Ältere Semester – das Spätstudiumsblog, Teil 3

Toolissimo!, oder: warum ich immer noch im Grundkurs fürs Sägenschärfen abhänge

Vor einiger Zeit postete ein geschätzter Kollege irgendwo im Social-Media-Kosmos eine kurze, gleichnishafte Geschichte, die mich ins Grübeln brachte. 

Ein Mann läuft durch den Wald und trifft dabei einen Waldarbeiter, der dabei ist, einen Baum zu fällen. Der Waldarbeiter müht sich redlich ab, es geht schwer voran, und als der Spaziergänger näherkommt, fällt ihm auf: Die Säge müsste dringend mal geschärft werden. Das sagt er ihm dann auch, ein Tipp unter Freunden. Doch der Waldarbeiter winkt ab, müde, wütend, genervt: „Keine Zeit! Ich muss arbeiten!“

Ich fühlte mich zutiefst getroffen. Story of my life.

Es gibt viele Gründe, warum ich mich mit über 50 nochmal für ein Masterstudium entschieden habe. Nicht, um meine berufliche Grundorientierung zu verändern, sondern um in meinem Beruf als Journalistin noch lange Zeit weiterarbeiten zu können. Einer der Gründe ist diese Geschichte: Ich nehme mir jetzt endlich Zeit, meine Säge zu schärfen.

Meine erste Powerpoint, Slide 1: Sogar Audio- und Videobeispiele eingefügt!

Und, um im Bild zu bleiben: Ich setze meinen gesamten Werkzeugkasten neu auf. Was dem einen sein samstäglicher Baumarktbesuch, ist mir mein zwei- bis dreiwöchentliches Wochenendseminar an der HMS. Drei Jahrzehnte bin ich ausgekommen mit einem Werkzeugkasten, in dem nicht viel mehr drin war als ein Hammer, ein Korkenzieher und ein ausgeleierter Zollstock – jetzt muss es alles auf einmal sein, der Akkubohrer, die Wasserwaage, der Phasenprüfer und so weiter und so fort.

Als ich in den Neunziger Jahren als Magazinjournalistin anfing, war die größte Neuerung WYSIWIG – what you see is what you get, sprich: Man sah auf dem Monitor jetzt tatsächlich das Layout der Magazinseite und konnte die entsprechenden Textkästen befüllen, vorher war das der Grafik vorbehalten. Und dann kam dieses Internet, was praktisch war, weil man jetzt nicht mehr bis abends um 22 Uhr in der Redaktion sitzen musste, um jemanden am Vormittag an der amerikanischen Westküste zu erreichen, sondern eine E-Mail schreiben konnte. Irgendwann kamen Suchmaschinen: Yahoo und Altavista.

Natürlich bin ich auf diesem Stand nicht stehen geblieben, wie auch. Aber trotzdem bin ich mit dieser Grundausstattung – Word, E-Mail (und andere Kommunikationsmedien), Google, später noch ein bisschen WordPress und Social Media – ziemlich weit gekommen. Neue Tools dazu lernen? Geht nicht, keine Zeit, siehe oben. War auch nie wirklich notwendig beim Text- und Bücherschreiben.

Steht ja auch so ähnlich in meinem LinkedIn-Profil: Eier, Wolle, Milch. Kann nur schreiben, das aber über fast alles.

Ein trotziger Stolz, den ich mir lange genug bewahrt habe. 

Meine erste Powerpoint, Slide 2: Jawoll, interaktive Elemente gab es auch (analoge Gesprächsaufforderung!)

Jetzt auf einmal sitze ich in einer Gruppe von Endzwanzigern, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit Powerpoint, Audacity, iMovie, Photoshop und irgendwelche coolen kleinen Effektgeschichten nutzen, mit der ich einen Herd anschalte, eine Waschmaschine in Gang bringe oder Auto fahre (übrigens mit einem Kleinwagen, der in puncto elektronischer Schnickschnack ebenfalls direkt aus den Neunzigern stammen könnte).

Und ich muss mich nach der Decke strecken. Also nicht nur meine Säge schärfen, auch meine Bohraufsätze polieren, die Wasserwaage justieren und die Dübelsammlung aussortieren. Wachstumsschmerzen? Unvermeidlich.

Dazu kommt noch eine Kleinigkeit. Mein erstes Studium mit Diplomabschluss ist nämlich noch länger her als mein Berufsstart, und damals suchte man noch in Bibliotheken nach Büchern mit Hilfe von Zettelkästen oder Mikrofiche (fragt nicht, Kinder, diese Technik ist zurecht vergessen). Heute gibt’s Volltextzugang und automatischen Literaturverwaltungs- und Zitiersoftware, und die Frage „Zotero oder Citavi“ scheint so existenziell wie früher „Pelikan oder Geha“, „Nike oder Puma“, „Blur oder Oasis“. 

Meine erste Powerpoint, der Titel: ganz weit vorn in Sachen symbolische Bebilderung, Frau Carl!

Alles in allem würde ich meine Situation drei Monate nach Studienstart also etwa so beschreiben: Ich bin freiwillig ins kalte Wasser gesprungen, ohne mich vorher auch noch nach Fließgeschwindigkeit und Stromschnellen zu erkundigen.

Wird schon irgendwie.

Und bastle mir jetzt auf der Fahrt in Richtung der Niagarafälle ein Floß, während ich versuche, den Kopf bei 50 km/h oben zu behalten. 

Das Erstaunliche ist: es scheint zu funktionieren. Bisher bin ich nicht gekentert, und meine ersten Noten (die ersten seit 1994) sehen auch nicht so aus, als wäre ich akut gefährdet.

Ob ich diesen Wahnsinnsritt neben dem üblichen Arbeitspensum plus Mental Load angetreten wäre, hätte ich genau gewusst, auf was ich mich da einlasse? Möglicherweise nicht.

Manchmal ist es ganz gut, nicht so exakt zu wissen, was einem bevorsteht, sonst würde man eine Menge im Leben verpassen. 

Das gilt für Bergwanderungen, Mutterschaft und späte Masterstudiengänge (hier bitte ergänzen). 

Ich freu mich jedenfalls schon sehr auf meine scharfe Säge.

In meinem Element

Wo sich Storch und Fischotter gute Nacht sagen: Der Spreewald, diese einzigartige Flusslandschaft in Brandenburg ist im Trend und bietet dennoch genügend lauschige Rückzugsorte – per Boot, per Fahrrad oder zu Fuß. Eine Liebeserklärung an einen besonderen Landstrich, erschienen in BRIGITTE, Juni 2021

Manchmal, wenn Martin Fix an einem Sommermorgen auf sein Standup-Paddleboard steigt, dann träumt er vom Herbst. Von einem Tag, an dem die Wiesen am Ufer Raureif tragen, die Rehe ruhig am Waldrand stehen, und nichts zu hören ist als das regelmäßige Eintauchen des Ruderblatts. Da ist er ganz in seinem Element, so viel meditative Einkehr ist in der warmen Jahreszeit selten an seinem Boots- und Boardverleih in Burg. Schlechter Zeitpunkt für unsere Landpartie? Nicht doch, beruhigt er uns: Bei rund 1500 Kilometer Wasserwegen sollten wir wohl ein stilles Plätzchen finden. 

Mit einer laminierten Karte und seinen Insider-Tipps machen wir uns auf den Weg. Am Ufer ziehen Schwarzerlen, Buchen und Brombeerranken vorbei, blau schimmernde Riesenlibellen kreisen über der Wasseroberfläche, und aus den Baumkronen dringt das Tschilpen des Eisvogels. Silbrige Schwärme vom Göbeln begleiten uns unter Wasser, und einmal zuckt ein metallischer Blitz von einem Ufer zum anderen: eine Ringelnatter. Amazonas-Feeling, keine Stunde Zugfahrt südöstlich von Berlin. 

Erst nach einer guten halben Stunde, an einer Gabelung, kreuzt einer der Kähne, auf denen sich Reisegruppen durchs Nasse Element staken lassen. Gern etwas feuchtfröhlich. „Sind Sie die Zeitungsfrau?“, schallt es mir entgegen. Alles klar: Der Kahnführer hat gerade von der Zustellerin erzählt, die an entlegenen Orten auf dem Wasserweg Post und Zeitungen ausliefert. Im Vorbeifahren höre ich noch die nächste Frage („Sagense mal, wie tief isses hier eigentlich?“), die Antwort kenne ich schon: „Wer im Spreewald ertrinkt, ist nur zu faul zum Aufstehen.“ 

Gebaut wurden die Kähne ursprünglich als Transportvehikel für Gemüse, doch findige Einheimische boten schon vor über 100 Jahre Fahrten für Sommerfrischler an. Gewandet in Festtagstracht, was ein bisschen geschummelt war, aber das urlaubende Berliner Bürgertum fand’s knorke. Die langen, flachen Boote prägen das Bild bis heute, genau wie eingelegte Gurken, Pellkartoffeln mit Leinöl und Storchennester. Wem das Gruppenschippern zu trubelig ist, schnappt sich Kanu, Kajak oder SUP-Board und sieht zu, dass er Land gewinnt. 

Holländische Gurken, preußische Migranten

Entstanden ist die Brandenburger Naturschönheit in der letzten Eiszeit. Auf ihrem Weg vom Lausitzer Bergland nach Berlin bildet die Spree ein bewaldetes Binnendelta, das über Jahrhunderte zu einer einzigartigen Natur- und Kulturlandschaft geformt wurde, durch Abholzung, Trockenlegung, Umleitung von Wasserwegen. Das hat auch seinen Niederschlag in der Sprache gefunden: „Fließe“ heißen die naturbelassenen Läufe, „Kanäle“ die menschengemachten. Zu Zeiten der Völkerwanderung kamen slawische Siedler, ihre Nachfahren, „Sorben“ oder „Wenden“ genannt, prägen den Spreewald bis heute mit eigener Kultur, sorbischsprachigen Radiosendern und Ortsnamen in zwei Idiomen. Im 16. Jahrhundert folgten holländische Zuwanderer und mit ihnen der Gurkenanbau, im 18. Jahrhundert siedelte der „Alte Fritz“ frühere preußische Soldaten an, um die Sumpflandschaft weiter zu kultivieren. Nach dem Mauerfall wurde die Region zum Biosphärenreservat, in dessen Kernzone auch Paddler und Spaziergänger nichts verloren haben. Letzte Zuwanderungswelle: Nutrias, die wilden Nachfahren von Zuchttieren aus einem aufgegebenen DDR-Betrieb. Die niedlichen Nager graben sich ihre Höhlen an den Ufern, meist zum Entzücken der Besucher und oft zum Ärger der Einheimischen, weil sie so gern die Deiche anknabbern.

Menschengemacht und doch verwunschen

Die wechselvolle Geschichte lässt sich auch an den Dörfern ablesen. In Lübbenau erinnern Kopfsteinpflaster und Alleen an Omas Kindheitsalbum, in Burg hat ein kunstsinniges Gastgeberpaar ein Ferienheim aus DDR-Zeiten in das 5-Sterne-Wellnesshotel „Bleiche“ verwandelt, am Ortseingang von Straupitz hat sich der Berliner Sakral-Baumeister Karl-Friedrich Schinkel mit einer überdimensionierte Kirche selbst ein Denkmal gesetzt. Und dann ist da noch das allgegenwärtige Emblem auf den Giebeln der Gebäude: Zwei gekreuzte Schlangenköpfe mit Krönchen, die auf eine Volkslegende zurückgehen. Denn die Schlange ist im Spreewald kein Angst-, sondern ein Glücksbringer: Dort, wo sie sich niederlässt, baute man in früheren Jahrhunderten bevorzugt das eigene Haus. Mehr als Aberglaube, denn die Schlange liebt es trocken und ist damit ein zuverlässiger Bio-Indikator. So fließt alles zusammen: Mittelalter und Biedermeier, Sozialismus und Moderne, Tradition und Trend. 

Das Menschengemachte tut dem Zauber dieser Landschaft keinen Abbruch. Schon deshalb, weil man Zeit und Muße braucht, um sie zu erkunden. Wer nur mit dem Auto über die Bundesstraße braust, bleibt buchstäblich außen vor. Für das echte Erlebnis muss man mitten rein. Aufs Wasser, auf die gut beschilderten Fahrradrouten über Wald- und Feldwege. Die eignen sich sogar für Sportmuffel prima, weil sie allesamt flach sind wie ein Teenie-Bauch. Zu Fuß geht auch. Uns begleitet Carolin von Prodzinsky, Rangerin und Naturschützerin. Wenn sie in ihren khakifarbenen Shorts am frühen Morgen im Wald unterwegs ist und nach dem Rechten sieht, dann merkt man: Auch hier ist eine in ihrem Element. Als Studentin hat sie in Australien Beuteltiere mit Peilsendern ausgestattet, in den letzten Jahren ihre Leidenschaft für das Naheliegende entdeckt: Biber und Fischotter, Schwarzstorch und Kibitz. Unser Spaziergang führt zum Gasthaus Wotschofska, mitten im Wald auf einer Erleninsel gelegen. Eine Mischung aus altdeutscher Wirtschaft, mit Holzvertäfelung bis zur Decke und grün gerahmten Fensterläden, und Beachclub mit Liegestühlen. Was liebt die Rangerin in ihrem Revier besonders? „Diese magischen Momente. Wenn du morgens auf einer Wiese am Waldrand stehst, der Dunst liegt noch über dem Gras, und in der Ferne steht ein einzelner Kranich und ruft.“ Was ihr Sorgen macht? „Der Klimawandel. Das letzte Hochwasser war 2013, seitdem sehen wir zu, wie der Wasserstand sinkt.“ Das schadet dem einzigartigen Ökosystem.

Junge Wilde, hippe Fashion

Im Zentrum von Lübbenau, ein paar Stunden später, treffen wir in ihrem Laden Sarah Gwiszcz. Ein Schneewittchen-Typ, mit Sommersprossen, Husky-Augen und schwarzen Haaren, und mit einem Blick, der zu allem entschlossen ist. Die Modemacherin ist nach dem Studium in Berlin in ihre Heimat zurückgekehrt, um dort ihr eigenes Label zu gründen: „Wurlawy“, ein Wort aus der sorbischen Sagengestalt, das übersetzt „Wilde Spreewaldfrauen“ bedeutet. Das passt zu ihren Entwürfen, die bereits auf der Berliner Fashion Week Furore machten: farbenfrohe Maßanfertigungen mit Spitze und Blümchenmuster oder im traditionellen Blaudruck, so verspielt und so cool zugleich, dass sich Einheimische wie Besucher Outfits für besondere Gelegenheiten maßschneidern lassen. Oder ein besonderes Mitbringsel erwerben: Zum Beispiel die „Spreewald-Beanie“, eine Kreuzung zwischen Kopftuch und Mütze, zu der sich Gwisczc von der Lübbenauer Brautjungfernhaube hat inspirieren lassen. Tradition mit einer Prise Punk und einem Hauch von Fantasy. Wovon sie träumt? Endlich fließend sorbisch sprechen lernen, die Sprache ihrer Vorfahren. Und von ihrer bevorstehenden Hochzeit, natürlich im selbstgeschneiderten Kleid: „Das wird so ein Sissi-Ding, richtig haudruff!“

Altes Handwerk mit Zukunft – auch andere Kreative verbinden hier die beiden Pole. Wie Bastian Heuser, Typ Tattoo-Hipster, der mit zwei Geschäftspartnern vor einiger Zeit eine Destillerie übernommen und sie zeitgemäß in „Spreewood Distillers“ umgetauft hat. In Schlepzig, am nördlichen Ende des Spreewaldes gelegen, 600 Einwohner. Und mitten im Dorf eine Infotafel, die über die aktuelle Geburtenrate der Storchenpaare informiert. Hier, am vielleicht schönsten Hintern der Welt oder zumindest Brandenburgs, brauen sie einen preisgekrönten Roggen-Whisky. Bei einem Schluck „Stork Club“ auf der Kahnterrasse ihres Hofcafés versteht man, was daran besonders ist: der charakteristische Vollkorn-Geschmack, die feinen Aromen. „Wer Whisky macht, muss warten können“, sagt Heuser. Drei Jahre und einen Tag, so lange beträgt die Lagerzeit im Eichenfass. Als Stadtmensch hat Heuser seinen Wohnsitz in Berlin, aber im Spreewald den Charme der Langsamkeit entdeckt: Fahrradfahrern, Angeln, Wasserwandern. Seine Kinder, neun und elf, bessern derweil ihr Taschengeld auf, in dem sie Kanufahrern an der Schleuse zur Hand gehen.

Verrückter Graf auf weißem Hirsch

Letzte Station: Cottbus. Liegt streng genommen nicht im Spreewald, sondern ein paar Kilometer jenseits, und klingt, zugegeben, nicht nach Traumstadt. Eher nach postsozialistischer Tristesse. Doch das ist nur ein Farbton in einem bunteren Bild. In den aufgelassenen Tagebauten wird im Lauf der nächsten Jahre eine einzigartige Seenlandschaft entstehen, in der Innenstadt eröffnen coole Cocktailbars, und dann ist da noch die reiche Kunst- und Kulturszene. Ein Jugendstiltheater mit Mut zur modernen Inszenierung, ein Museum in einem ehemaligen Dieselkraftwerk, das eine einzigartige Sammlung von Kunstwerken von der klassischen Moderne über den Spätexpressionismus bis zu Fotokunst aus der DDR beherbergt. Auch wenn Museumsdirektorin Ulrike Kremeier den Begriff „DDR-Kunst“ nicht leiden kann: „In dieser Zeit wurden so viele interessante Traditionslinien weitergeführt, da hilft es gar nichts, ständig einen Bezug zum politischen System herzustellen.“ 

Last but not least liegt in Cottbus der Schlosspark Branitz, Vermächtnis des Fürsten Hermann zu Pückler-Muskau, den sie hier auch den „verrückten Pückler“ nennen. Ein Dandy des 19. Jahrhunderts, Autor, Weltenbummler, der davon träumte, die Quellen des Nil zu erkunden, aus einer unwirtlichen Sandgrube einen oasengleichen Garten machte, und sich schließlich höchstselbst unter einer Erdpyramide im Schlosspark begraben ließ. Vor der Cottbuser Stadtmauer erinnert ein modernes Standbild an den Weitgereisten, es zeigt den Fürsten auf einem weißen Hirschen. Denn er soll bei Besuchen gern mit einer Kutsche, gezogen von Wildtieren, vorgefahren sein. Sinn für spektakuläre Auftritte, lang vor Erfindung des Selfies.

Abends, im Biergarten vom „Spreewaldhof“ in Leipe, sitzen wir auf Holzbänken und studieren die Karte. Räucherfisch, Wein, oder mutig ein „Gurkenradler“ bestellen? Vom Wasser her erklingt das Geräusch eines Paddels, Mücken fliegen tief, letzte Tagesausflügler schließen ihre Fahrräder an. Klick-Klack. Stille. Frieden. Es gibt Momente, in denen muss man sich nirgends hinträumen. Alles ist schon da.

INFOTEIL

Hinkommen und Rumkommen

Mit dem Auto: etwa 100 Kilometer südöstlich von Berlin bzw. nordöstlich von Dresden, Anfahrt von beiden Städten aus etwa anderthalb Stunden, von Hamburg aus etwa viereinhalb Stunden. Alternative: Der Regionalexpress (RE) Richtung Cottbus verkehrt im Stundentakt ab Berlin mit Halt z.B. in Lübben, Lübbenau und Vetschau, Rad- und Sportgerätemitnahme möglich. Mit dem Fahrrad lässt sich die Region optimal erkunden (gut ausgeschildertes Wegenetz jenseits der Autostraßen, etwa der 260 km umfassende „Gurkenradweg“), Verleihstationen z.B. in Burg-Dorf (Radler-Scheune, www.radler-scheune.de/Spreewald/,  Tel. 03 56 03/133 61) und Lübbenau (Fahrrad Metzdorf, www.fahrradverleih-spreewald.de, Tel. 035 42/466 47); Tagespreise für ein Tourenrad ab etwa 12 Euro, auch E-Bikes, Anhänger, Kinderfahrräder etc.; Noch authentischer: Entdeckungstouren auf den Wasserstraßen. Überblick über Bootsverleihe (Kajaks, Canadier etc.): www.spreewald.de/bootsverleih/; der Tagespreis für ein Kajak liegt etwa bei 20 Euro. SUP-Board-Verleih in Burg-Kolonie: www.sup-spree.de, Tel. 03 56 03/838, Stundenpreis 10 Euro. Info vor Ort: Tourismusverband Spreewald, Tel. 03 54 33/58 10, www.spreewald.de

Übernachten

Bleiche. Ein Hotel wie ein opulentes Gemälde: Zwischen Fließ und einem weitläufigen Gelände mit altem Baumbestand liegt das Spa-Resort mit Fünf-Sterne-Küche und Kultur-Ambiente, von der echten Kunst in Lobby und den großzügigen Aufenthaltsräumen bis zur hauseigenen Bibliothek und regelmäßigen Lesungen teils bekannter Autor*innen, zu denen das kunstsinnige Gastgeberpaares Clausing einlädt. Wer hier eincheckt, darf sich nach Strich und Faden verwöhnen lassen: Das Arrangement ist zwar mit einem Mindestpreis von etwa 250 Euro pro Person und Nacht kein Schnäppchen, es sind aber auch alle Mahlzeiten und die Nutzung der „Landtherme“ darin enthalten (Burg, Bleichestr. 16, Tel. 03 56 03/620, www.bleiche.de).

Spreewaldresort Seinerzeit. Malerisch zwischen Kopfsteinpflasterdorfstraße, Spreewiesen mit alten Obstbäumen und Fließ gelegen, möchte man sich in diesem eleganten, 2017 neu renovierten Landhotel mit seinem Stilmix aus Sixties-Deko und Landlust glatt zu romantischen Gesten hinreißen lassen. Manche tun es auch: Am Ufer, unter den Kronen einer uralten Weide, kann man sich ganz offiziell das Jawort geben. Einfach nur den Urlaub genießen geht auch: Das Hotelrestaurant „Feine Küche“ wechselt alle sechs Wochen die Karte und überrascht mit saisonalen Spezialitäten, im Sommer auf der Kastanienterrasse (DZ mit Frühstück ab 112 Euro. Dorfstr. 53, 15910 Schlepzig, Tel. 03 54 72/66 20, www.seinerzeit.de)

Hotelanlage Starick. Zünftig und ungekünstelt: Hier wohnen Sie bei echten Spreewald-Insidern. Der Seniorchef hat auf dem weitläufigen, von einem Wasserlauf durchzogenen Hotelgelände sogar ein kleines Museum zu Ehren der Spreewaldgurke eingerichtet, serviert im Hotelrestaurant Wildspezialitäten aus eigener Jagd oder Fisch aus den umliegenden Gewässern. Besonders heimelig sind die kleinen Doppelzimmer mit Dachschräge: Ein bisschen wie Urlaub bei Oma in den Siebzigern, sogar der orangefarbene Teppich stimmt (Kleines DZ mit Frühstück ab 95 Euro. An der Dolzke 6, 03222 Lehde, Tel. 035 42/899 90, www.spreewald-starick.de)

Spreewaldhof Leipe. Am Wasser gebaut: Mitten in der Natur am Rand eines verschlafenen Dorfes, wo sich Kanu- und Radrouten kreuzen, ist aus einem Bauernhof eine gemütliche Pension mit Biergarten geworden. Der Spreewaldhof ist ganz auf die Bedürfnisse von Aktivurlaubern eingestellt, mit Anleger für Kanus, Kajaks und Co. Die Zimmer sind schick-rustikal, mit Fachwerkelementen und modern möbliert. Im Biergarten am Wasser gibt’s frischen Räucherfisch, Hefeplinse (Pfannkuchen) und süffiges Gurkenradler (DZ mit Frühstück ab 106 Euro, auch günstige Campingunterkünfte (simple Holzhütten ab 34 Euro/Nacht) und Ferienwohnungen. Leiper Dorfstr. 2, 03222 Lübbenau, Tel. 03542/2805, www.spreewaldhof-leipe.de)

Bio-Hotel Kolonieschänke. Burg-Kolonie hat seinen Namen aus der Zeit, in der der „Alte Fritz“ seine Veteranen im Spreewald ansiedelte. Das Hotel in einem alten Fachwerkhaus zwischen weitläufigem Obstgarten, Spielscheune für Kinder und Outdoor-Bar, ist ein Treffpunkt für alle, die es grün, gemütlich und ökobewusst mögen: Vom Baumaterial übers Heizsystem bis zur Restaurantküche mit vegetarischem Schwerpunkt achten die Betreiber in jeder Hinsicht auf Nachhaltigkeit. TV und W-LAN? Fehlanzeige! Einen eigenen Bootsverleih gibt’s auch (DZ mit Frühstück ab 85 Euro, außerdem verschiedene Zimmerkategorien, z.B. behindertengerecht und mit eigener Sauna. Ringchaussee 136, 03096 Burg/Spreewald, 03 56 03/68 50, www.kolonieschaenke.de)

Zur Alten Schule. Backsteinwände, Holzbalken, Kaminöfen, Veranden mit Blick ins Grüne und Obstbäume zur Selbstbedienung: Wo früher Schulkinder das ABC lernten, auf einem Waldgrundstück am Ortsrand von Burg-Kauper, liegt eine der schönsten Ferienhausanlagen der Gegend. Absolut ruhig, liebevoll ausgestattet, ländlich-modern. Verschiedene Wohnungsgrößen für Selbstversorger, aber auch mit Frühstück buchbar (FeWo für 2 Personen eine Nacht 110, jede weitere Nacht 85 Euro, Landfrühstück 12,50 Euro pro Person. Weidenweg 8, 03096 Burg/Spreewald, Kontaktaufnahme bevorzugt per Mail: kontakt@zur-alten-schule-spreewald.de, www.zur-alten-schule-spreewald.de

Genießen

Hotel-Gasthof Stern. Hier dreht sich alles um das Thema Kräuter: Keiner kennt sich so gut aus mit den grünen Wundern der Region wie Koch und Gastgeber Peter Franke, der auch Touren und Workshops anbietet. Klar, dass neben Rustikal-Klassikern wie Kartoffeln mit Quark und Leinöl oder Rouladen auch Gerichte wie der „gemischte Wildkräutersalat“ (etwa 10 Euro) auf der Karte stehen (Burger Straße 1, 03096 Werben, Tel. 03 56 03/660, www.hotel-stern-werben.de)

Gasthaus Wotschofska. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf dem Wasserweg: Nur so erreicht man das rustikale Gasthaus mit Biergarten. Dabei ist es eine TV-Berühmtheit: Um die „Wotschofska“ wurden einige Szenen der ZDF-„Spreewaldkrimis“ gedreht. Kulinarische Schwerpunkte sind Fisch- und Wildgerichte aus der Region, z.B. Spreewälder Fischsuppe (große Portion 8 Euro); (Wotschofskaweg 1, 03222 Lübbenau, Tel. 045 36/76 01, www.gasthaus-wotschofska.de)

Hofrestaurant Schlangenkönig. Eine der schönsten Wasser-Terrassen im Spreewald hat die – übrigens sehr empfehlenswerte! – Pension Schlangenkönig in Burg-Kauper: Wind in den Weiden, gründelnde Enten und auf dem Teller je nach Geschmack italienisch (Pasta, Fleisch- und Fischgerichte) oder regional. Empfehlenswert: Die herzhafte Variante der Hefepfannkuchen („Plinsen“) mit Lachs und saurer Sahne, etwa 10 Euro (Waldschlößchenstraße 14, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/759 30, www.zum-schlangenkoenig.de)

Spreewälder Privatbrauerei 1788. Beliebtes und belebtes Brauhaus plus Biergarten mit eigenen Craftbeerspezialitäten und deftiger Küche (z.B. Brauhaus-Rippchen, 18,50 Euro) auf dem malerischen Gelände des „Spreewaldresort Seinerzeit“ in Schlepzig (Adresse und weitere Infos siehe „Übernachten“). 

Cavalierhaus Branitz. Top-Adresse für den Tagesausflug nach Cottbus: In seinem kleinen, feinen Restaurant im Schlosspark Branitz (siehe auch „Erleben“) kocht der kulinarische Aufsteiger Tim Sillack regionales auf Sterne-Niveau, mittags zu Schnupperpreisen (z.B. Bärlauchbratwurst vom Cottbuser Metzger auf Sauerkraut für 16,50 Euro), und serviert auch Highend-Klassiker wie Austern (Zum Cavalierhaus 9, 03042 Cottbus, Tel. 03 55/49 39 70 30, www.cavalierhaus-branitz.de)

Einkaufen

Wurlawy. Sarah Gwisczc nimmt Elemente aus der sorbischen Tracht und macht coole, folkloristische Mode daraus, die sie in ihrem Ladengeschäft auch von der Stange verkauft (Ehm-Welk-Str. 27, 03222 Lübbenau, Di bis Fr 12 bis 18 h, Sa 11 bis 16 h, wurlawy.de)

Spreewood Distillers. Laden und Hofcafé gehören zur Roggen-Whisky-Destillerie, im Shop gibt es neben reinen „Stork Club“-Whiskys auch Mixgetränke wie den „Rosé Rye“ zu 18 Euro pro Flasche (Dorfstr. 56, 15910 Schlepzig, Mo bis So 10 bis 17 h, www.spreewood-distillers.de)

Töpferei Piezonka. Merke: Eine Wanderung auf dem „Fontaneweg“ (ab Burg-Kauper) sollte nie ohne geräumigen Rucksack starten – schließlich führt die Route an einer Kunsttöpferei vorbei. Mindestens eine Müslischale im verspielt-märchenhaften Dekor sollte ins Gepäck passen (Weidenweg 15, 03096 Burg, Mo bis So 9 bis 18 h)

Erleben

Wellness:  Beste Adressen fürs Wohlbefinden liegen in Burg. Die „Spreewald-Therme“ bietet in modernem Ambiente neben Bade- und Solebecken auch Anwendungen mit regionalen Produkten wie Spreewald-Algen und Leinöl an (Eintritt 2 Stunden 15 Euro, Ringchaussee 152, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/188 50, www.spreewald-therme.de). Die „Landtherme“ des 5-Sterne-Hotels „Bleiche“ besticht dazu durch ungemein opulente Optik: Offene Kamine, viel Holz, cremefarbene XL-Polsterliegen – als würde man in ein Barockgemälde eintauchen (siehe Punkt Hotels)

Folkloristisches: Ein besonders hübsches Freilichtmuseum liegt im „Storchendorf“ Dissen, abseits der touristischen Hotspots: Beim Bummel zwischen nachgebauten Grubenhäusern wird die slawische Geschichte des Spreewaldes greifbar. Unbedingt hier nach dem Schlüssel für die entzückende Dorfkirche nebenan fragen, falls sie geschlossen sein sollte: Die Holzdecke ist mit Hunderten Bildern von Pflanzen und Tieren bedeckt (Hauptstr.  32, 03096 Dissen-Striesow, Öffnungszeiten unter www.heimatmuseum-dissen-spreewald.de)

Kunst in Cottbus: Unbedingt lohnt sich ein Abstecher ins Pückler-Museum und den Schlosspark Branitz. Der Eintritt in den Landschaftspark nach englischem Vorbild ist gratis, das Schloss-Ticket kostet 8 Euro, ist aber jeden Cent wert: In der Altersresidenz des exzentrischen Fürsten aus dem 19. Jahrhundert fühlt man sich wie bei Lawrence von Arabien zu Besuch (Robinienweg 3, 03042 Cottbus. Öffnungszeiten und Preise: www.pueckler-museum.de). Toller Kontrast: Die wechselnden Ausstellungen im ehemaligen Dieselkraftwerk mit moderner Kunst von Foto bis Textil. Aktuell im Sommer 21: Die Sammlung „Chagas Freitas“ mit Kunst aus der DDR jenseits des offiziellen Kulturbetriebes (Am Amtsteich 15, 03042 Cottbus, Öffnungszeiten und Preise: www.blmk.de)

Wenn ich das gewusst hätte

Kahnfahren im Spreewald – das lernen die meisten auf ein- bis mehrstündigen Rundfahrten ab Burg-Dorf, Lübbenau oder Lehde kennen. Die Touren starten im Stundentakt, Vorausbuchung ist nicht notwendig, aber die Massengaudi hat mich eher abgeschreckt. Erst später erfuhr ich von Varianten für Individualist*innen: Einige Anbieter haben sich auf Themenfahrten spezialisiert, von der Kahnfahrt mit Krimilesung über die Mondscheintour bis zur privaten „Kahnfahrt der Sinne“ für zwei Personen rücklings auf dem Sitzsack (80 Euro pro Stunde, buchbar über Pension Schlangenkönig, s.o.). Besonders urig: Touren in Hagen Conrads Holzkähnen, die selbst in der Hochsaison in die abgeschiedensten Ecken führen (www.hagens-insel.de, ab 6 Euro pro Stunde)

Unbedingt mitnehmen

Wo Sumpf und Wasser sind, bleiben auch Mücken nicht aus – und den Spreewald lieben sie besonders! Deshalb bei Touren auf dem Wasser Insektenschutzmittel und lindernde Salbe nicht vergessen und lieber im langärmligen Shirt losziehen.

Mein eingerostetes Leben

Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown ist…? Weil gerade (Stand Juli 2021) die Infektionszahlen wieder steigen, hier noch ein Text aus dem Mai, zur Wiedervorlage. Da schrieb ich in der BRIGITTE: „Die Pandemie hat unsere Pläne radikal ausgebremst. Paradoxer Effekt: Je länger der Stillstand anhält, desto träger werden wir. Warum stresst uns plötzlich ein einziger Termin am Tag, und wie kommen wir da wieder raus?“

„Was werden das für großartige Partys irgendwann mal wieder! Ich werde euch alle ständig umarmen!“ So lautete der Facebook-Post meines Freundes Sebastian, und ich dachte sehnsüchtig: Feiern, yes! Auch mir fehlten die regelmäßigen Freitag Abende bei ihm und seiner Frau Tara, das Gedränge in der Souterrain-Küche, die flirrende Energie, die aus einer Dosis Tiefsinn, einer Prise gehobenem Blödsinn und einem Kühlschrank voller Weißwein entsteht. Das war im März 2020. 

Ein Jahr später erscheint mir Feiern absurder denn je. Und das Schlimme: ich vermisse es nicht einmal mehr. Schon der Gedanke strengt mich eher an. Eine Abend-Einladung? Was soll ich da, was soll ich anziehen, muss man dazu tatsächlich erst vor die Tür und später im Dunkeln wieder zurück, und wie geht das: mit Leuten reden, einfach so?

Und ich bin nicht alleine mit dieser Trägheit. Ich höre von Freundinnen, die sagen: Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, mich häufiger als einmal die Woche zu verabreden. Die Ehrgeizigen haben wenig Motivation, an einer Karriere zu schrauben, Sportausrüstung verstaubt hinten im Schrank, Singles verlieren die Lust an online-Dates. Nach langer Kontaktfastenzeit sind wir schneller überfüttert und sozial ungeübter. Das gilt nicht nur in Sachen Corona, sondern auch wenn wir aus anderen Gründen zum Herunterschalten gezwungen sind. Etwa durch eine längere Krankheit, in einer Phase der Arbeitslosigkeit, oder wenn eine ausgedehnte Babypause zu Ende geht.

Warum ist das so? Warum büßen wir unseren Drive ein, wenn wir doch gleichzeitig so viel nachzuholen haben? Nicole Strüber, Neurowissenschaftlerin und Wissenschaftsautorin, sagt: Weil wir von der Evolution auf Couch Potato gepolt sind – aus gutem Grund. Das gilt vor allem für unsere Körperfunktionen. „Über Jahrtausende hat sich unsere Spezies an ein Leben angepasst, das geprägt war von Nahrungsmittelknappheit und hoher körperlicher Anstrengung“, erklärt Strüber. „Da ist Energiesparen die beste Überlebensstrategie.“ Der Anblick unseres Sofas (Ruhe und Entspannung), gerne kombiniert mit einer Tüte Chips (fetthaltige Nahrung), bringt unseren Körper dazu, Dopamin auszuschütten, das Hirn signalisiert: Schön, hier winkt eine Belohnung. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Verhalten als „Exercise Paradox“: Wir wissen, dass Aktivität gut für uns ist, körperlich wie geistig, aber der Schweinehund ist stärker. „In einer Studie wurde die Hirnaktivität von Probanden am Bildschirm verglichen: zuerst sollten sie einen Avatar von Bewegung in den Ruhezustand versetzen, dann umgekehrt. Im EEG sieht man, dass für den zweiten Durchgang mehr kognitive Kontrolle notwendig ist“, erzählt Nicole Strüber. 

Die archaische Programmierung auf Faulsein kann in manchen Phasen durchaus hilfreich sein, etwa um halbwegs unbeschadet durch Lockdownzeiten zu kommen. Doch je länger unsere Systeme lahmgelegt sind, desto schwerer fahren sie wieder hoch. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, unser Hirn auszutricksen, sagt Nicole Strüber. Sowohl körperlich als auch geistig. „Je häufiger wir uns bewegen und dabei registrieren, dass wir uns hinterher besser fühlen, desto mehr verbindet das Hirn Aktivität mit Belohnung“, sagt die Expertin – und wir fühlen uns unausgelastet, wenn wir das Lauftraining zu lang schleifen lassen. Oder uns nicht mal zu einem Spaziergang aufraffen. Und wenn der Jobstammtisch oder der Literaturkreis ausfallen muss, dann halten uns Kontakte per Telefon, Videocall oder Clubhouse-App kommunikativ geschmeidig. Bei angenehmen Begegnungen wird das „Bindungshormon“ Oxytocin ausgeschüttet, und je mehr wir davon bekommen, desto mehr wollen wir auch haben. Beides eine gute Vorbereitung für die Zeit, wenn wieder mehr möglich ist.

Eine andere Frage ist: Wollen wir unser altes Leben nach einer Krise, ob Corona oder anderweitig, überhaupt eins zu eins zurück? Oder kann der erzwungene Stillstand auch eine Chance sein, das Hamsterrad hinter sich zu lassen und sich neu zu sortieren? Julia Städtler hat in ihrer Coachingpraxis in der Nähe von München und in Online-Beratungen (juliastaedtler.com) viel mit Menschen zu tun, die sich nach beruflichen und privaten Umbrüchen neu sortieren. Sie sieht die aktuelle Zäsur als Möglichkeit zur Kurskorrektur: „Wir hatten viel Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen: Welche neuen Rituale habe ich in den vergangenen Monaten gefunden, die mir guttun? Wo war mir mein altes Leben mir zu schnell, mehr fremd- als selbstbestimmt? Wo ist weniger mehr?“  Das Zurückgeworfensein auf uns selbst hat uns im besten Fall sensibler gemacht, glaubt Städtler. Kann schon sein, dass wir auch nach dem Ende aller Kontaktbeschränkungen lieber in Ruhe einem interessanten Gespräch mit einer Freundin nachspüren, statt nahtlos zur nächsten Verabredung überzugehen. Dass wir uns auf einem Musikfestival überfordert fühlen von zu viel Phonstärke und zu viel körperlicher Nähe. Kein Zeichen, dass etwas mit uns nicht stimmt, im Gegenteil: „Es ist eine Chance für Selbstfürsorge, dafür, eigene Ziele und Bedürfnisse neu zu justieren: Will ich gern wieder auf ein Konzert, aber buche ich mir lieber einen Sitzplatz, erlaube ich mir, früher zu gehen, wenn es mir zu viel wird?“ „Fun of missing out“ statt „fear of missing out“. 

Auch die Philosophin und Autorin Barbara Bleisch sieht die momentane Phase als Chance, die eigene Wahrnehmung zu schulen: „Von Denkern wie Seneca und Marc Aurel können wir lernen, weniger zielorientiert zu denken, sondern mehr im Moment zu leben. Etwa: Sport machen, weil ich mich dabei gut fühle, nicht, um abzunehmen. Ein Instrument spielen, weil es Freude macht, nicht, um mich ständig zu verbessern.“ Eine menschenfreundliche Haltung, die auch über Corona hinaus Bestand haben könnte. Und schließlich führt die Rückbesinnung auf den Moment, auf das Innen fast von selbst zu einer nachhaltigeren Lebensweise. Die tut nicht nur uns gut, sondern auch unserer Umwelt: Wollen wir wirklich zurück zu jährlichen Fernreisen, Dauer-Powershopping und zu wenig Zeit für Menschen, die uns wirklich brauchen?

Aber natürlich fällt es nicht jedem gleichermaßen leicht, den Stillstand als Chance zur Neuorientierung zu begreifen. Und manche von uns hätten gerne solch harmlosen Sorgen wie die, ob sie in den letzten Monaten zum Nerd geworden sind. Oder wie sie beim Lauftraining wieder in den Tritt kommen. Weil sie nicht einfach anschließen können an den Status Quo von davor, sondern weil ihr Leben in Stücke gehauen wurde durch Pleite, Arbeitslosigkeit, den Verlust geliebter Menschen. „Da gibt es keinen einfachen Ratschlag, da hilft nur Zeit, Raum für Trauer, Begleitung“, sagt Coach Julia Städtler. „Am hilfreichsten ist, sich auf innere Stärken, auf Wurzeln zu besinnen. Das Gefühl: Egal, wie es um mich herum aussieht, ich bin immer noch ich.“ Wer sich erlaubt, durch das Tal der Tränen zu gehen, zu hadern, wütend zu sein, der kommt irgendwann wieder an einen Punkt, an dem Neues denkbar scheint. Etwa: Will ich wirklich einen ähnlichen Job in einer ähnlichen Firma? Stimmen meine alten Ziele noch? Oder ist jetzt die Zeit für ein Herzensprojekt, eine Kurskorrektur, etwas, das mir neuen Schwung gibt? 

Wenn ich selbst Bilanz ziehen sollte, würde ich sagen: Auch ich habe aussortiert in den letzten Monaten. Mich auf einige Dinge besonnen, die mir schon früher im Leben Freude gemacht haben. Stundenlange Telefonate mit Freundinnen, dicke Romane lesen, kochen. Seit selbst Ost- und Nordsee zu vorübergehend unerreichbaren Sehnsuchtszielen geworden sind, habe ich sogar mehr Lust bekommen, in die Nähe zu schweifen, und muss so schnell weder nach Spanien noch nach Thailand. Selbst wenn die Welt wieder offensteht. Was allerdings die nächste Party bei Sebastian angeht, das Gedränge in der Souterrainküche und die Gespräche: Die kann ich kaum erwarten.

Waschen und geben

1946 will eine 16jährige Rheinländerin ihre langen Zöpfe loswerden. 72 Jahre später verliert eine Studentin aus Norddeutschland bei einem Unfall Haare und Kopfhaut. In einer Hamburger Werkstatt werden beide Frauenschicksale miteinander verknüpft – Reportage aus BARBARA, April 2019

Köln, im ersten Jahr nach Kriegsende. Gerda Dübbers ist 16 Jahre alt und aufgeregt. Heute ist der Tag, an dem sie erwachsen werden will. Am Morgen fährt sie mit dem Zug aus ihrem Eifeldorf in die Stadt, von der kaum noch etwas steht außer dem Dom. Sie trägt ein Säckchen Briketts und ein Handtuch bei sich, so hat es der Friseur verlangt. Denn Heizmaterial ist 1946 genau so knapp wie Frottierstoff. Die Mutter hat ihr Geld zugesteckt, nach vielen Diskussionen: Lange Haare kosten nichts, halblang mit Dauerwelle schon! Aber jetzt ist Schluss mit Affenschaukeln und Schnecken. Ab heute ist Gerda kein kleines Mädchen mehr, sondern eine Dame. Auf der Rückfahrt, den ungewohnten Luftzug im Nacken, wird sie etwas anderes bei sich tragen: siebzig Zentimeter lange, rötlichblonde Zöpfe, zusammengelegt in einer kleinen Tüte.

Flensburg, im Mai 2018. Julina Engert ist 20 Jahre alt und hat keinen Grund, aufgeregt zu sein. Dazu macht sie ihren Job schon zu lang und zu routiniert: den Eissalon aufschließen, Waffeln über die Theke reichen, kassieren. Sie und ihr Freund sind ein eingespieltes Team, auch beim Arbeiten. Noch ein bisschen Geld verdienen, bis im Herbst das erste Semester an der Uni beginnt. Ihre langen dunkelblonden Haare trägt sie im Pferdeschwanz. Praktisch, hygienisch, und hilft auch gegen Bad Hair Days.

Aber an diesem Morgen passiert etwas, das niemals hätte passieren dürfen: Als Julina eine eingeschaltete Eismaschine reinigt, beugt sie sich zu weit in den Kessel hinein. Schon verfängt sich der Zopf in der rotierenden Metallspirale im Inneren, erst nur ein Büschel, dann immer mehr. Sie versucht sich zu befreien, sie schreit, ein fürchterlicher Schmerz, es geht sekundenschnell. Ihr Freund stürzt herbei, will sie losschneiden, erst mit einer Schere, dann mit einem Messer, aber da ist es schon passiert. Mit ungeheurer Kraft reißt die Maschine das Haar mitsamt Kopfhaut los. Am Abend, nach einer zwölfstündigen Operation, wird sie aus Ohnmacht und Narkose erwachen und erst Wochen danach das Krankenhaus verlassen, nach vielen weiteren Eingriffen und einer Hauttransplantation. Die Ärzte haben alles gegeben. Aber auf mehr als der Hälfte ihrer Kopfoberfläche wird nie wieder etwas wachsen.

Zwei Frauen, beide jung, beide lebenslustig, und zwei Geschichten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Um sie miteinander zu verflechten wie die Stränge eines Zopfes, über Kilometer und Jahre hinweg, braucht es noch eine dritte. Diese handelt von den Hamburger Maskenbildnerinnen Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi, beide 49, die vor einigen Jahren beschlossen: Haarteile für Musicaldarsteller und Filmschauspielerinnen herstellen, okay, aber das kann noch nicht alles im Leben gewesen sein. So gründeten die beiden eine Werkstatt für Echthaar-Perücken mit dem strahlenden Namen „Königinnen“. Jetzt arbeiten sie für Menschen, die nicht in eine Rolle schlüpfen wollen. Sondern am liebsten sie selbst bleiben möchten. Krebspatientinnen, Frauen mit Haarausfall, Unfallopfer. Haare kosten nichts? Nicht, wenn man sie hat. Verliert man sie, kosten sie einen viel: Würde, Selbstbewusstsein, Zuversicht.

„Ich las in einer Illustrierten davon und dachte: Jetzt weißt du endlich, warum du all die Jahre die Zöpfe mit dir herumgeschleppt hast!“, erinnert sich Gerda Dübbers. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, Frühlingssonne scheint durch das Fenster, und erinnert sich. Wie sie das Tütchen immer wieder in Umzugskisten ein- und ausgepackt hat, nach ihrer Hochzeit, als sie mit ihrer eigenen Familie in ein größeres Haus zog, beim Wechsel in eine Etagenwohnung. Mit dem unbestimmten Gefühl: Eines Tages wird das für etwas gut sein. „Es macht mich so froh, dass ich helfen konnte!“

Für Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi sind alte Zöpfe in der Post ein Geschenk. Denn Haar lässt sich fast endlos aufbewahren und verarbeiten, wenn es gesund ist, naturbelassen und nicht von Motten oder Feuchtigkeit angegriffen wird. Das meiste in ihrem Lager hat einen unspektakulären Hintergrund – Langhaarträgerin mit Lust auf Typveränderung – , aber es stecken auch Geschichten dahinter, die unter die Haut gehen. Kleine Mädchen, die ihre Haare opfern, weil die Lieblingstante Krebs hat. Oder ein Zopf mit einem sauber beschrifteten Zettel, datiert auf Sommer 45. Von einer Berlinerin, die fürchtete, von Soldaten der anrückenden Roten Armee vergewaltigt zu werden. Viele versuchten, sich und ihre Töchter zu schützen, in dem sie sich kahl schoren. Haare sind Lockstoff, Weiblichkeit, Ausstrahlung – das ist in manchen Zeiten Fluch statt Segen.

Julina Engert betritt im Sommer 2018 zum ersten Mal den freundlichen Souterrain-Laden in Hamburg-Eimsbüttel. Als norddeutsches Pferdemädchen weiß sie, was man tut, wenn es einen aus dem Sattel schleudert: aufstehen und wieder aufsitzen. Sogar im Eisladen hat sie schon wieder gearbeitet, um die schlimmen Erinnerungen nicht so stehen zu lassen. Aber sie ist es Leid, mit Kopftuch vor die Tür zu gehen und fragend angeschaut zu werden. Lieber wäre sie wieder eine von vielen, auf der Straße, beim Ausgehen. Als sie die Kölner Zöpfe in der Hand hält, weiß sie: die oder keine.

Jetzt beginnt der handwerkliche Teil. Ansätze entschuppen, waschen, schließlich noch ein paar Strähnchen aus anderen Beständen dazu nehmen, damit das Ergebnis so aussieht wie natürlich gewachsen. Mit unterschiedlichen Farbnuancen, unterschiedlichen Längen. Dann wird Haar für Haar mit einer Art Häkelnadel auf ein feines Netz geknüpft, das genau der Kopfform angepasst ist. 80 Arbeitsstunden dauert es, bis so ein Kunstwerk fertig ist. Im September begrüßt Julina ihr neues Ich im Spiegel. Haare, länger und leuchtender denn je. „Ich wollte bewusst nicht genau so aussehen wie vorher.“ Wie ein Memo an sich selbst: Dieses Erlebnis ist nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Aber ich lasse mich davon nicht unterkriegen.

Sie besitzt noch eine Alltagsperücke, nicht ganz so kunstvoll gemacht und kürzer. Es ist ein weiterer Schritt zurück ins Leben, wenn man von einem Tag auf den anderen anders aussieht, und Mitstudenten verwundert nachhaken: Hast du Extensions? Warst du beim Friseur? Wer fragt, bekommt eine Antwort. Manchmal sieht Julina ihre tägliche Kopfbedeckung ganz pragmatisch: „Ich muss nur noch alle sechs Wochen Haare waschen. Und ich kann ohne Spiegel kontrollieren, ob hinten auch alles sitzt.“

Was sie nervös macht: Wenn Bekannte sie umarmen, dabei versehentlich an den langen Strähnen ziehen und das Netz ins Rutschen kommt. Wenn sich auf der Tanzfläche in der Disco jemand darin verfängt. Die kommende Studienfahrt, vor der sie ihren Mitstudentinnen erklären muss: Nicht erschrecken, wenn ich zum Schlafen die Haare ablege. Was ihr keine Angst macht: die Vorstellung, ihr Freund könnte sie nicht mehr schön finden. Am Anfang hat er kämpfen müssen, gegen die Bilder in seinem Kopf, vom Unfalltag. Das ist vorbei. Wenn sie mit ihm allein zu Hause ist, lässt sie die Perücke weg. Liebe heißt, sich nackt zu zeigen. Nicht nur von der Schokoladenseite.

Gerda Dübbers hat fast sieben Jahrzehnte lang die Frisur getragen, von der sie 1946 geträumt hat. Halblang und Dauerwelle. Erst vor ein paar Jahren hat sie diese gegen einen Kurzhaarschnitt getauscht. Sie kann ihre Arme nur noch unter Schmerzen heben, da fällt das Frisieren schwer. Auch Altwerden ist ein Schicksal, mit dem man fertig werden muss. „Ich bin jetzt 88, ich hab nicht mehr lang“, sagt sie trocken. Und grinst sofort spitzbübisch. „Aber meine Haare, die werden noch spazieren getragen, wenn ich nicht mehr bin. Wer kann das schon von sich sagen?“

„Mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Können bereits Kitas für Chancengerechtigkeit sorgen – in Zeiten, in denen es immer stärker vom Elternhaus abhängt, welche Bildungskarriere Kinder einschlagen? Dieser Frage bin ich im Januar 2019 für das Corporate-Magazin „Enkelfähig“ nachgegangen, am Beispiel meiner Heimatstadt Hamburg.

Was wir uns angeschaut haben: Hamburg ist eine vielfach gespaltene Stadt. Im wohlhabenden Nienstedten liegt das Durchschnittseinkommen bei 120.000 Euro im Jahr, den Bewohnern der Elbinsel Veddel stehen nur 16.000 Euro zur Verfügung. Fast jedes zweite Kind in Hamburg hat einen Migrationshintergrund, dazu kamen seit 2015 50.000 Geflüchtete. Die Forschung weiß: Ob soziale Durchlässigkeit gelingt, dafür werden entscheidende Weichen schon in Kita und Vorschule gestellt. Klappt das hier?

Das sagt der Experte:

„Manche Kinder haben mit der Schultüte in der Hand schon verloren“

Martin Peters ist Fachreferent für Frühe Bildung, Betreuung und Erziehung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, der 350 Kitas vertritt

Kitas legen Grundlagen für spätere Schulabschlüsse und damit für Lebenschancen. Unterstützt die Stadt Einrichtungen, die besonders viel Aufholarbeit leisten müssen?

Seit 2013 gibt es das „Plus-Programm“, durch das Kitas in sozial belasteten Vierteln ein zusätzliches Budget für Mitarbeiter bekommen. Das ist ein guter Schritt. Andere Ungerechtigkeiten können Sie mit Geld allein nicht ausgleichen.

Und zwar?

Wir haben Kitas, in denen 90 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache haben als deutsch. Deutschsprachige Eltern meiden diese häufig, so bleiben diese Gruppen um so mehr unter sich. Aber Wortschatz und Grammatik sind das A und O für spätere Bildung – sonst haben Kinder mit der Schultüte in der Hand schon verloren. Seit einiger Zeit versucht die Stadt, mit einem neuen Sprachförderprogramm gegenzusteuern. Das zeigt auch messbare Erfolge.

Es gibt auch andere Gründe, warum Eltern ihre Kinder weniger gut unterstützen können – Gesundheitsprobleme, Geldsorgen…

Das Platzvergabesystem belohnt Erwerbstätigkeit. Mehr als fünf Kita-Stunden pro Tag bekommen nur Familien, in denen beide Eltern arbeiten. Dabei bräuchten häufig gerade die Kinder aus Familien, in denen einer oder beide Eltern erwerbslos sind, mehr Förderung. Und dann gibt es noch Communities, die erreichen wir mit dem Kita-Angebot einfach nicht, die melden ihre Kinder nicht an.

Welche sind das?

Vor allem Familien mit afrikanischem und arabischem Hintergrund. Dort wird häufig die individuelle Bildung weniger wichtig genommen, ein Kind soll sich eher für die Gemeinschaft nützlich machen. Ab kommendem Jahr wollen wir gemeinsam mit der Sozialbehörde Tagesmütter ausbilden, die selbst aus diesen Kreisen stammen und zwischen den Kulturen vermitteln. Möglicherweise wird das besser angenommen.

Betrifft das vor allem Geflüchtete?

Nein, da hat die Stadt vieles richtig gemacht! Anders als andere hat sie nicht in den Sammelunterkünften für Betreuung gesorgt, sondern die Kinder zügig auf die Einrichtungen der jeweiligen Umgebung verteilt. Da funktioniert Integration.

Das sagt die Erzieherin:

„Bindung ist das Problem, nicht nur Bildung“

Bei Claudia Brillinger wäre man gerne Kind. Eine herzliche blonde Frau in Jeans und Blümchen-Sneakers, die wirkt, als könnte sie einiges schultern. Seit 22 Jahren arbeitet sie in einer Kita im Bezirk Bergedorf-Neuallermöhe. Der Flachbau liegt zwischen Genossenschafts-Hochhäusern und bescheidenen zweistöckigen Klinkerbauten, in einem Viertel, das wie ein Brennglas die Widersprüche der Hansestadt bündelt. Weder Ghetto noch Wohlstands-Oase, sondern eine Mischung aus Ethnien, Gehaltsklassen, Lebensstilen. Die Namen an den niedrig hängenden Garderobenhaken verraten: Hier toben, essen, basteln und malen Cheyenne und Emil, Murat und Jewegenija*. 170 Kinder vom Baby bis zum Sechsjährigen, vom Arztsohn bis zur Tochter einer Teenager-Mutter aus einem Hartz-IV-Haushalt. Wie reagiert man als Erzieherin auf so unterschiedliche Startbedingungen?

Grundsätzlich findet Claudia Brillinger: Nicht mangelnde Bildung ist das Hauptproblem, eher mangelnde Bindung. Quer durch alle Milieus. „Viele Eltern sind heute stark verunsichert, was ihre eigene Rolle angeht – und das überträgt sich auf die Kinder.“ Die Folge: Mädchen und Jungen, denen das nötige Grundvertrauen ins Leben fehlt. Die so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie gar nicht in der Lage sind, neugierige Fragen zu stellen oder sich die Zahlen bis zehn zu merken. Auch Sprache, die Grundlage allen Lernens, ist nicht nur in bildungsfernen Zuwandererfamilien ein Handicap, findet Brillinger: „Mütter und Väter reden einfach zu wenig mit ihren Kindern.“ Als Notwehrmaßnahme haben die Kita-Erzieher jetzt ein Handy-Verbotsschild über dem Eingang aufgehängt: „Mama, sprich mit mir, nicht mit deinem Telefon.“

Man muss sich Claudia Brillingers Beruf vorstellen wie den eines Kapitäns, dem ständig von einer anderen Seite der Wind ins Gesicht weht. Hier leistungshungrige Eltern, denen es nicht früh genug losgehen kann mit Schreiben, Rechnen und Leistungssport – auf der anderen die, in deren Haushalt der Angebots-Zettel vom Discounter der einzige Lesestoff ist. Dabei kann die Kita durchaus Zusatznahrung bieten. Nicht nur, wenn Kinder beim Frühstück Gurken und Sellerie knabbern, die sonst eher Fast Food kennen. Auch wenn die eloquenteren ihren Spielkameraden helfen, einen Streit mit Worten zu schlichten. Oder wenn Eltern zur Abendgruppe zusammenkommen und sich mit Brillinger und ihren Kollegen über Erziehungsfragen austauschen. „Das ist eine Frage des Vertrauens. Weil sie sich nicht verurteilt fühlen, sondern angenommen.“ Oft leistet sie auch Alltagshilfe: etwa, wenn sie mit Müttern oder Vätern den Antrag für das „Bildungs- und Teilhabepaket“ ausfüllen, das sozial Schwächeren kostenlosen Eintritt für Kindertheater, Schwimmbad oder Sportverein ermöglicht – jedes dritte Kind in ihrer Kita profitiert davon.

Manchmal sieht Brillinger erst viele Jahre später, ob die Mühe sich gelohnt hat. Wie bei dem jungen Mann aus schwierigen Verhältnissen, den sie als Kind begleitet hat und der jetzt mit beiden Beinen im Leben steht: Ausbildung zum Mechatroniker, Weiterbildung zum Autolackierer. „Er sagte mir: Als ich klein war, habt ihr mir Struktur gegeben, habt mir beigebracht, was falsch und richtig ist. Davon zehre ich immer noch.“ Erfolgserlebnisse, die vieles aufwiegen. Aber nicht alles. Denn die tägliche Arbeit ist nicht nur psychisch und geistig, sondern auch körperlich belastend. Der Lärmpegel, das Heben, Tragen und Bücken. Zwar sind Erzieher in der teuren Stadt per Tarifvertrag höher eingruppiert als in anderen Bundesländern, aber das reicht nicht, findet Brillinger: „Die Zeiten für Vor- und Nachbereitung, die Elternarbeit, Feedbackgespräche mit Praktikanten – die zahlt uns keiner!“ Deshalb engagiert sie sich in der Volksinitiative „Kita-Netzwerk Hamburg“, die seit Monaten mit dem Senat über bessere Rahmenbedingungen verhandelt. „Ich liebe meinen Job, weil er Sinn ergibt“, sagt Claudia Brillinger. „Weil ich jedem Kind vermitteln kann: Es ist schön, dass du da bist.“ Aber so wie der Arbeitsalltag heute aussieht, fürchtet sie, könnten in Zukunft noch weniger Schulabgänger dafür zu begeistern sein. Ausbaden müssten das Cheyenne und Emil, Murat und Jewgenija. Und eines steht fest: Es träfe sie unterschiedlich hart.

*Namen der Kinder geändert

Das sagt die Politik:

„Bildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen“

Uwe Lohmann, familienpolitischer Sprecher der Regierungspartei SPD:

„Seit 2014 ist das Kita-Basisangebot – fünf Stunden Betreuung plus Mittagessen – für alle Hamburger Eltern gratis. Freie Bildung für alle Schichten, von der Kita bis zur Uni, gehört zu den Grundsätzen sozialdemokratischer Politik. In einer wachsenden Stadt mit jährlich 15000 bis 30000 Neubürgern haben wir in den letzten Jahren massiv den Krippen- und Kita-Ausbau voran getrieben, jetzt steuern wir nach bei der Qualität: Bis 2020 wollen wir 2700 zusätzliche Fachkräfte gewinnen, davon allein 2100 im Krippenbereich. Das bedeutet auch Nachwuchsförderung: Unbezahlte Praktika wird es nicht mehr geben, und mittelfristig sollen Erzieher ein Ausbildungsgehalt bekommen. Kitas können aber soziale Härten nicht alleine auffangen. Dazu braucht es eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen, etwa der Jugendhilfe.“

„Chancengerechtigkeit heißt nicht Abi für alle“

Philipp Heißner, familienpolitischer Sprecher der CDU

„Die Abschaffung der Kita-Gebühr war ein reines Wahlkampfgeschenk des ehemaligen ersten Bürgermeisters Olaf Scholz. Die falsche Entscheidung in einer Zeit, in der Experten wie die Bertelsmann-Stiftung Hamburg massiven Nachholbedarf beim Krippenpersonal nachweisen, also ausgerechnet bei den Jüngsten. Es wäre sinnvoller gewesen, die Gebühren schrittweise zurückzunehmen, und auch später. Dazu kommt: Die Qualität der Kitas wird nicht von staatlicher Seite überprüft, obwohl es dazu eine gesetzliche Grundlage gibt. In eher gutbürgerlichen Stadtteilen organisieren sich Eltern und protestieren, wenn es nicht rund läuft, in sozial schwächeren Quartieren wird das eher so hingenommen. Das ist doppelt ungerecht. Soziale Durchlässigkeit heißt aber nicht, dass jedes Kita-Kind später Abitur machen muss: Wir brauchen Menschen mit allen Bildungsabschlüssen, nicht nur Akademiker!“

Das sagt die Mutter:

„Ich hatte Angst um meine Töchter“

Nach der Kita-Zeit hören die Schwierigkeiten nicht auf – die Spaltung nimmt eher noch zu. Sabine Dreher* lebt in einer Gegend, in der soziale Gegensätze besonders sichtbar sind: Auf der einen Seite ihrer Neubauwohnung liegt das grün-bürgerliche Ottensen, auf der anderen Seite St. Pauli mit seinem hohen Anteil an Transferleistungs-Empfängern und Migranten. Dort befindet sich auch die zuständige Grundschule. Ihre sechsjährigen Zwillingstöchter hat sie aber auf einer Privatschule angemeldet, zahlt Schulgeld und nimmt einen weiteren Weg in Kauf. Warum?

„Ich kenne niemanden in unserer Nachbarschaft, der sein Kind in St. Pauli eingeschult hätte. Da alle Kinder mit viereinhalb Jahren an der zuständigen Grundschule vorgestellt werden müssen, haben auch wir sie uns angesehen, wussten aber gleich, dass sie nicht in Frage kommt – schon den Umgangston empfanden wir als rau und lieblos. Manche Familien ziehen weg, wenn ihre Kinder ins Schulalter kommen, viele melden ihre Kinder an der Grundschule in Ottensen an. Dafür gibt es aber keine Garantie, weil Plätze nach Zuständigkeit vergeben werden. Manche denken deshalb darüber nach, zum Schein den Wohnsitz zu wechseln.

Weil ich selbst im sozialen Bereich arbeite, kenne ich viele schwierige Familienverhältnisse, und ich habe großes Mitgefühl mit den Kindern, die so aufwachsen. Ich verstehe auch, dass manche davon profitieren würden, wenn die Klassen gemischter wären. Und vielleicht bin ich auch Opfer meiner Vorurteile. Aber wenn ich meine Kinder anschaue, denke ich:  Die beiden sind noch so klein – ich möchte nicht, dass sie dort untergehen. Oder jeden zweiten Tag mit einen blauen Auge heimkommen. Die harte Lebenswirklichkeit lernen sie noch früh genug kennen.“

Und was heißt das jetzt? Wenn Kitas Chancengerechtigkeit fördern sollen, braucht es zwei Bausteine. Der eine ist simpel: Geld und nachhaltige Planung. Mehr Erzieherstellen, attraktivere Bedingungen für Berufseinsteiger, Fortbildungen, angemessene Vergütung auch für Aufgaben jenseits des Normalbetriebs – etwa für die Arbeit an pädagogischen Konzepten. Der zweite Baustein kostet nichts, ist aber komplexer: Einfühlungsvermögen und Kommunikationstalent. Damit Förderung für alle greift, müsste man auch alle Eltern mit ins Boot holen. Solche, die selbst Unterstützung und Beratung brauchen. Und auch solche, die sich aus Sorge um ihre Kinder dem staatlichen Bildungssystem entziehen – und dadurch soziale Gräben noch vertiefen.

Facts and Figures:

  • Für das laufende Haushaltsjahr sind in Hamburg 822 Millionen für Kitas eingeplant, damit haben sich die Ausgaben gegenüber 2010 mehr als verdoppelt. Die Milliardengrenze wird voraussichtlich 2020 erreicht.
  • In Hamburg werden vergleichsweise viele Kinder in einer Kita betreut: 44,7 Prozent der unter Dreijährigen, fast 100 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen
  • Besonderen Nachholbedarf für Hamburg sieht die Bertelsmann-Stiftung bei der Betreuung der unter Dreijährigen: Auf eine Erzieherin kommen im Schnitt 5,2 Kinder, empfohlen wird ein Schlüssel von 1 :4. Bei den Drei- bis Sechsjährigen liegt er mit 1 : 8,4 Kindern im bundesdeutschen Durchschnitt, empfehlenswert wäre ein Verhältnis von 1 : 7,5.
  • Laut Bertelsmann-Stiftung wären rund 3850 neue Erzieherstellen notwendig, um in Hamburg gute pädagogische Arbeit zu leisten – also deutlich mehr als die angekündigten 2700.
  • Laut dem „Gute-Kita-Gesetz“ der Bundesregierung werden bis 2020 5,5 Milliarden Bundesgelder für Kita-Ausbau und Qualitätsverbesserung bereit gestellt. Wie sie die Mittel einsetzen, entscheiden die Länder selbst.
  • Erzieher und Erzieherinnen sind eine Hochrisikogruppe für Burnout und andere durch Stress verursachte Erkrankungen, so eine Studie der katholischen Hochschule Aachen. Hauptgrund: der Personalmangel in den Einrichtungen.
  • „Eine gute Kita mit mehr Erziehern würde ich mir auch etwas kosten lassen“ – diesen Satz unterschreiben laut einer Bertelsmann-Studie mehr als die Hälfte aller Eltern. Das gilt sogar für Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben.

Mein Andersmädchen

Für die „Barbara“, Ausgabe Februar 19, habe ich über die Frage geschrieben: Warum sehen eigentlich alle 13jährigen Mädchen heutzutage gleich aus – bis auf meine Tochter? Und wie finde ich das?

Manchmal, wenn ich sehr junge Mädchen sehe, denke ich an einen sehr alten Sketch von Loriot. Darin steht eine Gruppe identisch gekleideter Herren am Flughafengepäckband und versucht, aus einer Reihe völlig gleicher Koffer den richtigen herauszufischen. Danach folgt gleich die nächste Herausforderung: Am Ausgang wartet ein Grüppchen ebenso gleichförmiger Ehefrauen mit Föhnwelle und Seidentuch. Was das mit 13jährigen im Jahr 2019 zu tun hat? Nun: Wenn Pubertät ein Ringen um die eigene Identität ist, kloppen sich gerade alle um dasselbe Modell. Langhaarfrisur, Lama-Shirt, Lack-Kunst am Nagel. Da fragt man sich auch manchmal, wie die sich gegenseitig auseinanderhalten. Nur eine sticht heraus: meine Tochter. Nicht nur, weil sie fast immer die Kleinste ist, auch wegen Grunge-Boots, Kurzhaarschnitt und Karohemd. Ihre Fingernägel sind nur deshalb lang, weil sie vergisst, sie zu schneiden, als Handy-Hintergrundbild trägt sie die LGBT-Flagge, „weil’s cool ist“, und auf ihrer Playlist steht Mittelalter-Musik statt Cro & Co. Meistens bin ich stolz auf mein Andersmädchen. Aber manchmal auch verstört.

„Früher war mehr Lametta“, spricht Loriot. Als ich ein Teenager war, in den Achtzigern, gab es diverse Gruppen und Untergrüppchen: Ob man pastellfarbene Pullover über dem Blouson geknotet trug, Schnallenschuhe zum langen schwarzen Mantel oder barfuß zu Batik, war ein Statement. Manche Mädchenfrisuren sahen aus wie aus dem „Denver Clan“, andere wie von der Bundeswehr. Heute ist Artenvielfalt out. Vielleicht, weil die 13-jährigen von damals die Erwachsenen von heute sind, und gegen die lässt es sich schlecht rebellieren. Jedenfalls nicht mit Klamotten und Playlists. Dann wiederum: Vielleicht war dieses ganze Punk-Pop-Psych-Ding auch damals mehr Attitüde als echte Individualität. Genau so wenig rebellisch wie ein 60-jähriger, der in einem gebügelten „Wild & Free“-T-Shirt zum Rockfestival fährt und dort alkoholfreies Pils kippt. Und ob man Gruftie oder Softie wurde, hatte oft weniger mit Überzeugung zu tun als mit der Frage, ob man zufällig in der 8b war oder in der 8a.

Meine Tochter steht da drüber, und das bleibt nicht ohne Folgen. Nicht, dass sie gemobbt wird, weil sie nicht „Bibi’s Beauty Palace“ auf YouTube folgt. Aber zur coolen Clique gehört sie auch nicht, und es gibt Tage, da versinkt sie in ihren schlammfarbenen Rollis wie eine kleine Schildkröte, die den Kopf einzieht. In solchen Momenten steht auf meiner linken Schulter ein Engelchen in Regenbogen-Tunika und reckt die Faust: Gegen den Strom schwimmen gibt Muckis! Lamas sind eh uncool! Und wenn sie sich später tatsächlich in Emily verliebt und nicht in Emil: so what? Auf meiner rechten Schulter sitzt ein Teufelchen im Paillettentop, macht sich die Nägel und stichelt: Was ist bloß aus deiner pinkfarbenen Prinzessin vom Kita-Fasching geworden? Hättest du nicht lieber so ein kleines Mini-Me, dem du einen Lockenstab zum Geburtstag schenken kannst?

Manchmal gewinnt das Teufelchen. Dann suche ich morgens im Schrank meiner Tochter das einzige Oberteil, das mehr nach Bluse als nach Hemd aussieht, hänge es nach vorn und hoffe, sie greift danach. Aber es gibt auch die guten Tage. An denen pappe ich dem Pailletten-Heini mit Kleber aus dem Nail-Art-Set den Mund zu und schaue mir entspannt an, wie mein Andersmädchen T-Shirts aus der Jungs-Abteilung in die Umkleidekabine schleppt. „Ich bin halt so’n bisschen genderfluid“, sagt sie dann halb entschuldigend, halb kokett, und ich finde das vor allem eins: ganz schön mutig. Denn anders sein, wenn alle anderen genau so anders sind, das ist für Anfänger. Ich habe übrigens auch noch einen Sohn, der Fußball spielt, sich eine Playstation wünscht und Mädchen doof findet. Seine Schwester allerdings nicht immer. Extrem normal halt. Er ist allerdings erst zehn. Vielleicht wird das noch.

Relotius und ich

Die Affäre um gefälschte Reportagen beim „Spiegel“ treibt mich um. Ich bin wütend, weil ein solches Verhalten das ohnehin schwer angeknackste Vertrauen in klassische Medien weiter untergräbt, ich bin aber auch aus ganz persönlichen Gründen wütend. Um es im „Spiegel“-Pathos zu sagen: Ich fühle mich in meiner Berufsehre gekränkt, und das gilt auch für viele meiner KollegInnen. Heruntergezogen von einem, der mit hohem Einsatz ein schmutziges Spiel gespielt hat. Ich fürchte mich vor steigendem Misstrauen, vor einer weiteren Entfremdung zwischen Journalisten und Lesern. Was ich dagegentun kann? Genau dasselbe, das der „Spiegel“ tut, nur mit meinen eigenen Mitteln: Ich habe aufgeschrieben, wie ich arbeite. Wie ich Protagonisten suche, wie mühsam das sein kann und wie enorm beglückend. Auch wenn mein Maßstab, meine Ansprüche andere sind. Warum es mich ärgert, wenn man meinen Auftraggebern, Frauen- und Familienmagazinen, so oft Unredlichkeit vorwirft. Und wo ich den entthronten Kollegen sogar zähneknirschend verstehen kann.

1.) Der „Geile-Geschichte“-Reflex: Wo ich ähnlich ticke wie Claas Relotius

Jede Journalistin, jeder Journalist braucht ein Quäntchen Reporterglück. Auch ich hatte und habe in meinem Berufsleben immer wieder diese Momente, in denen ich denke: Das ist jetzt zu schön, zu perfekt oder schlicht zu passend, um wahr zu sein. Solche Momente gibt es immer und überall. Sehr nah: Als mir eine Mutter in der Kita-Garderobe von ihrer Hebamme erzählte, die Hunderte von Geburten begleitet hat und gerade mit 42 zum ersten Mal ein Baby erwartet. Sehr fern: Als ich in einem Klamottenladen in einem südindischen Dorf von einer Frau mit blonden Rastalocken und norddeutschem Slang begrüßt wurde, die es der Liebe wegen dort hin verschlagen hatte. Als ich im spanischen Cadaqués den alten Schreiner kennen lernte, der Salvador Dalí ein Bett gebaut hat. Oder im digitalen Raum: als ich für ein Themenheft „Sport“ einfach mal googelte,  ob ich für ein Porträt eine Sporttrainerin mit Behinderung finde und auf der Seite einer Zumba-Lehrerin mit Querschnittslähmung landete. Das sind Geschichten, die berühren, neugierig machen, die gelesen und geschrieben werden wollen.

Manchmal entdeckt man die Nadel im Heuhaufen nach langer Fahndung, und manchmal findet man etwas im Heu, das man gar nicht gesucht hat. So ähnlich höre ich es von vielen Kolleginnen, die ein ähnliches Themenfeld beackern, wir sind in der Regel kollegial und helfen uns häufig gegenseitig mit Kontakten und Tipps aus. Zugegeben: Das ist nicht die Liga „Ich finde den einzigen Abtreibungsarzt von Missouri/ den Jungen, der den Syrienkrieg ausgelöst hat/ den größten Hillbilly im Mittleren Westen.“ Aber die bescheidenen Beispiele aus meinem Berufsumfeld haben einen gewissen Charme: Sie sind nicht erfunden. Anders als eine ganze Reihe von besonders spektakulären Protagonisten in den Texten von Claas Relotius.

 Menschen interessieren sich für Menschen – dieser Grundsatz gilt immer und überall. Geschichten, Texte, Themen werden anschaulicher, wenn es jemanden gibt, der sie verkörpert. Manchmal ist die Biographie allein auch schon Thema genug, steht für etwas Größeres. Seit 25 Jahren arbeite ich als Journalistin, und ich habe es immer als einen besonders schönen, herausfordernden, aber manchmal auch mühseligen Teil meiner Arbeit gesehen, solche Menschen zu finden. Als ich in den Neunzigern anfing, lief das noch per Telefonkette – kennst du jemanden, der jemanden kennt, der…? – , später über Mails („gerne weiterleiten“), seit einigen Jahren hilft ein gut gepflegtes Social Media-Netzwerk bei der Kontaktanbahnung. Und noch immer gibt es die gute alte Reporter-Methode: rausgehen, mit Leuten ins Gespräch kommen, Vertrauen gewinnen. Manchmal nicht locker lassen. Manchmal auch loslassen.

Lange nicht jeder Mensch, der eine interessante Geschichte zu erzählen hat, möchte sie öffentlich machen, völlig berechtigt. Und es hat auch Themen gegeben, die mich an den Rand der Verzweiflung gebracht haben. Vor allem, wenn die Vorgabe der Redaktion ist, dass die Interviewpartner mit Namen genannt werden und für Fotos zur Verfügung stehen müssen. Oft war ich dabei verblüfft, wie viele Menschen davon ausgehen, dass gerade in Frauen- und Familienmagazinen ein Großteil dieser Geschichten „fake“ sei – „Die denkt ihr euch doch aus!“ Nein, tun wir nicht, jedenfalls weder ich noch die Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich zusammenarbeite, bei „Brigitte“ und „Barbara“, „Eltern“, „Myself“ und wie sie alle heißen.

Um mit einem weiteren Vorurteil aufzuräumen: Es gibt – jedenfalls in meinem Arbeitsumfeld – keine Gagen dafür, wenn sich jemand interviewen und/oder fotografieren lässt. Allenfalls eine kleine Aufwandsentschädigung, wenn Menschen beispielsweise von weiter weg extra für eine Fotoproduktion im Studio anreisen. Die monetäre Ausbeute ist jedenfalls mager und dürfte in den seltensten Fällen der Grund sein, mit einer Journalistin/einem Journalisten zu sprechen.

Ob es nicht doch auch in meinem Umfeld schwarze Schafe gibt, die erfinden, umschreiben, faken? Möglich. Wahrscheinlich. Auch wenn ich es nicht erlebt habe. Nochmal zu Claas Relotius: Ich kann schon nachvollziehen, wie man der Versuchung erliegen kann, sich einfach den perfekten Protagonisten zu stricken, wenn keiner hinschaut. Weil das betroffene Land so weit weg ist, weil dort ohnehin kaum einer den „Spiegel“ auf deutsch liest. Trotzdem erstaunlich, dass jemand in einer so klein gewordenen Welt glaubt, er käme damit auf die Dauer durch. Vielleicht ist das so, vielleicht hält man sich für unverwundbar, wenn man mit Anfang 30 als Shooting-Star der Reporterszene gehandelt wird. Ich weiß es nicht, ich war nie annähernd in der gleichen Situation.

2.) Der schmale Grat zwischen Distanz, Respekt und Mitgefühl

Von vielen schier unglaublichen Fälschungen, die dem Reporter bislang nachgewiesen worden sind, hat mich eine besonders unangenehm berührt: die von Fergus Falls. Eine Kleinstadt in den USA, in der sich Relotius für einige Zeit eingemietet hatte, um dort dem Zeitgeist der Trump-Ära nachzuspüren. Er hat dort tatsächlich mit Menschen gesprochen und sie auch namentlich zitiert – er hat dabei aber, so schreiben es die Bewohner von Fergus Falls in einer ausführlichen Stellungnahme, realen Personen schier unglaubliche Attribute angehängt, so diffamierend wie unwahr. Ein junger Mann, der „noch nie eine Frau hatte“ und„noch nie den Ozean gesehen hat“, wird in diesem sehr lesenswerten Beitrag gezeigt – mit seiner Freundin, am, haha: Strand.

Nun wäre es sicherlich blauäugig, jede dieser Gegendarstellungen ihrerseits kritiklos und ungeprüft einfach so hinzunehmen. Und natürlich setzen sich Leute zur Wehr, wenn sie sich ungerecht dargestellt sehen. Worauf ich hinaus will: Es ist immer wieder eine Herausforderung, Gesprächspartner nicht nur ernst zu nehmen, sondern die richtige Mischung zu finden aus „mein Gesprächspartner hat die Kontrolle, was von ihm veröffentlicht wird und was nicht“ und „ich habe die Deutungshoheit und bestimme die Dramaturgie eines Textes.“ Ja: Interviewpartner müssen damit leben, dass wir Journalisten auswählen, kuratieren, zusammenstellen und auch werten. Journalisten sind keine Pressesprecher und keine Ghostwriter. Wir dürfen aber beispielsweise nicht Zitate unzulässig zuspitzenoder gar aus dem Zusammenhang reißen, wie es uns gefällt. Dass wir nicht einfach erfinden und behaupten dürfen – nun, das wird nicht in der Journalistenschule gelehrt, schlicht, weil es so selbstverständlich ist.

 Gerade bei wenig medienerfahrenen Menschen empfinde ich es in meinem Berufsalltag auch als meine Aufgabe, gemeinsam auszuwählen. Notfalls auch mal einen Gesprächspartner vor sich selbst zu schützen, der mir private Dinge erzählt und vielleicht nicht die Konsequenzen überblickt, wenn das so in die Welt gelangt. Ich erlebe es häufig als ein gemeinsames Ringen um Wahrheit, wenn ich Protagonisten ihre Protokolle oder Zitate nochmal zuschicke und beide Seiten um Formulierungen kämpfen. Die deutsche Sprache? Google Translate ist mittlerweile immerhin weit genug, dass auch englischsprachige Gesprächspartner, die ich gelegentlich habe, meine deutschen Interviews bzw. Passagen aus Texten gegenlesen können.

Einen weiteren schmalen Grat möchte ich nur kurz miterwähnen: den zwischen Gesehenem, Erlebtem und Gehörtem. Mancher wird sich an eine Diskussion erinnern, die ebenfalls beim „Spiegel“ stattfand und in der es um eine Modelleisenbahn in Horst Seehofers Keller ging. Der Autor wusste vom Hörensagen, dass es sie gab, beschrieb sie aber, als sei er persönlich mit in den Keller gestiegen, um Seehofer beim Weichenstellen zuzusehen. Das kostete ihn einen Journalistenpreis. Schwieriges Thema. Ich erinnere mich an eine eigene Reportage über eine Extrem-Fallschirmspringerin, in der ich – natürlich – während des Sprungs aus 10.000 m Höhe nicht dabei war, mir aber im Nachhinein minutiös habe erzählen lassen, wie sie sich gefühlt hat, was sie gesehen, gerochen, gehört hat, und das dann realitätsnah aufgeschrieben habe. Ich habe dabei aber nicht bewusst klar gemacht: Achtung, das habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen. Ich war eher stolz darauf, wie plastisch die Textpassage trotzdem wurde. Sicherlich ein Punkt, bei dem ich nochmal mein eigenes Tun reflektieren sollte.

3.) Die Kontrollmechanismen: ein Netz mit (zu) weiten Maschen

Kontrollieren mich meine Auftraggeber, ob meine Interviewpartner real sind, ob die Fakten stimmen? Nicht direkt, es gibt auch in den meisten Häusern nicht mehr die minutiöse Dokumentation, die sich der „Spiegel“ noch leistet, meist gar keine mehr. Keine Redakteurin, kein Redakteur hätte in personell extrem eng besetzten Teams heute überhaupt die Muße, auch nur Stichproben zu machen à la: Lass mich auch mal mit dem telefonieren. Das ist in den meisten Fällen allerdings schon von daher nicht nötig, als dass die Protagonisten meiner Geschichten meistens (a) fotografiert werden – dann geht eine Mail mit ihren Kontaktdaten an die Fotoredaktion -, oder (b) aufgefordert werden, eigene Fotos zu schicken, und/oder (c) ihre Textpassagen nochmals von mir zur Abnahme bekommen. Weshalb es immer nochmal eine Korrekturschleife gibt, bei mir gottlob meistens mit einem Mail-Betreff wie „Mini-Änderungen xy“.

Generell stellt sich aber nach der Causa Relotius eine Grundsatzfrage: Müssen die Redaktionen wirklich misstrauischer sein gegenüber Festen wie Freien? Stichproben machen? Nicht mehr gutgläubig erwarten, dass ihnen verdiente Mitarbeiter keine haarsträubenden Lügengebäude auftischen, aus Ruhmsucht, aus der Versuchung, schnell mit wenig Aufwand ein wenig Kohle zu machen? Oder stimmt vielleicht im Gesamtsystem was nicht?

4.) Drinnen und draußen: wozu die ökonomischen Rahmenbedingungen uns treiben

Es gibt ein wunderbares Netz-Video meines geschätzten Kollegen Jakob Vicari von den Freischreibern, das vor einigen Jahren gedreht wurde, um auf die oft miserablen Arbeitsbedingungen freier Journalisten hinzuweisen. Darin fährt er auf einem klapperigen Herrenrad am Elbdeich entlang und sucht nach Al-Qaida.

Es ist irre lustig und zum Heulen. Denn: Ja, es gibt leider gute Gründe, warum die Situation so ist wie ist – den Verlagen geht es schlecht, die Printmedienkrise trifft alle, und wenn man das Pech hat, in einem sehr teuren Land auf Reportage geschickt zu werden, wird das magere Honorar oft fast von den Lebenshaltungskosten aufgefressen, ganz wörtlich. Denn Verpflegungsspesen gibt’s für Freie schon lang keine mehr, jedenfalls mehrheitlich.

Ich schreibe diese altbekannte Tatsache hier nochmal so ausführlich auf, denn wenn ich von den Arbeitsbedingungen der fest angestellten „Spiegel“-Kollegen lese, dann, ich gestehe: packt mich spontan der Sozialneid. Wochenlang vor Ort recherchieren dürfen und notfalls auch mal nach Hause kommen und sagen: sorry, war nix, gab keine Geschichte? Könnte man sich, so schreibt es jedenfalls Chefredakteur Ullrich Fichtner, auch mal leisten, ohne danach Ärger zu bekommen. Okay: Mal abgesehen vom Verlust von Ruhm und Ehre, und dass man sich dann möglicherweise eine Weile mit einem Schlappschwanz-Image herumschlägt. Aber immerhin: Es wäre kein Kündigungsgrund.

Bei uns da draußen, auf dem freien Markt, sieht das anders aus: Kein Text heißt kein Honorar (vielleicht auch keine Folgeaufträge), keine Protagonisten heißt kein Honorar (dito!), und wenn der Redaktion die vorgeschlagenen Protagonisten nicht gefallen, dann heißt es eben neu suchen, für, na? genau: kein zusätzliches Honorar.

Das ist schon in Ordnung, dazu sind wir Freiberufler, wir tragen unser Risiko selbst, wenn auch nicht alle von uns freiwillig (ich schon). Aber da kommt wieder der Moment, in dem sich die Systemfrage stellt, und zwar in mehrere Richtungen. Zum einen in Sachen Selbstverständnis: Müsste nicht neben dem Reporter-Ehrgeiz auch der Mut gefördert werden, eine Niederlage einzugestehen? Statt eine dünne Faktenlage so aufzublasen, dass doch noch was draus wird? Auf der anderen Seite: Sägen nicht viele durchaus seriöse Blätter an dem Ast auf dem sie sitzen, wenn sie Freie bei der Qualität genau auf denselben Mindeststandard drücken, auf dem die Bezahlung angekommen ist? Ja, ich finde auch: Viele Geschichten – inklusive manche meiner eigenen – könnte man besser machen, mit einer zusätzlichen Umdrehung Recherche, mit einer noch intensiveren Fallsuche, mit mehr Gegenchecks und Hintergrundgesprächen. Allein, es hängt, woran es so oft hängt: am Geld. Money, Macht und Eitelkeit – danach sollten wir fragen. Jede und jeder für sich, aber auch in den Redaktionen.

Facebook zum Anfassen: Blind-Dates mit online-Freunden

Facebook ist ein Ego-Schaufenster – aber wer sind die Menschen dahinter wirklich? Gibt es wahre Freundschaft online? Und was passiert eigentlich mit der Verbindlichkeit in Zeiten ständiger Vernetzung? Für die BARBARA war ich im Herbst 2015 unterwegs, um Leute im wahren Leben zu treffen, die ich vorher nur online kannte.

„Tanzt du?“, will Bruno wissen. Vor uns stehen zwei Gläser Weißwein und eine Platte Antipasti, draußen vor dem Restaurantfenster fegt der Wind über den Kirchplatz von Bad Kreuznach, und ich lasse mir Zeit mit der Antwort. Gute Frage. Noch könnte ich fast alles sein, Tänzerin oder Nicht-Tänzerin, Frühaufsteherin oder Langschläferin, Rucksackreisende oder Grand-Hotel-Geschöpf. Bruno kennt ja nur einen kleinen Ausschnitt meines Lebens. Mein digitales Schaufenster, von mir selbst dekoriert. Gilt auch umgekehrt. Dabei sind wir schon seit zwei Jahren befreundet, Bruno und ich. Behauptet jedenfalls Facebook.

Dass ich an diesem Dienstag fast 600 Kilometer durch Deutschland gefahren bin, um mit ihm eine Doppelportion Mozarella und eingelegte Auberginen zu essen, hat keine romantischen Gründe. Beziehungsstatus: In festen Händen, er wie ich. Trotzdem bin ich nach knapp fünf Jahren im Social-Media-Land neugierig geworden. Etwa die Hälfte meiner 489 Facebook-Kontakte ist zustande gekommen wie der unsere: Kommentar auf den Post eines gemeinsamen Bekannten, ein Like, eine Antwort, eine Freundschaftsanfrage. Von manchen höre ich nie wieder etwas, andere sind in meinem Alltag gegenwärtig wie Nachbarn oder Kollegen. Früher war die Teeküche im Büro mein Soziales Medium, aber da ich seit Jahren hauptsächlich im Home Office arbeite, haben Facebook und Co das übernommen. Wie wäre es, ein paar der Menschen zu treffen, die ständig dort herumstehen? Die mir vertraut scheinen, obwohl ich ihre Stimme noch nie gehört habe, ihre Handschrift nicht kenne, und ihr Gesicht nur so, wie sie es selbst der Welt zeigen? Im Netz ist jeder der Regisseur seines eigenen Lebens, Kameramann und PR-Beauftragter. Ich möchte das ganze Bild, inklusive „deleted scenes“. Wohl wissend, dass ich mich umgekehrt genau so nackig mache.

Vier Online-Bekannte habe ich angeschrieben, ob sie Lust haben auf das Experiment, alle hatten spontan Lust, drei davon auch Zeit. Dumm nur: Das erste Date ist schon geplatzt, während ich gerade mal südlich von Hamburg am Maschener Kreuz im Stau stehe. Dafür gibt’s kein Like, und es ist meine Schuld – auch wenn ich es gerne auf die böse Multitasking-Kultur im Netz schieben würde. Vier parallel geöffnete Chat-Fenster, und bei einem habe ich mich im Datum vertan. Deshalb hat Greta an diesem Vormittag umsonst in einem Frühstückscafé in Köln gewartet und mir besorgte Nachrichten auf mein Smartphone geschickt. Auf Twitter bekäme das den Hashtag #EpicFail. Im wahren Leben gelte ich als beinahe pathologisch pünktlich und zuverlässig. Macht Facebook mich zum Freundschafts-Nerd?

Immerhin: Bei meiner Abendverabredung mit Bruno stimmen Zeit und Ort. Im Netz ist er ein Frauenversteher. Ein Gefühlsmensch, der gern Bonmots über die Liebe postet. Ein freundlicher Buddha mit Hipster-Brille. Auch: Einer, der sich ganz gerne reden hört. Stört mich das? Ach was. So völlig ohne Hang zur Selbstdarstellung ist wohl keiner, der vom Social-Media-Virus angesteckt wird. Da kann ich mir auch an die eigene Nase fassen. Die Frage ist eher: Hält der offline-Charme, was er online verspricht? Dass wir sofort ins Plaudern kommen und auf dem 5-Minuten-Fußweg von seinem Büro zu seinem Lieblings-Italiener bereits VW-Krise, Wohnungspreise in Hamburg und im Rheinland sowie gemeinsame Facbook-Bekannte abgehakt haben, überrascht mich nicht. Sondern etwas anderes: wie viel es doch ausmacht, was der Körper erzählt, jenseits der geschriebenen Sprache. Bruno sieht zwar exakt so aus wie auf seinem Profilfoto, mit Werberbrille und Buddha-Bäuchlein, wirkt dabei aber trotzdem jünger, beweglicher, lebhafter. Nicht gar so weise, dafür nahbarer. Ein Mann, der tanzt – auch über 40 und jenseits des perfekten Body Mass Index. Genau wie ich, übrigens. Wir verabreden, dass wir mal zusammen ausgehen, wenn er geschäftlich in Hamburg ist. Zehn Minuten später stellen wir fest, dass wir beide in einer Familie mit starken Frauen und abwesenden Vätern aufgewachsen sind.

Aber sich über einen halben Liter Chardonnay seine Lebensgeschichte erzählen, garniert mit etwas Hobby-Psychologie, ist das nun der Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn was heißt das in digitalen Zeiten? Stammt diese Trennung – wahre, analoge Seelenverwandtschaft hier, oberflächliche Online-Bekanntschaft da – nicht aus dem simplen Weltbild von Kulturpessimisten, die Computer schon in den 80er Jahren bäh fanden? Wie fast überall im Leben gilt: It’s complicated. Auch wir Forty-Somethings hatten ja schon immer beides: einen kleinen Kreis echter Vertrauter, bei denen man ungestraft auch nachts um drei angeschickert und mit Liebeskummer vor der Tür stehen konnte. Und einen viel größeren Kreis aus Ex-Mitschülern, Interrail-Begegnungen, Lerngruppen-Mitgliedern. Nur, dass damals ständig Menschen aus diesem weiteren Kreis auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Weil der Abreißzettel mit der Telefonnummer im Altpapier landete oder die WG-Adresse nicht mehr stimmte. Heute werden diese Kontakte höchstens zu elektronischen Karteileichen. Und sind manchmal auf einen Klick wieder zum Leben erweckt: Der große Blonde aus dem Deutsch-LK von 1988, der indische Yogalehrer von 2007. Ich hatte schon Visitenkarten in der Hand, auf denen nur noch Mailadresse und Twitter-Account vermerkt waren. Die sind heute oft dauerhafter als Postadresse oder Beziehungsstatus.

Es hat Vorteile, wenn keiner mehr verloren geht. Man muss nur aufpassen, dass diese Unverbindlichkeit des äußeren Kreises nicht einsickert in den inneren. Denn dann droht die Facebookisierung der persönlichen Beziehungen: Statt sich zum Geburtstag anzurufen, schicken sich langjährige Freunde rasche WhatsApp-Nachrichten, und bei wirklich Bad News gibt’s einen weinenden Emoji. Schluck. Umgekehrt hat mir Facebook bisweilen erstaunlich profundes über Menschen verraten, von denen ich immer dachte, dass ich sie in- und auswendig kenne. Kontroverse politische Ansichten, die ich im Kneipengespräch lieber umschiffe. Oder völlig ironiefreie Begeisterung für Katzenbilder. So werden Facebook & Co immer wieder zu menschlichen Abenteuerspielplätzen inklusive Abgründen. Und analoge Freundschaften können digital scheitern.

Das schöne an reinen Online-Begegnungen ist: Im Netz lerne ich ständig Menschen kennen, die ich sonst niemals getroffen hätte. Höchstens im ICE-Bistro. Andere Jobs, andere Orte, viel jünger, viel älter – oft ist es nur eine einzige Überschneidung, die uns online verbindet. Kinder, zum Beispiel. Deshalb bin ich auch auf Facebook mit Ines befreundet. Die lebt in Castrop-Rauxel, ist 15 Jahre jünger als ich und macht beruflich nichts mit Medien. Wie erfrischend. Mittwoch mittags um eins komme ich bei ihr zu Hause an. Mit ihrer entzückenden, einjährigen Tochter Henriette und ihrem Mann Marko wohnt Ines in einer Neubausiedlung mit Reihenhäuschen, die so modern, praktisch und freundlich aussehen, als könnte man sie samt Einrichtung bei Ikea kaufen. Ein Leben, in dem alles passt, auch das Drumherum: das abstrakte Gemälde, farblich abgestimmt auf das Sofa, die Fotogalerie an den Wänden, mit Hochzeits- und Babybildern ab der ersten Ultraschall-Aufnahme, das Retro-Muster auf Henriettes Kleidchen und auch, dass zwischendrin der Schwiegervater mit einem Fünferpack neuer Söckchen für seine Enkelin hereinschneit, genau so fröhlich und herzlich wie Ines selbst. Harmonisch, zufrieden, aufgeräumt – das schaffe ich in meinem Leben und meiner Wohnung lange nicht immer. In diesem Punkt sind wir wohl verschieden.

Trotzdem hat unser Treffen etwas sehr vertrautes. Liegt es an Ines’ rheinischer Unkompliziertheit, an unserer gemeinsamen Online-Geschichte, unserem gemeinsamen Thema, oder ist es alles zusammen? Umarmung zur Begrüßung, bei einer Tasse Tee dann gleich dieser freundlich interessierte Eltern-unter-sich-Ton: Mensch, Ines, das sind ja tolle Nachrichten, du bist wieder schwanger? Wow, Henriette isst ja freiwillig Blaubeeren, meine beiden sind solche Obsthasser, schlimm. Muttersein verbindet – vor allem, wenn beide Seiten nicht zu der Sorte gehören, die Glaubenskriege über die richtige Tragehilfe oder die perfekte Schulform anzettelt. Da ticken sie und ich dann wieder völlig gleich. Mütter-Parlando wird oft sehr schnell privat, inklusive blutiger Geburts-Details. Ob das auf Facebook passiert oder auf dem Spielplatz, ist eigentlich egal. In den letzten zehn Jahren habe ich viele solche Gespräche geführt. Was davon bleibt, ob aus der glücklichen Schicksalsgemeinschaft echte Freundschaft wird, das merke ich in meinem Offline-Umfeld aber erst jetzt, da meine Kinder größer werden. Und die Frauen um mich herum wieder mehr spüren, was sie sonst noch ausmacht. Ich frage mich, worüber mein 30jähriges Ich mit Ines geredet hätte, damals Single und kinderlos. Oder worüber wir uns in zehn Jahren austauschen werden.

So lange wird es aber wohl nicht dauern, bis ich wieder in ihre Gegend komme. Schon wegen Greta. Die hat nämlich eine Frühstückseinladung in Köln bei mir gut. Hat zwar nicht geklappt mit dem Kennenlernen, die erste Krise haben wir aber gut gemeistert, finde ich. Ganz old school, mit einer ehrlichen Entschuldigung, die ich unbedingt am Telefon loswerden musste, vom Autobahnparkplatz aus, und nicht per Direktnachricht. „Aber schreib das unbedingt in deinen Text mit der verpatzten Verabredung“, hat sie gesagt und gelacht, „das ist doch typisch Facebook!“ Mach ich, Greta. Die verschwendete Stunde im Café? „Ach was, verschwendet, ich hab immer Ideen im Kopf und etwas zum Schreiben dabei.“ Kenne ich, denke ich. Fünf Minuten am Telefon, und es fühlt sich an, als hätten wir noch deutlich mehr gemeinsam. Greta und ich – ich glaube, wir sind da einer heißen Sache auf der Spur.