besinnen, was man sich einmal für sein Kind erhofft hat. Wenn du bei der Schwangerschaftsvorsorge den Herztönen lauschst und dir wünscht, dass es glücklich sein möge und gesund. Das hat mir in Alltagssituationen geholfen, abzuwarten, ob sich manche Probleme allein lösen – mit drei Kindern und zwei berufstätigen Eltern bleibt einem ja auch gar nichts anderes übrig. Nicht wegen jeder Abweichung von der Entwicklungstabelle zum Kinderarzt, nicht jeden Elternbrief lesen. Was ich gelernt habe: Wenn ich gut für mich sorge und ein zufriedenes Leben führe, sind alle besser dran.“

Beate, 52, drei Kinder (14, 17, 19)

„Ein paar Wochen lang haben wir Utopie gespielt“

Barbara Bleisch, Buchautorin, Philosophin und TV-Moderatorin („Sternstunde Philosophie“), glaubt: Die Pandemie wird vieles dauerhaft verändern – von Arbeit bis Körperkontakt. Das ist aber nicht nur Grund zur Freude.

BRIGITTE: Als die Krise im Frühjahr Deutschland erreichte, war da neben Ängsten auch Aufbruchstimmung. Menschen träumten von Entschleunigung, neuer Solidarität, einer Chance für ökologischen Umbau … was ist daraus geworden?

Barbara Bleisch: Ja, es war ein Schrebergartenidyll: Kinder spielen auf der Straße, Flugzeuge bleiben am Boden, Angebote für Nachbarschaftshilfe hängen an jedem Laternenpfahl. Aber die Vision war nicht nachhaltig. Wir haben nur eine Zeitlang Utopie gespielt.

Die Pessimisten haben Recht behalten, nicht nur, was die zweite Welle betrifft?

Das lässt sich abschließend noch nicht sagen, denn die Krise ist noch immer zu frisch, und wir befinden uns nach wie vor in einer Schockstarre. Ich denke, sie hat gesellschaftlich viele Entwicklungen angestoßen, aber es ist noch nicht klar, wohin die Reise geht. Etwa in der Politik: Mich hat die Selbstwirksamkeit des politischen Systems hoffnungsvoll gestimmt, wie man klare Prioritäten für die Schwächeren gesetzt hat, gegen die Eigenlogik der Wirtschaft. Aber jetzt sieht man die Kehrseite: ein schleichendes Misstrauen der Bürger, wenn zu lang an den Parlamenten vorbei regiert wird, und die berechtigte Angst, autoritäre Regime könnten die Einschränkung der Freiheitsrechte für sich ausnutzen. Was auch klarer als zuvor geworden ist: Politik braucht den öffentlichen Raum, der virtuelle reicht nicht aus.

Aber durch die Erschütterungen ergeben sich ja auch Chancen. Etwa in der Arbeitswelt, weil vom Zwang zu flexibleren Modellen gerade Frauen und Familien profitieren.

Auch das ist zweischneidig. Klar helfen Homeoffice-Lösungen arbeitenden Eltern –aber Arbeitgeber entziehen sich auch ihrer Verantwortung, wenn sie diese Entwicklung nutzen, um zum Beispiel Bürofläche einzusparen. Außerdem sind Frauen auch in der Arbeitswelt überproportional gefährdet: Zum einen, weil in ökonomischen Krisen Teilzeitjobs meist als erstes abgebaut werden, zum anderen, weil viele in Care-Berufen arbeiten. Und ich fürchte, aus der erhofften Revolution in diesem Bereich, mit besserer Bezahlung und besseren Bedingungen, wird nichts – wenn die Wirtschaft weiter einbricht, wird das genau so wenig finanzierbar sein wie eine grüne Wende. Auf der Positivseite sehe ich, dass jetzt wieder intensiver über Modelle für ein Grundeinkommen diskutiert wird.

Die Coronakrise hat uns zwangsläufig häuslich gemacht. Wir sind auf unseren Wohnort zurückgeworfen, Nachtleben findet nicht mehr statt, Kultur kaum noch. Kommt ein neues Biedermeier – und ist das eher Bedrohung oder eher Sehnsuchtsort?

Wenn einige Entwicklungen korrigiert werden, die ausgeufert sind, ist das sicher gut – Stichwort Reisen und ökologischer Fußabdruck. Aber insgesamt macht es mir eher Sorgen, dass alles so eng wird, das Denken wie die geographischen Grenzen. Warum denken wir bei Schutzmaßnahmen und neuen Lockdowns zum Beispiel nicht in europäischen Regionen, sondern jeder Nationalstaat kocht sei eigenes Süppchen oder macht sogar Grenzen wieder dicht? Corona hat uns die Kehrseite der Globalisierung gezeigt, die Verwundbarkeit, die aus dem internationalen Zusammenrücken entsteht, und es ist noch offen, was das mit unserer Wahrnehmung macht: Fühlen und leiden wir eher mit weit entfernten Menschen mit, weil wir durch das Virus im selben Boot sitzen, oder schotten wir uns dauerhaft stärker ab?

Das gilt ja auch im Nahbereich, Stichwort Kontaktbeschränkungen.

Das stimmt mich besonders nachdenklich. Auch wenn wir Corona durch Impfstoffe und bessere Therapien in den Griff bekommen, der Blick auf unser Gegenüber als gefährlichen Virenhaufen könnte zum Dauerzustand werden. Covid 19 ist ja nur ein Virus von vielen. Aber wenn wir uns den Händedruck komplett abgewöhnen, oder Gesten, etwa, dass wir im Gespräch jemandem beruhigend die Hand auf den Arm legen, dann nehmen wir uns auch die Möglichkeit, Konflikte aus der Welt zu schaffen.

Sie als Philosophin: Empfinden Sie das Denken in Krisenzeiten eigentlich als Trost?

Eigentlich ist die Philosophie eher die Kunst des Zweifelns und des Fragestellens, also per se nicht unbedingt tröstlich. Dennoch ist etwas dran: Der Dichter Gottfried Benn hat vom „Gegengewicht Geist“ gesprochen, das heißt, durch Denken kann man Distanz schaffen, sich ins Verhältnis setzen zum Weltgeschehen, und wird dadurch weniger von Gefühlen überwältigt. Nicht umsonst ist gerade die Philosophie der antiken Stoiker wieder sehr im Kommen, inklusive Websites und Newslettern wie „Daily Stoic“.

Was hat denn eine über 2000 Jahre alte Denkrichtung zur Pandemie zu sagen?

Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, was man etwa auch aus der modernen Yogapraxis kennt: die eigenen Gefühle wahrnehmen und einordnen, ohne sich allzusehr mit ihnen zu identifizieren. Weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern. Diese Haltung hilft, Krisen zu bewältigen – nicht nur Corona.

Zerreiß deine Pläne!

Im letzten Jahr hat Corona viele unserer Vorhaben durchkreuzt und uns aus unserem durchgetakteten Dasein gerissen. Aber: Den Umgang mit Ungewissheit und Kontrollverlust können auch die Verplantesten trainieren. Mit dem guten Gefühl, sich einfach mal nichts beweisen zu müssen

Erstmals veröffentlicht in BRIGITTE 1/2021

Erster Januar, Jahr zwei nach Corona. Seit Monaten haut uns ein Virus unsere Pläne um die Ohren, schneller, als man „Lockdown“ sagen kann. Von ärgerlich bis dramatisch: Partys und Urlaube gecancelt, Karriereschritte auf Eis gelegt, neue Lieben verhindert, Existenzen und Leben bedroht. Vor rund achtzig Jahren, in einer noch dunkleren Zeit, schrieb die Dichterin Mascha Kaléko: „Jag deine Ängste fort, und die Angst vor den Ängsten. Zerreiß deine Pläne, sei klug, halte dich an Wunder.“ Klingt wie ein Neujahrsvorsatz für 2021. Ein gutes Rezept?

Immerhin sind wir mit der gefühlten Machtlosigkeit nicht allein, sagt die Berliner Psychotherapeutin Eva Gjoni: „Menschen sind ohnehin auf unterschiedliche Weise belastet, und Corona hat allen noch eine Schippe draufgelegt.“ Und sei es nur, weil die Pandemie einen wichtigen Glaubenssatz über den Haufen wirft, wenigstens scheinbar: Du hast dein Schicksal selbst in der Hand. Psychotherapeut*innen sprechen von „Selbstwirksamkeit“, einem Begriff aus der kognitiven Psychologie, der in den letzten Jahren in Mode gekommen ist. Heißt grob übersetzt: Du kannst auch schwierige Situationen aus eigener Kraft bewältigen. Ist das jetzt erstmal passé und wann kommt es wieder?

Wir reagieren ganz unterschiedlich. Während sich die einen resigniert zurückziehen und die anderen ihrer Wut freien Lauf lassen – ob auf Twitter oder auf der Großdemo – , gibt es andere, die vergleichsweise gut durch die Krise kommen. Ihre Belastung in konsumierbare Häppchen aufteilen, einen Schritt nach dem anderen gehen. Ein Typus, der auf schwankendem Untergrund sicher steht, wie beim Stand-up-Paddling bei höheren Windstärken. Ein Balanceakt, der nicht nur gegen Corona-Angst hilft, sondern auch bei anderen Schicksalsschlägen, von Trennung bis Jobkrise. Was machen diese Menschen besser?

Anruf bei der Hamburger Fotografin Isadora Tast. Sie hat gerade einen Band mit Porträts von Schauspielerinnen und Schauspielern in L.A. veröffentlicht*, die alle etwas gemeinsam haben: Sie gehören nicht zur Oberliga, sind auch nicht krachend gescheitert, sondern mal mehr, mal weniger erfolgreich. Sie leben mit der ständigen Unplanbarkeit, Höhenflügen, Niederlagen – zur Zeit noch mehr als während der Entstehung des Buches. Was können wir von ihnen lernen? „Am zufriedensten sind die, die beides mitbringen: Demut und Dankbarkeit, gleichzeitig große innere Unabhängigkeit. Die Überzeugung: Ich kann etwas, ich bin etwas wert, unabhängig vom Ergebnis des Castings und der Anzahl der Jobs“, sagt Isadora Tast. Eine Haltung, die vor Kränkungen und Selbstzweifeln schützt. Übertragen auf unseren Alltag könnte das heißen: So bitter es ist, wenn Menschen wegen Corona ihren Job verlieren, auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, insolvent gehen – sie kommen eher wieder auf die Beine und haben den Mut, sich neu zu orientieren, wenn sie im Inneren überzeugt sind von sich und ihren Fähigkeiten.

Dass die innere Einstellung entscheidender ist als die objektive Belastung, zeigt sich auch an einem völlig anderen Beispiel. Helen Heinemann, Expertin für Work-Life-Balance, erzählt aus einem Kurs für werdende Eltern: „Zwei Paare sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Eines hatte sein Leben komplett im Griff: Verliebt, verheiratet, Haus gebaut, den Zeitpunkt für ein Kind abgepasst. Das andere war das genaue Gegenteil: Kannten sich kaum, einmal im Bett gelandet, sie sofort schwanger. Ein paar Jahre später traf ich beide Paare wieder. Die ersten waren getrennt, an den hochgesteckten Erwartungen gescheitert. Die zweiten glücklich miteinander.“ Hätte auch anders laufen können, aber darin steckt eine wichtige Lektion: Wer das Leben mehr auf sich zukommen lässt, tut sich oft auch auf holprigen Strecken leichter – wer bei jeder Abweichung vom Fünfjahresplan ins Schwitzen kommt, gerät schneller unter Stress.

Mehr noch. Wir scheinen sogar ein gewisses Bedürfnis zu haben nach Erfahrungen, die sich unserer Kontrolle entziehen, als Gegengewicht zu unserer durchgetakteten Existenz. Selbst wenn sie nicht nur positiv sind. Als die Corona-Krise Deutschland erreichte, wurde das besonders deutlich: Die plötzlichen Leerstellen im Kalender, die ungewohnte, wirklich freie Zeit empfanden manche nach dem ersten Schrecken auch als unerwarteten Reichtum. Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa hat dieser Sehnsucht ein Buch gewidmet**, noch ehe Corona in aller Munde war. Seine These: Gerade das für uns Unplanbare, das „Unverfügbare“, schafft die Erfahrung von Resonanz und Tiefe. Momente, auf die wir keinen Einfluss haben, von den ersten Schneeflocken des Winters bis zu einer lebensverändernden Zufallsbegegnung.

Aber so herrlich romantisch es klingt, wenn es Menschen gelingt, sich auf das Unerwartete einzulassen: Ist es eine reine Typfrage und damit in Stein gemeißelt, wie wir auf Unerwartetes reagieren? Ist vergnügte Planlosigkeit nur sonnigen Optimist*innen gegeben? Oder lässt es sich lernen, lockerer in der Hüfte zu bleiben, egal, was uns widerfährt? Zweiteres, sagt die Therapeutin Eva Gjoni: „Es gibt nicht die geborene Krisenbewältigungspersönlichkeit, also den Optimisten oder den Extrovertierten. Zum Beispiel ist ein gewisses Maß an Pessimismus auch hilfreich, weil es hilft, Unveränderliches zu akzeptieren und sich nicht sinnlos dagegen aufzulehnen.“ Entscheidend ist etwas anderes: aus dem Gefühl der Hilflosigkeit ins aktive Handeln zu kommen. Indem wir unterscheiden lernen: Was habe ich tatsächlich nicht im Griff, und was schon? Denn wenn wir genau hinsehen, bleiben eine Menge Spielräume, sagt Gjoni. Am Beispiel Corona heißt das: „Wie strukturiere ich meinen Tag im Homeoffice sinnvoll? Wie nutze ich die Zeit, die ich mit meinem Partner zusätzlich verbringe? Suche ich aktiv nach Alternativen zu meinen Gewohnheiten, jogge ich bei Wind und Wetter los, wenn das Training im warmen Fitnessstudio ausfallen muss? Und wenn negative Gefühle hochkommen: Lasse ich mich davon herunterziehen, oder schaffe ich eine innere Distanz dazu, beobachte meine Gefühle, ohne mich überwältigen zu lassen?“ Verunsicherung und Angst seien kein Zeichen von Schwäche: „Sich selbst und anderen diese Gefühle einzugestehen, damit beginnt Resilienz!“ Eva Gjoni zitiert den Schriftsteller Alain de Botton: „Eine Sache, die uns in der Krise erspart bleibt, ist der Zwang, zufrieden zu sein.“ Sich nichts beweisen müssen. Auf Sicht fahren, auf sich selbst achten und Pläne eine Nummer kleiner zuschneiden.

Auch der Blick zurück kann helfen, wenn uns Unerwartetes trifft: Wie bin ich in vergangenen Lebensphasen mit Achterbahnfahrten umgegangen, was hat mir geholfen, mich wieder sicher zu fühlen? Heilsame Mechanismen zu kennen und die Gewissheit zu haben, dass auch tiefe Täler irgendwann durchschritten sind, kann wie eine psychische Schutzimpfung wirken. Daran hat unsere Gesellschaft großen Nachholbedarf, findet Petra-Alexandra Buhl, Autorin***und Coach aus Radolfzell: „Wir sind krisenentwöhnt, unsere Bewältigungsstrategien sind zu wenig ausgeprägt. Zu emotional, zu wenig selbst gesteuert.“ Sie selbst hat das als junge Frau auf die harte Tour lernen müssen, weil eine Krebserkrankung sie zu einer Vollbremsung zwang – heute engagiert sie sich für die psychosoziale Nachsorge von Krebspatienten und weiß, wie das Leben sich anfühlt, wenn eine ständige Restunsicherheit es begleitet.

Der entscheidende Schritt, egal ob es etwa um eine eigene Krankheit geht oder eine weltweite Gesundheitskrise: Raus aus der Opferrolle. Buhl: „Es ist Energieverschwendung, sich an der Frage nach dem Schuldigen abzuarbeiten. Oder wie ein trotziges Kind darauf zu beharren, dass alles wieder so werden soll wie früher.“ Wie Eva Gjoni spricht Buhl von einem Dreiklang: Akzeptanz, Begrenzung, Trost. „Innerhalb eines gegebenen Rahmens kann ich panikfreie Räume schaffen. Für eine gefährliche Diagnose bedeutet es: Ich denke einmal die Woche bewusst darüber nach, was eine Verschlechterung bedeuten könnte und wie ich mein Leben dann ändern müsste. Ansonsten umgebe ich mich all dem, das mir Kraft gibt – Dinge, Projekten, Menschen. Für Corona kann das heißen: mich nur einmal am Tag mit den Nachrichten beschäftigen, Menschen meiden, die mich mit ihrer Angst oder Wut herunterziehen, hilfreiche Kontakte pflegen. Die Kunst ist, Glück in glückfernen Zeiten zu finden.“

Eine Chance steckt auf jeden Fall in der Herausforderung durch das Virus: so wie vergangene Krisen uns stark machen können für das Heute, könnte die gemeinsame Krise uns bestenfalls widerstandsfähiger machen für die Zukunft. Aber auch offener für Veränderung. Vor allem für das Gute, auch wenn es aus einer unerwarteten Richtung kommt. Eine Chance zum beruflichen Quereinstieg, eine Liebe, wo man sie nicht vermutet hätte. Oder etwas ganz anderes, von dem wir noch gar nicht ahnen, dass es uns fehlt.

HILFE  in harten Zeiten Gemeinsam mit Kolleg*innen gründete Eva Gjoni eine bundesweite Hotline für qualifizierte, kostenlose psychologische Beratung – telefonisch oder videobasiert, mehrsprachig, auf Wunsch auch anonym, auf einer geschützten Plattform. Gedacht ist der Dienst vor allem für Menschen, die in der Corona-Krise an ihre psychischen Grenzen kommen, bei tiefergehenden Problemen helfen die Berater*innen bei der Suche nach einem passenden Therapieangebot. Montag bis Freitag 12 bis 15 Uhr unter htpps://bleibpsychischgesund.de

ZUM WEITERLESEN

*„Hollywood Calling“ heißt der Fotoband von Isadora Tast (Fotohof Edition, 39 €) – 60 internationale Schauspieler*innen in L.A. berichten von ihren wechselvollen Karrieren und dem Umgang mit der Unberechenbarkeit. Tolle Bilder, ehrliche Texte.

** „Unverfügbarkeit“ von Hartmut Rosa (gerade bei Suhrkamp als Taschenbuch erschienen, 10 €) ist ein Essay über den Zwiespalt zwischen Kontrollwunsch und Sehnsucht nach dem Fremden und Irritierenden. Anspruchsvolles Futter für den Kopf!

*** Mit „Heilung auf Widerruf“ (Petra-Alexandra Buhl, Klett Cotta, 17 €) hat die Autorin ein Mutmachbuch nicht nur für Krebspatient*innen verfasst: Neben medizinischen Kapiteln geht es auch um das Langzeit-Überleben und die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit als Reifungsaufgabe und Chance.

Alles fließt

Leben ist Veränderung – das gilt zunehmend auch für die Liebe. Immer mehr Menschen haben Beziehungen zu beiden Geschlechtern, ohne sich in eine Schublade stecken lassen zu wollen. Modeerscheinung – oder gar eine neue sexuelle Revolution?

Erstmals veröffentlicht in BRIGITTE LEBEN, Ausgabe 2, Frühjahr 2020

Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die klingen wie fürs Kino erfunden. Ein bisschen crazy, ein bisschen irritierend, aber auch mutig und ehrlich. Zum Beispiel diese: Frau, Mitte 40, Ehemann, zwei Kinder, trifft eine andere Frau und verliebt sich Hals über Kopf. Hadert mit den überraschenden Gefühlen, hält erst sich selbst für verrückt und fürchtet dann, dass es alle anderen tun. Schließlich versteht sie: Das ist mein wahres Ich.

Sandra Schlegel*, 47, hat das tatsächlich getan: ihren Mann nach langer Ehe für ihre Lebensgefährtin Katrin verlassen. Aber wie im Kino hat es sich nicht angefühlt. „Es war eine Zeit der inneren Zerrissenheit, wie bei jeder Trennung. Aber sie hat mich nicht in meinem Selbstbild erschüttert“, sagt sie bei einem Cappuccino im Café, mitten im Szeneviertel einer großen Unistadt. „Mein Leben vorher hat für mich über lange Zeit total gestimmt. Ich wollte immer Kinder, das hat David und mich verbunden, aber es war nicht der einzige Grund, ihn zu heiraten.“ Doch Gefühle und Gewissheiten können sich ändern. „Als ich Katrin kennenlernte und mir irgendwann ehrlich eingestand, wie ich empfinde, konnte ich nicht einfach weiterleben wie bisher. Das wäre niemandem gegenüber fair gewesen – weder David noch mir selbst gegenüber.“

Plötzlich lesbisch? Oder immer schon bi? Weil Sandra Schlegel schon als junges Mädchen einen Blick für hübsche Mitschülerinnen hatte, weil sie sich mit Anfang 20 zwei, drei Mal in Party-Knutschereien mit weiblichen Bekanntschaften wiederfand? „Ich fange nichts mit diesen Labels an. Ich bin einfach ich.“ Bei ihrer Lebensgefährtin ist das ähnlich: Die hatte vorher mehrere lange Beziehungen, vor allem zu Frauen, aber auch zu Männern. Auch sie hat ein Kind. „Als wir offiziell ein Paar wurden, habe ich immer gesagt: Es spielt gar keine Rolle, dass Katrin eine Frau ist, es geht mir um den Menschen.“

So wie die beiden empfinden viele die gängigen Schubladen des Begehrens – homo, hetero, bi – als zu ungenau. Die Begriffe stammen aus der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Der Sexualforscher Alfred Kinsey war in den 50-ern des 20. Jahrhunderts schon einen Schritt weiter: Seine Skala umfasste immerhin sieben Zwischentöne, die auf Wertungen wie  „richtig“ oder „falsch“ verzichtet. Heute gilt auch das zu holzschnittartig. Die US-amerikanische Psychologin und Wissenschaftlerin Lisa Diamond von der University of Utah hat vor einigen Jahren den Begriff „fluide Sexualität“ geprägt. Klingt ein wenig vage, ist aber treffend – anders als der Versuch, für jede Schattierung der Lust ein neues korrektes Mini-Label zu finden, konstatiert Diamond erstmal nur, dass Begehren in Bewegung ist.

Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität an der Frankfurt University of Applied Sciences, beschreibt Sexualität wie einen Regler mit Spielraum. „Bei den meisten Menschen ist die grundlegende Orientierung mit Abschluss der Pubertät, spätestens in den 20-ern zwar abgeschlossen. Aber das heißt nicht, dass sie unveränderbar ist. Und dass Menschen nicht auch einmal Sex entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten haben.“ Viktoria Märker, Fachärztin am Sexualforschungsinstitut des Hamburger UKE, bestätigt: „Sexuelle Orientierung, sexuelles Begehren ist ein Prozess und kein Zustand, den ich mit einem Etikett versehen kann und sagen: So ist und bleibt das jetzt.“

Manchmal betrifft der Spielraum nur die Liebe in Gedanken. Zum Beispiel Fantasien beim Solo-Sex. Oder die Tatsache, dass alle Frauen beim Anschauen erotischer Filme messbar körperlich erregt werden, egal, ob es vor der Kamera Frau und Mann, zwei Frauen oder zwei Männer miteinander treiben. Das ergab ein Experiment der US-amerikanischen Queen’s University. Aber auch Liebesbiografien wie die von Sandra Schlegel werden von der exotischen Randerscheinung zum Mainstream. Prominente Beispiele gibt es genug, etwa, wenn sich Model Cara Delevigne und Schauspielerin Kristen Stewart mal innig mit Männern und mal mit Frauen auf Glamour-Events und in Social Media-Posts zeigen. Ebenso die Schriftstellerin Elizabeth Gilbert („Eat, pray, love“), die 2016 mit 46 ihren zweiten Ehemann verließ, um ihre – mittlerweile verstorbene – Freundin Rayya Elias zu heiraten.

Sven Lewandowski, Soziologe an der Uni Bielefeld, findet: Die neue erotische Unberechenbarkeit passt zum Zeitgeist. „Unsere Identitäten sind heute wandelbarer als früher und voller Brüche – etwa im Berufsleben, oder wenn wir den Wohnort wechseln. Warum sollte ausgerechnet Sexualität davon ausgenommen sein?“ Er ist überzeugt: Anders als wir annehmen, ist sexuelle Lust nicht die natürlichste Sache der Welt. Sondern vor allem ein Kulturprodukt. Wen und was wir begehren, wird nicht nur bestimmt von Körperchemie und seelischer Prägung, sondern auch von unserer Umgebung. „Was erlaubt ist und was tabu, wer mit wem Beziehungen eingehen darf, ohne deshalb gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden – das beruht auf ausgesprochenen oder unausgesprochenen Vereinbarungen innerhalb einer Gesellschaft.“ So wie wir nicht nur essen, um Kalorien aufzunehmen, dient auch das, was zwischen Menschen im Bett passiert, vielen Bedürfnissen. Fortpflanzung ist eher selten das vordringlichste.

„Identitäten geben Halt, aber sie können auch einengen wie ein Schraubstock. Der ist heute ein paar Umdrehungen lockerer“, sagt Lewandowski. Demnach ist es nicht verwunderlich, wenn in einer toleranten Umgebung Beziehungen wie die von Sandra Schlegel nicht nur denkbar sind, sondern auch eher gelebt werden als in Milieus und Kulturen mit traditionellen Moralvorstellungen. „In unserem Freundeskreis, unter Kolleginnen, in unserem Viertel haben Menschen zwar erstaunt reagiert, als wir unsere Beziehung öffentlich gemacht haben. Aber wir haben uns nie diskriminiert gefühlt“, sagt Sandra Schlegel. „Sogar meine 80-jährige Mutter hat nur gefragt: Diese Katrin, ist sie denn eine Nette?“ Sie fügt nachdenklich hinzu: „Wer weiß, ob ich mir diese Gefühle überhaupt eingestanden hätte, wenn ich ein paar Jahrzehnte früher gelebt hätte. Oder wenn ich in einem kleinen, katholischen Dorf wohnen würde. Es geht mir vor allem um Katrin als Person, aber zur Wahrheit gehört auch: Kein Mann kann so nachempfinden, was einer Frau Lust bereitet, wie eine andere Frau. Sex ist spielerischer, man biegt nicht so schnell auf die Zielgerade ein, sondern lässt sich länger treiben.“

Beziehungen und Begegnungen jenseits des Boy meets Girl-Schemas werden gerade unter den Jüngeren immer häufiger. Denn der Zeitgeist ermutigt jene, die flexibler sind in ihrer Lust. Dazu passt eine online-Umfrage unter 1000 Teenagern und Twenty-Somethings in den USA und Großbritannien: Eine Mehrheit von 57 Prozent bezeichnet sich als nicht rein heterosexuell. „Das heißt nicht zwingend, dass all diese Menschen das tatsächlich ausleben“, sagt Stefan Timmermanns, „aber es ist ein Ausdruck innerer Freiheit.“ Und noch etwas zeigt das Ergebnis: Es ist nahezu unmöglich, statistisch zu erfassen, wie Menschen sexuell ticken – denn die Zahlen sind immer das Ergebnis einer Selbstauskunft. Und damit auch Ausdruck dessen, was als sozial erwünscht gilt. In rigideren Zeiten outeten sich eher nur solche Frauen und Männer, die ausschließlich das eigene Geschlecht anziehend fanden. Umgekehrt: Wenn im Teenie-Freundeskreis alle die Regenbogenflagge auf dem Smartphone haben und die coolsten Socken bei Germany’s Next Topmodel transgender sind, klingt hetero schnell ein bisschen spießig und nach bravem Blümchensex.

Bei aller Offenheit bleibt allerdings ein Unterschied zwischen den Geschlechtern: Laut Studienlage sind es deutlich mehr Frauen als Männer, die ihre Freiheit auch nutzen. Oder sind sie einfach das fluidere Geschlecht? Sven Lewandowski glaubt: Das hat mehr mit der gesellschaftlichen Geschlechterordnung zu tun als mit Biologie. „Über Jahrhunderte hatte der heterosexuelle Mann gesellschaftlich das Sagen – wenn sich Kategorien auflösen, werden auch Machtverhältnisse in Frage gestellt.“ Heißt konkret: Männer bekommen es nicht nur mit der Angst zu tun, wenn Frauen mehr gesellschaftlichen Einfluss fordern. Sondern auch, wenn sie selbst in Kontakt mit ihren eigenen weiblichen Seiten kommen. Einige empfinden wohl durchaus fluide, leben die Lust auf ihresgleichen sogar manchmal aus. Aber sie gehen weniger offen damit um oder definieren solche Erlebnisse für sich eher als Ausrutscher: Ich und schwul? Never! Medizinerin Viktoria Märker vom UKE glaubt jedoch: Das könnte sich mit einer neuen Generation ändern. „Auch Männer stellen ihre Rolle ja zunehmend in Frage, sind mehr in Kontakt mit ihren Gefühlen und schaffen sich größere Freiräume.“

Bei manchen Menschen geht die Grenzüberschreitung noch einen Schritt weiter – nicht nur in der Sexualität, sondern auch beim biologischen Geschlecht. Vor allem junge Frauen scheinen vermehrt damit zu hadern. Immer mehr Mädchen stellen sich heute bei entsprechenden Stellen vor, weil sie sich als transgender empfinden – am britischen Tavistock Centre in London, einer Klinik, die auch Minderjährige Trans-Menschen behandelt, hat sich deren Zahl innerhalb der letzten zehn Jahre sogar verfünfzigfacht.

Je nach Sichtweise kann das entweder heißen: Hurra, endlich fällt ein Tabu, das früher zu leidvollen Existenzen geführt hat. Oder: Achtung, der Hype um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, kombiniert mit niedrigeren juristischen Hürden, hat auch fatale Folgen. Die Fälle   mehren sich,in denen junge Menschen ihre geschlechtsangleichende Operation bereuen und sie gern rückgängig machen würden. Was nur sehr schwer geht. In deutschen Beratungsstellen führt das zu einem Richtungsstreit: Während manche ihren minderjährigen Patient*innen pubertätsstoppende Hormone verschreiben, warten andere mit körperlichen Eingriffen bis zur Volljährigkeit.

Fragen, die sich Menschen wie Sandra Schlegel nicht stellen müssen. Sie fühlt sich nicht mehr oder weniger als Frau, je nachdem, mit wem sie das Bett teilt. „Ich liebe Katrin sehr. Trotzdem habe ich mich schon mal gefragt: Wenn unsere Beziehung scheitern würde, würde ich dann eher wieder nach Männern Ausschau halten? Im Moment finde ich Frauen sexier und schöner. Aber wer weiß, ob das immer so sein wird.“  

*Namen der Betroffenen auf deren Wunsch geändert

Der Code des neuen Jahrzehnts

Wohl kaum etwas wird unser Alltags- und Familienleben in den Zwanziger Jahren so sehr verändern wie die Digitalisierung – und Corona hat das Tempo noch erhöht. Wir haben schon mal gespickt: Wo wir aufpassen müssen, worauf wir uns freuen können, und warum wir Maschinen nicht das selbständige Denken überlassen sollten

Veröffentlicht als Dossier in ELTERN Family, Oktober 2020

Vor langer, langer Zeit, in einer weit, weit entfernten Redaktion, bekam ich meine erste E-Mail-Adresse. Ich war eher genervt als erfreut. E-wie? Mail-was? Niemand, den ich kannte, hatte so eine Klammeraffenkonstruktion, und wozu auch. Es gab ja Fax. Und Telefon. Handys auch. Aber die brauchten nur eitle Yuppies.

Das waren die mittleren Neunziger, und von da an ging alles ganz schnell, bei mir und weltweit. Die Geburten meiner Kinder verkündete ich noch per SMS auf einem nicht smarten Phone, ein paar Jahre später wurden ihre Geburtstagsgeschenke schon per WhatsApp koordiniert. In den Zehner Jahren fingen auch Autos, Kühlschränke und Putzgeräte an zu denken, und jetzt sind wir hier: Frisch in den Zwanzigern, durch die Corona-Pandemie noch eine digitale Umdrehung nach vorn katapultiert.

Eine rasante Entwicklung, die manchmal auch spaltet. In E-Einkaufszettelbenutzer und Analog-Biokistenbezieher, in Lernapp-Fans und Holzschnitz-Verteidiger, und gelegentlich geht der Riss mitten durch uns selbst. „Digitalisierung verspricht uns Zugriff auf die ganze Welt, echte Verbindung zu weit entfernten Menschen“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe, Autor und Mitbegründer des Kölner Rheingold-Instituts. „Aber sie hält das Versprechen nicht immer. Stattdessen befinden wir uns oft in einer Zwischenwelt, in der wir Fake und Realität nicht unterscheiden können.“ Hat die Kollegin beim Bildschirmmeeting nur ihre Kamera ausgeschaltet, oder ist sie gar nicht mehr da? Diskutieren wir auf Twitter mit einem künstlichen Bot, ohne es zu merken? Und machen wir uns zu abhängig, wenn wir selbst die Auswahl eines Familienfilms Algorithmen überlassen? Psychologisch, sagt Grünewald, liegt das rechte Maß in der Mitte zwischen Euphorie und Verteuflung: Technik nutzen, ohne die Kontrolle über unser Leben aus der Hand zu geben. Wie viele Stunden Kita will ich für mein Kind, möchte ich mich beruflich verändern, und bin ich eigentlich glücklich in meiner Beziehung – solche Fragen kann uns kein Big Data-Spezialist beantworten.

Wagen wir also eine Bestandsaufnahme: Wo stehen wir, und wohin könnte die Reise uns Eltern und Kinder in den nächsten Jahren führen?

IM FAMILIENALLTAG: Kira weiß alles (besser)

Deutschland, 2030. Eine superintelligente Konfliktschlichterin, fahrerlose E-Autos und eine mitwachsende Wohnung machen Familie Alpha das Leben leichter. Familie Beta ist dagegen voll auf Retro-Trip. Eine Zeitreise in die nahe Zukunft

Montag morgen, viertel vor sieben: Hilfe, da sitzt eine Fremde auf dem Barhocker in der Küche! Ariane Alpha zuckt erschrocken zusammen, dann wird ihr klar: Es ist nur Kira, die dort auf sie wartet. Ein KI-Superrechner in der täuschend echten Gestalt einer freundlichen Großmutter. Seitdem Kira vor drei Jahren in ihren Haushalt gekommen ist, ist sie Life Coach, Paartherapeutin, Erziehungsberaterin und persönliche Assistentin in einem. Sie schneidet jedes Gespräch mit, das in der Wohnung geführt wird und moderiert Streit; sie bündelt alle Daten von Kontostand bis zum Termin der nächsten U-Untersuchung, empfiehlt Trainingsprogramme für Ariane, 35, und Anton. 38, fragt Adrian, 12, Chinesischvokabeln ab und singt Lieder für Alina, 2. Alles bezahlt von der Krankenkasse. Die hat 2027 festgestellt, dass Haushalte mit so einem eigenen Familien-Bot gesünder leben. Mehr Sport, weniger Alkohol, sogar häusliche Gewalt ist um 78 Prozent zurück gegangen. Die Alphas lieben ihre digitale Nanny fast wie einen echten Menschen. Auf jeden Fall mehr als ihre körperlosen Vorgängerinnen Siri und Alexa – da hat einfach der menschliche Faktor gefehlt.

Heute auf dem Kantinenplan: ein Steak aus dem 3-D-Drucker

„Guten Morgen, Ariane“, begrüßt Kira sie freundlich, „ich sehe, dein Blutdruck ist etwas niedrig. Möchtest du Tipps für ein Morning Workout, oder soll ich dir zuerst eine Empfehlung fürs Frühstück geben?“ „Danke“, antwortet Ariane, „ich schau heute selbst, worauf ich Lust habe.“ Schwingt in Kiras Schweigen ein leiser Vorwurf mit? Ariane steigt über den Putzroboter, öffnet den Kühlschrank, wie immer gut gefüllt, denn selbstverständlich schickt er selbsttätig Bestellungen an den Lieferservice. Früher waren sich Ariane und ihr Mann Anton oft nicht einig bei der Programmierung: Ariane lebt vegetarisch und Anton mag Fleisch. Aber das Problem ist gelöst, seit er im Büro auf seine Kosten kommt: Der 3-D-Drucker in der Kantine wirft zum Lunch auch Steaks aus. Aus laborgezüchteter Bio-Rohmasse, schadstofffrei, und ohne dass ein Tier sein Leben lassen musste. Kein Wunder, dass Anton seitdem immer seltener im Homeoffice arbeitet – obwohl er jederzeit könnte.

7 Uhr 20. Der Zwölfjährige schlurft in die Küche, Kira bemerkt ihn als erste. „Guten Morgen, Adrian. Du bist spät dran.“ „Schnauze“, sagt er, aber nicht unfreundlich. Pubertät eben. Früher hat sich Adrian oft Kira anvertraut, wenn es Ärger gab: „Kira, Mama, ist so doof!“ Und Kira hat ihm in die Augen geschaut, ihm erklärt, warum er vom vielen 3D-Gaming zappelig wird (Stresshormone!) und empfohlen, ein Glas Milch zu trinken.

Aber jetzt muss Adrian los, Schule! Und keine Lust aufs Fahrrad. Deshalb wird er in ein Fahrzeug der E-Flotte einsteigen, die seit letztem Jahr komplett fahrerlos und beinahe geräuschlos durch die Straßen rotieren. Zur Grundschule hat sein Vater ihn noch manchmal mit dem eigenen Auto gebracht, aber das haben sie 2026 abgeschafft – Mobilität on demand ist in der Stadt bequemer und billiger!

Platz da: Mit jedem Programm-Update wächst die Wohnung mit

„Mama, ich geh nach der Schule noch mit meinen Kumpels ein Eis essen!“ „Gut, was sagt dein Budget dazu?“ Adrian öffnet die nächste App, Ariane seufzt. Das Volksbegehren gegen die Abschaffung des Bargeldes ist vor vier Jahren mit einer knappen Niederlage ausgegangen. Gar nicht so einfach, Kindern den Umgang mit Finanzen beizubringen, wenn man keine Münzen und Scheine mehr zum Anfassen hat. Eine Zeitlang haben sie sich mit Klötzchentürmen beholfen: Für jeden Euro Taschengeld, den Adrian ausgab, verschwand eines, damit er verstand, dass sein Geld weniger wurde.

Aus dem Nebenzimmer quietscht Alina. Vergnügt sitzt Arianes kleine Tochter im Gästezimmer, wo sie mit ihrer Oma auf dem Sofa ein Bilderbuch anschaut. Oma hat von gestern auf heute hier geschlafen, während die Eltern auf einer Geburtstagsparty waren. Eigentlich bräuchte es keinen Babysitter, aber Oma findet es verantwortungslos, ein Kleinkind mit einer KI allein zu lassen. Typisch Schwiegermutter, denkt Ariane, aber sagt es nicht laut. Was will man von einer Baby-Boomerin erwarten, die ihre Diplomarbeit noch auf der elektrischen Schreibmaschine verfasst hat?

Dabei kann auch Oma Alpha der Digitalisierung einiges abgewinnen: Ihr eigenes Smart Home macht die Alltagsorganisation leichter, auch das modulare Wohnkonzept der Juniors kommt ihr entgegen. Die Wohnung im Neubau von 2025 kann Trennwände für ein Pop-Up-Gästezimmer ausfahren, reist Oma ab, wird daraus wieder eine Wohzimmerecke. Auch Updates sind im Mietvertrag geregelt: „Living Plus“ mit Schallisolierung für die Teenager-Wohnräume; „Silver Living“ macht aus dem Grundriss eine großzügige Loftwohnung, wenn eines Tages die Kinder aus dem Haus sind. „Da!“ ruft Alina und deutet auf ein Bild in ihrem Buch. Die Oma nickt. „Ja, da steht K-I-N-O. Da sind die Leute hingegangen, ehe es Streamingdienste gab.“

Handgeschriebene Briefe von der Retro-Freundin

17 Uhr. Ariane kommt nach ihrem Arbeitstag aus dem Biotech-Startup nach Hause. Beim Blick auf die Hausbriefkästen fällt ihr ein: Montags wird die Papierpost geliefert! Heute fischt sie tatsächlich einen Brief aus dem Kasten. Handgeschrieben. Die einzige Person, die so etwas tut, ist Bettina Beta. Ihre ehemals beste Freundin. Seitdem sie ihre Stelle als Personal Trainerin verloren hat, weil Bots wie Kira diesen Job besser und gratis machen,  lebt Bettina mit Familie auf dem platten Land, züchtet Hühner und baut Gemüse an. Nichtmal das 7G-Netz gibt es dort. Ariane ahnt schon, was in dem Brief steht: Ein Loblied auf das raue, angeblich echte Leben, mit echten Tieren, echten Landmaschinen mit Auspuff und Motorgeräusch, echten Beziehungskrächen. Jetzt schreibt Bettina auch noch, ihre Familie würde von tief fliegenden Kameradrohnen ausgespäht. Ist das noch Verbitterung oder schon Paranoia?

Als Ariane die Wohnungstür aufschließt, ist es ruhig. Fast zu ruhig. Dann hört sie gedämpftes Kichern aus der Küche. Dort sitzen sie, großer Bruder und kleine Schwester, neben ihnen Kira, die gar nicht gut aussieht. Irgendwie schlapp und unkonzentriert. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“, fragt Ariane alarmiert. „Tut nich aufladen!“ strahlt Alina über das ganze Gesicht. Adrian feixt. „Zu blöd, Mama, aber ich glaube, ihr Akku ist leer.“ Ariane atmet auf. „Netter Versuch. Was du vielleicht nicht weißt: In diesem Fall geht Kira in den Ruhezustand und schaltet um auf Solarmodus.“ Ariane will gerade das Kabel wieder einstecken, da richtet Kira sich schon auf. „Hallo, meine Liebe. Dir würde eine Tasse Detox-Tee guttun. Und du, lieber Adrian, hast noch viel Arbeit vor dir. Dein Hausaufgaben-Soll liegt bei sechsundvierzig Prozent.“

Fiktiv, aber nicht unrealistisch: Zu diesem Zukunftsszenario hat die Zeitgeistforscherin Kirstine Fratz (zeitgeistforschung.com) ihr Knowhow beigesteuert

IM SPIEL: Vom Würfel bis zum Star-Avatar – 3350 Jahre Gaming

Schon in der Antike vertrieben sich Kinder spielend die Zeit, ganz ohne Konsole. Ein Rückblick mit Ausblick

1330 v. Chr: Das populärste Spiel im Ägypten zur Zeit des Pharaos Tut-Anch-Amun heißt Senet und folgte ähnlichen Regeln wie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Ein Würfel entscheidet, ob eine Spielfigur auf Glücks- oder Pechfelder vorrückt

1200 n. Chr.: Zur Ausbildung des Ritter-Nachwuchses an europäischen Höfen gehören nicht nur Waffenkunde, Ringen, Tanzen und gute Manieren. Knappen im Alter von 13 bis 14 Jahren lernen auch die Regeln für Brettspiele, vor allem Schach

1718: Als der preußische Kronprinz sechs Jahre alt ist, befiehlt ihm der Vater, mit Spielzeugkanonen und Zinnsoldaten zu spielen, hinter seinem Rücken übt der musikalische Friedrich lieber heimlich Flöte. Sein späterer Beiname: der Große

1935: Ein anderer Friedrich mit Nachnamen Schleich gründet in Schwäbisch-Gmünd eine Firma für Spielzeugtiere. Später erweitert die Firma ihr Sortiment um Fantasy-Wesen – zu den Verkaufsschlagern seit den Nuller Jahren gehören Elfen und Einhörner.

1980 n. Chr: Japanische Entwickler stellen die erste Version von „Pac Man“ vor: Eine Figur frisst sich durch ein Labyrinth und wird von Gespenstern verfolgt. In den frühen Achtzigern findet Gaming noch vielfach an Automaten in Spielhallen statt. In der Kategorie „Solitärspiel“ gewinnt der „Zauberwürfel“ den Preis „Spiel des Jahres“ – sechs Jahre, nachdem ihn der ungarische Bauingenieur Ernö Rubik entwickelt hat.

1995: Das Brettspiel „Die Siedler von Catan“ kommt auf den Markt und gilt heute als zweiterfolgreichste Spiel-Marke nach dem 90 Jahre älteren „Monopoly“. Heute gibt es das Catan-Universum auf allen Plattformen: auch als Kartenspiel und in Online-Versionen.

1997: Das Tamagotchi schlüpft: ein virtuelles Küken, um das man sich kümmern muss wie um ein echtes Haustier. Damit ist das Spielzeug aus Japan Vorläufer von Spielen, die Elektronik und Realität verbinden – in den Nuller Jahren etwa Pokémon Go, das mit der größeren Verbreitung von Smartphones und Ortungs-Apps zum Hit wird.

2017: Das umstrittene Koop-Survivalspiel „Fortnite“ kommt auf den Markt, und auf dem Schulhof kommen die zugehörigen „Zahnseide“-Moves aus dem „Battle Royal“-Modus in Mode – auch unter Kindern, die Fortnite (noch) gar nicht spielen.

2020: Zu den populärsten Computergames gehört „Minecraft“ – als Strategiespiel oder im Actionmodus, allein oder mit anderen. Doch auch neue Offline-Spiele werden populärer: von Escape Rooms bis zum kostümierten „Life Action Role Play“

2030: Gaming-Blogger Lukas Mehling (gamerliebe.de) schätzt: Klassiker wie Minecraft und Super Mario werden auch die Zwanziger überdauern, im Kommen sind Hybride zwischen Film und Spiel. In manchen Games leihen bereits Schauspieler wie Keanu Reeves, Mads Mikkelsen oder Kristen Bell den Charakteren Körper und Gesicht

IN DER SCHULE: „Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht die Maschine“

Klaus Zierer ist Professor für Schulpädagogik an der Uni Augsburg. Er sagt: Ob Digitalisierung beim Lernen hilft, steht und fällt mit der Lehrperson

ELTERN FAMILY: Nach den Schulschließungen im Frühjahr gab es die Hoffnung, digitale Plattformen könnten einen Schub erhalten und Lernen moderner werden. Hat sich das aus Ihrer Sicht erfüllt?

Klaus Zierer: Nein, wir müssen hier bildungspolitische Defizite feststellen. Es gab keinen Masterplan, keine einheitlichen Konzepte, und wie gut das Fernlernen funktionierte, hing vor allem davon ab, wie engagiert die Lehrperson war. Das bestätigt zweitens: Im Mittelpunkt eines Lernprozesses steht nie die Maschine, sondern immer der Mensch. Eine gute Lehrperson setzt digitale Technik sinnvoll ein, lässt Schülerinnen und Schüler beispielsweise Filme drehen oder mit einer App vertiefend üben, aber behält immer selbst die Zügel in der Hand.

Aber ist die Technik dem menschlichen Hirn nicht auch in mancher Hinsicht überlegen – etwa, wenn ein Algorithmus genauer den Leistungsstand einschätzen kann und Schritt für Schritt das Niveau anpasst…

Die Lernforschung zeigt uns, dass solche Programme Grenzen haben: Sie eignen sich vor allem für standardisierte Formen, etwa das Vokabellernen, und eher für schwächere Schüler. An einem bestimmten Punkt, wenn es vom Lernen zur umfassenderen Bildung übergeht, braucht es aber menschliche Interaktion, den Austausch mit Peers, eine Lehrperson mit Vorbildcharakter, egal, in welchem Fach und in welchem Alter. Das kann keine Maschine ersetzen.

Und was ist mit Spaß? Es motiviert vielleicht stärker, wenn Erfolge nach Art von Computerspielen belohnt werden, wenn es Punkte zu gewinnen gibt….

Natürlich soll Lernen Freude bereiten, aber äußere Motive wie die genannte Belohnung wirken nicht lange. Wichtiger ist die Erkenntnis: Lernen ist mühsam, aber nur an eigenen Fehlern und Rückschlägen kann man wachsen. Anstrengung lohnt sich also: So werden beispielsweise Inhalte beim analogen Lesen besser im Hirn verankert, und beim Mitschreiben per Hand besser durchdacht als beim Eintippen.

Macht Digitalisierung das Lernen demokratischer – etwa, wenn sich schwächere Schüler Mathe-Tutorials im Netz anschauen, auch wenn die Eltern kein Geld für Nachhilfe haben?

Das ist leider die Ausnahme, die sozialen Gräben werden eher noch tiefer. Weil Kinder und Jugendliche aus bildungsnahen Milieus ganz andere Inhalte nutzen als solche aus bildungsfernen. Wir bräuchten dringend eine bessere Medienerziehung!

Das klingt pessimistisch. Wenn Sie sich wünschen könnten, wo die Reise im neuen Jahrzehnt hingeht: Was wäre das Ziel?

Bildung sollte zweckfrei bleibt, also nie nur nach Aspekten der Nützlichkeit betrachtet werden. Mein Idealbild bleibt eine humane Schule, bei der der Mensch und seine Eigenverantwortung im Mittelpunkt stehen. In der weiterführenden Schule haben digitale Lernformen ihren Platz als Teil eines größeren Ganzen. In der Grundschule sollten sie nur begleitend eingesetzt werden, und in der Kita haben sie nichts verloren.

Programmieren gehört also nicht so früh wie möglich auf den Lehrplan?

Ich finde: Nein. Eine umfassende Bildung ist wichtiger. Die beginnt mit sozialem Lernen, und damit der Erziehung zu selbstbestimmten und loyalen Menschen.

IN DER KOMMUNIKATION: digitales Doppelleben

Für die Kinder der Zwanziger Jahre ist die digitale Welt ein selbstverständlicher Teil des Lebensraums, mit allen Vorzügen und allen Gefahren: Etwa jeder dritte Achtjährige besitzt ein Smartphone, bei den Jugendlichen ab 12 sind es 98 Prozent. Spielen, Filme schauen, chatten – wie gehen Eltern damit um, und was raten Experten?

EINE MUTTER SAGT: „Das Schnitzhandy hat mich weich gemacht“

Vero, 42, ist PR-Journalistin, alleinerziehend, und wohnt mit Sohn Leo, 13, in Hamburg

„Ich war ein Waldorf-Kind und bin sehr naturnah aufgewachsen, Fernsehen war bei uns zu Hause tabu. Auch für Leo habe ich mir eine Kindheit mit wenig elektronischen Medien gewünscht. Aber als er dann zum Ende der Grundschulzeit mit rührenden Basteleien ankam, getöpferten und geschnitzten Smartphones, habe ich ihm seinen Herzenswunsch doch vor dem zehnten Geburtstag erfüllt. Allerdings habe ich die Zeit klar begrenzt: Anfangs nicht mehr als 30, 45 Minuten pro Tag, mittlerweile maximal zwei Stunden, und an Wochentagen erst ab sechs Uhr abends. Ich glaube, er hat dadurch ein Gefühl dafür bekommen, was ihm gut tut, nutzt den Klassenchat konstruktiv, und hat eher kreative Ideen, statt sich berieseln zu lassen: dreht Stop-Motion Filme mit Knetfiguren, interessiert sich für Robotik, und ist mittlerweile der IT-Beauftragte der Familie, weil er sich am besten auskennt.“

EIN VATER SAGT: „Die Inhalte zählen, nicht die Zeit“

Markus, 52, ist Jurist und hat mit seiner Frau Katrin drei Kinder: Sunny, 13, Mare, 11, und Mio, 9. Die Familie lebt in Berlin

„Unsere Kinder sind technisch gut ausgestattet: Als sie kleiner waren, haben sie auf dem iPod Hörspiele und Musik gehört, jetzt gehören Konsolen, Laptops, Tablets und Handys zum Haushalt. Die online-Zeiten der Kinder kontrollieren wir Eltern nicht, dafür die Inhalte: Spiele mit Suchtfaktor sind bei uns tabu, zum Beispiel Fortnite, das zu In-App-Käufen animiert und so konstruiert ist, dass man schwer ein Ende findet. In der Corona-Zeit hingen die drei viel an ihren Geräten, da haben wir ihnen immer wieder Alternativen geboten, wenn wir den Eindruck hatten, es wird zu einseitig: Komm, wir gehen raus, Radfahren, Wandern. Am schönsten ist es, wenn sie von selbst die Balance halten. Sunny stand eines Nachmittags mit dem Skateboard auf dem Flur und sagte: Ich hab genug gezockt, alle Filme gesehen, ich geh aufs Tempelhofer Feld. Der Kleinere hat Einradfahren gelernt, alle drei haben wieder mehr gelesen. Das bestätigt uns: Statt Kontrolle mit der Stechuhr setzen wir lieber auf unser Bauchgefühl und auf Vertrauen.“

EINE EXPERTIN SAGT: „Das Problem sitzt im Kopf, nicht im Prozessor“

Dr. Iren Schulz ist Kommunikationswissenschaftlerin und Mediencoach und arbeitet im Auftrag der öffentlich-privaten Initiative „Schau Hin!“ (schau-hin.info)

„Zu den größten Herausforderungen im Netz gehört das Cybermobbing – etwa die Hälfte aller Kinder und Jugendliche haben schon mit beleidigenden Kommentaren zu tun gehabt, quer durch Altersgruppen und soziale Schichten, und sie sind einfach verletzlicher als Erwachsene. Sicherlich hat es Mobbing auch in analogen Zeiten gegeben, aber eine Schulhofprügelei war eben nach zehn Minuten Geschichte – heute ist weniger körperliche Gewalt ein Problem als psychische. Und die ist eben mit dem Schulgong nicht vorbei, sondern geht auch nachmittags und am Wochenende weiter. Manchmal hilft es nicht einmal, die Schule zu wechseln.

Das Problem ist aber nicht die technische Entwicklung, das Problem ist im Kopf. Das Netz ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, und die ist auf Leistung, Abgrenzung und Einzelkämpfertum aufgebaut. So lange sich in den Köpfen nichts ändert, so lange Schule und Elternhaus nicht gemeinsam Werte und Mitmenschlichkeit vermitteln, wird sich auch bei Mobbing und Hate Speech kaum etwas ändern.

Wir empfehlen Eltern, an den Handy-Aktivitäten ihrer Kinder dranzubleiben, ohne ihnen nachzuspionieren. Bei Kindern im Grundschulalter geht das zum Teil über technische Lösungen, in dem man die Voreinstellungen so sicher und privat wie möglich hält, sind die Jugendlichen älter, geht es vor allem darum, interessiert nachzufragen: Was machst du im Netz, mit wem chattest du, magst du mir mal etwas zeigen? Und dabei auch nicht blind sein für die Möglichkeit, dass das eigene Kind nicht nur Opfer, sondern auch Täter sein könnte. Von der Schule würde ich mir für das neue Jahrzehnt wünschen: sowohl mehr mit Medien lernen als auch mehr über Medien aufklären. Das Rad zurückzudrehen, ist weder sinnvoll noch möglich – aber wir dürfen den digitalen Entwicklungen nicht hilflos hinterherlaufen.“


Rolle rückwärts?

Zwischen Homeschooling, Herd und Home-Office: Die Corona-Pandemie dreht unser Leben auf links. Wohin führt das: zurück in die Fünfziger Jahre – oder vorwärts, zu einer gerechteren Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit? Wer jetzt verliert, wer jetzt gewinnt, und wer jetzt gefragt ist: Politik, Arbeitgeber, und nicht zuletzt wir selbst!

Titelthema aus ELTERN, 7/2020

Phase eins: Luft anhalten, weiter atmen

Ganz am Anfang der Krise, ganz im Norden, zerrinnt einer Mutter die Lebensplanung zwischen ihren Fingern.

Sandra, 48, lebt mit Mann und sechsjähriger Tochter an der Küste in Mecklenburg-Vorpommern, hat viele Jahre in der Boombranche Tourismus gearbeitet und sich gerade selbständig gemacht, als Personalberaterin in der Kreuzfahrtindustrie. Zwei Wochen später branden die ersten Nachrichten von Covid-19-Infektionen in Europa an. „Innerhalb kürzester Zeit gingen meine Aufträge von 100 auf Null zurück. Beim Blick auf meine Kontoauszüge fragte ich mich jeden Tag: Wie lang können wir noch atmen?“ Schließlich verdient ihr ägyptischer Mann mit Hausmeisterjobs nur wenig. Zurück in eine Festanstellung? Jobangebote sind rar, wenn, dann in Vollzeit, und wer soll der Tochter beim Lesenlernen helfen, wenn der Vater kein Muttersprachler ist? Also beantragt Sandra Grundsicherung. Schreibt Protestbriefe an Ministerien, setzt eine Web-Idee um*, legt Gemüsebeete an, kauft zwei Meerschweinchen. „Unser Kind soll nicht unter der Situation leiden.“ Und sie selbst? „Ich bin vor allem wütend. So viel Arbeitskraft und Knowhow wird hier verbrannt!“

In der Mitte Deutschlands, in Köln, sitzt derweil Ines Imdahl, Diplom-Psychologin und Mitgründerin des Forschungsinstituts „Rheingold Salon“, und macht sich Sorgen. Seit mehreren Jahrzehnten nimmt sie mit ihrem Team die Befindlichkeiten, Sorgen und Wünsche von Frauen unter die Lupe. Schon im März, nach der TV-Ansprache der Bundeskanzlerin sagt sie: Vor allem Mütter werden den Preis für die Corona-Krise zahlen. Weil sie verinnerlicht haben: Klar darf ich mich um Karriere und persönliche Ziele kümmern – aber nur, wenn die Partnerschaft, die Kinder, am besten nicht einmal der Haushalt darunter leidet. Dieser Perfektionsdrang fällt ihnen jetzt auf die Füße, sagt Imdahl: „Es gibt Mittelschichtsmütter, die machen seit Beginn der Pandemie zwei Fulltime-Jobs.“ Weil sie neben Home Office den Anspruch haben, im Homeschooling zu performen wie die Lehrer. Besser: noch besser. Ihren Größeren Software zur Aufgabenorganisation aufs Laptop laden, den Kleineren die Bügelperlen plätten. 8,8 Millionen Schul- und Kitakinder sind zu diesem Zeitpunkt ohne Tagesbetreuung. Folge: „Die Mütter hecheln jetzt bei der Arbeit hinterher, während Kinderlose an ihren Karrieren schrauben – und auch jene Väter, denen die Frauen ganz nebenbei noch die Hemden bügeln.“ Kein Klischee, sondern Zahlen des sozioökonomischen Panels: Selbst bei Elternpaaren, die beide Vollzeit beschäftigt sind, kümmern sich Frauen im Schnitt fast zwei Stunden täglich mehr um Kinder und Haushalt als Männer; ist er Hauptverdiener und sie Zuverdienerin (trifft in Deutschland auf fast jede zweite Familie mit Kindern unter zwölf Jahren zu), erhöht sich die Differenz auf über fünf Stunden.

Weitere 450 Kilometer südlich, in einem Dorf bei Freiburg. Das Leben von Janis (38) erinnert an den Computerspiel-Klassiker „Tetris“: Dort geometrische Formen anordnen, die immer schneller über den Bildschirm gesaust kommen, hier den Alltag jonglieren. Als Pflegedienstleiterin in Teilzeit hat sie die Verantwortung für 50 Angestellte, ihr älterer Sohn Jannik, 8, braucht als Asperger-Autist ständige Schulbegleitung, ihr Mann geht als LKW-Fahrer früh aus dem Haus und kommt spät nach Hause. Der familiäre Zeitplan ist auf Kante genäht. Mit der Corona-Kurve steigt das Tempo nochmal um mehrere Level.

Janis ist jetzt offiziell Alltagsheldin, abends klatschen Menschen von Balkonen. Aber das ist ein schwacher Trost, wenn die Notbetreuung nicht greift, weil nur ein Elternteil einen Job hat mit dem Label „systemrelevant“. Wenn im Pflegeheim zusätzlich besorgte Angehörige Schlange stehen, die ihre Angehörigen nicht besuchen dürfen. Wenn nach den Osterferien jeder Sohn einen anderen Präsenztag in der Schule hat und Jannik täglich ausrastet, weil der Krisenmodus ihm feste Struktur nimmt – purer Stress für Kinder wie ihn. „Mein Mann hat größten Respekt dafür, was ich leiste“, sagt Janis. Aber mehr als ein Familientag pro Woche ist für ihn nicht drin. Ansage vom Chef. Wie kommt sie klar mit dem Druck? „Ich kann nur dafür sorgen, dass es mir gutgeht. Der wöchentliche Mädelsabend mit meinen Freundinnen ist mir heilig. Auch wenn dafür körbeweise Dreckwäsche auf dem Sofa liegen bleibt.“

Nicht nur Ines Imdahl warnt, dass Mütter zusammenklappen, abgehängt werden oder beides. Im April prognostiziert die Soziologin Jutta Allmendinger im Talk bei Anne Will, Frauen würden gerade um dreißig Jahre zurückgeworfen. CSU-Chef Markus Söder wischt solche Prognosen markig vom Tisch: „Es geht nicht um die Rückkehr zum Herd, sondern ums Home Office – das kann sogar gut sein für die Work-Life-Balance!“

Janis kann er damit nicht meinen, denn wie viele Mütter arbeitet sie in einem typischen Frauenjob: Pflege, Kitajobs und Co sind so anspruchsvoll wie schlecht bezahlt, und man kann sie weder mit nach Hause nehmen noch beschleunigen. Nur in 57 Prozent aller Paarfamilien ist zumindest für einen Elternteil Arbeit im Homeoffice möglich, bei Alleinerziehenden liegt der Anteil sogar nur bei 35 Prozent, findet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) heraus. Im WZB-Forschungsinstitut kommt man zum Ergebnis: Die Lebens- und Arbeitszufriedenheit sinkt durch Corona stärker bei Familien als bei Kinderlosen, und bei Müttern deutlich stärker als bei Vätern. Die Folgen beziffert die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung: 27 Prozent aller Mütter von Kindern unter 14 haben seit Beginn der Corona-Krise ihre Stundenzahl im Job reduziert, aber nur 16 Prozent der Väter.

Phase zwei: Durchwursteln, neu finden

In den Szenevierteln Hamburgs füllen sich die Straßencafés wieder, an der Elbe schwitzen Jogger, und Alexandra (27) sagt: „Uns geht es ziemlich gut.“ Vor Corona sah das Leben mit ihrem Freund Finn (32) so aus: Gemeinsam um Tochter Nora (5) kümmern, jeder für sich beruflich ranklotzen. Alexandra für ihre Doktorarbeit in Physik, Finn in Teilzeit bei einer Bank, am Wochenende bei der Gründung eines eigenen Startups für Veranstaltungstechnik. Ausgerechnet. Virus plus Kitaschließung haben die Karten neu gemischt: Die Gründung liegt auf Eis, jeder hat genau zweieinhalb Arbeitstage, und am Wochenende ist plötzlich viel Zeit zu dritt. Ungewohnt für das Powerpaar. „Es ist wie eine Elternzeit, die wir nie richtig hatten.“ Ein ungebetenes Geschenk – selbst wenn es finanziell Abstriche bedeutet. Und Alexandra sich auch sorgt, ob sie ins Hintertreffen gerät. Weil Kollegen die Zeit ohne Kongresse und Unibetrieb zum Schreiben und Forschen nutzen, während sie mit ihrer Tochter spielt. „Es ärgert mich, dass die Politik sich zuerst um Autohäuser gekümmert hat und erst dann um Kitas.“ Das Positive? „Finn und ich sind ein super Team, wir können Krise.“

Einen Stadtteil weiter hat Martina (Name geändert), 53, weniger gute Erfahrungen gemacht. Sie und ihr Exmann sind seit acht Jahren getrennt, die Teenie-Kinder pendeln wochenweise. Mit Corona flog ihnen der Familienvertrag um die Ohren: „Weil ich als freiberufliche Mediatorin zu Hause arbeite, bleibt das Homeschooling an mir hängen – mein Ex geht in seiner Woche einfach ins Büro. Wenn nachmittags unser Zwölfjähriger vor der Tür steht, weil er mit den Aufgaben nicht weiterkommt – soll ich ihn wegschicken?“ Was sie betrübt: „Warum wird die Arbeit von Frauen so oft geringer geschätzt als die von Männern?“

Beispiele, die zeigen: Covid-19 ist kein Erdrutsch, der die Landschaft verändert – sondern zeigt wie unter einer Lupe bestehende Strukturen. Man könnte auch sagen: Von wegen „Retraditionalisierung“ – wir standen auch vor der Pandemie noch mit einem Bein in den Fünfzigern! Der Staat belohnt Familien mit hohen Einkommensdifferenzen, von der kostenlosen Mitversicherung in der Krankenkasse bis zum Steuerrecht. Trotz Kita-Ausbau, trotz Elterngeld Plus. Zahlen des Bundesfamilienministeriums von 2016 sprechen eine eindrückliche Sprache: Selbst wenn Eltern minderjähriger Kinder beide die gleiche Schulbildung und das gleiche Berufsbildungslevel vorweisen können, verdienen 19 Prozent der Mütter Null, 63 Prozent unter 1000 und nur sechs Prozent mehr als 2000 Euro monatlich. Auch die Abstands- und Kontaktregeln während der Lockdown-Phase offenbarten ein traditionelles Familienbild: Eltern, Kind, Hausgemeinschaft. Schwerer hatten es Single Moms (oder Dads), die sich sonst auf ein Unterstützer-Netzwerk verlassen; Eltern, die getrennt wohnen, aber gemeinsam erziehen; Patchwork-Familien.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich geändert, vor allem das der Jüngeren und der Männer. So verbringen etwa Väter, die in Elternzeit gegangen sind, auch Jahre später mehr gemeinsame Stunden mit ihren Kindern. Und junge Paare, die sich bewusst für Fifty-Fifty entscheiden – so wie Alexandra und Finn – , lassen sich das so leicht nicht nehmen. Das beweist auch ein Blick zu unseren skandinavischen Nachbarn: Kein Zufall, dass etwa Dänemark schon den Restart von Schulen und Kitas probte, als Deutschland noch über Küchenstudios diskutierte. Denn zwischen Kopenhagen und Arhus fallen Mütter als stille Reserve schlicht aus: Dänische Mamas tragen laut OECD-Statistik im Schnitt 42 Prozent zum Familieneinkommen bei – deutsche nur 22 Prozent.

Phase drei: Umdenken, Chancen ergreifen

Eine Kleinstadt in Westfalen, großzügige Häuser, sommerlich gepflegte Gärten. Ute, 46, sitzt im Arbeitszimmer vor der Laptop-Kamera und sagt: „Die Backlash-Diskussion nervt mich, wir Frauen sollten uns nicht in die Opferrolle drängen lassen. Wir haben es doch selbst in der Hand, wie wir Arbeit und Familie organisieren!“ Klar, sie ist gut dran, und sie weiß es: Mit einem festen Job als „Innovation Manager“ bei einem Arbeitgeber, der Home Office schon lang im Gesamtpaket hat, und einem Mann, der als Lehrer nicht erst abends Zeit hat für Alexander (2. Klasse) und Felix (5. Klasse). Aber Chancen entstünden jetzt für viele: „Wenn sich dank Corona herumspricht, wie gut das selbstbestimmte, agile Arbeiten funktioniert, ist das doch ein Traum – gerade für Eltern.“ Besonders Mütter brächten Fähigkeiten mit, die nach der Krise gefragt sein könnten: Kommunikationstalent, Konflikt- und Feedbackfähigkeit. „Mit diesen Pfunden müssen wir wuchern. Neue Modelle sind greifbar wie nie!“

Mit ihrem Optimismus ist sie nicht allein. Auch Gerhard, 51, Unternehmensberater aus dem Rheinland und alleinerziehender Vater eines Zwölfjährigen, hat die Wochen mit Quarantäne und Homeschooling vor allem als bereichernd erlebt: „Als Vater und Sohn hat uns die Nähe gut getan, und ich merke, dass es mich freier macht, weniger zu planen und agiler zu denken.“ Auch was die Zukunft der Arbeit angeht, ist für ihn das Glas halbvoll: „Viele Bewegungen entstehen aus einer Krise heraus!“

Man kann diese Hoffnung sogar belegen. Das Marktforschungsinstitut Innofact hat nachgefragt: Führungskräfte stehen der Arbeit im Home Office und flexiblen Arbeitszeitmodellen nach den Erfahrungen im Corona-Modus positiver gegenüber als zuvor. Und eine Studie der Uni Mannheim kommt zum Schluss: Zwar gehören Frauen (besonders Mütter) kurzfristig zu den Verliererinnen der Krise, auch weil sie häufiger in gebeutelten Branchen wie Reise und Gastronomie beschäftigt sind. Längerfristig, schlussfolgert Studienleiterin und Ökonomin Michèle Tertilt, könnte sich der Effekt jedoch umkehren: Weil Mütter von der neuen Flexibilität der Arbeitswelt profitieren, aber eben auch, weil Väter derzeit mehr Routine bei der Kinderbetreuung bekommen. Davon hätten auch Frauen etwas, die ihre Arbeit nicht am heimischen Laptop erledigen können. Sondern im Einzelhandel, im Labor, im Fitnessstudio.

Und dann gibt es noch jene, die ihre Lebensentwürfe in diesem Sommer generell hinterfragen. Wie die Fotografin Sonya, 28, Mutter von Sophia, 4. Mit Freund Jens lebt sie in Hamburg zur Miete, seit März sind ihr fast alle Aufträge weggebrochen. Neulich, auf dem Rückweg vom Supermarkt, hat sie angefangen zu weinen. Aber nicht vor Verzweiflung. Sondern vor Glück. „Ich dachte immer, ich muss unbedingt mein eigenes Einkommen haben, darf mich bloß nicht abhängig machen von Jens und seinem Job als Chemiker. Geld ist ja ein Stück Freiheit. Und dann war ich plötzlich gezwungen, einen Gang herunter zu schalten, und habe gesehen: Sophia ist so glücklich, einfach mit mir in den Tag hinein zu leben. Vorher war sie täglich acht Stunden in der Kita, häufig müde und spielte zu Hause kaum noch. Ich merke erst jetzt richtig, wie sehr mich das Muttersein erfüllt.“ Ihre Berufstätigkeit will sie zwar wieder hochfahren, wenn die Regelungen es erlauben – aber behutsam. „Ich weiß jetzt, dass wir auf kleinerem Fuß besser leben. Weil Zeit bleibt für das Wesentliche.“

Was heißt das jetzt: Freiheit im Kopf statt Freiheit durch Geld? Oder eben doch der befürchtete Rückschritt um dreißig, fünfzig oder noch mehr Jahre? In die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Generation von Frauen tatkräftig Trümmer wegräumte, das „Wirtschaftswunder“ danach jedoch den Männern überließ – so wie es Psychologin Ines Imdahl befürchtet?

Andreas Rödder, Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Uni Mainz und CDU-Mitglied, findet: Nein, das ist nicht vergleichbar. „In beiden Weltkriegen waren weiblich besetzte Arbeitsplätze eher eine Notlösung – die Männer waren an der Front, also brauchte man Frauen in der Industrie, vor allem in der Rüstung.“ Und das Ende der DDR, als der massive Abbau von Jobs stärker zu Lasten der Frauen ging? Auch das ist keine Blaupause für 2020, glaubt Rödder: „Frauen und Mütter sind heute ja nicht nur berufstätig, weil sie das Geld brauchen. Viel stärker geht es um Teilhabe, Erfüllung, Selbstbestimmung.“ Und dieses Bedürfnis verschwinde ja nicht einfach – genau so wie Diskussionen von Gender Pay Gap bis Gendersternchen. Mit einer konkreten Zukunftsprognose tut er sich dennoch schwer. „Ob und wie die Wirtschaftskrise unsere Rollenbilder beeinflusst, wird daran liegen, wie tief und lang anhaltend sie ist.“ Es gäbe aber Grund zum Optimismus: „Schaut man sich die demographische Entwicklung an, werden wir auch bei einem schwachen Arbeitsmarkt wohl keine Massenarbeitslosigkeit bekommen.“ Geschichten wie Sonyas machen ihm keine Sorgen: „Eine Gesellschaft muss sich fragen: Soll der Staat in unsere Lebensentscheidungen hineinfunken und Rollenbilder vorgeben wie das Vollzeit-Doppelverdienerpaar – oder einen Rahmen schaffen, der verschiedenen Wertvorstellungen und Absprachen Platz lässt?“

Eine rhetorische Frage, klar. Jede und jeder sollte die Freiheit haben, sich die Balance zwischen Job und Familie, Eigensinn und Gemeinsamkeit zurechtzuzimmern. Doch was hilft uns jetzt, Wege offen zu halten und Weichen so zu stellen, damit das auch morgen möglich ist – vielleicht sogar besser als gestern? Und wer ist dabei gefragt: Politik, Arbeitgeber, Wissenschaft – oder gar wir selbst? Wir hätten da ein paar Ideen….