„Menschen werden immer füreinander einstehen“

Für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ habe ich im April 2018 eine Gesprächsrunde moderiert zum Thema „Zukunft der Familie“. Eine spannende, auch kontroverse Diskussion!

 

Die Diskussionsteilnehmer:

Ines Imdahl, 51, ist Diplompsychologin und Gründerin des „Rheingold Salon“, eines Unternehmens mit dem Schwerpunkt Kultur- und Frauenforschung. Mit ihrem Mann hat sie vier Kinder und lebt in Köln.

Sarah Diehl, 39, ist Aktivistin und Schriftstellerin. Sie setzt sich mit der Organisation Ciocia Basia für ungewollt schwangere Frauen in Ländern ein, in denen Abbrüche gesetzlich verboten sind; 2015 veröffentlichte sie das Sachbuch „Die Uhr, die nicht tickt – kinderlos glücklich“ (Arche). Sarah Diehl lebt in Berlin in einer WG.

Andreas Rödder, 51, ist Professor für neueste deutsche Geschichte an der Uni Mainz. Seine Bücher (zuletzt: „21.0 – eine kurze Geschichte der Gegenwart“, C.H. Beck) richten sich an ein breiteres Publikum. Er ist Mitglied der CDU, verheiratet und Vater dreier Töchter.

Verena Carl: Ehe für alle, Patchwork, Regenbogen-Paare – historisch gesehen scheinen Familienformen immer bunter und vielfältiger zu werden. Oder, Herr Rödder?

Rödder: Ja und nein. Gerade für die alte Bundesrepublik haben wir ein Modell im Kopf, das wir für eine Art Normalnull halten: die Fünfziger und Sechziger Jahre, mit der klassischen Familie aus Vater, Mutter, Kindern, wie im Rama-Werbespot. Dabei ist das die historische Ausnahme. Familie ist zwar eine Konstante, schon immer haben Menschen ihr Leben miteinander geteilt. Aber die Form wandelt sich ständig: etwa von der ländlich-agrarischen Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie. Verwitwete, Wiederverheiratete, Alleinerziehende, das gab es immer. Neu ist die Pluralität von Lebensformen im Sinne von Wahlfreiheit.

Diehl: Ich frage mich dabei immer: Warum haben wir solche Angst, uns innerlich vom klassischen Konzept der Familie freizumachen?

Mann und Frau verlieben sich, bekommen Nachwuchs – was stört Sie daran?

Diehl: Nichts, das soll jeder halten wie er will! Was mich stört, sind diese pseudo-biologischen Argumente – was ist vermeintlich „natürlich“, was ist „weiblich“? Gehört ein Kinderwunsch zum Frausein? Ich denke, dass das Mutterideal eine geschlechtliche Arbeitsteilung zementieren soll, damit Frauen unbezahlte Fürsorgearbeit machen, unsere ganze Ökonomie basiert darauf. Gleichberechtigung ist nicht erreicht, nur weil Frauen in die Männerbereiche wie Lohnarbeit vorgedrungen sind.

Sie haben sich gegen leibliche Kinder entschieden und leben in einer Gemeinschaft mit Freunden. Müssen Sie sich dafür rechtfertigen?

Diehl: Nicht in meinem Umfeld, das habe ich mir ja selbst gesucht. Aber dennoch begegnet mir die Unterstellung, meine innere Uhr müsse ticken. Häufiger von Männern als von Frauen. Darüber kann ich nur noch lachen.

Imdahl: Mit Ihrer Lebensplanung sind Sie die Ausnahme. Der Trend geht in eine andere Richtung. Wir haben für den Rheingold-Salon gerade 19- bis 29jährige nach Kinderwunsch und Familienplanung befragt. Auch wenn sie noch so tolerant sind gegenüber anderen Lebensentwürfen, 80 Prozent der Befragten wünschen sich eine klassische Familie. Frauen wie Männer. In der Werteskala steht die Familie sogar über der Liebe zu Partner, übrigens auch die Freundschaft. Ein echter „Game Change“, den ich in 25 Jahren als Psychologin nicht erlebt habe.

Obwohl sicherlich viele dieser jungen Leute aus eigener Erfahrung wissen, dass Familien zerbrechen können….

Imdahl: Gerade deshalb! Die Sehnsucht nach Stabilität erwächst aus Kontrollverlusten. Nicht nur die Herkunftsfamilie kann sich als brüchig erweisen, auch die Gesellschaft gibt keinen oder wenig Halt. In den letzten 15 Jahren haben Kinder so sprechen gelernt: Mama, Papa, Krise. Ob Migration oder Finanzmärkte, immer tun sich neue Unsicherheiten auf. Darauf reagieren junge Menschen mit dem Versuch, die Kontrolle zurück zu gewinnen: Sie gehen extrem diszipliniert mit dem eigenen Körper um, kleiden sich konservativ, tun alles dafür, dass die eigene Familie heil bleibt.

Klingt nach ziemlich viel Druck.

Imdahl: Mehr Freiheit bedeutet immer auch mehr Druck. Studieren, eine Familie gründen, dabei auch noch gut aussehen – das sind ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr Optionen, sondern Pflichten. Dann kommen die Fragen: Wieso hast du kein Kind? Du brauchst doch keinen Mann dafür, geht doch heute auch anders. Oder nach einer Geburt: Wieso ist der Bauch nicht weg nach drei Monaten?

Rödder: Diese Zunahme an Maximen und Imperativen ist typisch für die Moderne! Die bürgerliche Familie ist ihr Produkt, ihr Spiegel, und gleichzeitig ihr Gegenentwurf. Denn die industrielle Gesellschaft ist geprägt von Markt, Arbeitswelt, Mobilität. Die Familie ist der Ort der Emotion, der Geborgenheit, Zugehörigkeit, jedenfalls in ihrer idealen Ausprägung. Und die Frage ist immer, was man wie bewertet. Bis in die Fünfziger galt es als Privileg, wenn Mutti kein Geld mehr verdienen musste. Dann hatte die Arbeiterfamilie es geschafft. Heute nehmen wir das im Zusammenhang mit patriarchalischen Geschlechterverhältnissen wahr.

Diehl: Ich habe den Eindruck, Mutterschaft ist Teil der Leistungsgesellschaft geworden. Frauen machen einander Konkurrenz, weil sie immer noch mehr Anerkennung im Privatleben bekommen als im Beruf: Wer gibt sich selbst am stärksten auf in der Erziehung? Wer macht sein Kind am besten fit für die moderne Arbeitswelt?

Imdahl: …und Männer haben sich da elegant rausgehalten. Die neue Norm bei jungen Familien ist: Er 40 Stunden, sie Zuverdienerin. Hausarbeit und Kinderbetreuung bleiben zum Großteil an ihr hängen.

Diehl: Gleichberechtigung kann aber nur funktionieren, wenn Männer auch die Arbeit machen, die von Frauen erwartet wird.

Aber haben sich familiäre Rollen nicht doch nachdrücklich verändert, wenn heute vermehrt junge Väter Auszeiten nehmen und sich Babys im Tragetuch vor die Brust binden?

Rödder: Ganz offenkundig. Sowohl die Beziehungen zwischen Partnern als auch zwischen Eltern und Kindern sind ganz andere als bis in die Sechziger, als Kinder eher Befehlsempfänger waren als gleichwertige Familienmitglieder. Gleichzeitig sind die Verantwortlichkeiten für Lebensbereiche doch sehr konstant geblieben.

Imdahl: Ich bin ja dafür, dass Frauen wie Männer sich frei entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten. Aber wenn eine Mutter freiwillig zu Hause bleibt, führt das zu negativen Konsequenzen für Unterhaltsansprüche, Altersabsicherung und so fort.

Rödder: Es hat oft ungeahnte Folgen, wenn man einen Entwurf aufwertet – so wie die Politik der letzten 15 Jahre den der berufstätigen Mutter – und dagegen einen anderen abwertet. Setzen wir einseitig Anreize für eine paritätische Aufgabenverteilung zwischen Müttern und Vätern, und übergehen damit individuelle Entscheidungen? Das ist die Gratwanderung einer liberalen Gesellschaft.

Könnte das auch der Grund sein für jene erzkonservative Gegenbewegung, die sich in Gruppierungen wie der AfD oder den „Besorgten Eltern“ formiert?

 Rödder: Ja, es kommt zu einer Polarisierung von Leitbildern. Wenn die Familienministerin keine Partei mehr für die Vollzeitmutter ergreift, dann ist diese vielleicht froh, wenn eine konservative Publizistin wie Birgit Kelle das tut. Weil sonst ihre Erfahrung in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch vorkommt.

Frau Diehl, bei einer freiwillig kinderlosen Frau wie Ihnen denken sicherlich viele Menschen: Beruf und Karriere waren ihr wohl wichtiger.

 Diehl: Ein Vorurteil. Auch von Frauen, die ich für mein Buch interviewt habe, habe ich gehört: Wenn ich mich diesem Mutterideal ausliefere, dann muss ich mich immer daran abarbeiten. Das will ich nicht. Ein weiteres Vorurteil ist: Kinderlose sind egoistisch. Dabei kann ich mich viel stärker gesellschaftlich engagieren, wenn ich nicht in der Kleinfamilie eingebunden bin. Ich bin eine heiße Verfechterin von sozialer Elternschaft und würde gern Familie nicht nur biologisch definieren, sondern als Netzwerk von Menschen, die aus freien Stücken verbunden sind und sich umeinander kümmern.

Aber wie belastbar ist das – in Krisenzeiten und Notsituationen?

Diehl: Gegenfrage: Wie belastbar sind Ehen? Ich glaube eher, in der typischen Konstellation sind tendenziell viele überfordert. In Kanada gibt es seit vier Jahren das „Social Guardianship“-Gesetz, da können bis zu vier Personen mit den gleichen Rechten und Pflichten für ein Kind da sein. Zum Beispiel ein alleinerziehender Elternteil, der kinderlose Freunde mit hineinnimmt in die Verantwortung. Das finde ich zukunftsweisend.

Ist es überhaupt nötig, dass der moderne Staat neuen Beziehungsformen einen rechtlichen Rahmen gibt?

Rödder: Im Grunde könnte man sagen: alles Privatsache. Ich halte den staatlichen Eingriff aber aus zwei Gründen für gerechtfertigt: Zum einen das Kindeswohl, weil ein Kind sich nicht schützen kann; zum anderen das Gemeinwohl, im Sinne der Bereitschaft, füreinander einzustehen. Das müsste aber nicht auf Ehe oder biologischer Elternschaft beruhen.

Diehl: Sage ich doch! Deshalb halte ich es auch für eine Sackgasse, dass wir so sehr an der Idee leiblicher Elternschaft hängen. Etwa wenn ich daran denke, was Frauen sich und einander antun, um auf medizinischem Wege ein Kind zu bekommen. Ich finde es recht tragisch, wenn Menschen glauben, dass sie ihr Bedürfnis nach Liebe und Gemeinschaft nur über biologische Nachkommenschaft herstellen können und damit ziemlich gewaltsame Strukturen etablieren. Leihmutterschaft und Eizellenspende sind zu einem brutalen Millionengeschäft geworden. In der dritten Welt wird die ökonomische Not ausgebeutet, in den westlichen Ländern unterziehen sich Frauen quälenden Hormonbehandlungen und medizinischen Eingriffen.

… weil sie sich nun einmal sehnlichst ein Kind wünschen.

Diehl: Das kritisiere ich nicht, auch nicht die Technologie an sich. Ich würde nur die Frage stellen: Warum müssen es die eigenen Gene sein? Was ist daran so wichtig?

Imdahl: Der medizinische Fortschritt führt dazu, dass wir uns nicht mehr damit abfinden müssen, wie wir geboren sind – ob unsere Nase schief ist oder unsere Fruchtbarkeit eingeschränkt. Was die Ausbeutung angeht, bin ich ganz bei Ihnen, Frau Diehl. Aber die neuen Technologien schaffen auch Freiheitsgrade. Junge Frauen sagen: Wenn der Traumprinz nicht kommt, dann lasse ich meine Eizellen einfrieren. Oder ich fahre nach Holland und lasse mich künstlich befruchten. Und parallel suche ich mir online jede Woche einen neuen Sexpartner.

Rödder: Im Grunde sehen wir auch hier, wie sich die moderne Gesellschaft immer weiter ausdifferenziert: Sexualität und Reproduktion werden voneinander abgekoppelt. In die eine Richtung gibt es das schon lange, durch sichere Schwangerschaftsverhütung. Dass umgekehrt Fortpflanzung ohne Sexualität möglich ist, das ist historisch neu.

Ist das ein Gewinn oder eine Bedrohung?

 Rödder: Das lässt sich nicht seriös beantworten. Allerdings: Häufig stellt sich erst mit großer Verzögerung heraus, welche Folgen Entwicklungen haben. Denken Sie daran, dass Teile der Grünen in den Achtzigern Sex mit Minderjährigen legalisieren wollten….

Imdahl: Die katholische Kirche hat es leider Jahrhunderte lang im Verborgenen gemacht!

Rödder: Schlimm genug. Ich frage mich dennoch, von welchen aktuellen Entwicklungen Psychologen in 25 Jahren sagen werden: Was habt ihr den Kindern angetan? Beim Thema Kindeswohl bin ich besonders konservativ. Auch, wenn es um die „Ehe für alle“ geht: So lange erwachsene Partner sich dazu entscheiden, kein Einwand, wenn Kinder involviert sind, wäre ich viel vorsichtiger.

Schwierige psychische Umstände gibt es doch gerade auch in der klassischen Kernfamilie – bis zu Gewalt und Missbrauch. Während nach Studienlage Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften geborgen aufwachsen können.

Rödder: Alles richtig. Ich habe ja nicht behauptet, man müsste alles beim Alten belassen. Ich würde eine solche Gesetzesentscheidung nur nicht übers Knie brechen.

Diehl: Mit diesem Argument kann man jede progressive Idee im Keim ersticken. Das wichtigste ist doch, dass Kinder stabile Bezugspersonen haben. Warum nicht zwei Männer, zwei Frauen oder eben mehrere Erwachsene? Mir hat auf einer Lesung einmal eine ältere Frau erzählt, dass sie auf dem Bauernhof aufgewachsen ist und ihre Kindheit sehr schön empfand, weil es viele verschiedene Leute gab, die sich um sie kümmerten. Die Isolierung in der Kleinfamilie empfand sie als historischen Unfall.

Blicken wir noch nach vorne: Wie sehen Familien in 20 Jahren aus? Und welchen Anteil haben die Themen unserer Gegenwart daran?

Imdahl: Digitalisierung verändert, wie Menschen zusammen finden. Man spricht ja heute schon von Tinder-Babys und Tinder-Hochzeiten, nach dem Namen einer Dating-App. Das ist ähnlich beim Thema medizinische Eingriffe, das wird so schnell voranschreiten, dass Gesetzgebung, gesellschaftliche Regeln und Normen kaum hinterher kommen. Neue Technologien sind ein mächtiger Treiber für gesellschaftliche Veränderungen.

Ein weiterer Aspekt: Wird sich Deutschland verändern, wenn Migranten ihre eigenen Vorstellungen von Familie und Geschlechterbeziehungen mitbringen?

Imdahl: Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin meilenweit von AfD-Positionen entfernt und sehe das individuelle Leid von Flüchtlingen. Ich denke aber schon, dass das Familienbild einiger weniger uns gesellschaftlich zurückwerfen kann. Ich möchte hier keine Männer haben, die Frauen begrabschen, schlagen, ihnen das Rad- und Autofahren verbieten oder ihren achtjährigen Töchtern ein Kopftuch vorschreiben.

Diehl: Ich will diese Ängste nicht wegwischen, Frau Imdahl. Aber liegt das nicht auch am schweren Stand der Migranten? Wird die vermeintliche Ehre der Frau nicht auch deshalb so hochgehalten, weil sie das Einzige ist, an dem sie sozialen Status darstellen können? Ich finde die AfD bedrohlicher für meine Freiheit als Frau.

Rödder: Wir erleben eine zweifache Doppelmoral: Auf der einen Seite geben sich Menschen plötzlich als Frauenrechtler, die damit nur ihre eigene Islamophobie ummänteln. Auf der anderen sind jene, die einer biodeutschen Vollzeitmutter ihr Lebensmodell absprechen, aber bei einer vollverschleierten, nicht erwerbstätigen Muslima sagen: Das ist kulturelle Diversität. Da stimme ich Frau Imdahl zu, die Schwierigkeiten würde ich nicht unterschätzen. Als Historiker ist mir eines wichtig: Offenheit im Blick auf die Zukunft. Sowohl für Risiken als auch für Chancen.

Und die wären?

Rödder: Meine Prognose ist: Punkt a, die Zukunft wird anders als die Gegenwart. Punkt b, sie wird auch anders, als wir sie uns vorstellen. Weil zu allen Zeiten unvorhergesehene Ereignisse den Gang der Geschichte verändern. Aber eines wird wohl nicht verschwinden: dass Menschen, in welcher Form auch immer, gemeinsam leben und füreinander einstehen. Familie wandelt sich permanent ­– und bleibt.

 

Mehrere kurze Videoclips der Teilnehmer gibt’s in der Online-Version des Magazins hier zu sehen.