In meinem Element

Wo sich Storch und Fischotter gute Nacht sagen: Der Spreewald, diese einzigartige Flusslandschaft in Brandenburg ist im Trend und bietet dennoch genügend lauschige Rückzugsorte – per Boot, per Fahrrad oder zu Fuß. Eine Liebeserklärung an einen besonderen Landstrich, erschienen in BRIGITTE, Juni 2021

Manchmal, wenn Martin Fix an einem Sommermorgen auf sein Standup-Paddleboard steigt, dann träumt er vom Herbst. Von einem Tag, an dem die Wiesen am Ufer Raureif tragen, die Rehe ruhig am Waldrand stehen, und nichts zu hören ist als das regelmäßige Eintauchen des Ruderblatts. Da ist er ganz in seinem Element, so viel meditative Einkehr ist in der warmen Jahreszeit selten an seinem Boots- und Boardverleih in Burg. Schlechter Zeitpunkt für unsere Landpartie? Nicht doch, beruhigt er uns: Bei rund 1500 Kilometer Wasserwegen sollten wir wohl ein stilles Plätzchen finden. 

Mit einer laminierten Karte und seinen Insider-Tipps machen wir uns auf den Weg. Am Ufer ziehen Schwarzerlen, Buchen und Brombeerranken vorbei, blau schimmernde Riesenlibellen kreisen über der Wasseroberfläche, und aus den Baumkronen dringt das Tschilpen des Eisvogels. Silbrige Schwärme vom Göbeln begleiten uns unter Wasser, und einmal zuckt ein metallischer Blitz von einem Ufer zum anderen: eine Ringelnatter. Amazonas-Feeling, keine Stunde Zugfahrt südöstlich von Berlin. 

Erst nach einer guten halben Stunde, an einer Gabelung, kreuzt einer der Kähne, auf denen sich Reisegruppen durchs Nasse Element staken lassen. Gern etwas feuchtfröhlich. „Sind Sie die Zeitungsfrau?“, schallt es mir entgegen. Alles klar: Der Kahnführer hat gerade von der Zustellerin erzählt, die an entlegenen Orten auf dem Wasserweg Post und Zeitungen ausliefert. Im Vorbeifahren höre ich noch die nächste Frage („Sagense mal, wie tief isses hier eigentlich?“), die Antwort kenne ich schon: „Wer im Spreewald ertrinkt, ist nur zu faul zum Aufstehen.“ 

Gebaut wurden die Kähne ursprünglich als Transportvehikel für Gemüse, doch findige Einheimische boten schon vor über 100 Jahre Fahrten für Sommerfrischler an. Gewandet in Festtagstracht, was ein bisschen geschummelt war, aber das urlaubende Berliner Bürgertum fand’s knorke. Die langen, flachen Boote prägen das Bild bis heute, genau wie eingelegte Gurken, Pellkartoffeln mit Leinöl und Storchennester. Wem das Gruppenschippern zu trubelig ist, schnappt sich Kanu, Kajak oder SUP-Board und sieht zu, dass er Land gewinnt. 

Holländische Gurken, preußische Migranten

Entstanden ist die Brandenburger Naturschönheit in der letzten Eiszeit. Auf ihrem Weg vom Lausitzer Bergland nach Berlin bildet die Spree ein bewaldetes Binnendelta, das über Jahrhunderte zu einer einzigartigen Natur- und Kulturlandschaft geformt wurde, durch Abholzung, Trockenlegung, Umleitung von Wasserwegen. Das hat auch seinen Niederschlag in der Sprache gefunden: „Fließe“ heißen die naturbelassenen Läufe, „Kanäle“ die menschengemachten. Zu Zeiten der Völkerwanderung kamen slawische Siedler, ihre Nachfahren, „Sorben“ oder „Wenden“ genannt, prägen den Spreewald bis heute mit eigener Kultur, sorbischsprachigen Radiosendern und Ortsnamen in zwei Idiomen. Im 16. Jahrhundert folgten holländische Zuwanderer und mit ihnen der Gurkenanbau, im 18. Jahrhundert siedelte der „Alte Fritz“ frühere preußische Soldaten an, um die Sumpflandschaft weiter zu kultivieren. Nach dem Mauerfall wurde die Region zum Biosphärenreservat, in dessen Kernzone auch Paddler und Spaziergänger nichts verloren haben. Letzte Zuwanderungswelle: Nutrias, die wilden Nachfahren von Zuchttieren aus einem aufgegebenen DDR-Betrieb. Die niedlichen Nager graben sich ihre Höhlen an den Ufern, meist zum Entzücken der Besucher und oft zum Ärger der Einheimischen, weil sie so gern die Deiche anknabbern.

Menschengemacht und doch verwunschen

Die wechselvolle Geschichte lässt sich auch an den Dörfern ablesen. In Lübbenau erinnern Kopfsteinpflaster und Alleen an Omas Kindheitsalbum, in Burg hat ein kunstsinniges Gastgeberpaar ein Ferienheim aus DDR-Zeiten in das 5-Sterne-Wellnesshotel „Bleiche“ verwandelt, am Ortseingang von Straupitz hat sich der Berliner Sakral-Baumeister Karl-Friedrich Schinkel mit einer überdimensionierte Kirche selbst ein Denkmal gesetzt. Und dann ist da noch das allgegenwärtige Emblem auf den Giebeln der Gebäude: Zwei gekreuzte Schlangenköpfe mit Krönchen, die auf eine Volkslegende zurückgehen. Denn die Schlange ist im Spreewald kein Angst-, sondern ein Glücksbringer: Dort, wo sie sich niederlässt, baute man in früheren Jahrhunderten bevorzugt das eigene Haus. Mehr als Aberglaube, denn die Schlange liebt es trocken und ist damit ein zuverlässiger Bio-Indikator. So fließt alles zusammen: Mittelalter und Biedermeier, Sozialismus und Moderne, Tradition und Trend. 

Das Menschengemachte tut dem Zauber dieser Landschaft keinen Abbruch. Schon deshalb, weil man Zeit und Muße braucht, um sie zu erkunden. Wer nur mit dem Auto über die Bundesstraße braust, bleibt buchstäblich außen vor. Für das echte Erlebnis muss man mitten rein. Aufs Wasser, auf die gut beschilderten Fahrradrouten über Wald- und Feldwege. Die eignen sich sogar für Sportmuffel prima, weil sie allesamt flach sind wie ein Teenie-Bauch. Zu Fuß geht auch. Uns begleitet Carolin von Prodzinsky, Rangerin und Naturschützerin. Wenn sie in ihren khakifarbenen Shorts am frühen Morgen im Wald unterwegs ist und nach dem Rechten sieht, dann merkt man: Auch hier ist eine in ihrem Element. Als Studentin hat sie in Australien Beuteltiere mit Peilsendern ausgestattet, in den letzten Jahren ihre Leidenschaft für das Naheliegende entdeckt: Biber und Fischotter, Schwarzstorch und Kibitz. Unser Spaziergang führt zum Gasthaus Wotschofska, mitten im Wald auf einer Erleninsel gelegen. Eine Mischung aus altdeutscher Wirtschaft, mit Holzvertäfelung bis zur Decke und grün gerahmten Fensterläden, und Beachclub mit Liegestühlen. Was liebt die Rangerin in ihrem Revier besonders? „Diese magischen Momente. Wenn du morgens auf einer Wiese am Waldrand stehst, der Dunst liegt noch über dem Gras, und in der Ferne steht ein einzelner Kranich und ruft.“ Was ihr Sorgen macht? „Der Klimawandel. Das letzte Hochwasser war 2013, seitdem sehen wir zu, wie der Wasserstand sinkt.“ Das schadet dem einzigartigen Ökosystem.

Junge Wilde, hippe Fashion

Im Zentrum von Lübbenau, ein paar Stunden später, treffen wir in ihrem Laden Sarah Gwiszcz. Ein Schneewittchen-Typ, mit Sommersprossen, Husky-Augen und schwarzen Haaren, und mit einem Blick, der zu allem entschlossen ist. Die Modemacherin ist nach dem Studium in Berlin in ihre Heimat zurückgekehrt, um dort ihr eigenes Label zu gründen: „Wurlawy“, ein Wort aus der sorbischen Sagengestalt, das übersetzt „Wilde Spreewaldfrauen“ bedeutet. Das passt zu ihren Entwürfen, die bereits auf der Berliner Fashion Week Furore machten: farbenfrohe Maßanfertigungen mit Spitze und Blümchenmuster oder im traditionellen Blaudruck, so verspielt und so cool zugleich, dass sich Einheimische wie Besucher Outfits für besondere Gelegenheiten maßschneidern lassen. Oder ein besonderes Mitbringsel erwerben: Zum Beispiel die „Spreewald-Beanie“, eine Kreuzung zwischen Kopftuch und Mütze, zu der sich Gwisczc von der Lübbenauer Brautjungfernhaube hat inspirieren lassen. Tradition mit einer Prise Punk und einem Hauch von Fantasy. Wovon sie träumt? Endlich fließend sorbisch sprechen lernen, die Sprache ihrer Vorfahren. Und von ihrer bevorstehenden Hochzeit, natürlich im selbstgeschneiderten Kleid: „Das wird so ein Sissi-Ding, richtig haudruff!“

Altes Handwerk mit Zukunft – auch andere Kreative verbinden hier die beiden Pole. Wie Bastian Heuser, Typ Tattoo-Hipster, der mit zwei Geschäftspartnern vor einiger Zeit eine Destillerie übernommen und sie zeitgemäß in „Spreewood Distillers“ umgetauft hat. In Schlepzig, am nördlichen Ende des Spreewaldes gelegen, 600 Einwohner. Und mitten im Dorf eine Infotafel, die über die aktuelle Geburtenrate der Storchenpaare informiert. Hier, am vielleicht schönsten Hintern der Welt oder zumindest Brandenburgs, brauen sie einen preisgekrönten Roggen-Whisky. Bei einem Schluck „Stork Club“ auf der Kahnterrasse ihres Hofcafés versteht man, was daran besonders ist: der charakteristische Vollkorn-Geschmack, die feinen Aromen. „Wer Whisky macht, muss warten können“, sagt Heuser. Drei Jahre und einen Tag, so lange beträgt die Lagerzeit im Eichenfass. Als Stadtmensch hat Heuser seinen Wohnsitz in Berlin, aber im Spreewald den Charme der Langsamkeit entdeckt: Fahrradfahrern, Angeln, Wasserwandern. Seine Kinder, neun und elf, bessern derweil ihr Taschengeld auf, in dem sie Kanufahrern an der Schleuse zur Hand gehen.

Verrückter Graf auf weißem Hirsch

Letzte Station: Cottbus. Liegt streng genommen nicht im Spreewald, sondern ein paar Kilometer jenseits, und klingt, zugegeben, nicht nach Traumstadt. Eher nach postsozialistischer Tristesse. Doch das ist nur ein Farbton in einem bunteren Bild. In den aufgelassenen Tagebauten wird im Lauf der nächsten Jahre eine einzigartige Seenlandschaft entstehen, in der Innenstadt eröffnen coole Cocktailbars, und dann ist da noch die reiche Kunst- und Kulturszene. Ein Jugendstiltheater mit Mut zur modernen Inszenierung, ein Museum in einem ehemaligen Dieselkraftwerk, das eine einzigartige Sammlung von Kunstwerken von der klassischen Moderne über den Spätexpressionismus bis zu Fotokunst aus der DDR beherbergt. Auch wenn Museumsdirektorin Ulrike Kremeier den Begriff „DDR-Kunst“ nicht leiden kann: „In dieser Zeit wurden so viele interessante Traditionslinien weitergeführt, da hilft es gar nichts, ständig einen Bezug zum politischen System herzustellen.“ 

Last but not least liegt in Cottbus der Schlosspark Branitz, Vermächtnis des Fürsten Hermann zu Pückler-Muskau, den sie hier auch den „verrückten Pückler“ nennen. Ein Dandy des 19. Jahrhunderts, Autor, Weltenbummler, der davon träumte, die Quellen des Nil zu erkunden, aus einer unwirtlichen Sandgrube einen oasengleichen Garten machte, und sich schließlich höchstselbst unter einer Erdpyramide im Schlosspark begraben ließ. Vor der Cottbuser Stadtmauer erinnert ein modernes Standbild an den Weitgereisten, es zeigt den Fürsten auf einem weißen Hirschen. Denn er soll bei Besuchen gern mit einer Kutsche, gezogen von Wildtieren, vorgefahren sein. Sinn für spektakuläre Auftritte, lang vor Erfindung des Selfies.

Abends, im Biergarten vom „Spreewaldhof“ in Leipe, sitzen wir auf Holzbänken und studieren die Karte. Räucherfisch, Wein, oder mutig ein „Gurkenradler“ bestellen? Vom Wasser her erklingt das Geräusch eines Paddels, Mücken fliegen tief, letzte Tagesausflügler schließen ihre Fahrräder an. Klick-Klack. Stille. Frieden. Es gibt Momente, in denen muss man sich nirgends hinträumen. Alles ist schon da.

INFOTEIL

Hinkommen und Rumkommen

Mit dem Auto: etwa 100 Kilometer südöstlich von Berlin bzw. nordöstlich von Dresden, Anfahrt von beiden Städten aus etwa anderthalb Stunden, von Hamburg aus etwa viereinhalb Stunden. Alternative: Der Regionalexpress (RE) Richtung Cottbus verkehrt im Stundentakt ab Berlin mit Halt z.B. in Lübben, Lübbenau und Vetschau, Rad- und Sportgerätemitnahme möglich. Mit dem Fahrrad lässt sich die Region optimal erkunden (gut ausgeschildertes Wegenetz jenseits der Autostraßen, etwa der 260 km umfassende „Gurkenradweg“), Verleihstationen z.B. in Burg-Dorf (Radler-Scheune, www.radler-scheune.de/Spreewald/,  Tel. 03 56 03/133 61) und Lübbenau (Fahrrad Metzdorf, www.fahrradverleih-spreewald.de, Tel. 035 42/466 47); Tagespreise für ein Tourenrad ab etwa 12 Euro, auch E-Bikes, Anhänger, Kinderfahrräder etc.; Noch authentischer: Entdeckungstouren auf den Wasserstraßen. Überblick über Bootsverleihe (Kajaks, Canadier etc.): www.spreewald.de/bootsverleih/; der Tagespreis für ein Kajak liegt etwa bei 20 Euro. SUP-Board-Verleih in Burg-Kolonie: www.sup-spree.de, Tel. 03 56 03/838, Stundenpreis 10 Euro. Info vor Ort: Tourismusverband Spreewald, Tel. 03 54 33/58 10, www.spreewald.de

Übernachten

Bleiche. Ein Hotel wie ein opulentes Gemälde: Zwischen Fließ und einem weitläufigen Gelände mit altem Baumbestand liegt das Spa-Resort mit Fünf-Sterne-Küche und Kultur-Ambiente, von der echten Kunst in Lobby und den großzügigen Aufenthaltsräumen bis zur hauseigenen Bibliothek und regelmäßigen Lesungen teils bekannter Autor*innen, zu denen das kunstsinnige Gastgeberpaares Clausing einlädt. Wer hier eincheckt, darf sich nach Strich und Faden verwöhnen lassen: Das Arrangement ist zwar mit einem Mindestpreis von etwa 250 Euro pro Person und Nacht kein Schnäppchen, es sind aber auch alle Mahlzeiten und die Nutzung der „Landtherme“ darin enthalten (Burg, Bleichestr. 16, Tel. 03 56 03/620, www.bleiche.de).

Spreewaldresort Seinerzeit. Malerisch zwischen Kopfsteinpflasterdorfstraße, Spreewiesen mit alten Obstbäumen und Fließ gelegen, möchte man sich in diesem eleganten, 2017 neu renovierten Landhotel mit seinem Stilmix aus Sixties-Deko und Landlust glatt zu romantischen Gesten hinreißen lassen. Manche tun es auch: Am Ufer, unter den Kronen einer uralten Weide, kann man sich ganz offiziell das Jawort geben. Einfach nur den Urlaub genießen geht auch: Das Hotelrestaurant „Feine Küche“ wechselt alle sechs Wochen die Karte und überrascht mit saisonalen Spezialitäten, im Sommer auf der Kastanienterrasse (DZ mit Frühstück ab 112 Euro. Dorfstr. 53, 15910 Schlepzig, Tel. 03 54 72/66 20, www.seinerzeit.de)

Hotelanlage Starick. Zünftig und ungekünstelt: Hier wohnen Sie bei echten Spreewald-Insidern. Der Seniorchef hat auf dem weitläufigen, von einem Wasserlauf durchzogenen Hotelgelände sogar ein kleines Museum zu Ehren der Spreewaldgurke eingerichtet, serviert im Hotelrestaurant Wildspezialitäten aus eigener Jagd oder Fisch aus den umliegenden Gewässern. Besonders heimelig sind die kleinen Doppelzimmer mit Dachschräge: Ein bisschen wie Urlaub bei Oma in den Siebzigern, sogar der orangefarbene Teppich stimmt (Kleines DZ mit Frühstück ab 95 Euro. An der Dolzke 6, 03222 Lehde, Tel. 035 42/899 90, www.spreewald-starick.de)

Spreewaldhof Leipe. Am Wasser gebaut: Mitten in der Natur am Rand eines verschlafenen Dorfes, wo sich Kanu- und Radrouten kreuzen, ist aus einem Bauernhof eine gemütliche Pension mit Biergarten geworden. Der Spreewaldhof ist ganz auf die Bedürfnisse von Aktivurlaubern eingestellt, mit Anleger für Kanus, Kajaks und Co. Die Zimmer sind schick-rustikal, mit Fachwerkelementen und modern möbliert. Im Biergarten am Wasser gibt’s frischen Räucherfisch, Hefeplinse (Pfannkuchen) und süffiges Gurkenradler (DZ mit Frühstück ab 106 Euro, auch günstige Campingunterkünfte (simple Holzhütten ab 34 Euro/Nacht) und Ferienwohnungen. Leiper Dorfstr. 2, 03222 Lübbenau, Tel. 03542/2805, www.spreewaldhof-leipe.de)

Bio-Hotel Kolonieschänke. Burg-Kolonie hat seinen Namen aus der Zeit, in der der „Alte Fritz“ seine Veteranen im Spreewald ansiedelte. Das Hotel in einem alten Fachwerkhaus zwischen weitläufigem Obstgarten, Spielscheune für Kinder und Outdoor-Bar, ist ein Treffpunkt für alle, die es grün, gemütlich und ökobewusst mögen: Vom Baumaterial übers Heizsystem bis zur Restaurantküche mit vegetarischem Schwerpunkt achten die Betreiber in jeder Hinsicht auf Nachhaltigkeit. TV und W-LAN? Fehlanzeige! Einen eigenen Bootsverleih gibt’s auch (DZ mit Frühstück ab 85 Euro, außerdem verschiedene Zimmerkategorien, z.B. behindertengerecht und mit eigener Sauna. Ringchaussee 136, 03096 Burg/Spreewald, 03 56 03/68 50, www.kolonieschaenke.de)

Zur Alten Schule. Backsteinwände, Holzbalken, Kaminöfen, Veranden mit Blick ins Grüne und Obstbäume zur Selbstbedienung: Wo früher Schulkinder das ABC lernten, auf einem Waldgrundstück am Ortsrand von Burg-Kauper, liegt eine der schönsten Ferienhausanlagen der Gegend. Absolut ruhig, liebevoll ausgestattet, ländlich-modern. Verschiedene Wohnungsgrößen für Selbstversorger, aber auch mit Frühstück buchbar (FeWo für 2 Personen eine Nacht 110, jede weitere Nacht 85 Euro, Landfrühstück 12,50 Euro pro Person. Weidenweg 8, 03096 Burg/Spreewald, Kontaktaufnahme bevorzugt per Mail: kontakt@zur-alten-schule-spreewald.de, www.zur-alten-schule-spreewald.de

Genießen

Hotel-Gasthof Stern. Hier dreht sich alles um das Thema Kräuter: Keiner kennt sich so gut aus mit den grünen Wundern der Region wie Koch und Gastgeber Peter Franke, der auch Touren und Workshops anbietet. Klar, dass neben Rustikal-Klassikern wie Kartoffeln mit Quark und Leinöl oder Rouladen auch Gerichte wie der „gemischte Wildkräutersalat“ (etwa 10 Euro) auf der Karte stehen (Burger Straße 1, 03096 Werben, Tel. 03 56 03/660, www.hotel-stern-werben.de)

Gasthaus Wotschofska. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf dem Wasserweg: Nur so erreicht man das rustikale Gasthaus mit Biergarten. Dabei ist es eine TV-Berühmtheit: Um die „Wotschofska“ wurden einige Szenen der ZDF-„Spreewaldkrimis“ gedreht. Kulinarische Schwerpunkte sind Fisch- und Wildgerichte aus der Region, z.B. Spreewälder Fischsuppe (große Portion 8 Euro); (Wotschofskaweg 1, 03222 Lübbenau, Tel. 045 36/76 01, www.gasthaus-wotschofska.de)

Hofrestaurant Schlangenkönig. Eine der schönsten Wasser-Terrassen im Spreewald hat die – übrigens sehr empfehlenswerte! – Pension Schlangenkönig in Burg-Kauper: Wind in den Weiden, gründelnde Enten und auf dem Teller je nach Geschmack italienisch (Pasta, Fleisch- und Fischgerichte) oder regional. Empfehlenswert: Die herzhafte Variante der Hefepfannkuchen („Plinsen“) mit Lachs und saurer Sahne, etwa 10 Euro (Waldschlößchenstraße 14, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/759 30, www.zum-schlangenkoenig.de)

Spreewälder Privatbrauerei 1788. Beliebtes und belebtes Brauhaus plus Biergarten mit eigenen Craftbeerspezialitäten und deftiger Küche (z.B. Brauhaus-Rippchen, 18,50 Euro) auf dem malerischen Gelände des „Spreewaldresort Seinerzeit“ in Schlepzig (Adresse und weitere Infos siehe „Übernachten“). 

Cavalierhaus Branitz. Top-Adresse für den Tagesausflug nach Cottbus: In seinem kleinen, feinen Restaurant im Schlosspark Branitz (siehe auch „Erleben“) kocht der kulinarische Aufsteiger Tim Sillack regionales auf Sterne-Niveau, mittags zu Schnupperpreisen (z.B. Bärlauchbratwurst vom Cottbuser Metzger auf Sauerkraut für 16,50 Euro), und serviert auch Highend-Klassiker wie Austern (Zum Cavalierhaus 9, 03042 Cottbus, Tel. 03 55/49 39 70 30, www.cavalierhaus-branitz.de)

Einkaufen

Wurlawy. Sarah Gwisczc nimmt Elemente aus der sorbischen Tracht und macht coole, folkloristische Mode daraus, die sie in ihrem Ladengeschäft auch von der Stange verkauft (Ehm-Welk-Str. 27, 03222 Lübbenau, Di bis Fr 12 bis 18 h, Sa 11 bis 16 h, wurlawy.de)

Spreewood Distillers. Laden und Hofcafé gehören zur Roggen-Whisky-Destillerie, im Shop gibt es neben reinen „Stork Club“-Whiskys auch Mixgetränke wie den „Rosé Rye“ zu 18 Euro pro Flasche (Dorfstr. 56, 15910 Schlepzig, Mo bis So 10 bis 17 h, www.spreewood-distillers.de)

Töpferei Piezonka. Merke: Eine Wanderung auf dem „Fontaneweg“ (ab Burg-Kauper) sollte nie ohne geräumigen Rucksack starten – schließlich führt die Route an einer Kunsttöpferei vorbei. Mindestens eine Müslischale im verspielt-märchenhaften Dekor sollte ins Gepäck passen (Weidenweg 15, 03096 Burg, Mo bis So 9 bis 18 h)

Erleben

Wellness:  Beste Adressen fürs Wohlbefinden liegen in Burg. Die „Spreewald-Therme“ bietet in modernem Ambiente neben Bade- und Solebecken auch Anwendungen mit regionalen Produkten wie Spreewald-Algen und Leinöl an (Eintritt 2 Stunden 15 Euro, Ringchaussee 152, 03096 Burg, Tel. 03 56 03/188 50, www.spreewald-therme.de). Die „Landtherme“ des 5-Sterne-Hotels „Bleiche“ besticht dazu durch ungemein opulente Optik: Offene Kamine, viel Holz, cremefarbene XL-Polsterliegen – als würde man in ein Barockgemälde eintauchen (siehe Punkt Hotels)

Folkloristisches: Ein besonders hübsches Freilichtmuseum liegt im „Storchendorf“ Dissen, abseits der touristischen Hotspots: Beim Bummel zwischen nachgebauten Grubenhäusern wird die slawische Geschichte des Spreewaldes greifbar. Unbedingt hier nach dem Schlüssel für die entzückende Dorfkirche nebenan fragen, falls sie geschlossen sein sollte: Die Holzdecke ist mit Hunderten Bildern von Pflanzen und Tieren bedeckt (Hauptstr.  32, 03096 Dissen-Striesow, Öffnungszeiten unter www.heimatmuseum-dissen-spreewald.de)

Kunst in Cottbus: Unbedingt lohnt sich ein Abstecher ins Pückler-Museum und den Schlosspark Branitz. Der Eintritt in den Landschaftspark nach englischem Vorbild ist gratis, das Schloss-Ticket kostet 8 Euro, ist aber jeden Cent wert: In der Altersresidenz des exzentrischen Fürsten aus dem 19. Jahrhundert fühlt man sich wie bei Lawrence von Arabien zu Besuch (Robinienweg 3, 03042 Cottbus. Öffnungszeiten und Preise: www.pueckler-museum.de). Toller Kontrast: Die wechselnden Ausstellungen im ehemaligen Dieselkraftwerk mit moderner Kunst von Foto bis Textil. Aktuell im Sommer 21: Die Sammlung „Chagas Freitas“ mit Kunst aus der DDR jenseits des offiziellen Kulturbetriebes (Am Amtsteich 15, 03042 Cottbus, Öffnungszeiten und Preise: www.blmk.de)

Wenn ich das gewusst hätte

Kahnfahren im Spreewald – das lernen die meisten auf ein- bis mehrstündigen Rundfahrten ab Burg-Dorf, Lübbenau oder Lehde kennen. Die Touren starten im Stundentakt, Vorausbuchung ist nicht notwendig, aber die Massengaudi hat mich eher abgeschreckt. Erst später erfuhr ich von Varianten für Individualist*innen: Einige Anbieter haben sich auf Themenfahrten spezialisiert, von der Kahnfahrt mit Krimilesung über die Mondscheintour bis zur privaten „Kahnfahrt der Sinne“ für zwei Personen rücklings auf dem Sitzsack (80 Euro pro Stunde, buchbar über Pension Schlangenkönig, s.o.). Besonders urig: Touren in Hagen Conrads Holzkähnen, die selbst in der Hochsaison in die abgeschiedensten Ecken führen (www.hagens-insel.de, ab 6 Euro pro Stunde)

Unbedingt mitnehmen

Wo Sumpf und Wasser sind, bleiben auch Mücken nicht aus – und den Spreewald lieben sie besonders! Deshalb bei Touren auf dem Wasser Insektenschutzmittel und lindernde Salbe nicht vergessen und lieber im langärmligen Shirt losziehen.

Die Blauen Reiterinnen

Geliebt und gefördert, aber auch unterschätzt und ausgenutzt: Die Künstlerinnen des „Blauen Reiters“ standen lange Zeit im Schatten der männlichen Stars Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Franz Marc. Zu Unrecht (veröffentlicht in Merian Bayern, Sommer 2016, aber immer noch schön…)                                       

Alles hätte so schön sein können. Der Himmel über dem Murnauer Moos leuchtete blau, als hätte der Sommer zum Abschied noch einmal einen vollen Farbtopf auf einer riesigen Leinwand ausgekippt. Die Sonne verzierte den Staffelsee mit Lichttupfen, die Frühherbstkühle erfrischte die Körper und machte die Gedanken leicht. Oktober 1911 war es, als sich die Künstlerclique um Wassily Kandinsky, Franz Marc und August Macke im Murnauer Sommerhaus zur Redaktionssitzung für ihren neuen Almanach „Der Blaue Reiter“ traf. „Es waren unvergessliche Stunden, als jeder der Männer sein Manuskript ausarbeitete, feilte, änderte, und wir Frauen es dann getreulich abschrieben“, so schwärmt August Mackes Frau Elisabeth in ihren Lebenserinnerungen. Aber dann geschah etwas, das Elisabeth die Stimmung verhagelte. Gründlich. „Wir fanden es nicht sehr geschmackvoll, dass Marc und Kandinsky jeder mit seiner Amazone auf dem Plan erschienen, während von August keine vollwertige Reproduktion eines Bildes gebracht werden sollte“, notierte sie pikiert.

Die „Amazonen“, das waren Franz Marcs Frau Maria und Kandinskys Lebensgefährtin Gabriele Münter, der das Sommerhaus gehörte. Nicht, dass Frau Macke ein Problem mit kreativen Frauen gehabt hätte. Diese so genannten „Malweiber“ drängten ja schon seit Jahren in die Klassen privater Kunstschulen, weil die Kunstakademien keine weiblichen Studentinnen aufnahmen. Aber ihre Bilder an prominenter Stelle im Jahrbuch? Später kam’s dann doch anders: Macke rein, Maria Marc raus, Münter blieb. Als hätte man vorausgesehen, wie sich der Kunst-Kanon der klassischen Moderne entwickeln würde.

Mit ihrem biederen Frauenbild stand Künstlergattin Elisabeth selbstredend nicht alleine, sondern entsprach völlig dem Zeitgeist. Ob im niedersächsichen Worpswede, im mecklenburgischen Ahrenshoop oder im bayerischen Bermudadreieck zwischen Tegernsee, Murnau und Sindelsdorf: Überall, wo sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Künstler trafen, um in ländlicher Abgeschiedenheit das Spiel mit Licht und Farbe neu zu erfinden, spielten die Männer die erste Geige. Zwar waren die Herren der Schöpfung sich grundsätzlich einig, dass auch Frauen zu Innerlichkeit und kreativem Ausdruck befähigt wären – aber zu viel Selbstentfaltung wirkte auch auf einige Mitglieder des Blauen Reiters befremdlich. „Der Lebensberuf der Frau und Mutter ist so ungleich heilig und hoch, dass es geradezu lächerlich ist, wie die Emanzipierten noch dazu das Feld des Mannes haben wollen“, tönte August Macke. Bis heute sind Namen wie Kandinsky, Macke und Marc als Vertreter der klassischen Moderne weltberühmt, dagegen kennt man ihre Frauen oft weniger als Künstlerinnen denn als dekoratives Bildmotiv.

Immerhin: Das postkartenbekannte Porträt Marianne Werefkins, der exaltierten Förderin und Muse Alexej Jawlenskys, hat kein Mann gemalt. Sondern ihre Freundin Gabriele Münter. Münter, die wohl bekannteste weibliche Vertreterin des blauen Reiters, geboren 1877 in Berlin, gilt heute als Künstlerin von Weltrang, ist aber dennoch vor allem in Deutschland und Skandinavien ein Begriff. Ganz anders als ihr langjähriger Lebensgefährte Wassily Kandinsky, dessen abstrakte Farb-Explosionen weltweit bekannt sind. „Münter hat immer wieder neu experimentiert, mit Farben, Formen, Bildausschnitten. Ihre Stillleben, ihre Interieurs, die charakteristischen Porträts ihrer Künstlerfreunde, ihre Neuinterpretation volkstümlicher Hinterglasmalerei machen sie einzigartig und unverwechselbar – vor allem aber auch ihre Bereitschaft, sich ständig neu zu erfinden und den eigenen Stil in Frage zu stellen“,  urteilt Annegret Hoberg, die als Kuratorin am Münchner Lenbachhaus schon für die große Münter-Retrospektive von 1992 verantwortlich war und ihre Expertise für eine Münter-Schau im Jahr 2017 mit 60 bis 70 bislang ungezeigten Werken zur Verfügung stellte.

Ein Ausnahmetalent, das auch Wassily Kandinsky früh erkannte. In beinahe komischer Verzweiflung schrieb er seiner Malschülerin und späteren Geliebten: „Du bist hoffnungslos als Schüler – man kann dir nichts beibringen. Du hast alles von Natur. Was ich für dich tun kann ist dein Talent so zu hüten und zu pflegen, das nichts falsches dazukommt.“ Um so mehr ärgert es Isabelle Jansen, Kunsthistorikerin, Geschäftsführerin der Münter-Eichner-Stiftung und Kuratorin des Münter-Hauses, wenn Gabriele Münter bis heute zu sehr aufs Private reduziert wird: „In der Rezeption von Künstlerinnen spielt die eigene Biographie eine überdimensionale Rolle, und so gilt Münter vielfach völlig zu Unrecht als Anhängsel von Kandinsky. Bei männlichen Malern fragt niemand zuerst nach ihren Liebschaften und Familienverhältnissen!“

Interessant sind sie aber durchaus, diese neuen Liebes- und Beziehungsvarianten, die sich damals vor allem in der Bohème deutscher Großstädte herausbildeten, gerade in München-Schwabing. Ein früher Hauch von 1968, aber auch eine Andeutung von Emanzipation, die sich da neben dem bürgerlichen Mackertum eines August Macke Bahn brach. Man schätzte Frauen eben nicht nur als Kaffeekocherinnen und Schreibkräfte, sondern auch als Gesprächspartnerinnen und als Künstlerinnen, lud sie zu gemeinsamen Ausstellungen ein, und natürlich ergaben sich daraus auch Liebesbeziehungen. Dass die junge Malschülerin Gabriele und der elf Jahre alte, verheiratete Lehrer Wassily während eines Malkurses in Kochel am See im Sommer 1902 schließlich mehr tauschten als Bildkompositionstipps, lag auch daran, dass Gabriele für die damalige Zeit ausgesprochen freiheitliche Vorstellungen hatte: Auf Fotos dieser Zeit ist sie in lockerer „Reformkleidung“ zu sehen, und seit ihrer Jugend fuhr sie Fahrrad, was damals als höchst unschicklich für eine junge Dame galt. Kandinsky hatte auch eines, und so bekamen die Malausflüge in die Natur wohl bald eine erotische Note.

Dabei waren Gabrieles Vorstellungen auch durchaus geprägt von einem traditionellen Rollenbild: „Meine Idee von Glück ist eine Häuslichkeit, so gemütlich und harmonisch, wie ich sie eben bereiten könnte“, schrieb sie nach dem Sommer 1902 sehnsüchtig an Kandinsky. Andere Künstlerinnen der Gruppe nahmen sich sogar noch mehr zurück, stellten eigene Ambitionen in den Schatten ihrer vermeintlich größeren Lebensaufgabe: Die russische Großbürgerstochter Marianne Werefkin sah sich lange Jahre fast ausschließlich als Muse ihres jüngeren Protegés und Geliebten Alexej Jawlensky, den sie mit Geld und Beziehungen unterstützte, und für den sie die Miete der herrschaftlichen Wohnung in der Münchner Giselastraße bezahlte. Sogar dann noch, als er das minderjährige Hausmädchen Helene schwängerte. „Ich bin Frau, bin bar jeder Schöpfung, ich kann alles verstehen und nichts schaffen“, so stapelte sie in ihrem Tagebuch tief. Erst im Alter etwa 50 Jahren entstand ihr künstlerisches Hauptwerk, das allerdings nach Expertenmeinung nicht an die Begabung und Innovationsbereitschaft Gabriele Münters heranreicht. Und Maria Marc? Ähnlich wie Gabriele Münter hatte sie einen Mann an ihrer Seite, der sie künstlerisch förderte, aber ihr dafür einiges zumutete. Den Sommer 1906 verbrachten die beiden in Kochel, in Begleitung von Franz Marcs Kunstlehrerin Marie Schnür, die sich dort auch nicht nur aus künstlerischen Gründen auszog. Als „Thränenhügel“ bezeichnete Maria Marc später einen Berghang bei Kochel, auf dem sich manche unschönen Szenen des amourösen Dreiergespanns abgespielt haben müssen. Erst spät fand Maria Marc ihre ganz persönliche künstlerische Ausdrucksform in Form von Webteppichen mit abstrakten Mustern. 1952, bei ihrer ersten und einzigen Solo-Ausstellung in einer Münchner Galerie, war sie 76 Jahre alt.

So unterschiedlich die Stile der Künstler und Künstlerinnen, so sehr zieht sich ein immer wiederkehrendes Motiv durch ihre Bilder: die oberbayerische Landschaft. Sindelsdorf, Lenggries, Kochel, Ried, so hießen die Sehnsuchts- und zeitweiligen Lebensorte der Gruppe – und immer wieder Murnau. Ohne die Atmosphäre und Lichtstimmung der Voralpenlandschaft wäre die Kunst des Blauen Reiters kaum denkbar, erklärt Lenbachhaus-Kuratorin Annegret Hoberg: „Die häufig changierende Beleuchtung, die klaren, starken Farben, die Föhnstimmung, in der die Konturen noch deutlicher hervortreten, das findet man nirgends so wie dort.“ „Das Blaue Land“, so taufte Franz Marc die Voralpenlandschaft, und auch die sonst eher nüchterne Gabriele Münter kam ins Schwärmen: „Weiße dünne Windwolken, die Berge im Schatten so dunkelblau!“ Die Künstler fanden dort auch das Volkstümliche, das Einfache, den Stoff, nachdem die Expressionisten so sehr gierten. Besonders Gabriele Münter interessierte sich für die traditionelle Glasmalerei und fand in Murnau Meister, die sie in das alte Kunsthandwerk einführen konnten.

Den Sommer 1908 hatten Münter und Kandinsky gemeinsam mit Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky dort verbracht, eine Phase explosiver Kreativität. Im August 1909 erwarb Gabriele Münter auf Kandinskys Drängen hin zum Preis von 12.500 Reichsmark das Haus in der Kottmüllerallee, damals das einzige Gebäude außerhalb der Bahnlinie. Endlich ein Ort, um ihre Liebe mit Kandinsky zu leben und Zeit mit den Künstlerfreunden zu verbringen. Die Einheimischen tauften es auf den Spitznamen „Russenhaus“, was keineswegs liebevoll gemeint war: Diese kreative Clique mit ihren wilden Verhältnissen, teilweise auch noch begleitet von unehelichen Kindern, wurde misstrauisch beäugt.

Dem Glück tat das keinen Abbruch. Liest man Briefe und Tagebucheintragungen und sieht man sich Fotos aus den Murnauer Schaffensperioden an, hat man den Eindruck: Hier stehen ein paar frühe Vertreter der „Generation Landlust.“ Detailliert beschreibt Gabriele Münter, in welche Reihen Pflücksalat am besten gedeiht, und auf den Bildern sieht man Kandinsky in Lederhose im eigenen Beet. Murnau erdete die verkopften Künstler, der Föhn pustete ihre Gedanken frei, und die unmittelbare Nähe zur Natur ermöglichte es ihnen gleichzeitig, den Schritt zu machen von kunstvoller Wiedergabe zu einer ganz persönlichen Handschrift: „Durch die malerische Auseinandersetzung mit dieser Landschaft fanden die Mitglieder der Gruppe ihre jeweils eigene, reduzierte und zugleich ausdrucksstarke Bildsprache “, erklärt Kunsthistorikerin Isabelle Jansen. „Bei Kandinsky führte der Weg schließlich in die Abstraktion.“ Ein Weg voller spannender Zwischenstationen: So zeigt etwa Kandinskys Bild „Improvisation Klamm“ von 1914 auf den ersten Blick eine dynamische Farben- und Formenkomposition, nur wer genau hinsieht, entdeckt das winzige Paar in alpenländischem Outfit in seinem Zentrum.

Heute hängt dieses Bild im Münchner Lenbachhaus. Dass dieses Museum über eine derart beeindruckende Sammlung von Kunstwerken des Blauen Reiters verfügt, ja, dass überhaupt so eine große Zahl dieser Bilder die Nazizeit und ihre Jagd auf „entartete Kunst“ überstanden hat – das ist neben den eigenen Werken wohl der größte Verdienst der Blaue-Reiter-Frauen. Maria Marc versteckte Gemälde ihres im ersten Weltkrieg gefallenen Mannes jahrelang hinter einem Wandpaneel im Schlafzimmer des Hauses in Ried, Gabriele Münter hortete Kandinsky-Werke in einem trockenen Kellerraum. Zwar hatte ihr langjähriger Gefährte sie zwischenzeitlich verlassen und eine jüngere Frau in zweiter Ehe geheiratet. Aber ihrer künstlerischen Wertschätzung für ihn konnte diese Enttäuschung nichts anhaben.

Münter engagierte sich auch dafür, dass die Bilder des Blauen Reiters schon in den ersten Nachkriegsjahren wieder in München gezeigt wurden, und schenkte der Stadt 1957 über 90 Ölgemälde und zahlreiche Temperabilder, Aquarelle, Zeichnungen, Grafiken und Hinterglasbilder Kandinskys. Die Frauen des „Blauen Reiters“ hielten auch als Freundinnen lebenslang zusammen: vor allem Gabriele Münter und Maria Marc blieben stets in Kontakt, zu ihrem Kreis gehörte auch Elisabeth Macke, die sich als junge Frau noch über die Ambitionen der „Amazonen“ mokiert hatte. Vergeben und vergessen.

Im Alter von beinahe achtzig Jahren erhielt Gabriele Münter den Kunstpreis der Stadt München. „Es ist nun eingetreten, was Kandinsky mir schon früh prophezeit hatte, wenn ich als Frau immer zurückgesetzt und übersehen wurde, dass spät, aber sicher die allgemeine Anerkennung kommen würde“, sagte sie in ihrer Preisrede voller Genugtuung. 1962 starb sie in ihrem Schlafzimmer im „Russenhaus“. An einem Maimorgen, unter einem Himmel, der sich so mächtig ins Zeug legte, als wollte er einen strahlenden Sommer vorwegnehmen.

Südtirol im Winter: Spiel & Rodel gut

Hüttenzauber in der eigenen Stube, Kälbchentaufe im Stall und Einkehrschwung im Top-Skigebiet: Winterurlaub auf dem Bauernhof ist eine Traumkombi für Familien, in denen jeder eine andere Vorstellung hat von einer perfekten Woche im Schnee. 2012 haben mein Mann, meine Kinder (damals sechs und drei) und ich es ausprobiert, darüber geschrieben habe ich in der ELTERN family

 „Psst!“ flüstert Henri durchdringend in mein linkes Ohr. Ich blinzle schlaftrunken in mein Daunenkissen, dann zum Fenster in der Dachschräge. Finster ist es. Nur die Sterne sind weg, die vor ein paar Stunden noch so nah schienen, als könnten sie gleich in unser hölzernes Bauernbett plumpsen. Der aufgeregte Atem meines Sohnes streift meine Wange. „Psst!“ flüstert er noch lauter, „die Tiere schlafen.“ Da hat er höchstwahrscheinlich Recht. Dafür ist Mama jetzt hellwach. Auch wenn sie es sich nicht anmerken lässt.

Stille. Ungefähr zehn Sekunden lang. „Mama?“ „Grmpf?“ „Mama, hat Lotta schon ein Ei gelegt?“ „Nein, Henri, die schläft auch noch.“ Henri stupst mir stumm das geschnitzte Eierkörbchen in die Rippen. Ich verstehe. Ich kapituliere. Denn hier, auf dem Mudlerhof im Gsieser Tal, ist jeder Tag ein bisschen wie Weihnachten: Spätestens um halb sieben sitzen Henri (3 1/2) und Helen (6) senkrecht im Bett, weil sie es nicht erwarten können, in den Stall zu kommen. Jede Ferienwohnung hat eine private Eierlieferantin. Und was gibt es Schöneres, als morgens das noch körperwarme Ei aus der strohgepolsterten Legebox zu nehmen und im Triumphmarsch zum Frühstückstisch zu bringen? Da müssen eben auch die Großen mit den Hühnern aufstehen. Und mit Franz, dem Hahn.

Die Vorstellungen vom Ausschlafen im Urlaub mögen in unserer Familie ein wenig auseinander gehen. Aber sonst ist dieser Südtiroler Milchbauernhof aus dem 18. Jahrhundert mit unserer kuscheligen Ferienwohnung in der ehemaligen Brotkammer ein Sechser im Lotto. Denn er hat alles, was wir zum Winterglück brauchen. Während Helen endlich mal auf Skiern stehen will, reicht für Henri auch der Schlittenhang hinter dem Haus, Hauptsache, es gibt immer genügend Tiere: Stubenkatze und Stallkatze, Küken und Kühe. Und während ich von sonnigen Carving-Hängen träume, schlägt das Herz meines Mannes Dierk für mittelalterliche Burgen und Weinkeller. Aber warum Kompromisse machen, wenn man alles haben kann: am Morgen im Stall den Hasen die Ohren kraulen, am Nachmittag kilometerlange Pisten, abends den leckeren Lagreiner Rotwein auf der Eckbank im Herrgottswinkel? Das alles in einem stillen Seitental Südtirols, mit schneebedeckten Kiefern- und Lärchenwäldern, trutzigen Burgruinen und kleinen Dörfern. Fernab von hochglanzpolierten Après-Ski-Bars und Boutiquen-Bling-Bling, aber dank guter Verkehrsanbindung nur eine dreiviertel Stunde vom vielfältigen Skigebiet Kronplatz entfernt (siehe Kasten S. x).

Natürlich gehört zu einem so zünftigen Winterurlaub auch eine zünftige Urlaubsliebe. Helen hat ihre im Sturm erobert: die Bäuerin Agatha, eine zupackende und äußerst herzliche Person von Mitte 50. Die hat selbst zwei Söhne und eine Tochter großgezogen, lange Jahre als Grundschullehrerin gearbeitet, und eine geradezu magnetische Wirkung auf Kinder. Wenn Agatha auftaucht, gibt es immer etwas Tolles zu tun. Die Füllung für „Tirtlan“ anrühren, das typische Südtiroler Schmalzgebäck. Oder aus der hofeigenen Milch kleine Käsestücke in Herzform herstellen. Oder, besonders verantwortungsvoll: einen Namen finden für ein neugeborenes Kälbchen. Während unserer Urlaubstage kommen gleich zwei zur Welt, und Helen nimmt die Aufgabe ähnlich ernst wie werdende Elternpaare. Schließlich wird der kleine gescheckte Stier John genannt, die braune Minikuh Ada. Dass die meisten Hühner und Kühe heißen wie aus der aktuellen Top-Ten-Liste der Kindervornamen, ist übrigens kein Wunder: Lotta, Emma und Lisa haben gleichnamige Taufpatinnen.

Schon bald bekommt Helens Urlaubsliebe jedoch harte Konkurrenz. Er heißt Stefan, hat ein freundliches sonnengegerbtes Gesicht und ist, jawoll: Skilehrer. Noch dazu ein ganz exklusiver: Für kleine Greenhorns wie unsere Tochter kann man in der Skischule vom Nachbardorf St. Magdalena den Chef persönlich für eine Schnupperstunde mieten. Und so kurvt Helen bald im Schneepflug ihre ersten Meter Hang hinunter und juchzt halb begeistert, halb ängstlich, wenn sich Stefan erst seine Schülerin und dann den Teller des altmodischen Liftes zwischen die Beine klemmt. Bei dem Anblick muss ich an meine eigenen ersten Schwungversuche in den 70er Jahren im Schwarzwald denken. St. Magdalena, das ist: ein einziger Hang, ein einziger Lift, und direkt neben dem Skischulbüro am Fuße des Hügels kräht ein Langschläferhahn auf dem Mist. Sehr zu Henris Freude. Währenddessen bringe ich auf dem Übungshang meine eingerosteten Oberschenkel wieder in Schwung. Auf halber Strecke saust eine Armada von bunt gekleideten Zwergen an mir vorbei, die aussehen, als hätten sie das Carven vor dem Laufen gelernt. Haben sie wahrscheinlich auch. Wer hier groß wird, kennt schon im Kindergarten jeden Berg beim Vornamen.

Damit Papa Dierk nicht noch einen zweiten Tag mit Henri Hühner am Hang jagen muss, haben unsere Bauersleute eine Überraschung in petto: Wintersport für Skiverweigerer! Auf unserer Wandertour am nächsten Tag werden die Schneeschuhe eingepackt, und los geht’s ab dem Lift in St. Magdalena, einen gewundenen Weg bergauf durch den Winterwald. Die Kinder dürfen auf dem Schlitten sitzen, nur an den steilsten Stellen müssen sie ein paar Meter laufen. Aber Agatha weiß, wie man meckernde Flachlandtiroler bei Laune hält: mit Märchen. Von der Superhenne Mina, die bunt sein wollte wie ein Blumenstrauß, und von dem Königssohn und der Mondprinzessin, die erst miteinander leben konnten, als die Dolomiten ihre bleiche Mondlichtfarbe bekamen. Dass der Weg sich gelohnt hat, darüber sind wir uns spätestens einig, als wir auf fast 2000 Metern an der sonnendurchwärmten Holzwand der „Ascht-Alm“-Terrasse sitzen und Hubi vor uns steht. Der Hüttenwirt sieht beinahe aus wie eines der männlichen Models aus der Fremdenverkehrswerbung, und kochen kann er auch noch: Polenta oder Speckknödelsuppe, Hollerschorle oder Helles, man kann sich kaum entscheiden. Irgendwann kommt Töchterchen Laura (3) aus der Wirtsstube gestapft, ganz cool im Fleecepullover, und zeigt ihr Kinder-Karaoke-Set. Während sie mit Henri und Helen die Hütten-Hits der nächsten Saison einübt, bereiten Dierk und ich uns seelisch auf die Schlittenpartie ins Tal vor und genießen den Bergblick vor der Nase. Den haben wir zu Hause in Hamburg eher nicht so.

Was wir auch nicht haben, sind Burgen. Sehr zum Leidwesen meines Liebsten, der seit seiner Grundschulzeit vom Mittelalter-Virus befallen ist. Ich hab’s zwar nicht so mit Rittern & Co., aber mit diesem Ausflugsziel kann Dierk uns alle ködern: Die Kleinstadt Bruneck, mit dem 2011 eröffneten „Messner Mountain Museum“ in der Burganlage aus dem 13. Jahrhundert. Der Südtiroler Ausnahmebergsteiger Reinhold Messner hat dort eine überwältigende Sammlung zusammengetragen, die das Leben von Bergvölkern aus aller Welt dokumentiert: von der bulgarischen Hochzeitstracht bis zum Tiroler Butterstempel, von der Wasserschale aus dem Wadi Rum bis zur Götterfigur aus dem Himalaja. Und zwar nicht hinter Glas und Absperrseilen ausgestellt, sondern zum Erleben und nah Rangehen. In Nullkommanix haben Helen und Henri eine mongolische Jurte erobert, während ich mich wundere, wie gut buddhistische Gebetsfahnen und trutzige Burgmauern zusammen aussehen.

Und noch etwas hat Bruneck: eine schnuckelige Flaniermeile mit südländischem Flair, gesäumt von zwei mittelalterlichen Stadttoren. In den Bars sitzen blondierte Frauen vor ihrem Nachmittags-Prosecco, in den Boutiquen gibt’s italienische Wintermode von Stefanel und Max & Co, und auf einmal spürt man, dass Südtirol genau so nah an Venedig ist wie am Brenner. Jetzt eine wagenradgroße Angebersonnenbrille aufsetzen und ab ins Straßencafé! Aber daraus wird leider nichts. Helen und Henri haben noch ein Date: Um 17 Uhr im Kuhstall, mit Bauer Peter, zum Melken. Und vielleicht auch noch mal eine Runde mit dem Rutschbike auf den Schlittenhang, und dann muss ja auch noch mal jemand nach den Hühnern sehen. Tja. So ist das eben, wenn man im Urlaub alles haben kann.

 

Tipp: Der Mudlerhof (www.mudlerhof.it, Tel. **39/0474/978446) gehört zur Südtiroler Urlaubs-Bauernhofsvereinigung „Roter Hahn“ (www.roterhahn.it) und ist dort als besonders kinderfreundlich ausgezeichnet. Ferienwohnungen für 4-5 Personen, auf Wunsch auch mit Frühstück buchbar.

 

 

 

Die Ippenburg bei Osnabrück: eine märchenhafte Geschichte

Als junge Frau verliebte sich Viktoria von dem Bussche in einen Schlossherren, aber nicht in sein Schloss. Also entschied sie: Das muss zuwuchern. So begann die märchenhafte Geschichte der Gärten von Schloss Ippenburg – happy End inklusive. 2013 hat sie mir fürs MERIAN-Magazin ihre Lieblingsecken gezeigt – vor allem den Garten

 

Es war einmal ein Mägdelein, das wuchs auf in einem großen Garten. Dort säumten die Himbeeren den Weg zur Viehweide, die Erdbeeren standen in geraden Reihen, dass es eine Freude war, und manchmal, wenn ein leiser Wind über die Rabatten strich, dünkte es ihr, dass die Pflanzen mit ihr sprachen: die Löwenmäulchen und die Akelei, der Birnbaum und der Mohn. Als sie zur Frau erblüht war, geschah es, dass ein junger Freiherr um ihre Hand anhielt. Der war stattlich und charmant, doch seine Familie lebte in einem düsteren Schloss, wo rings umher nichts wuchs als Rasen und Rhododendron.

Klingt wie der Anfang eines Märchens, doch das alles gibt es wirklich. Den Mann, das Schloss, und selbstverständlich auch die Hauptfigur: Viktoria Freifrau von dem Bussche, Mutter von vier Kindern und sechs Enkeln. Eine attraktive, drahtige Erscheinung mit blitzenden grünen Augen, farblich passend zu Gummistiefeln und Steppweste. Aufgewachsen auf einem Gutshof in der Lüneburger Heide, seit bald vierzig Jahren verheiratet mit Philip vom dem Bussche, Freiherr zu Schloss Ippenburg. Ein neogotischer Prachtbau, ein norddeutsches Neuschwanstein, eine Art Kreuzung aus Edgar-Wallace-Filmkulisse und dem Harry-Potter-Internat Hogwarts.

Die Familiengeschichte der von dem Bussches ist nicht minder imposant, eine Art Who is Who mitteleuropäischer Geschichte. In der Chronik wimmelt es von Geheimräten, Kammerjunkern und Ministern, von Verbindungen zu den Königshäusern von Preußen und Hannover. Im Jahr 1390 kaufte Ritter Johann von dem Bussche eine Burg in der Hunte-Niederung und baute sie zu einer Festung aus. Im 18. Jahrhundert wurde das alte Gemäuer durch ein Barockschloss ersetzt, wieder 130 Jahre später durch den heutigen Bau mit seinen Türmchen und Erkern.

Das Drumherum interessierte die von dem Bussches über lange Zeit allerdings herzlich wenig. Gärten à la Sanssouci? Fehlanzeige. Gemüse- und Blumenbeete? Mal mehr, mal weniger. Denn die Schlossherren weilten häufig als Politiker in Berlin oder Generäle im Feld, und hatten anderes im Sinn als Dahlien und Borretsch. Viktoria vom dem Bussche erinnert sich, wie sie 1978 kurz vor der Geburt ihres zweiten Sohnes Viktor im Schloss einzog: „Das war mir alles zu grau, zu düster. Ich dachte: Das muss zuwuchern.“ Und so begann ihre persönliche Dornröschen-Geschichte, unter umgekehrten Vorzeichen.

Nicht nur das Gebäude selbst war einschüchternd für die junge Freifrau, auch die Nähe zur Familie ihres Mannes nicht ohne Probleme. „Wir lebten unter einem Dach mit meinen Schwiegereltern. Tolle Leute – aber anstrengend. Ich fühlte mich die ganze Zeit wie auf dem Präsentierteller.“ Dazu kam eine sportliche Familienplanung: vier Kinder in fünf Jahren. Schön, aber auch ganz schön stressig. Was lag näher für ein Landkind, als sich draußen ein eigenes Reich zu schaffen? „Der Garten war mein Druckausgleich“, sagt sie.

Dabei fielen die ersten Versuche eher bescheiden aus: mickrige Triebe, enttäuschende Rosenblüten. Doch so schnell gab sie nicht auf. Den magischsten Ort im Schlosspark entdeckte sie im Sommer nach Viktors Geburt: einen alten Obst- und Gemüsegarten, verborgen hinter mittelalterlichen Mauern. Das Glashaus war von Brennnesseln und Weinranken überwuchert, Tontöpfe zerbrochen, und hinter einer Tannenbaumschonung standen knorrige Pfirsichbäume. Auf dem Boden der Humus von 600 Jahren. Die ideale Grundlage für das Projekt „Küchengarten“. Fürstliches Taschengeld für die Kinder war ebenfalls auf Jahre gesichert. „Für eine Stunde Jäten oder Umgraben gab es 50 Pfennig“, erinnert sich Viktor von dem Bussche schmunzelnd.

Und so hätte sie weitergehen können, die Geschichte vom Landkind, das nie im Schloss leben wollte und sich stattdessen sein magisches Open-air-Reich schuf. Aber zu einem echten Märchen fehlt noch etwas: eine Krise, ein Kampf mit dem Drachen. Die Rolle des Drachen übernahm der Finanzberater der von dem Bussches. Der sagte eines Tages mahnend zu Philip: „Für das Geld, das Ihre Frau für Pflanzen ausgibt, können Sie ihr jede Woche ein Ticket nach Paris buchen. Dort kann sie sich ja einen Blumenstrauß kaufen.“ Aber da kannte er die rebellische Freifrau schlecht: „Ich wollte keinen Blumenstrauß aus Paris! Ich wollte meinen Garten!“ Die rettende Idee: ein Event für Besucher und Aussteller. Zur Vorbereitung sah sie sich Schauen in Großbritannien und den Niederlanden an, und lud schließlich im Sommer 1998 zum ersten „Ippenburger Schloss- und Gartenfestival“. Um ihre Leidenschaft weiter zu finanzieren, aber auch mit einer gehörigen Portion Besitzerstolz: „Wenn man etwas so Schönes geschaffen hat, muss man es auch zeigen!“ Dass gleich im ersten Jahr 10.000 Gäste kamen, damit hätte wohl keiner gerechnet. Schon gar nicht der Finanzberater.

15 Jahre später ist aus dem zarten Pflänzchen ein imposantes Gewächs geworden: ein großes, öffentliches Gartenfest im Sommer, mit Ablegern im Frühjahr und Herbst. Die bekannte Berliner Gartenbauarchitektin Cornelia Müller lud im Expo-Jahr 2000 zu einem Wettbewerb für Garten- und Landschaftskunst auf dem Gelände, Silvan Luth, Handwerker und Künstler aus dem nahen Ort Bad Essen, steuerte surreal-poetische Installationen für die Schauen bei. Sein einsamer Briefkasten auf einer Insel im Schlossgraben fällt sofort ins Auge, wenn man das Gelände betritt. 2010 war Ippenburg schließlich Teil der niedersächsischen Landesgartenschau. Woher kommt die große Anziehungskraft der Festivals? „Wir leben in einer virtuellen Welt“, sinniert Viktoria von dem Bussche, „die Menschen haben eine große Sehnsucht nach etwas Greifbarem, Haptischem, nach Sinnlichkeit.“ In Ippenburg heißt das: durch Labyrinthe irren, ins Rosarium hineinschnuppern, in historischen Schaugärten auf Zeitreise gehen, in der Wasserlandschaft Flöße bauen. Und dann ist da natürlich der prachtvolle Küchengarten: mit Pastinaken und Borretsch, eigenem Bienenstock, Dahlien und Zinnien, seltenen Gemüsesorten wie Kartoffeln vom Typ „Blue Kongo“ oder Rübchen vom Typ „Carotte blanche des Vosges.“

Hier ernten Spitzenköche wie Thomas Bühner vom Osnabrücker Drei-Sterne-Restaurant La Vie. Und hier hat auch Emma ihr eigenes Beet. Das ist die älteste Tochter von Viktor und seiner israelischen Frau Deborah. Anders als ihre Großmutter (genannt „Nonna“) ist sie nicht nur gerne Nachwuchs-Gärtnerin , sondern auch gerne Prinzessin, liebt selbst genähte Kleidchen und ihr Kinderzimmer mit den zartrosa Wänden. „Wenn ich fünf bin, ziehe ich in ein Schloss und bekomme einen Hund“, das hat sie ihren Kindergartenfreunden erzählt. Hat keiner geglaubt, aber genau so ist es gekommen. Seit Frühjahr 2013 wohnt die ganze Familie auf dem Schloss: Emma, ihre Eltern und Geschwister, und ein Parson Russell-Terrier namens Buddy. Nach einigen Jahren in Berlin hat Viktor von dem Bussche die schlosseigene Landwirtschaft übernommen, mit Schweinezucht, Mais, Zuckerrüben und Wald. Ein lässiger Großgrundbesitzer, von den locker geschnürten Boots und dem Lederflickenjackett bis zum trendigen Vollbart.

Im Lauf der nächsten Jahre sollen er und seine Frau außerdem in die Organisation der Gartenschauen einsteigen. „Ich habe das Festival geschaffen, aber was die Zukunft betrifft, bin ich komplett unsentimental“, beteuert Viktoria von dem Bussche. „Ich gebe die Organisation ab, wenn ich sicher bin, dass meine Nachfolger die Qualität der Veranstaltung garantieren können. Das kann ein paar Jahre dauern, beginnt aber sofort.“ „Meine Mutter arbeitet hart daran, loszulassen“, so sagt es der Sohn, „davor habe ich den größten Respekt.“

Dazu gehört auch, dass Viktoria und Philip aus dem Schloss auszogen, als die junge Familieb nennt sie das mit sympathischem Understatement. Währenddessen räumen Sohn und Schwiegertochter im Schloss mit den Bausünden der Vergangenheit auf: beige Wandfarbe aus den 20er Jahren und abgehängte Decken aus den 70ern entfernen, Deckenmalereien freilegen, die Sauna aus der Küche mit den Delfter Kacheln aus dem 16. Jahrhundert hinauswerfen.

Und Viktoria von dem Bussche hat jetzt einen neuen Lieblingsplatz. Wenn sie an der Glasfront ihrer neuen Terrasse steht, ist sie glücklich wie ein kleines Mädchen: „Jahrzehntelang habe ich aus jedem Fenster auf den Schlosspark geschaut. In meinem neuen Haus sehe ich endlich wieder Land – Trecker, Felder, Wiesen. Wie in meiner Kindheit.“

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann gärtnern sie noch heute.

Ahrenshoop: Leben mit der Kunst

Vor 120 Jahren entstand die Ahrenshooper Künstlerkolonie, zwischendrin fiel die Schöne auf dem Fischland vorübergehend in einen Dornröschenschlaf. Bis eine Reihe von Menschen mit Leidenschaft für Kunst und Kultur sie wieder wachküsste. 2014 war ich dort und habe für MERIAN diesen Text geschrieben

 Manchmal liegt das Paradies ganz nah. Manchmal muss man nur einen Hügel überqueren, um an den Ort zu kommen, an dem alles stimmt: die Farben, das Licht, die Inspiration. Manchmal muss man aufbrechen, um Heimat zu finden.

So etwa muss er gedacht haben, der Berliner Künstler Paul Müller-Kaempff, als er im Jahr 1889 mit einem Malerfreund von seinem Urlaubsort Wustrow zu einem Spaziergang am Ostsee-Hochufer aufbrach und ein paar Kilometer weiter nördlich, hinter einer Anhöhe, auf ein verwunschenes Fischerdorf stieß. Die See auf der einen, der Bodden, das salzärmere Binnengewässer, auf der anderen Seite der schmalen Halbinsel, wie zwei riesige Spiegel, die das Licht reflektierten. Dünen und bunte, schilfgedeckte Katen, knorrige, vom ständigen Wind geformte Bäume, großäugige Kühe, Fischer, die am Strand ihre Netze flickten – ein Ort wie geschaffen für den Kunst-Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts. Denn der hieß: Raus aus den Städten, rein in die Natur, mit Hilfe von Leinwand, Palette und Klappstaffelei das Licht einfangen. So wie es die französischen Kollegen im Dorf Barbizon vorgemacht hatten.

Ahrenshoop, das war die norddeutsche Antwort auf Barbizon. Zwar hatten schon Künstler vor Müller-Kaempff die besondere Stimmung des Ortes auf Gemälde gebannt. Aber er war es, der kam, sah und blieb. Geistes- und Geschäftsmann zugleich, gründete er die „Malschule St. Lucas“ („Vollpension und Malunterricht 100 Mark monatlich“), eröffnete die erste Pension, machte den Ort zum Anziehungspunkt sowohl für seine Künstlerfreunde als auch für Höhere Töchter mit kreativen Ambitionen. Und schuf damit eine Verbindung, die bis heute prägend ist für den schmucken Ort an der Grenze zwischen Fischland und dem Darß: Kunst und Tourismus. Ausstellungen und Auktionen locken ein gebildetes und gut betuchtes Publikum. Tendenz: Lieber Gucci als Gummistiefel, lieber „Trilogie vom Seefisch“ als Heringsbrötchen. Kenner kommen im Mai oder im milden Oktober, nicht im August, wenn sich Tagesgäste in solchen Massen über die Dorfstraße ergießen, als wär’s eine Mai-Parade in Ostberlin 1970.

Ziemlich genau dort, wo Müller-Kaempff vor mehr als einem Jahrhundert über den Hügel kam, entstand 2013 ein Bau, der an die Gründer erinnert, und alle, die nach ihnen kamen: Das Kunstmuseum Ahrenshoop, entworfen vom renommierten Berliner Architektenbüro Staab. Wie bei einem traditionellen Gehöft stehen hier fünf einzelne Häuser dicht zusammen, verbunden unter einem Flachdach, verkleidet mit Baubronze. Ein Material, das im Lauf der Jahre seinen Hochglanz verliert und nachdunkelt wie die Rohrdächer der Fischerkaten. Eine Mischung aus Bauhaus-Schlichtheit und Tradition, ein Kunst-Tempel, aber kein Denkmal der Vergangenheit, sagt die junge Museumschefin Katrin Arrieta: „Ahrenshoop hat immer einen lebendigen Bezug gehabt zu den Kunstströmungen Europas, von der Gründungszeit der Kolonie bis heute.“ In wechselnden Ausstellungen macht die Rostocker Kunsthistorikerin diese Verknüpfungen sichtbar: mal klassische Seestücke, kombiniert mit sperrigen Video-Installationen, mal ein sattfarbiges Strandbild der Expressionistin Marianne Werefkin im gleichen Saal wie die düsteren Meeres-Ansichten von Michael Morgner, einem Chemnitzer Künstler aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung.

Überhaupt, die DDR. War nach dem ersten Weltkrieg der Ruhm der frühen Jahre etwas verblasst, besann sich 1946 Johannes R. Becher, der erste Kulturstaatsminister der jungen Republik, auf den inspirierenden Platz am Meer. Er machte die frühere Malschule des Künstlerkolonie-Mitbegründers Friedrich Wachenhusen zu seinem Sommerhaus und erklärte Ahrenshoop zum „Bad der Kulturschaffenden.“ Das ließen die sich nicht zwei Mal sagen: Alle waren sie hier, von der ostdeutschen Malerei-Ikone Willi Sitte bis zu Uwe Johnson, der seine mecklenburgische Heimat in sperrig-modernen Romanen feierte. Eine Ferienkolonie für Linientreue war das Dorf trotzdem nicht, glaubt der Mittsechziger Hans Götze, seit 1994 ehrenamtlicher Bürgermeister des Ortes: „Hier war einiges möglich, das woanders nicht ging. Abstrakte Kunst, Avantgarde.“ Vielleicht auch, weil das Dorf noch lange Zeit gefühlte Lichtjahre entfernt lag von allem. Die Straße wurde erst Mitte der 50er Jahre geteert, vorher war hinter dem Nachbarort Wustrow die Welt zu Ende.

Auch Götze, gebürtiger Sachse, kam erst einmal nicht weiter als Wustrow: Als junger Mann machte er eine Ausbildung zum Funkoffizier an der dortigen Seefahrtsschule. Allerdings stand nicht nur Navigation auf dem Stundenplan, sondern auch Malen und Zeichnen. Als Freizeitbeschäftigung, damit die jungen Kerle in den langen Tagen auf See etwas Sinnvolles mit sich anzufangen wussten. Bei Götze wurde mehr aus dem Flirt mit Farbe und Pinsel: Der drahtige Bartträger nimmt heute mit seinen Zeichnungen und Aquarellen an Ausstellungen teil und gibt Ferienkurse für Hobby-Maler. An Ahrenshoop sattsehen kann er sich noch immer nicht: „Es gibt so viele interessante Ecken hier, verschachtelte alte Katen, die Schichtungen von Himmel, Meer und Land – man muss nur die Augen offen halten.“ Klar, dass einer wie er auch als Bürgermeister die Kunst fördert, wo er kann. Nur wenn er selbst mit der Klappstaffelei unterwegs ist, wird Lokalpolitik zur Nebensache: „So lange ich male, kann neben mir das Dorf abbrennen, ohne dass ich etwas davon merke.“

Es sind Menschen wie Hans Götze, die mit ihrem Engagement nach der Wende dafür gesorgt haben, dass Ahrenshoop nicht zu einem angestaubten Freilichtmuseum verkam. Sondern zu einem Gesamtkunstwerk wurde, wo manchmal nur ein paar Schritte das Solide vom Surrealen trennen, das Avantgardistische vom rein Dekorativen. Hier die Verkaufsgalerie mit den zweitklassigen Stilleben, dort der verwunschene Skulpturengarten des „Neuen Kunsthauses“, wo wie von Zauberhand weißes Garn die Baumstämme umwebt und mannshohe Mikadostäbchen sich im Gras aneinander lehnen; auf der einen Straßenseite schnelle Strandaquarelle, auf der anderen der traditionsreiche „Kunstkaten“, erbaut 1909 auf Initiative von Paul Müller-Kaempff, in dem zwischen kühlen, grauen Stellwänden zeitgenössische Künstler präsentiert werden. Man kennt sich am Ort, man spricht Ausstellungsthemen ab, man schätzt sich. In Ahrenshoop entstehen Künstlerfreundschaften, gemeinsame Projekte, Ideen.

Und dann ist da, last but not least, auch noch die Liebe. Die hat Renate Löber von Berlin an die Ostseeküste gebracht. Ohne sie und ihren Mann Friedemann gäbe es wohl einen der schönsten Kunst-Treffpunkte nicht, das „Dornenhaus“. Ein Magnet, der alle gleichermaßen anzieht: Sammler wie Kunstbanausen, manchmal auch Kulturprominenz wie die Schauspieler Jan Josef Liefers und Henry Hübchen.

Zehn Jahre nach der Wende war es, als die Löbers gemeinsam die uralte Kate auf der Boddenseite kauften und damit vor dem Verfall bewahrten. Die beiden waren damals schon nicht mehr ganz jung, er verwitwet, sie geschieden, und wagten einen gemeinsamen Neuanfang in diesem Haus mit seiner beeindruckenden Geschichte: Ab dem 17. Jahrhundert Bauern-, Seefahrer und Zollhaus, zu DDR-Zeiten Feriendomizil für illustre Gäste wie Bert Brecht und Helene Weigel. Friedemann Löber, Sohn einer Künstler- und Keramikerfamilie, stellt in seinem Atelier im Gartenhaus die traditionsreiche Fischlandkeramik her. Teller, Tassen, Vasen mit ländlichen Motiven wie Fische, Vögelchen, Stechmücken, in aufwändiger Ritz-Mal-Technik gestaltet. Renate, eine charismatische Person mit grauer Lockenmähne und blitzenden Augen, ist die Seele des Hauses: Sie organisiert nicht nur wechselnde Ausstellungen von Künstlern mit Bezug zum Ort, sie bäckt auch selbst große Bleche mit Butterkuchen, Streuselkuchen und Schoko-Kirsch für die Vernissagen.

„Wir sind ein offenes Haus“, sagt sie, und sie meint das ernst. Im Sommer zieht der Skulpturengarten mit den Holzbänken Spaziergänger an, im Winter dürfen Gäste auch mal auf einer alten Kirchenbank in der Wohnküche Platz nehmen, zwischen Wänden voller Kunst und alter Kuchenformen. Dann erzählt Renate aus der langen, Löber’sche Familiensaga. Eine Geschichte wie von Thomas Mann erdacht, voller Leidenschaft und Betrug, Kunstsinn und Überlebenskampf. Mit bemerkenswerten Figuren wie Friedemanns Mutter Frida, die ihr Leben gern noch mehr der Kunst gewidmet hätte, wären da nicht die vier Söhne und die vier Töchter gewesen. „Die schönsten Porträts hat Frida Löber von ihren schlafenden Kindern gemacht“, sagt Renate Löber, „denn erst wenn die abends im Bett waren, hatte sie Zeit zum Malen.“

Ahrenshoop ist eben nicht nur ein Ort der Bilder, sondern auch ein Ort der Geschichten. Im heutigen „Künstlerhaus Lukas“, der ehemaligen Müller-Kaempff’schen Malschule, geben sich im Vier-Wochen-Takt Schriftsteller und Künstler, Komponisten und Choreographen aus Deutschland, Skandinavien und dem gesamten Ostseeraum die Klinke in die Hand. Hier, in dieser verwinkelten Villa mit den Holzdielen, den schönen alten Türbeschlägen und den Appartements von klösterlicher Schlichtheit, schlägt das kreative Herz der Ahrenshooper Gegenwart.

Die simple Beschwörung der Schönheit, um die geht es hier jedoch nur selten. 120 Jahre nach Gründung der Künstlerkolonie wird das Idyll lieber lustvoll gegen den Strich gebürstet. Etwa in den Montagen des Berliner Fotokünstlers Martin Tervoort, wo sich die Boddenlandschaft im Lack eines Autos spiegelt und der frühere Busfahrer des Ortes mit leeren Augen in die Kamera blickt. „Mich interessiert das Gebrochene, das Störende in der Schönheit“, erzählt Tervoort. Gemeinsam mit anderen Stipendiaten bereitet er gerade eine Ausstellung vor, der Titel bezieht sich auf Übervater Müller-Kaempff: „Wir sind Paul – oder das unperfekte Paradies.“

Doch selbst die Generation iPad tut sich mitunter nicht leicht mit der Kritik am Idyll. Und wird ganz weich angesichts von Himmel, Meer und Dünen. Die preisgekrönte Schriftstellerin und Lukas-Stipendiatin Judith Zander, Jahrgang 1980, bezeichnet Ahrenshoop als „pommer’sches Arkadien“, als „Anderland“, und wenn darin Ironie mitschwingt, dann kaum hörbar. „Was würde hier wohl ein Häuschen kosten?“, fragt sie sich bei einer Lesung, und verwirft den Gedanken gleich wieder: „Seine große Liebe heiratet man nicht.“ Genau so wenig, wie man das Paradies jemals ganz erreichen kann. Aber es gibt diese Orte und diese Momente, da ist es verdammt nah.