Mit leeren Händen

Möchte eine Frau ein Baby, kann sie Mittel und Wege finden, auch solo. Für Männer bleibt der Kinderwunsch dagegen unerfüllt, wenn ihre Partnerin nicht will oder kann. Und für Singles wird es ganz schwierig. Für ZEIT online habe ich im März 2022 mit einem Mann gesprochen, der nichts so gerne hätte wie ein Kind

Natürlich weiß Michael, dass es in Deutschland illegal wäre, Frauen dafür zu bezahlen, eine Schwangerschaft für ein Paar auszutragen. Erkundigt hat er sich trotzdem, bei einem Unternehmen in den USA und einem in Osteuropa. Er hat dann schnell wieder davon abgesehen, er will ja nichts Kriminelles, niemandem schaden. Er wünscht sich nur so sehr ein Kind. Aber Michael ist 37 Jahre alt und hat kein Kind. Eines Tages hat er im Streit zu seiner Partnerin gesagt: „Was, wenn ich eines Tages vor dir stünde, mit einem Baby? Wenn ich dich einfach vor vollendete Tatsachen stellen würde?“ 

Er hat versucht, sich eine Zukunft ohne Nachwuchs vorzustellen, sagt er, „aber da wird es in meinem Kopf zappenduster.“ Malt er sich ein Leben als Vater aus, hat er dagegen Kino im Kopf: Ausflüge, gemeinsam malen, basteln, Fragen beantworten, die Welt erklären. Schöne, helle Bilder, die heil machen könnten, was er mit sich herumträgt: Erinnerungen an eine schwierige Kindheit, mit einer Mutter, die eines Tages ging und einen Vater, der gebrochen zurückblieb. Er wollte es anders machen. Das wusste er schon mit 13.

Trifft man Michael im Park der kleinen Stadt, in deren Nähe er lebt, ist der erste Eindruck: Da kommt ein freundlicher Mann. Nicht groß, nicht breit, eher leise. Die Worte rollen in weichem Dialekt von seinen Lippen. Seine Sätze beginnt er häufig mit „man“ statt mit „ich“ – gerade dann, wenn es im Gespräch emotional wird. Er könnte gut einer von jenen sein, die zur selben Zeit mit einem Baby im Tragetuch zwischen Krokussen und Schneeglöckchen spazieren gehen oder einem Kleinkind auf dem Laufrad hinterhereilen. Die Rolle würde zu ihm passen. Einmal war er sogar ganz nah dran.

„Nachdem ich meine Lebensgefährtin kennengelernt habe, bin ich immer davon ausgegangen, dass wir eines Tages Kinder haben werden. Sie ist der totale Familienmensch, hat ein inniges Verhältnis zu ihren eigenen Eltern, schon eine Mahlzeit allein ist ihr zuwider.“ Als die Pläne für beide mit Mitte 30 schließlich konkreter wurden, so erzählt Michael es heute, war seine Partnerin sich plötzlich nicht mehr so sicher: Was würde eine Schwangerschaft mit ihrem Körper machen, was die Mutterschaft mit ihren beruflichen Plänen? Am Ende rang sie sich dennoch durch – ein wenig wohl auch ihm zuliebe. Er sagt, er wäre bereit gewesen, alles zu übernehmen: den Großteil der Elternzeit, nachts für das Baby aufstehen. Als 35-Jähriger wollte er Ernst machen mit neuen Rollenverteilungen.

Aber dazu kam es nicht. Statt einer Zeit der Hoffnung und Vorfreude war die Schwangerschaft ein Horrortrip. Zu Beginn litt Michaels Partnerin unter extremer Übelkeit, dann, im vierten Schwangerschaftsmonat, kam das Kind tot zur Welt. „Ich habe noch selten im Leben so geweint“, sagt Michael. Das Nachhausekommen aus dem Krankenhaus fühlte sich an wie eine grausame Parodie auf das, was er sich ausgemalt hatte: statt mit einem lebendigen Baby im Arm mit dem toten, kleinen Körper in einer verschlossenen, herzförmigen Spanschachtel, die sie schließlich dem Bestatter übergaben. Übrig blieben nur eine Geburts- und Sterbeurkunde mit dem Namen, den sie sich für den Jungen ausgesucht hatten, ein winziges Mützchen und ein taubes Gefühl. 

Für seine Trauer, seinen Schmerz, seine inneren Kämpfe war danach nur wenig Platz, so hat Michael es empfunden. „Ich hatte so sehr versucht, für meine Partnerin da zu sein in dieser schweren Zeit. Alles getragen, alles organisiert, mitgedacht, als sie nicht dazu in der Lage war. Aber als es passiert war, fragte kaum jemand danach, wie es mir geht, die Freunde, die Kollegen. Nur danach, wie sie es verarbeitet. Als beträfe mich das gar nicht.“

Es ist ein Paradox. Um ein Kind zu bekommen, braucht es zwei Personen, wenigstens ihre Keimzellen. Doch sobald es um Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Geburt geht, steht der Frauenkörper im Vordergrund. Naheliegend, denn die Gesundheit der Mutter, ihr Wohlergehen und auch Lebensplanung sind noch immer stärker mit einem Kind verknüpft als bei Männern, biologisch wie sozial, ob es einem gefällt oder nicht. Männer können Frauen nicht zwingen, schwanger zu werden oder es zu bleiben. Dafür können sie sich später leichter der Verantwortung entziehen. Frauen können dagegen zumindest beeinflussen, ob, wann und von wem sie ein Baby bekommen. Wenn sie Single sind oder in einer lesbischen Beziehung leben und einen unerfüllten Kinderwunsch haben, können sie die Hilfe einer entsprechenden Klinik in Anspruch nehmen. Männer haben diese Option nicht.

Die größere Ferne zwischen Vater und Kind schlägt sich sogar in der Statistik nieder. Während man recht genau weiß, ob eine Frau Kinder hat und wie viele, sind Erhebungen wie der amtliche Mikrozensus für Männer nur bedingt aussagekräftig. Erhoben wird zwar die Anzahl von minderjährigen Kindern pro Haushalt, nicht aber die familiäre Verbindung zu den Erwachsenen. So fallen Väter durchs Raster, die von ihren Kindern und der Mutter getrennt leben, und Väter, deren Vaterschaft beim Kind nicht eingetragen wurde. Das Berliner Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) geht davon aus, dass etwa jeder fünfte Mann in seinem Leben nicht Vater wird.

Was man genauer kennt, ist die Gefühlslage von Männern, die unfreiwillig kinderlos sind. Sie hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Der einsame Wolf ist out, der Neue Mann trägt Baby. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums, für die zweimal im Abstand von sieben Jahren kinderlose Männer zwischen 20 und 50 befragt wurden, zeigt: 2013 war ein Viertel unfreiwillig ohne Nachwuchs, 2020 ein Drittel. Der Aussage „Kein Kind zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Makel“ stimmten 2020 fast doppelt so viele Befragte zu wie zuvor (39 gegenüber 20 Prozent). Elternschaft prägt inzwischen nicht nur die Identität von Frauen, sondern zunehmend auch von Männern. „Vatersein gehört zum Mannsein dazu“, fanden 2013 50 Prozent der kinderlosen Männer, sieben Jahre später waren es 56 Prozent. 

Bleibt der Nachwuchs aus, kann das bei Männern eine ähnliche Sinnkrise auslösen wie bei Frauen, sagen Ärztinnen und Berater, die Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch helfen. Männer fühlten sich sogar besonders hilflos und litten noch stärker unter der aufgezwungenen Passivität, weil sie sonst gewohnt seien, die Macher zu sein. Zudem fänden Männer zu wenig Ventile für ihren eigenen Kummer. 

So ging es auch Michael. Vor allem, als ihm vergangenes Jahr, wenige Monate nach dem traurigen Ausgang der Schwangerschaft, klar wurde: Das war mehr als ein einmaliger Schicksalsschlag. „Ich saß im Homeoffice, meine Lebensgefährtin auch, und ständig habe ich mit angehört, wie sie zu Kollegen am Telefon sagte: Das war so furchtbar für mich, das will ich nie wieder erleben.“ Michael verzweifelte. „Ich habe irgendwann sogar angefangen, Männer im Bekanntenkreis zu beneiden, die fanden, man habe ihnen ein Kind angehängt. Die bekommen etwas geschenkt, das sie gar nicht wollten, – und ich kann nichts tun, um mir diesen Wunsch zu erfüllen.“

Es war auch der Anfang vom Ende der Partnerschaft. Michael sagt, er habe seine Partnerin stützen, auffangen, ermutigen wollen, aber eben auch selbst eine Perspektive gebraucht. Sie hingegen habe jeden Vorschlag für eine weitere Familienplanung als Druck empfunden, nicht nur die abwegige Idee von der Leihmutterschaft. „Sie hat mir vorgeworfen, es ginge mir gar nicht um sie. Sie fühlte sich von mir behandelt, als wäre ihr Körper eine Maschine, die nur repariert werden muss, um bereit zu sein für die nächste Schwangerschaft.“ Hat er niemals überlegt, seiner Partnerin zuliebe die eigenen Lebensziele zu überdenken? „Ja, aber es führte nirgends hin”, sagt Michael. Er ist nicht religiös, ein naturwissenschaftlich denkender Techniker, aber trotzdem fand er auf einmal die Vorstellung von Seelenwanderung plausibel. Vielleicht würde sich sein Kind einen anderen Körper suchen. Neu anfangen. Zurückkommen.

Die Geschichte von Michael und seiner Partnerin hat kein Happy End, vielleicht noch nicht einmal ein Ende, allenfalls ein vorläufiges. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen haben die Beziehung zerstört, im Streit ist die Liebe auf der Strecke geblieben. „Ich habe den Eindruck, es gibt dabei nur Verlierer. Sie ist traurig, ich bin traurig. Ich frage mich: Habe ich sie im Stich gelassen? Sie mich? Wir uns gegenseitig?“ Einfach loszuziehen und sich eine andere Partnerin zu suchen, wie es ihm manche leichthin raten, ist für Michael keine Option. Eine gemeinsame Geschichte wische man nicht einfach so weg.

Der unfreiwillig Kinderlose ist heute 37. Er könnte sich also mit seinem Kinderwunsch noch Zeit lassen, jedenfalls mehr als eine Frau im gleichen Alter. Noch so eine Unwucht zwischen den Geschlechtern. Aber die Biologie ist das eine, die Psyche das andere. Michael tröstet der Gedanke wenig, dass er vielleicht noch in zwanzig Jahren zeugungsfähig ist. „Selbst wenn ich von heute auf morgen jemanden kennenlernen würde – das dauert ja, bis man sich einig ist, ob man wirklich ein Kind haben will. Und was sollte ich mit einer 25-Jährigen, die völlig andere Interessen und Lebensvorstellungen hat?“

Seine Psychotherapeutin hat ihm geraten, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihm schon früher Freude bereitet haben. Damit er nicht in ein so tiefes Loch falle. Jetzt, wo der Frühling kommt, ist er viel draußen in der Natur, und zu Hause hat er sich eine Ecke für Modellbau eingerichtet. Dort bemalt er kleine Spielfiguren, grundiert sie, verziert sie mit feinen Pinseln. Er hat kein Kind, dem er zeigen könnte, wie das geht. Nur das Kind in ihm darf wieder einmal spielen. Das muss fürs erste reichen.

In meinem Element

Wo sich Storch und Fischotter gute Nacht sagen: Der Spreewald, diese einzigartige Flusslandschaft in Brandenburg ist im Trend und bietet dennoch genügend lauschige Rückzugsorte – per Boot, per Fahrrad oder zu Fuß. Eine Liebeserklärung an einen besonderen Landstrich, erschienen in BRIGITTE, Juni 2021

Manchmal, wenn Martin Fix an einem Sommermorgen auf sein Standup-Paddleboard steigt, dann träumt er vom Herbst. Von einem Tag, an dem die Wiesen am Ufer Raureif tragen, die Rehe ruhig am Waldrand stehen, und nichts zu hören ist als das regelmäßige Eintauchen des Ruderblatts. Da ist er ganz in seinem Element, so viel meditative Einkehr ist in der warmen Jahreszeit selten an seinem Boots- und Boardverleih in Burg. Schlechter Zeitpunkt für unsere Landpartie? Nicht doch, beruhigt er uns: Bei rund 1500 Kilometer Wasserwegen sollten wir wohl ein stilles Plätzchen finden. 

Mit einer laminierten Karte und seinen Insider-Tipps machen wir uns auf den Weg. Am Ufer ziehen Schwarzerlen, Buchen und Brombeerranken vorbei, blau schimmernde Riesenlibellen kreisen über der Wasseroberfläche, und aus den Baumkronen dringt das Tschilpen des Eisvogels. Silbrige Schwärme vom Göbeln begleiten uns unter Wasser, und einmal zuckt ein metallischer Blitz von einem Ufer zum anderen: eine Ringelnatter. Amazonas-Feeling, keine Stunde Zugfahrt südöstlich von Berlin. 

Erst nach einer guten halben Stunde, an einer Gabelung, kreuzt einer der Kähne, auf denen sich Reisegruppen durchs Nasse Element staken lassen. Gern etwas feuchtfröhlich. „Sind Sie die Zeitungsfrau?“, schallt es mir entgegen. Alles klar: Der Kahnführer hat gerade von der Zustellerin erzählt, die an entlegenen Orten auf dem Wasserweg Post und Zeitungen ausliefert. Im Vorbeifahren höre ich noch die nächste Frage („Sagense mal, wie tief isses hier eigentlich?“), die Antwort kenne ich schon: „Wer im Spreewald ertrinkt, ist nur zu faul zum Aufstehen.“ 

Gebaut wurden die Kähne ursprünglich als Transportvehikel für Gemüse, doch findige Einheimische boten schon vor über 100 Jahre Fahrten für Sommerfrischler an. Gewandet in Festtagstracht, was ein bisschen geschummelt war, aber das urlaubende Berliner Bürgertum fand’s knorke. Die langen, flachen Boote prägen das Bild bis heute, genau wie eingelegte Gurken, Pellkartoffeln mit Leinöl und Storchennester. Wem das Gruppenschippern zu trubelig ist, schnappt sich Kanu, Kajak oder SUP-Board und sieht zu, dass er Land gewinnt. 

Holländische Gurken, preußische Migranten

Entstanden ist die Brandenburger Naturschönheit in der letzten Eiszeit. Auf ihrem Weg vom Lausitzer Bergland nach Berlin bildet die Spree ein bewaldetes Binnendelta, das über Jahrhunderte zu einer einzigartigen Natur- und Kulturlandschaft geformt wurde, durch Abholzung, Trockenlegung, Umleitung von Wasserwegen. Das hat auch seinen Niederschlag in der Sprache gefunden: „Fließe“ heißen die naturbelassenen Läufe, „Kanäle“ die menschengemachten. Zu Zeiten der Völkerwanderung kamen slawische Siedler, ihre Nachfahren, „Sorben“ oder „Wenden“ genannt, prägen den Spreewald bis heute mit eigener Kultur, sorbischsprachigen Radiosendern und Ortsnamen in zwei Idiomen. Im 16. Jahrhundert folgten holländische Zuwanderer und mit ihnen der Gurkenanbau, im 18. Jahrhundert siedelte der „Alte Fritz“ frühere preußische Soldaten an, um die Sumpflandschaft weiter zu kultivieren. Nach dem Mauerfall wurde die Region zum Biosphärenreservat, in dessen Kernzone auch Paddler und Spaziergänger nichts verloren haben. Letzte Zuwanderungswelle: Nutrias, die wilden Nachfahren von Zuchttieren aus einem aufgegebenen DDR-Betrieb. Die niedlichen Nager graben sich ihre Höhlen an den Ufern, meist zum Entzücken der Besucher und oft zum Ärger der Einheimischen, weil sie so gern die Deiche anknabbern.

Menschengemacht und doch verwunschen

Die wechselvolle Geschichte lässt sich auch an den Dörfern ablesen. In Lübbenau erinnern Kopfsteinpflaster und Alleen an Omas Kindheitsalbum, in Burg hat ein kunstsinniges Gastgeberpaar ein Ferienheim aus DDR-Zeiten in das 5-Sterne-Wellnesshotel „Bleiche“ verwandelt, am Ortseingang von Straupitz hat sich der Berliner Sakral-Baumeister Karl-Friedrich Schinkel mit einer überdimensionierte Kirche selbst ein Denkmal gesetzt. Und dann ist da noch das allgegenwärtige Emblem auf den Giebeln der Gebäude: Zwei gekreuzte Schlangenköpfe mit Krönchen, die auf eine Volkslegende zurückgehen. Denn die Schlange ist im Spreewald kein Angst-, sondern ein Glücksbringer: Dort, wo sie sich niederlässt, baute man in früheren Jahrhunderten bevorzugt das eigene Haus. Mehr als Aberglaube, denn die Schlange liebt es trocken und ist damit ein zuverlässiger Bio-Indikator. So fließt alles zusammen: Mittelalter und Biedermeier, Sozialismus und Moderne, Tradition und Trend. 

Das Menschengemachte tut dem Zauber dieser Landschaft keinen Abbruch. Schon deshalb, weil man Zeit und Muße braucht, um sie zu erkunden. Wer nur mit dem Auto über die Bundesstraße braust, bleibt buchstäblich außen vor. Für das echte Erlebnis muss man mitten rein. Aufs Wasser, auf die gut beschilderten Fahrradrouten über Wald- und Feldwege. Die eignen sich sogar für Sportmuffel prima, weil sie allesamt flach sind wie ein Teenie-Bauch. Zu Fuß geht auch. Uns begleitet Carolin von Prodzinsky, Rangerin und Naturschützerin. Wenn sie in ihren khakifarbenen Shorts am frühen Morgen im Wald unterwegs ist und nach dem Rechten sieht, dann merkt man: Auch hier ist eine in ihrem Element. Als Studentin hat sie in Australien Beuteltiere mit Peilsendern ausgestattet, in den letzten Jahren ihre Leidenschaft für das Naheliegende entdeckt: Biber und Fischotter, Schwarzstorch und Kibitz. Unser Spaziergang führt zum Gasthaus Wotschofska, mitten im Wald auf einer Erleninsel gelegen. Eine Mischung aus altdeutscher Wirtschaft, mit Holzvertäfelung bis zur Decke und grün gerahmten Fensterläden, und Beachclub mit Liegestühlen. Was liebt die Rangerin in ihrem Revier besonders? „Diese magischen Momente. Wenn du morgens auf einer Wiese am Waldrand stehst, der Dunst liegt noch über dem Gras, und in der Ferne steht ein einzelner Kranich und ruft.“ Was ihr Sorgen macht? „Der Klimawandel. Das letzte Hochwasser war 2013, seitdem sehen wir zu, wie der Wasserstand sinkt.“ Das schadet dem einzigartigen Ökosystem.

Junge Wilde, hippe Fashion

Im Zentrum von Lübbenau, ein paar Stunden später, treffen wir in ihrem Laden Sarah Gwiszcz. Ein Schneewittchen-Typ, mit Sommersprossen, Husky-Augen und schwarzen Haaren, und mit einem Blick, der zu allem entschlossen ist. Die Modemacherin ist nach dem Studium in Berlin in ihre Heimat zurückgekehrt, um dort ihr eigenes Label zu gründen: „Wurlawy“, ein Wort aus der sorbischen Sagengestalt, das übersetzt „Wilde Spreewaldfrauen“ bedeutet. Das passt zu ihren Entwürfen, die bereits auf der Berliner Fashion Week Furore machten: farbenfrohe Maßanfertigungen mit Spitze und Blümchenmuster oder im traditionellen Blaudruck, so verspielt und so cool zugleich, dass sich Einheimische wie Besucher Outfits für besondere Gelegenheiten maßschneidern lassen. Oder ein besonderes Mitbringsel erwerben: Zum Beispiel die „Spreewald-Beanie“, eine Kreuzung zwischen Kopftuch und Mütze, zu der sich Gwisczc von der Lübbenauer Brautjungfernhaube hat inspirieren lassen. Tradition mit einer Prise Punk und einem Hauch von Fantasy. Wovon sie träumt? Endlich fließend sorbisch sprechen lernen, die Sprache ihrer Vorfahren. Und von ihrer bevorstehenden Hochzeit, natürlich im selbstgeschneiderten Kleid: „Das wird so ein Sissi-Ding, richtig haudruff!“

Altes Handwerk mit Zukunft – auch andere Kreative verbinden hier die beiden Pole. Wie Bastian Heuser, Typ Tattoo-Hipster, der mit zwei Geschäftspartnern vor einiger Zeit eine Destillerie übernommen und sie zeitgemäß in „Spreewood Distillers“ umgetauft hat. In Schlepzig, am nördlichen Ende des Spreewaldes gelegen, 600 Einwohner. Und mitten im Dorf eine Infotafel, die über die aktuelle Geburtenrate der Storchenpaare informiert. Hier, am vielleicht schönsten Hintern der Welt oder zumindest Brandenburgs, brauen sie einen preisgekrönten Roggen-Whisky. Bei einem Schluck „Stork Club“ auf der Kahnterrasse ihres Hofcafés versteht man, was daran besonders ist: der charakteristische Vollkorn-Geschmack, die feinen Aromen. „Wer Whisky macht, muss warten können“, sagt Heuser. Drei Jahre und einen Tag, so lange beträgt die Lagerzeit im Eichenfass. Als Stadtmensch hat Heuser seinen Wohnsitz in Berlin, aber im Spreewald den Charme der Langsamkeit entdeckt: Fahrradfahrern, Angeln, Wasserwandern. Seine Kinder, neun und elf, bessern derweil ihr Taschengeld auf, in dem sie Kanufahrern an der Schleuse zur Hand gehen.

Verrückter Graf auf weißem Hirsch

Letzte Station: Cottbus. Liegt streng genommen nicht im Spreewald, sondern ein paar Kilometer jenseits, und klingt, zugegeben, nicht nach Traumstadt. Eher nach postsozialistischer Tristesse. Doch das ist nur ein Farbton in einem bunteren Bild. In den aufgelassenen Tagebauten wird im Lauf der nächsten Jahre eine einzigartige Seenlandschaft entstehen, in der Innenstadt eröffnen coole Cocktailbars, und dann ist da noch die reiche Kunst- und Kulturszene. Ein Jugendstiltheater mit Mut zur modernen Inszenierung, ein Museum in einem ehemaligen Dieselkraftwerk, das eine einzigartige Sammlung von Kunstwerken von der klassischen Moderne über den Spätexpressionismus bis zu Fotokunst aus der DDR beherbergt. Auch wenn Museumsdirektorin Ulrike Kremeier den Begriff „DDR-Kunst“ nicht leiden kann: „In dieser Zeit wurden so viele interessante Traditionslinien weitergeführt, da hilft es gar nichts, ständig einen Bezug zum politischen System herzustellen.“ 

Last but not least liegt in Cottbus der Schlosspark Branitz, Vermächtnis des Fürsten Hermann zu Pückler-Muskau, den sie hier auch den „verrückten Pückler“ nennen. Ein Dandy des 19. Jahrhunderts, Autor, Weltenbummler, der davon träumte, die Quellen des Nil zu erkunden, aus einer unwirtlichen Sandgrube einen oasengleichen Garten machte, und sich schließlich höchstselbst unter einer Erdpyramide im Schlosspark begraben ließ. Vor der Cottbuser Stadtmauer erinnert ein modernes Standbild an den Weitgereisten, es zeigt den Fürsten auf einem weißen Hirschen. Denn er soll bei Besuchen gern mit einer Kutsche, gezogen von Wildtieren, vorgefahren sein. Sinn für spektakuläre Auftritte, lang vor Erfindung des Selfies.

Abends, im Biergarten vom „Spreewaldhof“ in Leipe, sitzen wir auf Holzbänken und studieren die Karte. Räucherfisch, Wein, oder mutig ein „Gurkenradler“ bestellen? Vom Wasser her erklingt das Geräusch eines Paddels, Mücken fliegen tief, letzte Tagesausflügler schließen ihre Fahrräder an. Klick-Klack. Stille. Frieden. Es gibt Momente, in denen muss man sich nirgends hinträumen. Alles ist schon da.

INFOTEIL

Hinkommen und Rumkommen

Mit dem Auto: etwa 100 Kilometer südöstlich von Berlin bzw. nordöstlich von Dresden, Anfahrt von beiden Städten aus etwa anderthalb Stunden, von Hamburg aus etwa viereinhalb Stunden. Alternative: Der Regionalexpress (RE) Richtung Cottbus verkehrt im Stundentakt ab Berlin mit Halt z.B. in Lübben, Lübbenau und Vetschau, Rad- und Sportgerätemitnahme möglich. Mit dem Fahrrad lässt sich die Region optimal erkunden (gut ausgeschildertes Wegenetz jenseits der Autostraßen, etwa der 260 km umfassende „Gurkenradweg“), Verleihstationen z.B. in Burg-Dorf (Radler-Scheune, www.radler-scheune.de/Spreewald/,  Tel. 03 56 03/133 61) und Lübbenau (Fahrrad Metzdorf, www.fahrradverleih-spreewald.de, Tel. 035 42/466 47); Tagespreise für ein Tourenrad ab etwa 12 Euro, auch E-Bikes, Anhänger, Kinderfahrräder etc.; Noch authentischer: Entdeckungstouren auf den Wasserstraßen. Überblick über Bootsverleihe (Kajaks, Canadier etc.): www.spreewald.de/bootsverleih/; der Tagespreis für ein Kajak liegt etwa bei 20 Euro. SUP-Board-Verleih in Burg-Kolonie: www.sup-spree.de, Tel. 03 56 03/838, Stundenpreis 10 Euro. Info vor Ort: Tourismusverband Spreewald, Tel. 03 54 33/58 10, www.spreewald.de

Übernachten

Bleiche. Ein Hotel wie ein opulentes Gemälde: Zwischen Fließ und einem weitläufigen Gelände mit altem Baumbestand liegt das Spa-Resort mit Fünf-Sterne-Küche und Kultur-Ambiente, von der echten Kunst in Lobby und den großzügigen Aufenthaltsräumen bis zur hauseigenen Bibliothek und regelmäßigen Lesungen teils bekannter Autor*innen, zu denen das kunstsinnige Gastgeberpaares Clausing einlädt. Wer hier eincheckt, darf sich nach Strich und Faden verwöhnen lassen: Das Arrangement ist zwar mit einem Mindestpreis von etwa 250 Euro pro Person und Nacht kein Schnäppchen, es sind aber auch alle Mahlzeiten und die Nutzung der „Landtherme“ darin enthalten (Burg, Bleichestr. 16, Tel. 03 56 03/620, www.bleiche.de).

Spreewaldresort Seinerzeit. Malerisch zwischen Kopfsteinpflasterdorfstraße, Spreewiesen mit alten Obstbäumen und Fließ gelegen, möchte man sich in diesem eleganten, 2017 neu renovierten Landhotel mit seinem Stilmix aus Sixties-Deko und Landlust glatt zu romantischen Gesten hinreißen lassen. Manche tun es auch: Am Ufer, unter den Kronen einer uralten Weide, kann man sich ganz offiziell das Jawort geben. Einfach nur den Urlaub genießen geht auch: Das Hotelrestaurant „Feine Küche“ wechselt alle sechs Wochen die Karte und überrascht mit saisonalen Spezialitäten, im Sommer auf der Kastanienterrasse (DZ mit Frühstück ab 112 Euro. Dorfstr. 53, 15910 Schlepzig, Tel. 03 54 72/66 20, www.seinerzeit.de)

Hotelanlage Starick. Zünftig und ungekünstelt: Hier wohnen Sie bei echten Spreewald-Insidern. Der Seniorchef hat auf dem weitläufigen, von einem Wasserlauf durchzogenen Hotelgelände sogar ein kleines Museum zu Ehren der Spreewaldgurke eingerichtet, serviert im Hotelrestaurant Wildspezialitäten aus eigener Jagd oder Fisch aus den umliegenden Gewässern. Besonders heimelig sind die kleinen Doppelzimmer mit Dachschräge: Ein bisschen wie Urlaub bei Oma in den Siebzigern, sogar der orangefarbene Teppich stimmt (Kleines DZ mit Frühstück ab 95 Euro. An der Dolzke 6, 03222 Lehde, Tel. 035 42/899 90, www.spreewald-starick.de)

Spreewaldhof Leipe. Am Wasser gebaut: Mitten in der Natur am Rand eines verschlafenen Dorfes, wo sich Kanu- und Radrouten kreuzen, ist aus einem Bauernhof eine gemütliche Pension mit Biergarten geworden. Der Spreewaldhof ist ganz auf die Bedürfnisse von Aktivurlaubern eingestellt, mit Anleger für Kanus, Kajaks und Co. Die Zimmer sind schick-rustikal, mit Fachwerkelementen und modern möbliert. Im Biergarten am Wasser gibt’s frischen Räucherfisch, Hefeplinse (Pfannkuchen) und süffiges Gurkenradler (DZ mit Frühstück ab 106 Euro, auch günstige Campingunterkünfte (simple Holzhütten ab 34 Euro/Nacht) und Ferienwohnungen. Leiper Dorfstr. 2, 03222 Lübbenau, Tel. 03542/2805, www.spreewaldhof-leipe.de)

Bio-Hotel Kolonieschänke. Burg-Kolonie hat seinen Namen aus der Zeit, in der der „Alte Fritz“ seine Veteranen im Spreewald ansiedelte. Das Hotel in einem alten Fachwerkhaus zwischen weitläufigem Obstgarten, Spielscheune für Kinder und Outdoor-Bar, ist ein Treffpunkt für alle, die es grün, gemütlich und ökobewusst mögen: Vom Baumaterial übers Heizsystem bis zur Restaurantküche mit vegetarischem Schwerpunkt achten die Betreiber in jeder Hinsicht auf Nachhaltigkeit. TV und W-LAN? Fehlanzeige! Einen eigenen Bootsverleih gibt’s auch (DZ mit Frühstück ab 85 Euro, außerdem verschiedene Zimmerkategorien, z.B. behindertengerecht und mit eigener Sauna. Ringchaussee 136, 03096 Burg/Spreewald, 03 56 03/68 50, www.kolonieschaenke.de)

Zur Alten Schule. Backsteinwände, Holzbalken, Kaminöfen, Veranden mit Blick ins Grüne und Obstbäume zur Selbstbedienung: Wo früher Schulkinder das ABC lernten, auf einem Waldgrundstück am Ortsrand von Burg-Kauper, liegt eine der schönsten Ferienhausanlagen der Gegend. Absolut ruhig, liebevoll ausgestattet, ländlich-modern. Verschiedene Wohnungsgrößen für Selbstversorger, aber auch mit Frühstück buchbar (FeWo für 2 Personen eine Nacht 110, jede weitere Nacht 85 Euro, Landfrühstück 12,50 Euro pro Person. Weidenweg 8, 03096 Burg/Spreewald, Kontaktaufnahme bevorzugt per Mail: kontakt@zur-alten-schule-spreewald.de, www.zur-alten-schule-spreewald.de

Genießen

Hotel-Gasthof Stern. Hier dreht sich alles um das Thema Kräuter: Keiner kennt sich so gut aus mit den grünen Wundern der Region wie Koch und Gastgeber Peter Franke, der auch Touren und Workshops anbietet. Klar, dass neben Rustikal-Klassikern wie Kartoffeln mit Quark und Leinöl oder Rouladen auch Gerichte wie der „gemischte Wildkräutersalat“ (etwa 10 Euro) auf der Karte stehen (Burger Straße 1, 03096 Werben, Tel. 03 56 03/660, www.hotel-stern-werben.de)

Gasthaus Wotschofska. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf dem Wasserweg: Nur so erreicht man das rustikale Gasthaus mit Biergarten. Dabei ist es eine TV-Berühmtheit: Um die „Wotschofska“ wurden einige Szenen der ZDF-„Spreewaldkrimis“ gedreht. Kulinarische Schwerpunkte sind Fisch- und Wildgerichte aus der Region, z.B. Spreewälder Fischsuppe (große Portion 8 Euro); (Wotschofskaweg 1, 03222 Lübbenau, Tel. 045 36/76 01, www.gasthaus-wotschofska.de)

Hofrestaurant Schlangenkönig. Eine der schönsten Wasser-Terrassen im Spreewald hat die – übrigens sehr empfehlenswerte! – Pension Schlangenkönig in Burg-Kauper: Wind in den Weiden, gründelnde Enten und auf dem Teller je nach Geschmack italienisch (Pasta, Fleisch- und Fischgerichte) oder regional. Empfehlenswert: Die herzhafte Variante der Hefepfannkuchen („Plinsen“) mit Lachs und saurer Sahne, etwa 10 Euro (Waldschlößchenstraße 14, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/759 30, www.zum-schlangenkoenig.de)

Spreewälder Privatbrauerei 1788. Beliebtes und belebtes Brauhaus plus Biergarten mit eigenen Craftbeerspezialitäten und deftiger Küche (z.B. Brauhaus-Rippchen, 18,50 Euro) auf dem malerischen Gelände des „Spreewaldresort Seinerzeit“ in Schlepzig (Adresse und weitere Infos siehe „Übernachten“). 

Cavalierhaus Branitz. Top-Adresse für den Tagesausflug nach Cottbus: In seinem kleinen, feinen Restaurant im Schlosspark Branitz (siehe auch „Erleben“) kocht der kulinarische Aufsteiger Tim Sillack regionales auf Sterne-Niveau, mittags zu Schnupperpreisen (z.B. Bärlauchbratwurst vom Cottbuser Metzger auf Sauerkraut für 16,50 Euro), und serviert auch Highend-Klassiker wie Austern (Zum Cavalierhaus 9, 03042 Cottbus, Tel. 03 55/49 39 70 30, www.cavalierhaus-branitz.de)

Einkaufen

Wurlawy. Sarah Gwisczc nimmt Elemente aus der sorbischen Tracht und macht coole, folkloristische Mode daraus, die sie in ihrem Ladengeschäft auch von der Stange verkauft (Ehm-Welk-Str. 27, 03222 Lübbenau, Di bis Fr 12 bis 18 h, Sa 11 bis 16 h, wurlawy.de)

Spreewood Distillers. Laden und Hofcafé gehören zur Roggen-Whisky-Destillerie, im Shop gibt es neben reinen „Stork Club“-Whiskys auch Mixgetränke wie den „Rosé Rye“ zu 18 Euro pro Flasche (Dorfstr. 56, 15910 Schlepzig, Mo bis So 10 bis 17 h, www.spreewood-distillers.de)

Töpferei Piezonka. Merke: Eine Wanderung auf dem „Fontaneweg“ (ab Burg-Kauper) sollte nie ohne geräumigen Rucksack starten – schließlich führt die Route an einer Kunsttöpferei vorbei. Mindestens eine Müslischale im verspielt-märchenhaften Dekor sollte ins Gepäck passen (Weidenweg 15, 03096 Burg, Mo bis So 9 bis 18 h)

Erleben

Wellness:  Beste Adressen fürs Wohlbefinden liegen in Burg. Die „Spreewald-Therme“ bietet in modernem Ambiente neben Bade- und Solebecken auch Anwendungen mit regionalen Produkten wie Spreewald-Algen und Leinöl an (Eintritt 2 Stunden 15 Euro, Ringchaussee 152, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/188 50, www.spreewald-therme.de). Die „Landtherme“ des 5-Sterne-Hotels „Bleiche“ besticht dazu durch ungemein opulente Optik: Offene Kamine, viel Holz, cremefarbene XL-Polsterliegen – als würde man in ein Barockgemälde eintauchen (siehe Punkt Hotels)

Folkloristisches: Ein besonders hübsches Freilichtmuseum liegt im „Storchendorf“ Dissen, abseits der touristischen Hotspots: Beim Bummel zwischen nachgebauten Grubenhäusern wird die slawische Geschichte des Spreewaldes greifbar. Unbedingt hier nach dem Schlüssel für die entzückende Dorfkirche nebenan fragen, falls sie geschlossen sein sollte: Die Holzdecke ist mit Hunderten Bildern von Pflanzen und Tieren bedeckt (Hauptstr.  32, 03096 Dissen-Striesow, Öffnungszeiten unter www.heimatmuseum-dissen-spreewald.de)

Kunst in Cottbus: Unbedingt lohnt sich ein Abstecher ins Pückler-Museum und den Schlosspark Branitz. Der Eintritt in den Landschaftspark nach englischem Vorbild ist gratis, das Schloss-Ticket kostet 8 Euro, ist aber jeden Cent wert: In der Altersresidenz des exzentrischen Fürsten aus dem 19. Jahrhundert fühlt man sich wie bei Lawrence von Arabien zu Besuch (Robinienweg 3, 03042 Cottbus. Öffnungszeiten und Preise: www.pueckler-museum.de). Toller Kontrast: Die wechselnden Ausstellungen im ehemaligen Dieselkraftwerk mit moderner Kunst von Foto bis Textil. Aktuell im Sommer 21: Die Sammlung „Chagas Freitas“ mit Kunst aus der DDR jenseits des offiziellen Kulturbetriebes (Am Amtsteich 15, 03042 Cottbus, Öffnungszeiten und Preise: www.blmk.de)

Wenn ich das gewusst hätte

Kahnfahren im Spreewald – das lernen die meisten auf ein- bis mehrstündigen Rundfahrten ab Burg-Dorf, Lübbenau oder Lehde kennen. Die Touren starten im Stundentakt, Vorausbuchung ist nicht notwendig, aber die Massengaudi hat mich eher abgeschreckt. Erst später erfuhr ich von Varianten für Individualist*innen: Einige Anbieter haben sich auf Themenfahrten spezialisiert, von der Kahnfahrt mit Krimilesung über die Mondscheintour bis zur privaten „Kahnfahrt der Sinne“ für zwei Personen rücklings auf dem Sitzsack (80 Euro pro Stunde, buchbar über Pension Schlangenkönig, s.o.). Besonders urig: Touren in Hagen Conrads Holzkähnen, die selbst in der Hochsaison in die abgeschiedensten Ecken führen (www.hagens-insel.de, ab 6 Euro pro Stunde)

Unbedingt mitnehmen

Wo Sumpf und Wasser sind, bleiben auch Mücken nicht aus – und den Spreewald lieben sie besonders! Deshalb bei Touren auf dem Wasser Insektenschutzmittel und lindernde Salbe nicht vergessen und lieber im langärmligen Shirt losziehen.

Alles fließt

Leben ist Veränderung – das gilt zunehmend auch für die Liebe. Immer mehr Menschen haben Beziehungen zu beiden Geschlechtern, ohne sich in eine Schublade stecken lassen zu wollen. Modeerscheinung – oder gar eine neue sexuelle Revolution?

Erstmals veröffentlicht in BRIGITTE LEBEN, Ausgabe 2, Frühjahr 2020

Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die klingen wie fürs Kino erfunden. Ein bisschen crazy, ein bisschen irritierend, aber auch mutig und ehrlich. Zum Beispiel diese: Frau, Mitte 40, Ehemann, zwei Kinder, trifft eine andere Frau und verliebt sich Hals über Kopf. Hadert mit den überraschenden Gefühlen, hält erst sich selbst für verrückt und fürchtet dann, dass es alle anderen tun. Schließlich versteht sie: Das ist mein wahres Ich.

Sandra Schlegel*, 47, hat das tatsächlich getan: ihren Mann nach langer Ehe für ihre Lebensgefährtin Katrin verlassen. Aber wie im Kino hat es sich nicht angefühlt. „Es war eine Zeit der inneren Zerrissenheit, wie bei jeder Trennung. Aber sie hat mich nicht in meinem Selbstbild erschüttert“, sagt sie bei einem Cappuccino im Café, mitten im Szeneviertel einer großen Unistadt. „Mein Leben vorher hat für mich über lange Zeit total gestimmt. Ich wollte immer Kinder, das hat David und mich verbunden, aber es war nicht der einzige Grund, ihn zu heiraten.“ Doch Gefühle und Gewissheiten können sich ändern. „Als ich Katrin kennenlernte und mir irgendwann ehrlich eingestand, wie ich empfinde, konnte ich nicht einfach weiterleben wie bisher. Das wäre niemandem gegenüber fair gewesen – weder David noch mir selbst gegenüber.“

Plötzlich lesbisch? Oder immer schon bi? Weil Sandra Schlegel schon als junges Mädchen einen Blick für hübsche Mitschülerinnen hatte, weil sie sich mit Anfang 20 zwei, drei Mal in Party-Knutschereien mit weiblichen Bekanntschaften wiederfand? „Ich fange nichts mit diesen Labels an. Ich bin einfach ich.“ Bei ihrer Lebensgefährtin ist das ähnlich: Die hatte vorher mehrere lange Beziehungen, vor allem zu Frauen, aber auch zu Männern. Auch sie hat ein Kind. „Als wir offiziell ein Paar wurden, habe ich immer gesagt: Es spielt gar keine Rolle, dass Katrin eine Frau ist, es geht mir um den Menschen.“

So wie die beiden empfinden viele die gängigen Schubladen des Begehrens – homo, hetero, bi – als zu ungenau. Die Begriffe stammen aus der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Der Sexualforscher Alfred Kinsey war in den 50-ern des 20. Jahrhunderts schon einen Schritt weiter: Seine Skala umfasste immerhin sieben Zwischentöne, die auf Wertungen wie  „richtig“ oder „falsch“ verzichtet. Heute gilt auch das zu holzschnittartig. Die US-amerikanische Psychologin und Wissenschaftlerin Lisa Diamond von der University of Utah hat vor einigen Jahren den Begriff „fluide Sexualität“ geprägt. Klingt ein wenig vage, ist aber treffend – anders als der Versuch, für jede Schattierung der Lust ein neues korrektes Mini-Label zu finden, konstatiert Diamond erstmal nur, dass Begehren in Bewegung ist.

Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität an der Frankfurt University of Applied Sciences, beschreibt Sexualität wie einen Regler mit Spielraum. „Bei den meisten Menschen ist die grundlegende Orientierung mit Abschluss der Pubertät, spätestens in den 20-ern zwar abgeschlossen. Aber das heißt nicht, dass sie unveränderbar ist. Und dass Menschen nicht auch einmal Sex entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten haben.“ Viktoria Märker, Fachärztin am Sexualforschungsinstitut des Hamburger UKE, bestätigt: „Sexuelle Orientierung, sexuelles Begehren ist ein Prozess und kein Zustand, den ich mit einem Etikett versehen kann und sagen: So ist und bleibt das jetzt.“

Manchmal betrifft der Spielraum nur die Liebe in Gedanken. Zum Beispiel Fantasien beim Solo-Sex. Oder die Tatsache, dass alle Frauen beim Anschauen erotischer Filme messbar körperlich erregt werden, egal, ob es vor der Kamera Frau und Mann, zwei Frauen oder zwei Männer miteinander treiben. Das ergab ein Experiment der US-amerikanischen Queen’s University. Aber auch Liebesbiografien wie die von Sandra Schlegel werden von der exotischen Randerscheinung zum Mainstream. Prominente Beispiele gibt es genug, etwa, wenn sich Model Cara Delevigne und Schauspielerin Kristen Stewart mal innig mit Männern und mal mit Frauen auf Glamour-Events und in Social Media-Posts zeigen. Ebenso die Schriftstellerin Elizabeth Gilbert („Eat, pray, love“), die 2016 mit 46 ihren zweiten Ehemann verließ, um ihre – mittlerweile verstorbene – Freundin Rayya Elias zu heiraten.

Sven Lewandowski, Soziologe an der Uni Bielefeld, findet: Die neue erotische Unberechenbarkeit passt zum Zeitgeist. „Unsere Identitäten sind heute wandelbarer als früher und voller Brüche – etwa im Berufsleben, oder wenn wir den Wohnort wechseln. Warum sollte ausgerechnet Sexualität davon ausgenommen sein?“ Er ist überzeugt: Anders als wir annehmen, ist sexuelle Lust nicht die natürlichste Sache der Welt. Sondern vor allem ein Kulturprodukt. Wen und was wir begehren, wird nicht nur bestimmt von Körperchemie und seelischer Prägung, sondern auch von unserer Umgebung. „Was erlaubt ist und was tabu, wer mit wem Beziehungen eingehen darf, ohne deshalb gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden – das beruht auf ausgesprochenen oder unausgesprochenen Vereinbarungen innerhalb einer Gesellschaft.“ So wie wir nicht nur essen, um Kalorien aufzunehmen, dient auch das, was zwischen Menschen im Bett passiert, vielen Bedürfnissen. Fortpflanzung ist eher selten das vordringlichste.

„Identitäten geben Halt, aber sie können auch einengen wie ein Schraubstock. Der ist heute ein paar Umdrehungen lockerer“, sagt Lewandowski. Demnach ist es nicht verwunderlich, wenn in einer toleranten Umgebung Beziehungen wie die von Sandra Schlegel nicht nur denkbar sind, sondern auch eher gelebt werden als in Milieus und Kulturen mit traditionellen Moralvorstellungen. „In unserem Freundeskreis, unter Kolleginnen, in unserem Viertel haben Menschen zwar erstaunt reagiert, als wir unsere Beziehung öffentlich gemacht haben. Aber wir haben uns nie diskriminiert gefühlt“, sagt Sandra Schlegel. „Sogar meine 80-jährige Mutter hat nur gefragt: Diese Katrin, ist sie denn eine Nette?“ Sie fügt nachdenklich hinzu: „Wer weiß, ob ich mir diese Gefühle überhaupt eingestanden hätte, wenn ich ein paar Jahrzehnte früher gelebt hätte. Oder wenn ich in einem kleinen, katholischen Dorf wohnen würde. Es geht mir vor allem um Katrin als Person, aber zur Wahrheit gehört auch: Kein Mann kann so nachempfinden, was einer Frau Lust bereitet, wie eine andere Frau. Sex ist spielerischer, man biegt nicht so schnell auf die Zielgerade ein, sondern lässt sich länger treiben.“

Beziehungen und Begegnungen jenseits des Boy meets Girl-Schemas werden gerade unter den Jüngeren immer häufiger. Denn der Zeitgeist ermutigt jene, die flexibler sind in ihrer Lust. Dazu passt eine online-Umfrage unter 1000 Teenagern und Twenty-Somethings in den USA und Großbritannien: Eine Mehrheit von 57 Prozent bezeichnet sich als nicht rein heterosexuell. „Das heißt nicht zwingend, dass all diese Menschen das tatsächlich ausleben“, sagt Stefan Timmermanns, „aber es ist ein Ausdruck innerer Freiheit.“ Und noch etwas zeigt das Ergebnis: Es ist nahezu unmöglich, statistisch zu erfassen, wie Menschen sexuell ticken – denn die Zahlen sind immer das Ergebnis einer Selbstauskunft. Und damit auch Ausdruck dessen, was als sozial erwünscht gilt. In rigideren Zeiten outeten sich eher nur solche Frauen und Männer, die ausschließlich das eigene Geschlecht anziehend fanden. Umgekehrt: Wenn im Teenie-Freundeskreis alle die Regenbogenflagge auf dem Smartphone haben und die coolsten Socken bei Germany’s Next Topmodel transgender sind, klingt hetero schnell ein bisschen spießig und nach bravem Blümchensex.

Bei aller Offenheit bleibt allerdings ein Unterschied zwischen den Geschlechtern: Laut Studienlage sind es deutlich mehr Frauen als Männer, die ihre Freiheit auch nutzen. Oder sind sie einfach das fluidere Geschlecht? Sven Lewandowski glaubt: Das hat mehr mit der gesellschaftlichen Geschlechterordnung zu tun als mit Biologie. „Über Jahrhunderte hatte der heterosexuelle Mann gesellschaftlich das Sagen – wenn sich Kategorien auflösen, werden auch Machtverhältnisse in Frage gestellt.“ Heißt konkret: Männer bekommen es nicht nur mit der Angst zu tun, wenn Frauen mehr gesellschaftlichen Einfluss fordern. Sondern auch, wenn sie selbst in Kontakt mit ihren eigenen weiblichen Seiten kommen. Einige empfinden wohl durchaus fluide, leben die Lust auf ihresgleichen sogar manchmal aus. Aber sie gehen weniger offen damit um oder definieren solche Erlebnisse für sich eher als Ausrutscher: Ich und schwul? Never! Medizinerin Viktoria Märker vom UKE glaubt jedoch: Das könnte sich mit einer neuen Generation ändern. „Auch Männer stellen ihre Rolle ja zunehmend in Frage, sind mehr in Kontakt mit ihren Gefühlen und schaffen sich größere Freiräume.“

Bei manchen Menschen geht die Grenzüberschreitung noch einen Schritt weiter – nicht nur in der Sexualität, sondern auch beim biologischen Geschlecht. Vor allem junge Frauen scheinen vermehrt damit zu hadern. Immer mehr Mädchen stellen sich heute bei entsprechenden Stellen vor, weil sie sich als transgender empfinden – am britischen Tavistock Centre in London, einer Klinik, die auch Minderjährige Trans-Menschen behandelt, hat sich deren Zahl innerhalb der letzten zehn Jahre sogar verfünfzigfacht.

Je nach Sichtweise kann das entweder heißen: Hurra, endlich fällt ein Tabu, das früher zu leidvollen Existenzen geführt hat. Oder: Achtung, der Hype um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, kombiniert mit niedrigeren juristischen Hürden, hat auch fatale Folgen. Die Fälle   mehren sich,in denen junge Menschen ihre geschlechtsangleichende Operation bereuen und sie gern rückgängig machen würden. Was nur sehr schwer geht. In deutschen Beratungsstellen führt das zu einem Richtungsstreit: Während manche ihren minderjährigen Patient*innen pubertätsstoppende Hormone verschreiben, warten andere mit körperlichen Eingriffen bis zur Volljährigkeit.

Fragen, die sich Menschen wie Sandra Schlegel nicht stellen müssen. Sie fühlt sich nicht mehr oder weniger als Frau, je nachdem, mit wem sie das Bett teilt. „Ich liebe Katrin sehr. Trotzdem habe ich mich schon mal gefragt: Wenn unsere Beziehung scheitern würde, würde ich dann eher wieder nach Männern Ausschau halten? Im Moment finde ich Frauen sexier und schöner. Aber wer weiß, ob das immer so sein wird.“  

*Namen der Betroffenen auf deren Wunsch geändert

Der Code des neuen Jahrzehnts

Wohl kaum etwas wird unser Alltags- und Familienleben in den Zwanziger Jahren so sehr verändern wie die Digitalisierung – und Corona hat das Tempo noch erhöht. Wir haben schon mal gespickt: Wo wir aufpassen müssen, worauf wir uns freuen können, und warum wir Maschinen nicht das selbständige Denken überlassen sollten

Veröffentlicht als Dossier in ELTERN Family, Oktober 2020

Vor langer, langer Zeit, in einer weit, weit entfernten Redaktion, bekam ich meine erste E-Mail-Adresse. Ich war eher genervt als erfreut. E-wie? Mail-was? Niemand, den ich kannte, hatte so eine Klammeraffenkonstruktion, und wozu auch. Es gab ja Fax. Und Telefon. Handys auch. Aber die brauchten nur eitle Yuppies.

Das waren die mittleren Neunziger, und von da an ging alles ganz schnell, bei mir und weltweit. Die Geburten meiner Kinder verkündete ich noch per SMS auf einem nicht smarten Phone, ein paar Jahre später wurden ihre Geburtstagsgeschenke schon per WhatsApp koordiniert. In den Zehner Jahren fingen auch Autos, Kühlschränke und Putzgeräte an zu denken, und jetzt sind wir hier: Frisch in den Zwanzigern, durch die Corona-Pandemie noch eine digitale Umdrehung nach vorn katapultiert.

Eine rasante Entwicklung, die manchmal auch spaltet. In E-Einkaufszettelbenutzer und Analog-Biokistenbezieher, in Lernapp-Fans und Holzschnitz-Verteidiger, und gelegentlich geht der Riss mitten durch uns selbst. „Digitalisierung verspricht uns Zugriff auf die ganze Welt, echte Verbindung zu weit entfernten Menschen“, sagt Stephan Grünewald, Psychologe, Autor und Mitbegründer des Kölner Rheingold-Instituts. „Aber sie hält das Versprechen nicht immer. Stattdessen befinden wir uns oft in einer Zwischenwelt, in der wir Fake und Realität nicht unterscheiden können.“ Hat die Kollegin beim Bildschirmmeeting nur ihre Kamera ausgeschaltet, oder ist sie gar nicht mehr da? Diskutieren wir auf Twitter mit einem künstlichen Bot, ohne es zu merken? Und machen wir uns zu abhängig, wenn wir selbst die Auswahl eines Familienfilms Algorithmen überlassen? Psychologisch, sagt Grünewald, liegt das rechte Maß in der Mitte zwischen Euphorie und Verteuflung: Technik nutzen, ohne die Kontrolle über unser Leben aus der Hand zu geben. Wie viele Stunden Kita will ich für mein Kind, möchte ich mich beruflich verändern, und bin ich eigentlich glücklich in meiner Beziehung – solche Fragen kann uns kein Big Data-Spezialist beantworten.

Wagen wir also eine Bestandsaufnahme: Wo stehen wir, und wohin könnte die Reise uns Eltern und Kinder in den nächsten Jahren führen?

IM FAMILIENALLTAG: Kira weiß alles (besser)

Deutschland, 2030. Eine superintelligente Konfliktschlichterin, fahrerlose E-Autos und eine mitwachsende Wohnung machen Familie Alpha das Leben leichter. Familie Beta ist dagegen voll auf Retro-Trip. Eine Zeitreise in die nahe Zukunft

Montag morgen, viertel vor sieben: Hilfe, da sitzt eine Fremde auf dem Barhocker in der Küche! Ariane Alpha zuckt erschrocken zusammen, dann wird ihr klar: Es ist nur Kira, die dort auf sie wartet. Ein KI-Superrechner in der täuschend echten Gestalt einer freundlichen Großmutter. Seitdem Kira vor drei Jahren in ihren Haushalt gekommen ist, ist sie Life Coach, Paartherapeutin, Erziehungsberaterin und persönliche Assistentin in einem. Sie schneidet jedes Gespräch mit, das in der Wohnung geführt wird und moderiert Streit; sie bündelt alle Daten von Kontostand bis zum Termin der nächsten U-Untersuchung, empfiehlt Trainingsprogramme für Ariane, 35, und Anton. 38, fragt Adrian, 12, Chinesischvokabeln ab und singt Lieder für Alina, 2. Alles bezahlt von der Krankenkasse. Die hat 2027 festgestellt, dass Haushalte mit so einem eigenen Familien-Bot gesünder leben. Mehr Sport, weniger Alkohol, sogar häusliche Gewalt ist um 78 Prozent zurück gegangen. Die Alphas lieben ihre digitale Nanny fast wie einen echten Menschen. Auf jeden Fall mehr als ihre körperlosen Vorgängerinnen Siri und Alexa – da hat einfach der menschliche Faktor gefehlt.

Heute auf dem Kantinenplan: ein Steak aus dem 3-D-Drucker

„Guten Morgen, Ariane“, begrüßt Kira sie freundlich, „ich sehe, dein Blutdruck ist etwas niedrig. Möchtest du Tipps für ein Morning Workout, oder soll ich dir zuerst eine Empfehlung fürs Frühstück geben?“ „Danke“, antwortet Ariane, „ich schau heute selbst, worauf ich Lust habe.“ Schwingt in Kiras Schweigen ein leiser Vorwurf mit? Ariane steigt über den Putzroboter, öffnet den Kühlschrank, wie immer gut gefüllt, denn selbstverständlich schickt er selbsttätig Bestellungen an den Lieferservice. Früher waren sich Ariane und ihr Mann Anton oft nicht einig bei der Programmierung: Ariane lebt vegetarisch und Anton mag Fleisch. Aber das Problem ist gelöst, seit er im Büro auf seine Kosten kommt: Der 3-D-Drucker in der Kantine wirft zum Lunch auch Steaks aus. Aus laborgezüchteter Bio-Rohmasse, schadstofffrei, und ohne dass ein Tier sein Leben lassen musste. Kein Wunder, dass Anton seitdem immer seltener im Homeoffice arbeitet – obwohl er jederzeit könnte.

7 Uhr 20. Der Zwölfjährige schlurft in die Küche, Kira bemerkt ihn als erste. „Guten Morgen, Adrian. Du bist spät dran.“ „Schnauze“, sagt er, aber nicht unfreundlich. Pubertät eben. Früher hat sich Adrian oft Kira anvertraut, wenn es Ärger gab: „Kira, Mama, ist so doof!“ Und Kira hat ihm in die Augen geschaut, ihm erklärt, warum er vom vielen 3D-Gaming zappelig wird (Stresshormone!) und empfohlen, ein Glas Milch zu trinken.

Aber jetzt muss Adrian los, Schule! Und keine Lust aufs Fahrrad. Deshalb wird er in ein Fahrzeug der E-Flotte einsteigen, die seit letztem Jahr komplett fahrerlos und beinahe geräuschlos durch die Straßen rotieren. Zur Grundschule hat sein Vater ihn noch manchmal mit dem eigenen Auto gebracht, aber das haben sie 2026 abgeschafft – Mobilität on demand ist in der Stadt bequemer und billiger!

Platz da: Mit jedem Programm-Update wächst die Wohnung mit

„Mama, ich geh nach der Schule noch mit meinen Kumpels ein Eis essen!“ „Gut, was sagt dein Budget dazu?“ Adrian öffnet die nächste App, Ariane seufzt. Das Volksbegehren gegen die Abschaffung des Bargeldes ist vor vier Jahren mit einer knappen Niederlage ausgegangen. Gar nicht so einfach, Kindern den Umgang mit Finanzen beizubringen, wenn man keine Münzen und Scheine mehr zum Anfassen hat. Eine Zeitlang haben sie sich mit Klötzchentürmen beholfen: Für jeden Euro Taschengeld, den Adrian ausgab, verschwand eines, damit er verstand, dass sein Geld weniger wurde.

Aus dem Nebenzimmer quietscht Alina. Vergnügt sitzt Arianes kleine Tochter im Gästezimmer, wo sie mit ihrer Oma auf dem Sofa ein Bilderbuch anschaut. Oma hat von gestern auf heute hier geschlafen, während die Eltern auf einer Geburtstagsparty waren. Eigentlich bräuchte es keinen Babysitter, aber Oma findet es verantwortungslos, ein Kleinkind mit einer KI allein zu lassen. Typisch Schwiegermutter, denkt Ariane, aber sagt es nicht laut. Was will man von einer Baby-Boomerin erwarten, die ihre Diplomarbeit noch auf der elektrischen Schreibmaschine verfasst hat?

Dabei kann auch Oma Alpha der Digitalisierung einiges abgewinnen: Ihr eigenes Smart Home macht die Alltagsorganisation leichter, auch das modulare Wohnkonzept der Juniors kommt ihr entgegen. Die Wohnung im Neubau von 2025 kann Trennwände für ein Pop-Up-Gästezimmer ausfahren, reist Oma ab, wird daraus wieder eine Wohzimmerecke. Auch Updates sind im Mietvertrag geregelt: „Living Plus“ mit Schallisolierung für die Teenager-Wohnräume; „Silver Living“ macht aus dem Grundriss eine großzügige Loftwohnung, wenn eines Tages die Kinder aus dem Haus sind. „Da!“ ruft Alina und deutet auf ein Bild in ihrem Buch. Die Oma nickt. „Ja, da steht K-I-N-O. Da sind die Leute hingegangen, ehe es Streamingdienste gab.“

Handgeschriebene Briefe von der Retro-Freundin

17 Uhr. Ariane kommt nach ihrem Arbeitstag aus dem Biotech-Startup nach Hause. Beim Blick auf die Hausbriefkästen fällt ihr ein: Montags wird die Papierpost geliefert! Heute fischt sie tatsächlich einen Brief aus dem Kasten. Handgeschrieben. Die einzige Person, die so etwas tut, ist Bettina Beta. Ihre ehemals beste Freundin. Seitdem sie ihre Stelle als Personal Trainerin verloren hat, weil Bots wie Kira diesen Job besser und gratis machen,  lebt Bettina mit Familie auf dem platten Land, züchtet Hühner und baut Gemüse an. Nichtmal das 7G-Netz gibt es dort. Ariane ahnt schon, was in dem Brief steht: Ein Loblied auf das raue, angeblich echte Leben, mit echten Tieren, echten Landmaschinen mit Auspuff und Motorgeräusch, echten Beziehungskrächen. Jetzt schreibt Bettina auch noch, ihre Familie würde von tief fliegenden Kameradrohnen ausgespäht. Ist das noch Verbitterung oder schon Paranoia?

Als Ariane die Wohnungstür aufschließt, ist es ruhig. Fast zu ruhig. Dann hört sie gedämpftes Kichern aus der Küche. Dort sitzen sie, großer Bruder und kleine Schwester, neben ihnen Kira, die gar nicht gut aussieht. Irgendwie schlapp und unkonzentriert. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“, fragt Ariane alarmiert. „Tut nich aufladen!“ strahlt Alina über das ganze Gesicht. Adrian feixt. „Zu blöd, Mama, aber ich glaube, ihr Akku ist leer.“ Ariane atmet auf. „Netter Versuch. Was du vielleicht nicht weißt: In diesem Fall geht Kira in den Ruhezustand und schaltet um auf Solarmodus.“ Ariane will gerade das Kabel wieder einstecken, da richtet Kira sich schon auf. „Hallo, meine Liebe. Dir würde eine Tasse Detox-Tee guttun. Und du, lieber Adrian, hast noch viel Arbeit vor dir. Dein Hausaufgaben-Soll liegt bei sechsundvierzig Prozent.“

Fiktiv, aber nicht unrealistisch: Zu diesem Zukunftsszenario hat die Zeitgeistforscherin Kirstine Fratz (zeitgeistforschung.com) ihr Knowhow beigesteuert

IM SPIEL: Vom Würfel bis zum Star-Avatar – 3350 Jahre Gaming

Schon in der Antike vertrieben sich Kinder spielend die Zeit, ganz ohne Konsole. Ein Rückblick mit Ausblick

1330 v. Chr: Das populärste Spiel im Ägypten zur Zeit des Pharaos Tut-Anch-Amun heißt Senet und folgte ähnlichen Regeln wie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Ein Würfel entscheidet, ob eine Spielfigur auf Glücks- oder Pechfelder vorrückt

1200 n. Chr.: Zur Ausbildung des Ritter-Nachwuchses an europäischen Höfen gehören nicht nur Waffenkunde, Ringen, Tanzen und gute Manieren. Knappen im Alter von 13 bis 14 Jahren lernen auch die Regeln für Brettspiele, vor allem Schach

1718: Als der preußische Kronprinz sechs Jahre alt ist, befiehlt ihm der Vater, mit Spielzeugkanonen und Zinnsoldaten zu spielen, hinter seinem Rücken übt der musikalische Friedrich lieber heimlich Flöte. Sein späterer Beiname: der Große

1935: Ein anderer Friedrich mit Nachnamen Schleich gründet in Schwäbisch-Gmünd eine Firma für Spielzeugtiere. Später erweitert die Firma ihr Sortiment um Fantasy-Wesen – zu den Verkaufsschlagern seit den Nuller Jahren gehören Elfen und Einhörner.

1980 n. Chr: Japanische Entwickler stellen die erste Version von „Pac Man“ vor: Eine Figur frisst sich durch ein Labyrinth und wird von Gespenstern verfolgt. In den frühen Achtzigern findet Gaming noch vielfach an Automaten in Spielhallen statt. In der Kategorie „Solitärspiel“ gewinnt der „Zauberwürfel“ den Preis „Spiel des Jahres“ – sechs Jahre, nachdem ihn der ungarische Bauingenieur Ernö Rubik entwickelt hat.

1995: Das Brettspiel „Die Siedler von Catan“ kommt auf den Markt und gilt heute als zweiterfolgreichste Spiel-Marke nach dem 90 Jahre älteren „Monopoly“. Heute gibt es das Catan-Universum auf allen Plattformen: auch als Kartenspiel und in Online-Versionen.

1997: Das Tamagotchi schlüpft: ein virtuelles Küken, um das man sich kümmern muss wie um ein echtes Haustier. Damit ist das Spielzeug aus Japan Vorläufer von Spielen, die Elektronik und Realität verbinden – in den Nuller Jahren etwa Pokémon Go, das mit der größeren Verbreitung von Smartphones und Ortungs-Apps zum Hit wird.

2017: Das umstrittene Koop-Survivalspiel „Fortnite“ kommt auf den Markt, und auf dem Schulhof kommen die zugehörigen „Zahnseide“-Moves aus dem „Battle Royal“-Modus in Mode – auch unter Kindern, die Fortnite (noch) gar nicht spielen.

2020: Zu den populärsten Computergames gehört „Minecraft“ – als Strategiespiel oder im Actionmodus, allein oder mit anderen. Doch auch neue Offline-Spiele werden populärer: von Escape Rooms bis zum kostümierten „Life Action Role Play“

2030: Gaming-Blogger Lukas Mehling (gamerliebe.de) schätzt: Klassiker wie Minecraft und Super Mario werden auch die Zwanziger überdauern, im Kommen sind Hybride zwischen Film und Spiel. In manchen Games leihen bereits Schauspieler wie Keanu Reeves, Mads Mikkelsen oder Kristen Bell den Charakteren Körper und Gesicht

IN DER SCHULE: „Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht die Maschine“

Klaus Zierer ist Professor für Schulpädagogik an der Uni Augsburg. Er sagt: Ob Digitalisierung beim Lernen hilft, steht und fällt mit der Lehrperson

ELTERN FAMILY: Nach den Schulschließungen im Frühjahr gab es die Hoffnung, digitale Plattformen könnten einen Schub erhalten und Lernen moderner werden. Hat sich das aus Ihrer Sicht erfüllt?

Klaus Zierer: Nein, wir müssen hier bildungspolitische Defizite feststellen. Es gab keinen Masterplan, keine einheitlichen Konzepte, und wie gut das Fernlernen funktionierte, hing vor allem davon ab, wie engagiert die Lehrperson war. Das bestätigt zweitens: Im Mittelpunkt eines Lernprozesses steht nie die Maschine, sondern immer der Mensch. Eine gute Lehrperson setzt digitale Technik sinnvoll ein, lässt Schülerinnen und Schüler beispielsweise Filme drehen oder mit einer App vertiefend üben, aber behält immer selbst die Zügel in der Hand.

Aber ist die Technik dem menschlichen Hirn nicht auch in mancher Hinsicht überlegen – etwa, wenn ein Algorithmus genauer den Leistungsstand einschätzen kann und Schritt für Schritt das Niveau anpasst…

Die Lernforschung zeigt uns, dass solche Programme Grenzen haben: Sie eignen sich vor allem für standardisierte Formen, etwa das Vokabellernen, und eher für schwächere Schüler. An einem bestimmten Punkt, wenn es vom Lernen zur umfassenderen Bildung übergeht, braucht es aber menschliche Interaktion, den Austausch mit Peers, eine Lehrperson mit Vorbildcharakter, egal, in welchem Fach und in welchem Alter. Das kann keine Maschine ersetzen.

Und was ist mit Spaß? Es motiviert vielleicht stärker, wenn Erfolge nach Art von Computerspielen belohnt werden, wenn es Punkte zu gewinnen gibt….

Natürlich soll Lernen Freude bereiten, aber äußere Motive wie die genannte Belohnung wirken nicht lange. Wichtiger ist die Erkenntnis: Lernen ist mühsam, aber nur an eigenen Fehlern und Rückschlägen kann man wachsen. Anstrengung lohnt sich also: So werden beispielsweise Inhalte beim analogen Lesen besser im Hirn verankert, und beim Mitschreiben per Hand besser durchdacht als beim Eintippen.

Macht Digitalisierung das Lernen demokratischer – etwa, wenn sich schwächere Schüler Mathe-Tutorials im Netz anschauen, auch wenn die Eltern kein Geld für Nachhilfe haben?

Das ist leider die Ausnahme, die sozialen Gräben werden eher noch tiefer. Weil Kinder und Jugendliche aus bildungsnahen Milieus ganz andere Inhalte nutzen als solche aus bildungsfernen. Wir bräuchten dringend eine bessere Medienerziehung!

Das klingt pessimistisch. Wenn Sie sich wünschen könnten, wo die Reise im neuen Jahrzehnt hingeht: Was wäre das Ziel?

Bildung sollte zweckfrei bleibt, also nie nur nach Aspekten der Nützlichkeit betrachtet werden. Mein Idealbild bleibt eine humane Schule, bei der der Mensch und seine Eigenverantwortung im Mittelpunkt stehen. In der weiterführenden Schule haben digitale Lernformen ihren Platz als Teil eines größeren Ganzen. In der Grundschule sollten sie nur begleitend eingesetzt werden, und in der Kita haben sie nichts verloren.

Programmieren gehört also nicht so früh wie möglich auf den Lehrplan?

Ich finde: Nein. Eine umfassende Bildung ist wichtiger. Die beginnt mit sozialem Lernen, und damit der Erziehung zu selbstbestimmten und loyalen Menschen.

IN DER KOMMUNIKATION: digitales Doppelleben

Für die Kinder der Zwanziger Jahre ist die digitale Welt ein selbstverständlicher Teil des Lebensraums, mit allen Vorzügen und allen Gefahren: Etwa jeder dritte Achtjährige besitzt ein Smartphone, bei den Jugendlichen ab 12 sind es 98 Prozent. Spielen, Filme schauen, chatten – wie gehen Eltern damit um, und was raten Experten?

EINE MUTTER SAGT: „Das Schnitzhandy hat mich weich gemacht“

Vero, 42, ist PR-Journalistin, alleinerziehend, und wohnt mit Sohn Leo, 13, in Hamburg

„Ich war ein Waldorf-Kind und bin sehr naturnah aufgewachsen, Fernsehen war bei uns zu Hause tabu. Auch für Leo habe ich mir eine Kindheit mit wenig elektronischen Medien gewünscht. Aber als er dann zum Ende der Grundschulzeit mit rührenden Basteleien ankam, getöpferten und geschnitzten Smartphones, habe ich ihm seinen Herzenswunsch doch vor dem zehnten Geburtstag erfüllt. Allerdings habe ich die Zeit klar begrenzt: Anfangs nicht mehr als 30, 45 Minuten pro Tag, mittlerweile maximal zwei Stunden, und an Wochentagen erst ab sechs Uhr abends. Ich glaube, er hat dadurch ein Gefühl dafür bekommen, was ihm gut tut, nutzt den Klassenchat konstruktiv, und hat eher kreative Ideen, statt sich berieseln zu lassen: dreht Stop-Motion Filme mit Knetfiguren, interessiert sich für Robotik, und ist mittlerweile der IT-Beauftragte der Familie, weil er sich am besten auskennt.“

EIN VATER SAGT: „Die Inhalte zählen, nicht die Zeit“

Markus, 52, ist Jurist und hat mit seiner Frau Katrin drei Kinder: Sunny, 13, Mare, 11, und Mio, 9. Die Familie lebt in Berlin

„Unsere Kinder sind technisch gut ausgestattet: Als sie kleiner waren, haben sie auf dem iPod Hörspiele und Musik gehört, jetzt gehören Konsolen, Laptops, Tablets und Handys zum Haushalt. Die online-Zeiten der Kinder kontrollieren wir Eltern nicht, dafür die Inhalte: Spiele mit Suchtfaktor sind bei uns tabu, zum Beispiel Fortnite, das zu In-App-Käufen animiert und so konstruiert ist, dass man schwer ein Ende findet. In der Corona-Zeit hingen die drei viel an ihren Geräten, da haben wir ihnen immer wieder Alternativen geboten, wenn wir den Eindruck hatten, es wird zu einseitig: Komm, wir gehen raus, Radfahren, Wandern. Am schönsten ist es, wenn sie von selbst die Balance halten. Sunny stand eines Nachmittags mit dem Skateboard auf dem Flur und sagte: Ich hab genug gezockt, alle Filme gesehen, ich geh aufs Tempelhofer Feld. Der Kleinere hat Einradfahren gelernt, alle drei haben wieder mehr gelesen. Das bestätigt uns: Statt Kontrolle mit der Stechuhr setzen wir lieber auf unser Bauchgefühl und auf Vertrauen.“

EINE EXPERTIN SAGT: „Das Problem sitzt im Kopf, nicht im Prozessor“

Dr. Iren Schulz ist Kommunikationswissenschaftlerin und Mediencoach und arbeitet im Auftrag der öffentlich-privaten Initiative „Schau Hin!“ (schau-hin.info)

„Zu den größten Herausforderungen im Netz gehört das Cybermobbing – etwa die Hälfte aller Kinder und Jugendliche haben schon mit beleidigenden Kommentaren zu tun gehabt, quer durch Altersgruppen und soziale Schichten, und sie sind einfach verletzlicher als Erwachsene. Sicherlich hat es Mobbing auch in analogen Zeiten gegeben, aber eine Schulhofprügelei war eben nach zehn Minuten Geschichte – heute ist weniger körperliche Gewalt ein Problem als psychische. Und die ist eben mit dem Schulgong nicht vorbei, sondern geht auch nachmittags und am Wochenende weiter. Manchmal hilft es nicht einmal, die Schule zu wechseln.

Das Problem ist aber nicht die technische Entwicklung, das Problem ist im Kopf. Das Netz ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, und die ist auf Leistung, Abgrenzung und Einzelkämpfertum aufgebaut. So lange sich in den Köpfen nichts ändert, so lange Schule und Elternhaus nicht gemeinsam Werte und Mitmenschlichkeit vermitteln, wird sich auch bei Mobbing und Hate Speech kaum etwas ändern.

Wir empfehlen Eltern, an den Handy-Aktivitäten ihrer Kinder dranzubleiben, ohne ihnen nachzuspionieren. Bei Kindern im Grundschulalter geht das zum Teil über technische Lösungen, in dem man die Voreinstellungen so sicher und privat wie möglich hält, sind die Jugendlichen älter, geht es vor allem darum, interessiert nachzufragen: Was machst du im Netz, mit wem chattest du, magst du mir mal etwas zeigen? Und dabei auch nicht blind sein für die Möglichkeit, dass das eigene Kind nicht nur Opfer, sondern auch Täter sein könnte. Von der Schule würde ich mir für das neue Jahrzehnt wünschen: sowohl mehr mit Medien lernen als auch mehr über Medien aufklären. Das Rad zurückzudrehen, ist weder sinnvoll noch möglich – aber wir dürfen den digitalen Entwicklungen nicht hilflos hinterherlaufen.“


Rolle rückwärts?

Zwischen Homeschooling, Herd und Home-Office: Die Corona-Pandemie dreht unser Leben auf links. Wohin führt das: zurück in die Fünfziger Jahre – oder vorwärts, zu einer gerechteren Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit? Wer jetzt verliert, wer jetzt gewinnt, und wer jetzt gefragt ist: Politik, Arbeitgeber, und nicht zuletzt wir selbst!

Titelthema aus ELTERN, 7/2020

Phase eins: Luft anhalten, weiter atmen

Ganz am Anfang der Krise, ganz im Norden, zerrinnt einer Mutter die Lebensplanung zwischen ihren Fingern.

Sandra, 48, lebt mit Mann und sechsjähriger Tochter an der Küste in Mecklenburg-Vorpommern, hat viele Jahre in der Boombranche Tourismus gearbeitet und sich gerade selbständig gemacht, als Personalberaterin in der Kreuzfahrtindustrie. Zwei Wochen später branden die ersten Nachrichten von Covid-19-Infektionen in Europa an. „Innerhalb kürzester Zeit gingen meine Aufträge von 100 auf Null zurück. Beim Blick auf meine Kontoauszüge fragte ich mich jeden Tag: Wie lang können wir noch atmen?“ Schließlich verdient ihr ägyptischer Mann mit Hausmeisterjobs nur wenig. Zurück in eine Festanstellung? Jobangebote sind rar, wenn, dann in Vollzeit, und wer soll der Tochter beim Lesenlernen helfen, wenn der Vater kein Muttersprachler ist? Also beantragt Sandra Grundsicherung. Schreibt Protestbriefe an Ministerien, setzt eine Web-Idee um*, legt Gemüsebeete an, kauft zwei Meerschweinchen. „Unser Kind soll nicht unter der Situation leiden.“ Und sie selbst? „Ich bin vor allem wütend. So viel Arbeitskraft und Knowhow wird hier verbrannt!“

In der Mitte Deutschlands, in Köln, sitzt derweil Ines Imdahl, Diplom-Psychologin und Mitgründerin des Forschungsinstituts „Rheingold Salon“, und macht sich Sorgen. Seit mehreren Jahrzehnten nimmt sie mit ihrem Team die Befindlichkeiten, Sorgen und Wünsche von Frauen unter die Lupe. Schon im März, nach der TV-Ansprache der Bundeskanzlerin sagt sie: Vor allem Mütter werden den Preis für die Corona-Krise zahlen. Weil sie verinnerlicht haben: Klar darf ich mich um Karriere und persönliche Ziele kümmern – aber nur, wenn die Partnerschaft, die Kinder, am besten nicht einmal der Haushalt darunter leidet. Dieser Perfektionsdrang fällt ihnen jetzt auf die Füße, sagt Imdahl: „Es gibt Mittelschichtsmütter, die machen seit Beginn der Pandemie zwei Fulltime-Jobs.“ Weil sie neben Home Office den Anspruch haben, im Homeschooling zu performen wie die Lehrer. Besser: noch besser. Ihren Größeren Software zur Aufgabenorganisation aufs Laptop laden, den Kleineren die Bügelperlen plätten. 8,8 Millionen Schul- und Kitakinder sind zu diesem Zeitpunkt ohne Tagesbetreuung. Folge: „Die Mütter hecheln jetzt bei der Arbeit hinterher, während Kinderlose an ihren Karrieren schrauben – und auch jene Väter, denen die Frauen ganz nebenbei noch die Hemden bügeln.“ Kein Klischee, sondern Zahlen des sozioökonomischen Panels: Selbst bei Elternpaaren, die beide Vollzeit beschäftigt sind, kümmern sich Frauen im Schnitt fast zwei Stunden täglich mehr um Kinder und Haushalt als Männer; ist er Hauptverdiener und sie Zuverdienerin (trifft in Deutschland auf fast jede zweite Familie mit Kindern unter zwölf Jahren zu), erhöht sich die Differenz auf über fünf Stunden.

Weitere 450 Kilometer südlich, in einem Dorf bei Freiburg. Das Leben von Janis (38) erinnert an den Computerspiel-Klassiker „Tetris“: Dort geometrische Formen anordnen, die immer schneller über den Bildschirm gesaust kommen, hier den Alltag jonglieren. Als Pflegedienstleiterin in Teilzeit hat sie die Verantwortung für 50 Angestellte, ihr älterer Sohn Jannik, 8, braucht als Asperger-Autist ständige Schulbegleitung, ihr Mann geht als LKW-Fahrer früh aus dem Haus und kommt spät nach Hause. Der familiäre Zeitplan ist auf Kante genäht. Mit der Corona-Kurve steigt das Tempo nochmal um mehrere Level.

Janis ist jetzt offiziell Alltagsheldin, abends klatschen Menschen von Balkonen. Aber das ist ein schwacher Trost, wenn die Notbetreuung nicht greift, weil nur ein Elternteil einen Job hat mit dem Label „systemrelevant“. Wenn im Pflegeheim zusätzlich besorgte Angehörige Schlange stehen, die ihre Angehörigen nicht besuchen dürfen. Wenn nach den Osterferien jeder Sohn einen anderen Präsenztag in der Schule hat und Jannik täglich ausrastet, weil der Krisenmodus ihm feste Struktur nimmt – purer Stress für Kinder wie ihn. „Mein Mann hat größten Respekt dafür, was ich leiste“, sagt Janis. Aber mehr als ein Familientag pro Woche ist für ihn nicht drin. Ansage vom Chef. Wie kommt sie klar mit dem Druck? „Ich kann nur dafür sorgen, dass es mir gutgeht. Der wöchentliche Mädelsabend mit meinen Freundinnen ist mir heilig. Auch wenn dafür körbeweise Dreckwäsche auf dem Sofa liegen bleibt.“

Nicht nur Ines Imdahl warnt, dass Mütter zusammenklappen, abgehängt werden oder beides. Im April prognostiziert die Soziologin Jutta Allmendinger im Talk bei Anne Will, Frauen würden gerade um dreißig Jahre zurückgeworfen. CSU-Chef Markus Söder wischt solche Prognosen markig vom Tisch: „Es geht nicht um die Rückkehr zum Herd, sondern ums Home Office – das kann sogar gut sein für die Work-Life-Balance!“

Janis kann er damit nicht meinen, denn wie viele Mütter arbeitet sie in einem typischen Frauenjob: Pflege, Kitajobs und Co sind so anspruchsvoll wie schlecht bezahlt, und man kann sie weder mit nach Hause nehmen noch beschleunigen. Nur in 57 Prozent aller Paarfamilien ist zumindest für einen Elternteil Arbeit im Homeoffice möglich, bei Alleinerziehenden liegt der Anteil sogar nur bei 35 Prozent, findet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) heraus. Im WZB-Forschungsinstitut kommt man zum Ergebnis: Die Lebens- und Arbeitszufriedenheit sinkt durch Corona stärker bei Familien als bei Kinderlosen, und bei Müttern deutlich stärker als bei Vätern. Die Folgen beziffert die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung: 27 Prozent aller Mütter von Kindern unter 14 haben seit Beginn der Corona-Krise ihre Stundenzahl im Job reduziert, aber nur 16 Prozent der Väter.

Phase zwei: Durchwursteln, neu finden

In den Szenevierteln Hamburgs füllen sich die Straßencafés wieder, an der Elbe schwitzen Jogger, und Alexandra (27) sagt: „Uns geht es ziemlich gut.“ Vor Corona sah das Leben mit ihrem Freund Finn (32) so aus: Gemeinsam um Tochter Nora (5) kümmern, jeder für sich beruflich ranklotzen. Alexandra für ihre Doktorarbeit in Physik, Finn in Teilzeit bei einer Bank, am Wochenende bei der Gründung eines eigenen Startups für Veranstaltungstechnik. Ausgerechnet. Virus plus Kitaschließung haben die Karten neu gemischt: Die Gründung liegt auf Eis, jeder hat genau zweieinhalb Arbeitstage, und am Wochenende ist plötzlich viel Zeit zu dritt. Ungewohnt für das Powerpaar. „Es ist wie eine Elternzeit, die wir nie richtig hatten.“ Ein ungebetenes Geschenk – selbst wenn es finanziell Abstriche bedeutet. Und Alexandra sich auch sorgt, ob sie ins Hintertreffen gerät. Weil Kollegen die Zeit ohne Kongresse und Unibetrieb zum Schreiben und Forschen nutzen, während sie mit ihrer Tochter spielt. „Es ärgert mich, dass die Politik sich zuerst um Autohäuser gekümmert hat und erst dann um Kitas.“ Das Positive? „Finn und ich sind ein super Team, wir können Krise.“

Einen Stadtteil weiter hat Martina (Name geändert), 53, weniger gute Erfahrungen gemacht. Sie und ihr Exmann sind seit acht Jahren getrennt, die Teenie-Kinder pendeln wochenweise. Mit Corona flog ihnen der Familienvertrag um die Ohren: „Weil ich als freiberufliche Mediatorin zu Hause arbeite, bleibt das Homeschooling an mir hängen – mein Ex geht in seiner Woche einfach ins Büro. Wenn nachmittags unser Zwölfjähriger vor der Tür steht, weil er mit den Aufgaben nicht weiterkommt – soll ich ihn wegschicken?“ Was sie betrübt: „Warum wird die Arbeit von Frauen so oft geringer geschätzt als die von Männern?“

Beispiele, die zeigen: Covid-19 ist kein Erdrutsch, der die Landschaft verändert – sondern zeigt wie unter einer Lupe bestehende Strukturen. Man könnte auch sagen: Von wegen „Retraditionalisierung“ – wir standen auch vor der Pandemie noch mit einem Bein in den Fünfzigern! Der Staat belohnt Familien mit hohen Einkommensdifferenzen, von der kostenlosen Mitversicherung in der Krankenkasse bis zum Steuerrecht. Trotz Kita-Ausbau, trotz Elterngeld Plus. Zahlen des Bundesfamilienministeriums von 2016 sprechen eine eindrückliche Sprache: Selbst wenn Eltern minderjähriger Kinder beide die gleiche Schulbildung und das gleiche Berufsbildungslevel vorweisen können, verdienen 19 Prozent der Mütter Null, 63 Prozent unter 1000 und nur sechs Prozent mehr als 2000 Euro monatlich. Auch die Abstands- und Kontaktregeln während der Lockdown-Phase offenbarten ein traditionelles Familienbild: Eltern, Kind, Hausgemeinschaft. Schwerer hatten es Single Moms (oder Dads), die sich sonst auf ein Unterstützer-Netzwerk verlassen; Eltern, die getrennt wohnen, aber gemeinsam erziehen; Patchwork-Familien.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich geändert, vor allem das der Jüngeren und der Männer. So verbringen etwa Väter, die in Elternzeit gegangen sind, auch Jahre später mehr gemeinsame Stunden mit ihren Kindern. Und junge Paare, die sich bewusst für Fifty-Fifty entscheiden – so wie Alexandra und Finn – , lassen sich das so leicht nicht nehmen. Das beweist auch ein Blick zu unseren skandinavischen Nachbarn: Kein Zufall, dass etwa Dänemark schon den Restart von Schulen und Kitas probte, als Deutschland noch über Küchenstudios diskutierte. Denn zwischen Kopenhagen und Arhus fallen Mütter als stille Reserve schlicht aus: Dänische Mamas tragen laut OECD-Statistik im Schnitt 42 Prozent zum Familieneinkommen bei – deutsche nur 22 Prozent.

Phase drei: Umdenken, Chancen ergreifen

Eine Kleinstadt in Westfalen, großzügige Häuser, sommerlich gepflegte Gärten. Ute, 46, sitzt im Arbeitszimmer vor der Laptop-Kamera und sagt: „Die Backlash-Diskussion nervt mich, wir Frauen sollten uns nicht in die Opferrolle drängen lassen. Wir haben es doch selbst in der Hand, wie wir Arbeit und Familie organisieren!“ Klar, sie ist gut dran, und sie weiß es: Mit einem festen Job als „Innovation Manager“ bei einem Arbeitgeber, der Home Office schon lang im Gesamtpaket hat, und einem Mann, der als Lehrer nicht erst abends Zeit hat für Alexander (2. Klasse) und Felix (5. Klasse). Aber Chancen entstünden jetzt für viele: „Wenn sich dank Corona herumspricht, wie gut das selbstbestimmte, agile Arbeiten funktioniert, ist das doch ein Traum – gerade für Eltern.“ Besonders Mütter brächten Fähigkeiten mit, die nach der Krise gefragt sein könnten: Kommunikationstalent, Konflikt- und Feedbackfähigkeit. „Mit diesen Pfunden müssen wir wuchern. Neue Modelle sind greifbar wie nie!“

Mit ihrem Optimismus ist sie nicht allein. Auch Gerhard, 51, Unternehmensberater aus dem Rheinland und alleinerziehender Vater eines Zwölfjährigen, hat die Wochen mit Quarantäne und Homeschooling vor allem als bereichernd erlebt: „Als Vater und Sohn hat uns die Nähe gut getan, und ich merke, dass es mich freier macht, weniger zu planen und agiler zu denken.“ Auch was die Zukunft der Arbeit angeht, ist für ihn das Glas halbvoll: „Viele Bewegungen entstehen aus einer Krise heraus!“

Man kann diese Hoffnung sogar belegen. Das Marktforschungsinstitut Innofact hat nachgefragt: Führungskräfte stehen der Arbeit im Home Office und flexiblen Arbeitszeitmodellen nach den Erfahrungen im Corona-Modus positiver gegenüber als zuvor. Und eine Studie der Uni Mannheim kommt zum Schluss: Zwar gehören Frauen (besonders Mütter) kurzfristig zu den Verliererinnen der Krise, auch weil sie häufiger in gebeutelten Branchen wie Reise und Gastronomie beschäftigt sind. Längerfristig, schlussfolgert Studienleiterin und Ökonomin Michèle Tertilt, könnte sich der Effekt jedoch umkehren: Weil Mütter von der neuen Flexibilität der Arbeitswelt profitieren, aber eben auch, weil Väter derzeit mehr Routine bei der Kinderbetreuung bekommen. Davon hätten auch Frauen etwas, die ihre Arbeit nicht am heimischen Laptop erledigen können. Sondern im Einzelhandel, im Labor, im Fitnessstudio.

Und dann gibt es noch jene, die ihre Lebensentwürfe in diesem Sommer generell hinterfragen. Wie die Fotografin Sonya, 28, Mutter von Sophia, 4. Mit Freund Jens lebt sie in Hamburg zur Miete, seit März sind ihr fast alle Aufträge weggebrochen. Neulich, auf dem Rückweg vom Supermarkt, hat sie angefangen zu weinen. Aber nicht vor Verzweiflung. Sondern vor Glück. „Ich dachte immer, ich muss unbedingt mein eigenes Einkommen haben, darf mich bloß nicht abhängig machen von Jens und seinem Job als Chemiker. Geld ist ja ein Stück Freiheit. Und dann war ich plötzlich gezwungen, einen Gang herunter zu schalten, und habe gesehen: Sophia ist so glücklich, einfach mit mir in den Tag hinein zu leben. Vorher war sie täglich acht Stunden in der Kita, häufig müde und spielte zu Hause kaum noch. Ich merke erst jetzt richtig, wie sehr mich das Muttersein erfüllt.“ Ihre Berufstätigkeit will sie zwar wieder hochfahren, wenn die Regelungen es erlauben – aber behutsam. „Ich weiß jetzt, dass wir auf kleinerem Fuß besser leben. Weil Zeit bleibt für das Wesentliche.“

Was heißt das jetzt: Freiheit im Kopf statt Freiheit durch Geld? Oder eben doch der befürchtete Rückschritt um dreißig, fünfzig oder noch mehr Jahre? In die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Generation von Frauen tatkräftig Trümmer wegräumte, das „Wirtschaftswunder“ danach jedoch den Männern überließ – so wie es Psychologin Ines Imdahl befürchtet?

Andreas Rödder, Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Uni Mainz und CDU-Mitglied, findet: Nein, das ist nicht vergleichbar. „In beiden Weltkriegen waren weiblich besetzte Arbeitsplätze eher eine Notlösung – die Männer waren an der Front, also brauchte man Frauen in der Industrie, vor allem in der Rüstung.“ Und das Ende der DDR, als der massive Abbau von Jobs stärker zu Lasten der Frauen ging? Auch das ist keine Blaupause für 2020, glaubt Rödder: „Frauen und Mütter sind heute ja nicht nur berufstätig, weil sie das Geld brauchen. Viel stärker geht es um Teilhabe, Erfüllung, Selbstbestimmung.“ Und dieses Bedürfnis verschwinde ja nicht einfach – genau so wie Diskussionen von Gender Pay Gap bis Gendersternchen. Mit einer konkreten Zukunftsprognose tut er sich dennoch schwer. „Ob und wie die Wirtschaftskrise unsere Rollenbilder beeinflusst, wird daran liegen, wie tief und lang anhaltend sie ist.“ Es gäbe aber Grund zum Optimismus: „Schaut man sich die demographische Entwicklung an, werden wir auch bei einem schwachen Arbeitsmarkt wohl keine Massenarbeitslosigkeit bekommen.“ Geschichten wie Sonyas machen ihm keine Sorgen: „Eine Gesellschaft muss sich fragen: Soll der Staat in unsere Lebensentscheidungen hineinfunken und Rollenbilder vorgeben wie das Vollzeit-Doppelverdienerpaar – oder einen Rahmen schaffen, der verschiedenen Wertvorstellungen und Absprachen Platz lässt?“

Eine rhetorische Frage, klar. Jede und jeder sollte die Freiheit haben, sich die Balance zwischen Job und Familie, Eigensinn und Gemeinsamkeit zurechtzuzimmern. Doch was hilft uns jetzt, Wege offen zu halten und Weichen so zu stellen, damit das auch morgen möglich ist – vielleicht sogar besser als gestern? Und wer ist dabei gefragt: Politik, Arbeitgeber, Wissenschaft – oder gar wir selbst? Wir hätten da ein paar Ideen….

Waschen und geben

1946 will eine 16jährige Rheinländerin ihre langen Zöpfe loswerden. 72 Jahre später verliert eine Studentin aus Norddeutschland bei einem Unfall Haare und Kopfhaut. In einer Hamburger Werkstatt werden beide Frauenschicksale miteinander verknüpft – Reportage aus BARBARA, April 2019

Köln, im ersten Jahr nach Kriegsende. Gerda Dübbers ist 16 Jahre alt und aufgeregt. Heute ist der Tag, an dem sie erwachsen werden will. Am Morgen fährt sie mit dem Zug aus ihrem Eifeldorf in die Stadt, von der kaum noch etwas steht außer dem Dom. Sie trägt ein Säckchen Briketts und ein Handtuch bei sich, so hat es der Friseur verlangt. Denn Heizmaterial ist 1946 genau so knapp wie Frottierstoff. Die Mutter hat ihr Geld zugesteckt, nach vielen Diskussionen: Lange Haare kosten nichts, halblang mit Dauerwelle schon! Aber jetzt ist Schluss mit Affenschaukeln und Schnecken. Ab heute ist Gerda kein kleines Mädchen mehr, sondern eine Dame. Auf der Rückfahrt, den ungewohnten Luftzug im Nacken, wird sie etwas anderes bei sich tragen: siebzig Zentimeter lange, rötlichblonde Zöpfe, zusammengelegt in einer kleinen Tüte.

Flensburg, im Mai 2018. Julina Engert ist 20 Jahre alt und hat keinen Grund, aufgeregt zu sein. Dazu macht sie ihren Job schon zu lang und zu routiniert: den Eissalon aufschließen, Waffeln über die Theke reichen, kassieren. Sie und ihr Freund sind ein eingespieltes Team, auch beim Arbeiten. Noch ein bisschen Geld verdienen, bis im Herbst das erste Semester an der Uni beginnt. Ihre langen dunkelblonden Haare trägt sie im Pferdeschwanz. Praktisch, hygienisch, und hilft auch gegen Bad Hair Days.

Aber an diesem Morgen passiert etwas, das niemals hätte passieren dürfen: Als Julina eine eingeschaltete Eismaschine reinigt, beugt sie sich zu weit in den Kessel hinein. Schon verfängt sich der Zopf in der rotierenden Metallspirale im Inneren, erst nur ein Büschel, dann immer mehr. Sie versucht sich zu befreien, sie schreit, ein fürchterlicher Schmerz, es geht sekundenschnell. Ihr Freund stürzt herbei, will sie losschneiden, erst mit einer Schere, dann mit einem Messer, aber da ist es schon passiert. Mit ungeheurer Kraft reißt die Maschine das Haar mitsamt Kopfhaut los. Am Abend, nach einer zwölfstündigen Operation, wird sie aus Ohnmacht und Narkose erwachen und erst Wochen danach das Krankenhaus verlassen, nach vielen weiteren Eingriffen und einer Hauttransplantation. Die Ärzte haben alles gegeben. Aber auf mehr als der Hälfte ihrer Kopfoberfläche wird nie wieder etwas wachsen.

Zwei Frauen, beide jung, beide lebenslustig, und zwei Geschichten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Um sie miteinander zu verflechten wie die Stränge eines Zopfes, über Kilometer und Jahre hinweg, braucht es noch eine dritte. Diese handelt von den Hamburger Maskenbildnerinnen Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi, beide 49, die vor einigen Jahren beschlossen: Haarteile für Musicaldarsteller und Filmschauspielerinnen herstellen, okay, aber das kann noch nicht alles im Leben gewesen sein. So gründeten die beiden eine Werkstatt für Echthaar-Perücken mit dem strahlenden Namen „Königinnen“. Jetzt arbeiten sie für Menschen, die nicht in eine Rolle schlüpfen wollen. Sondern am liebsten sie selbst bleiben möchten. Krebspatientinnen, Frauen mit Haarausfall, Unfallopfer. Haare kosten nichts? Nicht, wenn man sie hat. Verliert man sie, kosten sie einen viel: Würde, Selbstbewusstsein, Zuversicht.

„Ich las in einer Illustrierten davon und dachte: Jetzt weißt du endlich, warum du all die Jahre die Zöpfe mit dir herumgeschleppt hast!“, erinnert sich Gerda Dübbers. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, Frühlingssonne scheint durch das Fenster, und erinnert sich. Wie sie das Tütchen immer wieder in Umzugskisten ein- und ausgepackt hat, nach ihrer Hochzeit, als sie mit ihrer eigenen Familie in ein größeres Haus zog, beim Wechsel in eine Etagenwohnung. Mit dem unbestimmten Gefühl: Eines Tages wird das für etwas gut sein. „Es macht mich so froh, dass ich helfen konnte!“

Für Ann-Katrin Guballa und Jasmin Soufi sind alte Zöpfe in der Post ein Geschenk. Denn Haar lässt sich fast endlos aufbewahren und verarbeiten, wenn es gesund ist, naturbelassen und nicht von Motten oder Feuchtigkeit angegriffen wird. Das meiste in ihrem Lager hat einen unspektakulären Hintergrund – Langhaarträgerin mit Lust auf Typveränderung – , aber es stecken auch Geschichten dahinter, die unter die Haut gehen. Kleine Mädchen, die ihre Haare opfern, weil die Lieblingstante Krebs hat. Oder ein Zopf mit einem sauber beschrifteten Zettel, datiert auf Sommer 45. Von einer Berlinerin, die fürchtete, von Soldaten der anrückenden Roten Armee vergewaltigt zu werden. Viele versuchten, sich und ihre Töchter zu schützen, in dem sie sich kahl schoren. Haare sind Lockstoff, Weiblichkeit, Ausstrahlung – das ist in manchen Zeiten Fluch statt Segen.

Julina Engert betritt im Sommer 2018 zum ersten Mal den freundlichen Souterrain-Laden in Hamburg-Eimsbüttel. Als norddeutsches Pferdemädchen weiß sie, was man tut, wenn es einen aus dem Sattel schleudert: aufstehen und wieder aufsitzen. Sogar im Eisladen hat sie schon wieder gearbeitet, um die schlimmen Erinnerungen nicht so stehen zu lassen. Aber sie ist es Leid, mit Kopftuch vor die Tür zu gehen und fragend angeschaut zu werden. Lieber wäre sie wieder eine von vielen, auf der Straße, beim Ausgehen. Als sie die Kölner Zöpfe in der Hand hält, weiß sie: die oder keine.

Jetzt beginnt der handwerkliche Teil. Ansätze entschuppen, waschen, schließlich noch ein paar Strähnchen aus anderen Beständen dazu nehmen, damit das Ergebnis so aussieht wie natürlich gewachsen. Mit unterschiedlichen Farbnuancen, unterschiedlichen Längen. Dann wird Haar für Haar mit einer Art Häkelnadel auf ein feines Netz geknüpft, das genau der Kopfform angepasst ist. 80 Arbeitsstunden dauert es, bis so ein Kunstwerk fertig ist. Im September begrüßt Julina ihr neues Ich im Spiegel. Haare, länger und leuchtender denn je. „Ich wollte bewusst nicht genau so aussehen wie vorher.“ Wie ein Memo an sich selbst: Dieses Erlebnis ist nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Aber ich lasse mich davon nicht unterkriegen.

Sie besitzt noch eine Alltagsperücke, nicht ganz so kunstvoll gemacht und kürzer. Es ist ein weiterer Schritt zurück ins Leben, wenn man von einem Tag auf den anderen anders aussieht, und Mitstudenten verwundert nachhaken: Hast du Extensions? Warst du beim Friseur? Wer fragt, bekommt eine Antwort. Manchmal sieht Julina ihre tägliche Kopfbedeckung ganz pragmatisch: „Ich muss nur noch alle sechs Wochen Haare waschen. Und ich kann ohne Spiegel kontrollieren, ob hinten auch alles sitzt.“

Was sie nervös macht: Wenn Bekannte sie umarmen, dabei versehentlich an den langen Strähnen ziehen und das Netz ins Rutschen kommt. Wenn sich auf der Tanzfläche in der Disco jemand darin verfängt. Die kommende Studienfahrt, vor der sie ihren Mitstudentinnen erklären muss: Nicht erschrecken, wenn ich zum Schlafen die Haare ablege. Was ihr keine Angst macht: die Vorstellung, ihr Freund könnte sie nicht mehr schön finden. Am Anfang hat er kämpfen müssen, gegen die Bilder in seinem Kopf, vom Unfalltag. Das ist vorbei. Wenn sie mit ihm allein zu Hause ist, lässt sie die Perücke weg. Liebe heißt, sich nackt zu zeigen. Nicht nur von der Schokoladenseite.

Gerda Dübbers hat fast sieben Jahrzehnte lang die Frisur getragen, von der sie 1946 geträumt hat. Halblang und Dauerwelle. Erst vor ein paar Jahren hat sie diese gegen einen Kurzhaarschnitt getauscht. Sie kann ihre Arme nur noch unter Schmerzen heben, da fällt das Frisieren schwer. Auch Altwerden ist ein Schicksal, mit dem man fertig werden muss. „Ich bin jetzt 88, ich hab nicht mehr lang“, sagt sie trocken. Und grinst sofort spitzbübisch. „Aber meine Haare, die werden noch spazieren getragen, wenn ich nicht mehr bin. Wer kann das schon von sich sagen?“

Tanzen auf Rädern

Conny Runge (40) trägt gern neonfarbene Shirts, hat eine imposante Tattoo-Sammlung und arbeitet neben ihrem Job auch als Zumba-Trainerin. War da noch was? Ach ja: Sie sitzt dabei im Rollstuhl. Das hat mich beeindruckt und ich habe mich gefreut, dass ich ein Porträt über sie für die BARBARA schreiben durfte – veröffentlicht im Mai 2018

Es gibt Orte, an denen ist man sofort per du. Dort, wo das Leben zu leicht ist für Förmlichkeit: Ferienclub, Fitnessstudio. Oder dort, wo es zu schwer ist, um Distanz zu wahren: Selbsthilfegruppe, Notaufnahme. In der Zumba-Stunde der Rehaklinik „Godeshöhe“ in Bonn gilt beides.

Ein Donnerstag im Frühling, 11.15 Uhr. „Geht’s euch allen gut?“, ruft Trainerin Conny Runge. Blonder Zopf zum neonfarbenen Shirt, breites Lächeln, leicht sächsischer Zungenschlag. Der Hallenboden ist grün, durch die Fenster dringt blasses Licht ins Souterrain. Salsa-Bläsersätze plärren aus dem Lautsprecher. Hände bewegen sich durch die Luft, mal zaghaft, mal gekonnt. Schultern rotieren rhythmisch. Als könnten die Teilnehmer jeden Moment aufspringen und tanzen. Aber das wird nicht geschehen. Die fünf Männer und die drei Frauen werden ihre Beine wohl nie wieder bewegen können. Sie sitzen im Rollstuhl. Genau wie ihre Trainerin.

„Man behauptet ja gern mal unbedacht: Wenn ich querschnittsgelähmt wäre, ich würde mich umbringen.“ Conny schüttelt amüsiert den Kopf, wenn sie an ihr eigenes, früheres Ich denkt. 19 war sie, schwang im Karnevalsverein ihrer Lausitzer Heimat als „Funkemariechen“ die Beine, studierte Sport, war zum ersten Mal ernsthaft verliebt. Ein Leben in Bewegung, bis zur Vollbremsung: eine Party, das Fenster offen, sie auf dem Sims, ein Bekannter, der sie erschreckte, so dass sie das Gleichgewicht verlor. Vier Meter tiefer prallte sie mit dem Rückgrat auf einen Betonpfeiler, in Höhe des siebten Brustwirbels. Als ihre Freunde gelaufen kamen, bat sie: Nehmt mal meine Beine auf den Boden, die stehen so komisch hoch. Die anderen sahen sie entsetzt an: Conny, die sind doch unten! „Da wusste ich instinktiv: Ich werde nie wieder laufen.“

Aber, ernsthaft: sich umbringen? Keine Frage für die Tochter eines Sportlehrerpaars. „Ich hab von meinem Vater den Kampfgeist, von meiner Mutter das Gefühlvolle. Ich wollte einfach nur leben.“ Auch wenn sie sich von vielem verabschieden musste: bauchfreie Shirts, 15 Kilo an Beinmuskulatur, sogar von ihrer ersten großen Liebe: „Ich habe ihn regelrecht weggestoßen, habe gesagt: Schau mich an, was willst du noch mit mir?“ Die Grenzen ihrer Welt verliefen jetzt anders. Zwischen „Rollis“ und „Fußgängern“. Zwischen vorher und nachher.

Nun steht wieder alles auf Anfang. Conny sattelt um auf ein Maschinenbaustudium, besorgt sich ein Auto mit Handgas, lässt sich von ihren Freunden zu Party und Picknick schieben, trainiert ihr neues Leben, als wär’s eine olympische Disziplin. Und noch etwas treibt sie an: der Sport. Sie fährt einen Liegebike-Marathon auf Lanzarote mit, singt beim Kundalini-Yoga Mantras, spielt Basketball. Spaß macht ihr vieles, ganz das Richtige ist es nie. Das Bike braucht zu viel Platz, vom Basketball tun ihr Schultern und Handgelenk weh. Yoga? Nichts für eine quirlige Frau, die spricht und gestikuliert, als käme sie aus Palermo statt aus Sachsen. Dann freundet sie sich mit der Physiotherapeutin Jacqueline an, die Zumba-Kurse für Neurologie-Patienten gibt. Und Conny dazu einlädt. Bämm – Volltreffer. „Die Musik, die Lebensfreude, und dann noch ein Sport, den man immer und überall machen kann – ich war sofort angefixt. Sofort habe ich mir eigene Choreographien ausgedacht, für die man nur Arme und Schultern braucht.“

Es bleibt nicht beim Mitmachen. Conny möchte selbst Kurse leiten, neben ihrem Job bei einer Firma für Rehatechnik. Aber in Deutschland hat alles seine Ordnung, sogar Fitness-Funsport. Wer als Zumba-Trainerin arbeiten will, braucht einen Schein. Und so steht sie an einem Spätsommertag vor zwei Jahren mit ihrem Rollstuhl vor einer Trainingshalle. Davor ein paar Stufen, aber keine Rampe. „Ich da unten, und 40 Fußgänger, die auf mich herunterschauten. Alle die gleiche Frage im Blick: Was macht die hier? Das habe ich mich in dem Moment auch gefragt.“ Aber wenn man Conny Runge heißt, scheitert man nicht so schnell. Schon gar nicht an einer Treppe. Zwei Tage darauf hat sie ihr Zertifikat, kurz darauf veranstaltet sie mit Freundin Jacqueline die erste Zumba-Inklusions-Party Deutschlands: Tanzschritte für die Fußgänger, Arm-Choreographie für die Rollifahrer, brasilianische Cocktails und Käsebällchen für alle.

11.45 Uhr. Conny ballt die Fäuste, boxt im Rhythmus der Musik in die Luft: „Ja, lasst es raus! Gegen alles, das wütend macht!“ Dass oft die alltäglichsten Wünsche unerfüllbar sind, zum Beispiel. Ein Tag ohne Blasenkatheter, ein Nachmittag am Strand, das Handtuch ausbreiten, in die Wellen laufen. Wenn sie den linken Arm hoch wirft, sieht man unter ihrer Achsel ein Vogelkopf-Tattoo. Ein Phönix, der aus der Asche steil nach oben steigt. Den hat eine andere Freundin entworfen, Grafikdesignerin, ebenfalls Rollstuhlfahrerin. Boxt Conny mit rechts, entblößt sie dabei das Bild eines Speers aus dem Film „Avatar“. Die Heldengeschichte eines gelähmten Ex-Soldaten, der in einer Parallelwelt Abenteuer besteht. Starke Message, starke Bilder – und ganz schön sexy. Das findet auch ihr Freund Rainer. Mit ihm macht sie Witze über ihre „Schlenkerbeine“, ihre „Trommelstöcke“, denn sie weiß: Er liebt sie von Kopf bis Fuß. Als ganze Frau. Kann sie Sex genießen? Und wie: „Nacken, Hals, Brust, der ganze Oberkörper wird zur erogenen Zone. Und ist nicht das wichtigste Körperteil dabei sowieso der Kopf?“

Auf die „Godeshöhe“ kam Conny Runge ursprünglich als Patientin, ein paar Monate ist das her. Und sie ging als Trainerin. Während eines Kur-Aufenthaltes brachte sie den Therapeuten ihre Lieblings-Fitness näher. Genau das, was die suchten: Neue, coole Sportangebote, die nicht nur den Körper, sondern auch der Seele in Schwung bringen. Bewegung ist wichtig für die Reha-Patienten, weil sie den Kreislauf und die Verdauung anregt, Druckstellen auf der Haut vorbeugt, Verspannungen abbaut. Vor allem aber ist sie das beste Anti-Depressivum. Chemiefrei und ohne Nebenwirkungen. Das kennen Gesunde ja auch. Dem Liebeskummer davon joggen, den Job-Frust an einem Boxsack auslassen. „Beim Zumba ist es manchmal für Momente, als würde ich meine Beine wieder spüren. Ich merke richtig die Nervenimpulse“, erklärt Conny. Wenn fehlende Gliedmaßen weh zu tun scheinen, spricht man von Phantomschmerz – vielleicht gibt es ja auch das Gegenteil. Phantomfreude.

Krankheit ist ein großer Gleichmacher, Sport auch. Die 40-something-Frau mit den pinken Schnürsenkeln, die junge Muslima mit Kopftuch, der ältere Herr mit Seidenschal und pastellfarbenem V-Ausschnitt-Pulli – Körper, die sich gemeinsam zurück ins Leben kämpfen, mal mehr, mal weniger geschickt. Da spielt es keine Rolle, was einer verdient, an was einer glaubt, was auf seiner Visitenkarte steht. Gleichzeitig empfindet Conny ihr Schicksal als etwas Besonderes. Als Aufgabe, aber auch als Chance. „Ohne meinen Unfall hätte ich weiter Sport studiert und wäre jetzt vielleicht eine von vielen. So bin ich die Frau, die den Rollstuhl-Zumba nach Deutschland gebracht hat.“ Und das ist ja erst der Anfang: Warum nicht auch Stunden für Kinder und Jugendliche anbieten? Trainer im Ausland ausbilden?

12 Uhr, Cooldown. „Das war besser als acht Wochen Reha“, sagt eine Frau mit graublonden Strähnen. „What a wonderful world“ , steht auf ihrem T-Shirt. Aus den Boxen klingen noch immer fröhliche Posaunen, Trompeten und Bongos. Aber wenn man auf den spanischen Text hört, sind die Worte tieftraurig: „Ach, lass mich diesen Schmerz vergessen, der mich zum Weinen bringt!“ Das Leichte und das Schwere – sie passen nicht nur in der Musik gut zusammen. Sondern auch im Leben.

Ziemlich beste Freunde – verstehen sich die Generationen ein bisschen zu gut?

Mein Text aus einem BRIGITTE-Dossier, Oktober 2017

Harmonie zwischen den Generationen macht Loslassen für beide Seiten schwer. Wenn 20-somethings noch zu Hause wohnen und erwachsene Mutter-Tochter-Duos Klamotten tauschen – Grund zur Freude oder Grund zur Sorge?

Es ist Sonntag, ein strahlender Tag in Berlin, als die Nachricht ihrer Tochter auf dem Handy aufpoppt: „Hey Mama, Lust auf einen Bummel im Schlosspark?“ Mama nimmt das Telefon und beginnt zu tippen: „Sorry, Schatz, ich kann nicht, ich hab ein Date.“ Und fragt sich gleichzeitig: Ist das nun rührend oder auch befremdlich, wenn sich ihre 22jährige an einem solchen Tag nichts Schöneres vorstellen kann, als mit Mama spazieren zu gehen? Marie wiederum ist gerade mit einer Freundin unterwegs, die ganz neidisch aufs Display schielt: „Du hast es gut, ich wünschte, meine Mom wäre auch so unabhängig.“

Maries coole Mom heißt Gerlinde Unverzagt, Autorin, alleinerziehend, vier Kinder in den Zwanzigern. Als Marie, die Zweitjüngste, nach einem Auslandsaufenthalt ganz selbstverständlich wieder ihr altes Kinderzimmer bezog, fing Unverzagt an, sich Gedanken zu machen über das Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren. Länger zusammen wohnen, häufiger zusammen feiern, sich gegenseitig T-Shirts leihen – ist das nur die logische Fortsetzung einer liebevollen Kindheit? Oder ist doch irgendetwas faul an dieser Harmonie? In ihrem aktuellen Buch („Generation ziemlich beste Freunde – warum es heute so schwierig ist, die erwachsenen Kindern loszulassen“, Beltz, 16,95 €) hat sie Fragen und Antworten zusammengetragen, Tochter Marie einige Kapitel aus ihrer Sicht ergänzt.

Sicher ist: Erwachsene Kinder und ihre Eltern stehen sich heute näher denn je – und das auf vielen Ebenen. Zum einen räumlich: War 1970 jeder Zweite im Alter von 20 Jahren zu Hause ausgezogen, lebt heute jeder Dritte in der Altersgruppe 25 bis 34 immer noch oder wieder im Elternhaus – zwei Drittel davon Männer. Das hat zum Teil praktische Gründe: Warum explodierende Großstadt-Mieten für WG-Zimmer oder Appartement auf sich nehmen, wenn man’s zu Hause billiger haben kann, inklusive Wäsche-Service und Catering made by Mama? Dazu kommen gestiegene Ansprüche. Unverzagt erinnert sich: „Ich habe mit Anfang 20 in einem besetzten Haus gewohnt, mit Apfelsinenkisten als Möbeln. Meine Kinder erwarten zum Auszug Power-Shopping bei Ikea!“

Das passt zum Befund der aktuellen Shell-Jugendstudie, die jungen Erwachsenen das Label „pragmatische Generation“ verpasst – aber es geht nicht nur um nüchterne Kosten-Nutzen-Abwägung. 90 Prozent aller Jugendlichen geben an, sie hätten ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Eine Mehrheit wie auf DDR-Parteitagen. Fast drei Viertel würden ihre eigenen Kinder so erziehen, wie sie es selbst erlebt haben, ein Wert, der seit Anfang der Nuller Jahre stetig gestiegen ist. Andere Sozialwissenschaftler kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Laut einer Untersuchung der TU Chemnitz bespricht jede zweite junge Frau regelmäßig persönliche Dinge mit ihrer Mutter.

Wer den nackten Zahlen misstraut, muss nur mal bei einer beliebigen TV-Casting-Show einschalten: Kaum etwas wird so tränenreich inszeniert, wie wenn Mama und Papa im Model- oder Musiktrainingscamp zu Besuch kommen. Ein verwunderliches Ritual für alle, die in den Achtzigern und Neunzigern jung waren: Da wäre man eher im Boden versunken, als vor laufender Kamera den Alten um den Hals zu fallen. Aber damals wäre Eltern auch weder auf die Idee gekommen, Zehnjährige auf dem Schulweg zu begleiten und Erstsemester-Studenten zur Studienberatung – beides heute gang und gäbe.

Möglicherweise ist die neue Nähe auch Ausdruck des Zeitgeistes, der Renaissance des Wir-Gefühls. Ob „Public Viewing“, „Sharing Economy“ oder skandinavische „Hygge“-Gemütlichkeit: Anders als in früheren, mega-individualistischen Zeiten sehnen wir uns in der wackligen Welt von heute generationenübergreifend nach Zusammengehörigkeit, Berechenbarkeit, Beschaulichkeit. Es mag Zufall sein oder auch nicht, dass die Anzahl der erwachsenen Kinderzimmer-Bewohner seit den frühen Nuller Jahren rasant angestiegen ist – dem Zeitpunkt, als das Nine-Eleven-Attentat eine Zeitenwende markierte, von der Spaßgesellschaft zum neuen Bedrohungsgefühl. Unverzagt findet das Zusammenrücken nachvollziehbar, sieht es aber trotzdem kritisch: „Das Wort ‚Familie’ hat heute einen unangenehmen Pathos bekommen. Da schlagen konservative Werte mit voller Wucht zurück.“

Überhaupt gibt es einiges an der aktuellen Entwicklung, das Gerlinde Unverzagt Bauchschmerzen bereitet. Nicht mal so sehr die Bequemlichkeit der Jüngeren, mehr noch die Bedürftigkeit der Älteren. „Kinder haben ist für viele Menschen heute ein zutiefst narzisstisches Projekt geworden“, glaubt Unverzagt. Sie selbst sei als Kind eher „so mitgelaufen“, während Kinder und Jugendliche heute gewissenhaft gefördert würden – vom Zwergen-Musikkurs bis zum „Gap Year“ in Südostasien nach dem Abitur. Eine Investition, von deren Früchten man dann auch profitieren möchte. Das muss gar nicht so weit gehen wie bei den Society-Müttern der New Yorker East Side, die von ihren Ehemännern finanzielle Boni für Schulnoten der Teenager erhalten. Als wäre das Kind ein Investment-Fonds und sein Erfolg eine mütterliche Management-Aufgabe. Auch ganz durchschnittliche Mittelklasse-Teilzeitjob-Mütter in Deutschland seien nicht immun gegen diese Schräglage, glaubt Unverzagt: „Obwohl die weibliche Berufstätigkeit heute viel verbreiteter ist als noch vor einer Generation, betrachten Frauen vor allem ihre Kinder als sinn- und identitätsstiftend – und ertragen es dann nicht, wenn an diesem zentralen Punkt eine Leere entsteht.“

Denn dann müsste man sich ja unangenehmen Fragen stellen: Wie steht’s um meine Partnerschaft? Was macht mein Leben sonst noch aus? Oder, verschärft noch bei Alleinerziehenden: Wie gehe ich mit dem Gefühl des Verlassenseins um? Des sichtbaren Älterwerdens? Die Alternative ist verlockend: erwachsenen Kindern zu Hause alle Annehmlichkeiten bereiten, inklusive gemeinsamer Partys und Fernsehabende plus launiger WhatsApps zwischendurch, und daraus die Gewissheit ziehen: Hey, ich bin vielleicht 30 Jahre älter, aber innerlich genau so jung und cool! Der Satz einer Single-Mutter aus einer TV-Doku ist Unverzagt besonders unangenehm im Gedächtnis geblieben: „Mein Sohn ist der Mann meines Lebens – eine solche Aussage grenzt für mich an emotionalen Missbrauch!“

Die Psychotherapeutin und Entwicklungspsychologin Christiane Wempe aus Ludwigshafen sieht die Dinge ähnlich wie Unverzagt – allerdings weniger dramatisch. „Dies Nicht-Loslassen-Können, diese Rollenumkehr, das betrifft eher ein bestimmtes, großstädtisches Bildungsmilieu, nicht die Gesellschaft als ganzes. Generell kann man aber sagen: Ablösungsprozesse sind heute etwas stärker gepuffert, nicht mehr so radikal.“ Das hat zum einen mit modernen Medien zu tun: Wenn man vor 20 Jahren halbherzig versprach, auf Interrail-Tour einmal die Woche eine Telefonzelle aufzusuchen, sind heute Eltern per Messenger-Dienst täglich im Bilde, was Mäuschen in Jakarta oder Hanoi gefrühstückt hat. Die Mütter genauso wie die Väter, die heute oft sehr viel mehr Anteil nehmen am Alltag ihrer Kinder. Aber auch Lebensläufe sind weniger planbar. Abi mit 19, Zivildienst, Studium plus WG-Zimmer – das ist total Neunziger. Moderne Geschichten klingen eher so: Abschluss mit 17, ein Jahr Work-and-Travel, mit 18 erstmal wieder zurück nach Hause und um einen Studienplatz bewerben. Die Wohnsituation allein ist für Christiane Wempe kein Gradmesser für Autonomie: „Wir haben in einer Studie über den Auszug aus dem Elternhaus sowohl Befragte gehabt, die bei ihren Eltern wohnen, aber selbständig ihre Angelegenheiten regeln, als auch solche mit eigener Wohnung, deren Mütter dort wöchentlich zum Putzen vorbeikamen und andere Dinge regelten. Wer von denen ist erwachsener?“

Einig sind sich alle Experten: Innere und äußere Unabhängigkeit sind ein wichtiger Entwicklungsschritt für die Jüngeren – genau so wie das Loslassen für die Älteren. Dass das ein schmerzhafter Prozess sein kann, so wie jede Veränderung, bestreitet keiner. Oft sind es kleine Rituale, die den Übergang erleichtern. „Als mein ältester Sohn auszog, hatten wir im ersten halben Jahr eine Verabredung: Ein Mal pro Woche kommen alle gemeinsam zum Essen.“, erinnert sich Unverzagt. Vor allem aber empfiehlt sie Eltern, sich beizeiten mit dem auseinander zu setzen, was unabwendbar vor ihnen liegt: „Dort, wo Kinder sich aus dem eigenen Leben zurückziehen, die Freiräume mit eigenem aufzufüllen – das ist eine gute Vorübung.“ Fängt an beim ersten Kneipenbummel nach Ende der Baby-Stillzeit, geht weiter mit dem ersten Urlaub ohne Kinder, wenn die lieber auf Partytour nach Spanien wollen als auf Kulturreise ins Baltikum. Eine Leere, ja – aber eine, die Platz bietet für neue Inhalte: wieder Zeit haben für den Partner, Gas geben im Job, Freiräume für Freundschaft, Hobbys, Reisen. Schließlich sei es etwas fundamental anderes, ob eine Liebesbeziehung zerbricht oder ein erwachsenes Kind flügge wird, findet Unverzagt: „Die Tochter, der Sohn geht – und liebt uns trotzdem weiter.“

Marie, übrigens, bewirbt sich gerade um einen Studienplatz. Die Fachrichtung ist klar, der Studienort noch nicht. Mit einer Ausnahme: Berlin, findet Marie, geht gar nicht.

 

Facebook zum Anfassen: Blind-Dates mit online-Freunden

Facebook ist ein Ego-Schaufenster – aber wer sind die Menschen dahinter wirklich? Gibt es wahre Freundschaft online? Und was passiert eigentlich mit der Verbindlichkeit in Zeiten ständiger Vernetzung? Für die BARBARA war ich im Herbst 2015 unterwegs, um Leute im wahren Leben zu treffen, die ich vorher nur online kannte.

„Tanzt du?“, will Bruno wissen. Vor uns stehen zwei Gläser Weißwein und eine Platte Antipasti, draußen vor dem Restaurantfenster fegt der Wind über den Kirchplatz von Bad Kreuznach, und ich lasse mir Zeit mit der Antwort. Gute Frage. Noch könnte ich fast alles sein, Tänzerin oder Nicht-Tänzerin, Frühaufsteherin oder Langschläferin, Rucksackreisende oder Grand-Hotel-Geschöpf. Bruno kennt ja nur einen kleinen Ausschnitt meines Lebens. Mein digitales Schaufenster, von mir selbst dekoriert. Gilt auch umgekehrt. Dabei sind wir schon seit zwei Jahren befreundet, Bruno und ich. Behauptet jedenfalls Facebook.

Dass ich an diesem Dienstag fast 600 Kilometer durch Deutschland gefahren bin, um mit ihm eine Doppelportion Mozarella und eingelegte Auberginen zu essen, hat keine romantischen Gründe. Beziehungsstatus: In festen Händen, er wie ich. Trotzdem bin ich nach knapp fünf Jahren im Social-Media-Land neugierig geworden. Etwa die Hälfte meiner 489 Facebook-Kontakte ist zustande gekommen wie der unsere: Kommentar auf den Post eines gemeinsamen Bekannten, ein Like, eine Antwort, eine Freundschaftsanfrage. Von manchen höre ich nie wieder etwas, andere sind in meinem Alltag gegenwärtig wie Nachbarn oder Kollegen. Früher war die Teeküche im Büro mein Soziales Medium, aber da ich seit Jahren hauptsächlich im Home Office arbeite, haben Facebook und Co das übernommen. Wie wäre es, ein paar der Menschen zu treffen, die ständig dort herumstehen? Die mir vertraut scheinen, obwohl ich ihre Stimme noch nie gehört habe, ihre Handschrift nicht kenne, und ihr Gesicht nur so, wie sie es selbst der Welt zeigen? Im Netz ist jeder der Regisseur seines eigenen Lebens, Kameramann und PR-Beauftragter. Ich möchte das ganze Bild, inklusive „deleted scenes“. Wohl wissend, dass ich mich umgekehrt genau so nackig mache.

Vier Online-Bekannte habe ich angeschrieben, ob sie Lust haben auf das Experiment, alle hatten spontan Lust, drei davon auch Zeit. Dumm nur: Das erste Date ist schon geplatzt, während ich gerade mal südlich von Hamburg am Maschener Kreuz im Stau stehe. Dafür gibt’s kein Like, und es ist meine Schuld – auch wenn ich es gerne auf die böse Multitasking-Kultur im Netz schieben würde. Vier parallel geöffnete Chat-Fenster, und bei einem habe ich mich im Datum vertan. Deshalb hat Greta an diesem Vormittag umsonst in einem Frühstückscafé in Köln gewartet und mir besorgte Nachrichten auf mein Smartphone geschickt. Auf Twitter bekäme das den Hashtag #EpicFail. Im wahren Leben gelte ich als beinahe pathologisch pünktlich und zuverlässig. Macht Facebook mich zum Freundschafts-Nerd?

Immerhin: Bei meiner Abendverabredung mit Bruno stimmen Zeit und Ort. Im Netz ist er ein Frauenversteher. Ein Gefühlsmensch, der gern Bonmots über die Liebe postet. Ein freundlicher Buddha mit Hipster-Brille. Auch: Einer, der sich ganz gerne reden hört. Stört mich das? Ach was. So völlig ohne Hang zur Selbstdarstellung ist wohl keiner, der vom Social-Media-Virus angesteckt wird. Da kann ich mir auch an die eigene Nase fassen. Die Frage ist eher: Hält der offline-Charme, was er online verspricht? Dass wir sofort ins Plaudern kommen und auf dem 5-Minuten-Fußweg von seinem Büro zu seinem Lieblings-Italiener bereits VW-Krise, Wohnungspreise in Hamburg und im Rheinland sowie gemeinsame Facbook-Bekannte abgehakt haben, überrascht mich nicht. Sondern etwas anderes: wie viel es doch ausmacht, was der Körper erzählt, jenseits der geschriebenen Sprache. Bruno sieht zwar exakt so aus wie auf seinem Profilfoto, mit Werberbrille und Buddha-Bäuchlein, wirkt dabei aber trotzdem jünger, beweglicher, lebhafter. Nicht gar so weise, dafür nahbarer. Ein Mann, der tanzt – auch über 40 und jenseits des perfekten Body Mass Index. Genau wie ich, übrigens. Wir verabreden, dass wir mal zusammen ausgehen, wenn er geschäftlich in Hamburg ist. Zehn Minuten später stellen wir fest, dass wir beide in einer Familie mit starken Frauen und abwesenden Vätern aufgewachsen sind.

Aber sich über einen halben Liter Chardonnay seine Lebensgeschichte erzählen, garniert mit etwas Hobby-Psychologie, ist das nun der Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn was heißt das in digitalen Zeiten? Stammt diese Trennung – wahre, analoge Seelenverwandtschaft hier, oberflächliche Online-Bekanntschaft da – nicht aus dem simplen Weltbild von Kulturpessimisten, die Computer schon in den 80er Jahren bäh fanden? Wie fast überall im Leben gilt: It’s complicated. Auch wir Forty-Somethings hatten ja schon immer beides: einen kleinen Kreis echter Vertrauter, bei denen man ungestraft auch nachts um drei angeschickert und mit Liebeskummer vor der Tür stehen konnte. Und einen viel größeren Kreis aus Ex-Mitschülern, Interrail-Begegnungen, Lerngruppen-Mitgliedern. Nur, dass damals ständig Menschen aus diesem weiteren Kreis auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Weil der Abreißzettel mit der Telefonnummer im Altpapier landete oder die WG-Adresse nicht mehr stimmte. Heute werden diese Kontakte höchstens zu elektronischen Karteileichen. Und sind manchmal auf einen Klick wieder zum Leben erweckt: Der große Blonde aus dem Deutsch-LK von 1988, der indische Yogalehrer von 2007. Ich hatte schon Visitenkarten in der Hand, auf denen nur noch Mailadresse und Twitter-Account vermerkt waren. Die sind heute oft dauerhafter als Postadresse oder Beziehungsstatus.

Es hat Vorteile, wenn keiner mehr verloren geht. Man muss nur aufpassen, dass diese Unverbindlichkeit des äußeren Kreises nicht einsickert in den inneren. Denn dann droht die Facebookisierung der persönlichen Beziehungen: Statt sich zum Geburtstag anzurufen, schicken sich langjährige Freunde rasche WhatsApp-Nachrichten, und bei wirklich Bad News gibt’s einen weinenden Emoji. Schluck. Umgekehrt hat mir Facebook bisweilen erstaunlich profundes über Menschen verraten, von denen ich immer dachte, dass ich sie in- und auswendig kenne. Kontroverse politische Ansichten, die ich im Kneipengespräch lieber umschiffe. Oder völlig ironiefreie Begeisterung für Katzenbilder. So werden Facebook & Co immer wieder zu menschlichen Abenteuerspielplätzen inklusive Abgründen. Und analoge Freundschaften können digital scheitern.

Das schöne an reinen Online-Begegnungen ist: Im Netz lerne ich ständig Menschen kennen, die ich sonst niemals getroffen hätte. Höchstens im ICE-Bistro. Andere Jobs, andere Orte, viel jünger, viel älter – oft ist es nur eine einzige Überschneidung, die uns online verbindet. Kinder, zum Beispiel. Deshalb bin ich auch auf Facebook mit Ines befreundet. Die lebt in Castrop-Rauxel, ist 15 Jahre jünger als ich und macht beruflich nichts mit Medien. Wie erfrischend. Mittwoch mittags um eins komme ich bei ihr zu Hause an. Mit ihrer entzückenden, einjährigen Tochter Henriette und ihrem Mann Marko wohnt Ines in einer Neubausiedlung mit Reihenhäuschen, die so modern, praktisch und freundlich aussehen, als könnte man sie samt Einrichtung bei Ikea kaufen. Ein Leben, in dem alles passt, auch das Drumherum: das abstrakte Gemälde, farblich abgestimmt auf das Sofa, die Fotogalerie an den Wänden, mit Hochzeits- und Babybildern ab der ersten Ultraschall-Aufnahme, das Retro-Muster auf Henriettes Kleidchen und auch, dass zwischendrin der Schwiegervater mit einem Fünferpack neuer Söckchen für seine Enkelin hereinschneit, genau so fröhlich und herzlich wie Ines selbst. Harmonisch, zufrieden, aufgeräumt – das schaffe ich in meinem Leben und meiner Wohnung lange nicht immer. In diesem Punkt sind wir wohl verschieden.

Trotzdem hat unser Treffen etwas sehr vertrautes. Liegt es an Ines’ rheinischer Unkompliziertheit, an unserer gemeinsamen Online-Geschichte, unserem gemeinsamen Thema, oder ist es alles zusammen? Umarmung zur Begrüßung, bei einer Tasse Tee dann gleich dieser freundlich interessierte Eltern-unter-sich-Ton: Mensch, Ines, das sind ja tolle Nachrichten, du bist wieder schwanger? Wow, Henriette isst ja freiwillig Blaubeeren, meine beiden sind solche Obsthasser, schlimm. Muttersein verbindet – vor allem, wenn beide Seiten nicht zu der Sorte gehören, die Glaubenskriege über die richtige Tragehilfe oder die perfekte Schulform anzettelt. Da ticken sie und ich dann wieder völlig gleich. Mütter-Parlando wird oft sehr schnell privat, inklusive blutiger Geburts-Details. Ob das auf Facebook passiert oder auf dem Spielplatz, ist eigentlich egal. In den letzten zehn Jahren habe ich viele solche Gespräche geführt. Was davon bleibt, ob aus der glücklichen Schicksalsgemeinschaft echte Freundschaft wird, das merke ich in meinem Offline-Umfeld aber erst jetzt, da meine Kinder größer werden. Und die Frauen um mich herum wieder mehr spüren, was sie sonst noch ausmacht. Ich frage mich, worüber mein 30jähriges Ich mit Ines geredet hätte, damals Single und kinderlos. Oder worüber wir uns in zehn Jahren austauschen werden.

So lange wird es aber wohl nicht dauern, bis ich wieder in ihre Gegend komme. Schon wegen Greta. Die hat nämlich eine Frühstückseinladung in Köln bei mir gut. Hat zwar nicht geklappt mit dem Kennenlernen, die erste Krise haben wir aber gut gemeistert, finde ich. Ganz old school, mit einer ehrlichen Entschuldigung, die ich unbedingt am Telefon loswerden musste, vom Autobahnparkplatz aus, und nicht per Direktnachricht. „Aber schreib das unbedingt in deinen Text mit der verpatzten Verabredung“, hat sie gesagt und gelacht, „das ist doch typisch Facebook!“ Mach ich, Greta. Die verschwendete Stunde im Café? „Ach was, verschwendet, ich hab immer Ideen im Kopf und etwas zum Schreiben dabei.“ Kenne ich, denke ich. Fünf Minuten am Telefon, und es fühlt sich an, als hätten wir noch deutlich mehr gemeinsam. Greta und ich – ich glaube, wir sind da einer heißen Sache auf der Spur.

Heldinnen der Arbeit – ein Programm schafft Job-Perspektiven für junge Mütter

Jung, alleinerziehend und ohne Ausbildung: Das sind schwierige Startbedingungen für Mütter. Ein Förderprogramm macht sie fit für den Arbeitsmarkt und unabhängig von staatlicher Unterstützung. Aber der Weg dorthin ist oft hart – auch für die Kinder. Fürs ELTERN-Magazin habe ich im Dezember 2016 mehrere von ihnen besucht.

 Neulich, beim Abholen aus der Kita. „Mama?“ „Ja, Leon?“ „Mama, heute laufen wir ganz, ganz langsam nach Hause.“ „Bist du müde, mein Schatz?“ „Mama! Du bist müde.“ Mareike (25) lächelt gerührt, als sie von der Unterhaltung mit ihrem Sohn erzählt: „Leon spürt immer ganz genau, wie es mir geht. Und er sieht mir an, wenn ich nach der Arbeit kaputt bin.“ Bei einem schnellen Mittags-Cappuccino im Einkaufszentrum zeigt sie auf dem Smartphone Fotos von ihrem Dreieinhalbjährigen. Ein Blondschopf mit mehlverklebten Händchen beim Keksebacken. Idyllische Momentaufnahmen aus einem Alltag, der viel verlangt von Mutter und Kind. Aber der auch eine Erfolgsgeschichte erzählt. Die Geschichte einer neuen Chance.

Seit fünf Monaten ist Mareike Auszubildende beim Hamburger Malerbetrieb Antosch. Das heißt: morgens um viertel nach sechs zur Arbeit antreten, Decken verspachteln, über Kopf mit einer kiloschweren, motorbetriebenen Schleifmaschine hantieren, oder draußen bei Wind und Wetter Fassaden streichen. Ein Knochenjob für die zarte Erdbeerblonde mit den coolen Sneakers, die ihren Sohn allein erzieht. Aber auch eine Art Traumjob. „Ich mag es, wenn ich das Ergebnis meiner Arbeit sehen kann. Wenn ich am Ende des Tages sagen kann: Dieser olle Heizkörper, der jetzt wieder glänzt wie neu, das ist mein Werk.“ Für Leon heißt das: Frühstück mit der Tagesmutter, Kindergarten von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends, fünf Tage pro Woche. Es heißt aber auch: eine Mutter, auf die man verdammt stolz sein kann. „Immer, wenn wir auf einer Baustelle Handwerker sehen, zupft er aufgeregt an meinem Ärmel: Mama, sowas machst du doch auch!“ Mareikes Fernziel: der Meisterbrief. Und die wenige gemeinsame Zeit mit ihrem Kind? „Klar, das ist schon manchmal hart“, sagt sie. „Aber dafür genießen wir die Wochenenden jetzt doppelt, unternehmen viel. Früher hatte ich mehr Zeit, aber war auch antriebsloser.“

Es gibt viele solche Frauen. Mit niedrigen Schulabschlüssen, jung auf das Abenteuer Kind eingelassen, häufig wieder Single, mit schlechten Karten auf dem Arbeitsmarkt. Mareike hatte nach einem Hauptschulabschluss gerade eine Ausbildung in einer Bäckerei abgebrochen („arbeiten war einfach nicht meins“), als sie von ihrem damaligen Freund schwanger wurde. Aber von solchen Frauen ist selten die Rede, wenn es um das Thema „Kinder und Karriere“ geht, in Talkshows, Konferenzen oder Leitartikeln. Da wird über Home-office-Lösungen für Eltern diskutiert, oder die Frage, ob ein Baby Karriereschritte verzögert. Mittelstandsprobleme.

Anders ist das bei der deutschlandweite Initiative „Joblinge“, die Mareike bei ihrem Neustart unterstützt. Ein Startup, vor zehn Jahren gegründet, um Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Hier finden junge Männer und Frauen Hilfe, die bisher keinen Zugang zu regulären Jobs gefunden haben: etwa, weil das eigene, kaputte Elternhaus nicht den nötigen Rückhalt bietet, oder weil andere Wendungen im Leben bisher alle Energie in Anspruch genommen haben – etwa die Geburt eines Babys. Wer bei den „Joblingen“ landet – meist auf Vermittlung des Jobcenters – , bekommt hier eine neue Chance: einen Vorbereitungskurs mit Bewerbungstraining, Auffrischungskurse in Kernfächern wie Rechtschreibung und Rechnen, Unterstützung bei der Suche nach Praktika und einer Lehrstelle. Für sieben von zehn Teilnehmern eine Geschichte mit Happy End, sie bekommen am Ende einen Ausbildungsvertrag.

Ein Drittel der so Geförderten sind Frauen, und fast in jedem der Vorbereitungskurse sitzen auch ein, zwei Mütter wie Mareike, meistens alleinerziehende. Doppelt schwer vermittelbar? Simon Busch und Helen Dähne aus der Hamburger Niederlassung sehen’s positiv: „Mütter sind meist sehr viel focussierter, strukturierter, wissen genau, was sie wollen.“ Denn ein Leben mit Kind erfordert Organisations-Qualitäten: U-Untersuchungen planen, Kitaplatz beantragen, neue Gummistiefel kaufen. Wer so gefragt ist, verdaddelt seine Tage kaum mit Online-Games auf dem Sofa. Die wenigsten Frauen in „Joblinge“-Maßnahmen haben ihre Kinder geplant – aber Wunschkinder sind sie dennoch. „Eine eigene Familie, ein Zuhause, ein Stück heile Welt, davon träumen fast alle unsere Schützlinge. Aber es ist ihnen auch wichtig, auf eigenen Beinen zu stehen. Dabei sind sie hochmotiviert, weil sie nicht nur für sich kämpfen, sondern auch für ihren Nachwuchs“, erzählt Busch. Haben sie eine Ausbildung, ziehen sie die auch durch.

Dieser Drive macht sie zu exzellenten Bewerberinnen für Handwerk, Einzelhandel oder Büro-Management – eigentlich. Das sehen aber längst nicht alle Arbeitgeber so. Auch Malerlehrling Mareike musste um ihren regulären Ausbildungsplatz kämpfen – ihr Chef hätte lieber nochmal das unbezahlte Praktikum verlängert. „Er hat mich richtiggehend getestet“, erzählt sie. „Einmal hat er mir absichtlich kurzfristig einen Nachmittagstermin gegeben um zu sehen, wie ich das von jetzt auf gleich mit Leon organisiere.“ Spontan sprang Mareikes Mutter ein, Meister Antosch war beeindruckt: „Kurz danach hatte ich seine Zusage.“ Und die Kollegen? „Es gibt solche und solche. Manche bewundern mich für mein Durchhaltevermögen. Von anderen kommen auch mal Sprüche wie: ‚Selbst schuld, dass du so früh schwanger geworden bist, deshalb hast du hier keine Sonderrechte.“ Mareike zuckt mit den Achseln: „Das ist halt so auf der Baustelle, da geht es mal unter die Gürtellinie. Da brauchst du als Frau ein dickes Fell.“

Das weiß auch Jennifer (24). Sie ist nach Mareike zu den „Joblingen“ gestoßen, besucht im Moment noch die Vorbereitungsgruppe und schreibt Praktikumsbewerbungen. An einem Montag vormittag sitzt sie im Seminarraum in einem Eckbüro in Hamburg-Hammerbrook mit Blick auf eine S-Bahn-Trasse, und erzählt ihre Geschichte. Eine Geschichte von geplatzten Träumen, aber auch von Mut und Zuversicht. Die Kurzversion: knapp am Fachabitur gescheitert, auf Reisen gewesen, gejobbt, verliebt, plötzlich der positive Schwangerschaftstest. „Ich wusste genau, was das für mein Leben heißt, aber mir war auch klar: Ich stelle mich dieser Verantwortung, und ich bin auch bereit, auf einiges zu verzichten.“ Ausgehen, shoppen, persönliche Freiheit. Jetzt ist ihr Sohn zwei, die Liebe hat nicht gehalten, aber immerhin hat Luis-Aslan einen engagierten Vater. Und Großeltern, die sich mit um ihn kümmern.

Jennifer würde gerne eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten machen, oder bei der Polizei. Den nötigen Realschulabschluss hat sie, aber dennoch landen ihre Bewerbungen immer wieder ganz unten auf dem Stapel: „Wenn Arbeitgeber erfahren, dass man ein Kind hat, läuten bei denen gleich die Alarmglocken.“ Laut sagt das aber keiner, erzählt Jennifer. „Ich habe mal einen Personaler angerufen und ihm ins Gesicht gesagt: Ich nehmen Ihnen die Gründe für die Ablehung nicht ab. Der hat schließlich zugegeben: Allein die 20 Krankentage fürs Kind, die mir als Single-Mutter pro Jahr zustehen, würden ihn abschrecken.“ Susanne Linardatos, die das Vorbereitungsseminar leitet, ärgert sich über solche Geschichten: „Ich würde mir mehr Solidarität wünschen gegenüber Müttern, auch von Seiten der Arbeitgeber. Stattdessen wird die Verantwortung einseitig den Frauen zugeschoben, als wäre ein Kind eine reine Privatangelegenheit. So wie ein exotisches Hobby.“ Nur in wenigen Branchen werden weibliche Azubis mit Nachwuchs gern genommen, etwa in Pflegeberufen. Weil sie ein Plus an Empathie und Verantwortungsbereitschaft mitbringen – aber eben auch, weil dort händeringend Nachwuchs gesucht wird, der bereit ist, einen schlecht bezahlten, körperlich wie seeelisch belastenden Job anzutreten.

Wichtig für die jungen Mütter sind nicht nur Arbeitgeber, die bereit sind, ein Stück gesellschaftliche Verantwortung, sondern auch ein gutes Netzwerk, weiß Joblinge-Mitarbeiter Simon Busch: „Wenn die eigene Familie mit am gleichen Strang zieht, ist das schon die halbe Miete.“ Die Realität sieht oft anders aus, sagt er: „Häufig ist da einen Oma im Hintergrund, die verständnislos reagiert: Du musst doch für dein Kind da sein, was willst du mit einer Ausbildung?“ Manchmal scheitert der Job-Einstieg auch an eigener Zerrissenheit: Da lehnt schon mal eine Kandidatin einen Ausbildungsplatz ab, weil sie im Schichtdienst ihr Kind nicht mehr jeden Abend selbst ins Bett bringen könnte. Schlimmstenfalls kämpfen die Teilnehmerinnen an drei Fronten: Mit den eigenen Eltern, dem Ex-Partner und dem Arbeitgeber.

So gesehen hat Anna (24) doppelt Glück gehabt. Ihre Eltern und ihre Schwester sind für sie da, ihre Beziehung ist nach einer Zeit der Trennung jetzt wieder intakt. Annas Freund ist Busfahrer, so dass die beiden sich Job und Familienarbeit meistens gut aufteilen können – er im Schichtdienst bei den Hamburger Verkehrsbetrieben, sie seit einigen Monaten als Azubi in Teilzeit bei der Drogeriemarktkette Budni. Allerdings haben er und Anna auch doppelt zu tun: Sie sind Eltern von Zwillingen, Jeremias Noel und Jayden Elias, vier Jahre alt. Noch ein Doppel-Glück, und einer der Gründe, warum es mit einer Lehrstelle nicht gleich nach dem Schulabschluss geklappt hat. Sabine Schuldt, Annas Ausbilderin in der Volksdorfer Filiale, hat das bei der Bewerbung nicht abgeschreckt: „Schon als Anna bei uns ihr Praktikum machte, haben wir gemerkt: Das ist eine junge Frau, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann. Das hat uns überzeugt.“ Und wenn Anna mal am Limit ist, die Kinder krank sind, die Nacht kurz war? „Dann nehme ich sie beiseite, suche ihr eine weniger anstrengende Aufgabe, setze sie zum Beispiel an die Kasse, wenn nicht viel los ist. Dafür weiß ich: Wenn viel zu tun ist, packt sie auch extra mit an. Das ist ein Geben und Nehmen.“

Annas freundliche und mütterliche Art kommt gut an. Einfühlsam hilft sie einer älteren Dame mit Rollator an der Kasse, berät eine andere beim Handcremekauf, räumt zwischendrin ein Regal um. Aber hinter der sanften Fassade steckt auch eine Person mit neuem Stolz und Selbstbewusstsein: „Freunde sagen zu mir: Wir erkennen dich gar nicht wieder, du warst immer so schüchtern, jetzt haust du auch mal richtig auf den Tisch! In der Lehre habe ich gelernt, zu verhandeln und mich durchzusetzen. Schon, weil ich sonst zu oft auf den unbeliebten Abendschichten sitzen geblieben wäre.“

Eine harte Schule. Dabei könnte es Anna leichter haben: das Gehalt ihres Freundes plus 450-Euro-Job, damit würde die Familie klarkommen. Dann könnte sie jeden Abend den Kinder vorlesen, müsste morgens nicht aus dem Haus, wenn eines krank ist. Verlockend? Ja, aber, sagt Anna: „Ohne Ausbildung erreicht man nichts im Leben, und ich möchte nicht abhängig sein. Weder vom Staat, noch von einem Mann.“ Eine Frau mit klaren Zielen: Ausbildung abschließen, ein fester Job, ein Vorbild sein für ihre Kinder. Die Hilfe der „Joblinge“ wird sie bald nicht mehr brauchen.

 

Wer sind die „Joblinge“?

Aus dem Integrations-Projekt einer Stiftung und einer großen Unternehmensberatung entstand 2007 ein Startup, das heute über ein breites Unterstützer-Netzwerk mit 1500 Partnerunternehmen und 1300 ehrenamtlichen Mitarbeitern verfügt. Finanziert werden die Förderprogramme von der öffentlichen Hand und aus Spendengeldern, deutschlandweit gibt es derzeit 23 Niederlassungen. Info: www.joblinge.de

Mütter und Bildung: mehr Durchstarter, mehr Abgehängte

Wir werden immer schlauer – wenigstens auf den ersten Blick. Während vor 20 Jahren knapp über die Hälfte der Frauen in Deutschland (mit und ohne Kinder) einen Hauptschulabschluss hatte und nur 14 Prozent Abitur, erreichen heute 23,5 Prozent die Hochschulreife und nur 37,2 den niedrigsten Abschluss. Dafür hat sich die Quote der Frauen ganz ohne Abschluss in der gleichen Zeit fast verdoppelt: von 2,7 auf 4,3 Prozent.

Single-Väter: die Belastung kommt von innen

Später Jobeinstieg und Kinder – nur ein Thema für Mütter? Nein, sagt Simon Busch von den Hamburger „Joblingen“: „Immer wieder sind auch junge Väter in unseren Gruppen, aber deren Belastung ist eher eine psychische als eine praktische – häufig fließt viel Zeit und Energie in Sorgerechts- und Unterhalts-Streitigkeiten. Den Alltag der Kinder müssen sie in der Regel aber nicht organisieren, das wird an die Mütter delegiert.“