Ältere Semester – das Spätstudiumsblog, Teil 5

Einmal Rundumblick, bitte: Warum mein berufsbegleitendes Studium auch ein Studium Generale in Sachen Perspektivwechsel ist. Und warum ich selbst nicht nur Lernende bin, auch Lehrende

Stellt euch ein Bürogebäude vor. Oder, sollten wir etwas förmlichere Umgangsformen pflegen: Stellen SIE sich eins vor. 

Am besten so eines wie das alte Gruner + Jahr-Gebäude in Hamburg, mit Elb- und Elphi-Blick: verschachtelt, vielstöckig, architektonisch ambitioniert (okay, in Hamburg sehen viele architektonische Landmarks aus wie Schiffe, Wellen et al, aber das nur am Rande). 

Und nun stellt euch mal Arbeitsalltag vor, wenigstens so, wie es bis vor fünf oder zehn Jahren üblich war, in der Old-Work-Welt: Jeder hat seinen eigenen Schreibtisch, die höheren Ränge auch ihr eigenes Büro. Man durchquert das Gebäude immer auf die selbe Weise und begegnet in den Arbeitsstunden hauptsächlich den eigenen Kolleg:innen, blickt im selben Winkel hinaus auf die Welt, hat beruflich ähnliche Themen, eine ähnliche Wahrnehmung, eine ähnliche Wahrheit.

Vielleicht steht man in der Kantinenschlange mal hinter jemandem aus einer ganz anderen Abteilung, aber auch da kommt man selten ins Gespräch. 

Eines Tages hat man eine spektakuläre Idee. Man nimmt mal einen anderen Weg durchs Gebäude. Hört auf den Fluren und am Kopierer, über was sich die Leute auf anderen Etagen so unterhalten (surprise: über ganz andere Dinge!)

Geht einmal um das ganze Gebäude herum, und hat plötzlich einen anderen Blick auf das Große Ganze, vielleicht die schäbige Rückseite der schönen Fassade. Und merkt, dass die eigene Wahrheit nur ein kleines Puzzleteil ist. 

Ungefähr so fühlt sich gerade mein Studium an der HMS an, gegen Ende des ersten von vier Semestern.

Ich dachte, ich weiß Bescheid über meine Branche (auch wenn mir klar war, dass ich von einigen Bereichen deutlich weniger weiß als von anderen). Sitze immer wieder mit Menschen zusammen, die aus einem ähnlichen Blickwinkel schauen: zum Beispiel weil sie ähnlich alt sind wie ich, ähnlich mit Printmedien sozialisiert, mit ähnlichen Perspektiven in den Job gestartet sind. 

Und deshalb ziemlich betroffen, wenn große Verlage nicht nur ihre Gebäude verkleinern, sondern die Abrissbirne auf bisherige Geschäftsfelder loslassen (das Bild oben stammt vom Februar 2023, als sich Teile der Belegschaft und einige Freie (including me) versuchten, gegen die radikale Schrumpfkur beim Verlag mit dem schiffsförmigen Gebäude zur Wehr setzten, selbstredend erfolglos).

Jetzt sitze ich ein bis zwei Mal monatlich mit Kolleg:innen zusammen, die, um im Bild zu bleiben, einen ganz anderen Platz in dem großen Gebäude namens „die Medienlandschaft“ haben. 

  • Weil sie beim Fernsehen, beim Rundfunk, in einer Agentur, bei einem Zeitungskonzern, als Social-Media-Redakteur:innen arbeiten.
  • Weil sie jünger sind, andere persönliche und professionelle Hintergründe haben, zum Teil andere Muttersprachen sprechen. 
  • Weil sie zum Teil Jobs haben, die es noch vor fünf Jahren nicht gab, ganz zu schweigen von den Neunzigern, als ich gestartet bin: zum Beispiel als „Conversion-Redakteur“, der bei einem Zeitungskonzern dafür zuständig ist, dass aus einer Berührung mit Gratis-Inhalten oder Social-Media-Content einer Zeitungsmarke am Ende ein bezahltes Digitalabo wird (der Kontakt also also „konvertiert“).
  • Weil sie das Abenteuer einer Gründung gewagt haben. Etwa die Kolleginnen, die Kohero machen, ein Online- und Printmagazin, in dem Geflüchtete und migrantische Menschen zu Wort kommen. 

Es ist eine einzigartige Kombination, die mich dazu bringt, nochmal einen neuen und frischen Blick auf das zu werfen, das ich seit Jahrzehnten mache: die Studieninhalte (die ich ständig mit meinem eigenen Wissen und meinen Erfahrungen abgleiche und ergänze) plus diese Begegnungen, die mir ständig neue Perspektiven eröffnen. 

20 Jahre jüngere, die mit anderen Erwartungen, anderen Vorstellungen in ihr Berufsleben starten als ich damals. Und so wie ich jeden Tag selbstverständlich Geglaubtes hinterfrage, so sehr öffnen sich für mich Denkräume:

Wenn ich mich nochmal anders aufstellen will im Journalismus, wo und wie könnte das sein? 

Wo genau das hinführt, weiß ich noch nicht, aber: Trust the process – das wird sich finden.

Umgekehrt bin ich in diesem Spiel ja nicht nur einseitige Beobachterin. Sondern eine Einladung für andere, die eigene Perspektive überdenken.

Beispiel gefällig?

Gestern, nach der Seminar-Mittagspause, kam ich mit einem Studenten einer anderen Fachrichtung ins Gespräch.

Ein angehender Master of Business Administration, der ebenfalls im Medienbereich arbeitet, und mit dem handelt, was man neudeutsch Content nennt. Inhalten also.

Netter Typ im Hoodie, der den Wert eines Textes naturgemäß in einer ganz anderen Währung misst als ich. 

Um im Bürogebäude-Bild zu bleiben: Er sitzt nicht auf meinem und nicht mal auf einem anderen der Redaktionsflure, sondern in der Geschäftsführung – zwei Welten, die in einigen Verlagen tatsächlich auch räumlich getrennt sind.

Beim alten Jahreszeiten-Verlag in Winterhude waren die Teile durch eine potthässliche Straßenbrücke verbunden, die wir intern „die Seufzerbrücke“ nannten.

Und was studierst du so?

Der Student also (der wie ich seine Zusatzausbildung mit Berufstätigkeit kombiniert) hörte sich interessiert an, was ich zu sagen hatte: Weniger Printmagazine auf dem Markt, noch dazu welche, die bereit sind, zu fairen Preisen Texte zu beauftragen, und mein Problem, dass damit meine wichtigste Cash Cow bedroht ist. 

Darüber wunderte er sich und fragte, warum es denn Print sein müsse.

Text sei schließlich Text, und es gäbe doch genügend Bedarf für Text im Web. 

It’s the economy, stupid!

Bill Clinton, 1992

Er war nahezu bestürzt, als ich ihm erzählte, dass auch bei großen Medienkonzernen nur ein Bruchteil der Honorare für reine online-Texte gezahlt wird im Gegensatz zu Magazintexten.

Dass ich also folglich doppelt bis dreimal so viel arbeiten müsste für dasselbe Geld.

Und ich sah ihn meinerseits mit großen Augen an: Wie bitte, du arbeitest in der Medienbranche und weißt das nicht?

Aber genau das ist der Punkt: Wir alle haben in Wirklichkeit viel zu wenig Ahnung von den Herausforderungen, den persönlichen Zielen, den Antreibern all derer, die mit uns im selben Arbeitsumfeld unterwegs sind, nur an anderen Stellen. 

Wir müssen uns beileibe nicht in allem einig sein in unseren Einschätzungen, Werten, Zielvorstellungen. Aber wir sollten sie wenigstens kennen.

Sicher ist das in anderen Berufsfeldern ähnlich. Und nein, ein Studium ist sicher nicht der einzige Weg, daran etwas zu ändern.

Aber ich glaube, er ist ziemlich zielsicher.

Gut, dass wir gesprochen haben! Und es weiter tun.

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Ältere Semester – das Spätstudiumsblog, Teil 4

Von Käse und Korrelationskoeffizienten: Warum ein Studium mit 50+ lang vergessene Wissensschnipsel überraschende Volten schlagen lässt

Damals, in der WG, haben wir uns mal etwa drei Monate fast ausschließlich von Gorgonzolanudeln ernährt.

Nicht, weil wir so scharf darauf waren, sondern wegen des Überangebots im Kühlschrank. Und das wiederum hatte mit meinem Studentenjob zu tun.

Ich arbeitete tageweise für ein Marktforschungsinstitut, das Leute in sein Studio am Sendlinger Tor in München zerrte, um sie dort Lebensmittel testen zu lassen, bevorzugt Milchprodukte, also Joghurt, Quark, Käse Co. Die Leute bekamen dann zum Beispiel zwei Sorten Fruchtquark und ein kleines Löffelchen hingelegt und mussten auf einer Skala von eins bis zehn angeben, wie leicht, frisch oder gesund sie die Probierhäppchen einschätzten. Ob der Salzgehalt zu niedrig, zu hoch oder gerade richtig war, und ob sie das Produkt „auch Kindern geben“ würden (aus irgend einem Grund die Lieblingsfrage des Instituts, sie kam immer, außer bei Sekt).

Das trugen wir dann in Fragebögen ein, zusammen mit den soziodemographischen Angaben, und da wurde es regelmäßig interessant. Denn wichtig an unserem Job, das schärfte uns die Chefin ständig ein, waren die korrekten Quoten der Testpersonen. Also etwa: Frauen, Männer, Altersgruppen, Bildungshintergrund.

30 Jahre später: 30. Geburtstag einer Mitstudentin, Reeperbahn, 2024

Waren junge Frauen gefragt, war es ganz einfach. Dann schickten wir einen Kollegen zum „Baggern“ auf die Straße, einen extrem gut aussehenden Typen mit iranischen Wurzeln, der eigentlich gar nichts tun musste außer Lächeln. Dann waren Frauen gleich welchen Alters und Bildungsabschlusses in der Regel bereit, mit ins Studio zu kommen und auch die absurdesten Fragen zur Leichtigkeit von Dessertcremes zu beantworten.

Fehlten hingegen Männer über 60 mit mittlerem Schulabschluss, war unsere Wunderwaffe wirkungslos. Die winkten meist ab und murmelten etwas unverständliches auf bayerisch. Wenn alles nichts half, behalfen wir uns mit fiesen Tricks: Wir erfanden Testpersonen und füllten die Fragebogen einfach selbst aus.

Und damit das nicht auffiel, mussten halt auch die zu testenden Lebensmittel verschwinden. So waren die Kühlschränke unserer WGs regelmäßig randvoll mit Milchprodukten aller Art. Besonders lustig war das Fragebogen-Selbstausfüllen, glaube ich, beim Sekt-Test – da haben wir uns gleich zwei, drei Fläschchen aufgemacht, um unsere Kreativität anzuregen.

Wir waren der Relotius unter den Marktforschungs-Jobber:innen.

Warum mir neulich diese fast vergessene (und legal mit Sicherheit verjährte) Anekdote aus den frühen Neunzigern einfiel? Nun: Studierendenjobs brauche ich in meinem neuen Masterstudium an der HMS keine mehr, ist ja berufsbegleitend. Aber beim letzten Seminar zum Thema quantitative Sozialforschung (oben und unten im Bild: unsere Dozentin Anna Freytag) stellt ich erstaunt fest, was alles so auf meinem mentalen Dachboden herumlag und eigentlich noch gut war. Skalierte Fragen? Da war doch was? Ja, klar, so sollten doch früher schon die Testpersonen die Leichtigkeit von Fruchtquark einschätzen.

Und mein erstes Studium, was mit BWL? Offenbar auch nicht ganz umsonst: Da habe ich mal Statistik gelernt. Ich hatte von daher zumindest eine vage Ahnung von Normalverteilung, Standardabweichungen und Korrelationskoeffizienten, stellte ich fest. Nicht mehr ganz frisch, aber als Begriff auch nicht ganz neu. Immerhin: Das hieß 1991 schon so, auch vor Erfindung der digitalen Welt für alle.

Akku voll! Nachladen mit Sozialforschungsexpertin Anna Freytag (c) Verena Carl

Je länger ich dabei bin, desto mehr stelle ich fest: Auch wenn ich in vieler Hinsicht – vor allem digitale Tools – anderen Studierenden hinterherhinke, immer wieder fügen sich alte und neue Puzzleteilchen zusammen wie beim Tetrisspielen. Ein gutes Gefühl. Die Teilchen setzen sich aus vielen verschiedenen Töpfen zusammen: Vor allem fast 30 Jahre Berufserfahrung, aber auch vergessen geglaubtes Wissen aus allen möglichen Bereichen – etwa diesem absurden Produkttester-Nebenjob, mit dem ich mir 1991 das absurd teure Münchner Nachtleben finanzierte.

Man ist vielleicht nicht mehr so richtig nah dran an Theorien, Tools und Lernmethoden wie diejenigen, die gerade erst ihr Bachelor-Studium hinter sich gebracht haben. Aber dafür sitzt man in einer gut gefüllten mentalen Vorratskammer und bringt manchmal erstaunliche Assoziationsketten zum Leuchten.

Oder, wie es mir in einem Interview einmal die Bildungsforscherin Elsbeth Stern so schön auf den Punkt gebracht hat: Alles Lernen ist Verknüpfen! Da ist es manchmal gar nicht verkehrt, ein paar Knotenpunkte mehr zu haben. Der Spruch „Nichts im Leben passiert ohne Grund“ bekommt nochmal eine ganz andere Bedeutung. 

Und was gut ist, kommt wieder. Ich kann mittlerweile sogar wieder Nudeln mit Gorgonzolasauce sehen, ohne dass mir schlecht wird. Es hat aber ungefähr 20 Jahre gedauert.

Vielleicht kann ich sie sogar irgendwann wieder essen.

Ältere Semester – das Spätstudiumsblog, Teil 3

Toolissimo!, oder: warum ich immer noch im Grundkurs fürs Sägenschärfen abhänge

Vor einiger Zeit postete ein geschätzter Kollege irgendwo im Social-Media-Kosmos eine kurze, gleichnishafte Geschichte, die mich ins Grübeln brachte. 

Ein Mann läuft durch den Wald und trifft dabei einen Waldarbeiter, der dabei ist, einen Baum zu fällen. Der Waldarbeiter müht sich redlich ab, es geht schwer voran, und als der Spaziergänger näherkommt, fällt ihm auf: Die Säge müsste dringend mal geschärft werden. Das sagt er ihm dann auch, ein Tipp unter Freunden. Doch der Waldarbeiter winkt ab, müde, wütend, genervt: „Keine Zeit! Ich muss arbeiten!“

Ich fühlte mich zutiefst getroffen. Story of my life.

Es gibt viele Gründe, warum ich mich mit über 50 nochmal für ein Masterstudium entschieden habe. Nicht, um meine berufliche Grundorientierung zu verändern, sondern um in meinem Beruf als Journalistin noch lange Zeit weiterarbeiten zu können. Einer der Gründe ist diese Geschichte: Ich nehme mir jetzt endlich Zeit, meine Säge zu schärfen.

Meine erste Powerpoint, Slide 1: Sogar Audio- und Videobeispiele eingefügt!

Und, um im Bild zu bleiben: Ich setze meinen gesamten Werkzeugkasten neu auf. Was dem einen sein samstäglicher Baumarktbesuch, ist mir mein zwei- bis dreiwöchentliches Wochenendseminar an der HMS. Drei Jahrzehnte bin ich ausgekommen mit einem Werkzeugkasten, in dem nicht viel mehr drin war als ein Hammer, ein Korkenzieher und ein ausgeleierter Zollstock – jetzt muss es alles auf einmal sein, der Akkubohrer, die Wasserwaage, der Phasenprüfer und so weiter und so fort.

Als ich in den Neunziger Jahren als Magazinjournalistin anfing, war die größte Neuerung WYSIWIG – what you see is what you get, sprich: Man sah auf dem Monitor jetzt tatsächlich das Layout der Magazinseite und konnte die entsprechenden Textkästen befüllen, vorher war das der Grafik vorbehalten. Und dann kam dieses Internet, was praktisch war, weil man jetzt nicht mehr bis abends um 22 Uhr in der Redaktion sitzen musste, um jemanden am Vormittag an der amerikanischen Westküste zu erreichen, sondern eine E-Mail schreiben konnte. Irgendwann kamen Suchmaschinen: Yahoo und Altavista.

Natürlich bin ich auf diesem Stand nicht stehen geblieben, wie auch. Aber trotzdem bin ich mit dieser Grundausstattung – Word, E-Mail (und andere Kommunikationsmedien), Google, später noch ein bisschen WordPress und Social Media – ziemlich weit gekommen. Neue Tools dazu lernen? Geht nicht, keine Zeit, siehe oben. War auch nie wirklich notwendig beim Text- und Bücherschreiben.

Steht ja auch so ähnlich in meinem LinkedIn-Profil: Eier, Wolle, Milch. Kann nur schreiben, das aber über fast alles.

Ein trotziger Stolz, den ich mir lange genug bewahrt habe. 

Meine erste Powerpoint, Slide 2: Jawoll, interaktive Elemente gab es auch (analoge Gesprächsaufforderung!)

Jetzt auf einmal sitze ich in einer Gruppe von Endzwanzigern, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit Powerpoint, Audacity, iMovie, Photoshop und irgendwelche coolen kleinen Effektgeschichten nutzen, mit der ich einen Herd anschalte, eine Waschmaschine in Gang bringe oder Auto fahre (übrigens mit einem Kleinwagen, der in puncto elektronischer Schnickschnack ebenfalls direkt aus den Neunzigern stammen könnte).

Und ich muss mich nach der Decke strecken. Also nicht nur meine Säge schärfen, auch meine Bohraufsätze polieren, die Wasserwaage justieren und die Dübelsammlung aussortieren. Wachstumsschmerzen? Unvermeidlich.

Dazu kommt noch eine Kleinigkeit. Mein erstes Studium mit Diplomabschluss ist nämlich noch länger her als mein Berufsstart, und damals suchte man noch in Bibliotheken nach Büchern mit Hilfe von Zettelkästen oder Mikrofiche (fragt nicht, Kinder, diese Technik ist zurecht vergessen). Heute gibt’s Volltextzugang und automatischen Literaturverwaltungs- und Zitiersoftware, und die Frage „Zotero oder Citavi“ scheint so existenziell wie früher „Pelikan oder Geha“, „Nike oder Puma“, „Blur oder Oasis“. 

Meine erste Powerpoint, der Titel: ganz weit vorn in Sachen symbolische Bebilderung, Frau Carl!

Alles in allem würde ich meine Situation drei Monate nach Studienstart also etwa so beschreiben: Ich bin freiwillig ins kalte Wasser gesprungen, ohne mich vorher auch noch nach Fließgeschwindigkeit und Stromschnellen zu erkundigen.

Wird schon irgendwie.

Und bastle mir jetzt auf der Fahrt in Richtung der Niagarafälle ein Floß, während ich versuche, den Kopf bei 50 km/h oben zu behalten. 

Das Erstaunliche ist: es scheint zu funktionieren. Bisher bin ich nicht gekentert, und meine ersten Noten (die ersten seit 1994) sehen auch nicht so aus, als wäre ich akut gefährdet.

Ob ich diesen Wahnsinnsritt neben dem üblichen Arbeitspensum plus Mental Load angetreten wäre, hätte ich genau gewusst, auf was ich mich da einlasse? Möglicherweise nicht.

Manchmal ist es ganz gut, nicht so exakt zu wissen, was einem bevorsteht, sonst würde man eine Menge im Leben verpassen. 

Das gilt für Bergwanderungen, Mutterschaft und späte Masterstudiengänge (hier bitte ergänzen). 

Ich freu mich jedenfalls schon sehr auf meine scharfe Säge.

Ältere Semester – das Spätstudiumsblog, Teil 2

Messenger statt Rauchzeichen, Digi-Fernleihe statt Zettelkasten: Wie ich mich an mein neues Studentenleben gewöhne und seit wann ich wieder 27 bin

Seit vier Wochen bin ich Studentin der Hamburg Media School, zwei Seminare sind geschafft.

Tür auf, los geht’s: noch mal studieren mit 50+

Mein Grundgefühl: wie Ötzi im MacStore.

Denn wenn ich bisher dachte, dass ich relativ gut unterwegs bin in meinem Job – hey, ich kann steile Thesen aufstellen, interessante Leute finden, gut schreiben, läuft! – zeigt mit die Begegnung mit den mitstudierenden Kolleg:innen: Es ist, sagen wir, kompliziert.

Und das liegt am wenigsten daran, dass ich auf der Teilnehmendenliste mit meinem Ehenachnachnamen geführt werde und nicht mit meinem Autorinnen-Namen (das habe ich mir selbst so kompliziert eingerichtet und es ist okay).

Sondern an meiner optimistischen Selbsteinschätzung.

Auch Ötzi wird sich damals gedacht haben: Hey, ich habe feste Schneeschuhe, einen Speer, weiß, welche Beeren essbar sind und welche Tiere, und kann mich irgendwie mit Handzeichen verständigen, wenn ich auf meinem Weg über vereiste Pässe einen anderem Fellhändler begegne – ich bin voll auf der Höhe!

Und dann verirrt sich Ötzi in den MacStore in Bozen und wird gefragt: Welches iPhone hätten’s denn gern? Sie können ihre bisherigen Daten einfach aus der Cloud ziehen, und…wie…Sie HATTEN noch nie ein Smartphone? Nicht mal ein FESTNETZGERÄT?

Ein Smartphone habe ich natürlich. Und ich nutzte Social-Kanäle, und ich habe ein Blog (hier!), habe eine Ahnung von Foto und Video und eine Powerpoint, doch, hab ich auch schon gemacht, wenn auch selten.

Jetzt aber sitze ich in Übungen mit Leuten zusammen, die innerhalb von wenigen Stunden aus Rohmaterial eine fast perfekte Multimediastory bauen.

Oder eine animierte Präsentation für eine Multi-Channel-Strategie.

Oder einen Teaser für einen Podcast bauen und schneiden, inklusive Jingle und Sound-Effects, just like that.

Nein, tut es gar nicht! Man muss bloß den Bildschirm ein bisschen nach rechts kippen.

Nicht falsch verstehen: Das ist lang nicht so depriminierend, wie es klingt.

Es ist im Gegenteil vor allem inspririerend!

Hallo, wach! Die HMS hat sogar eigenen Kaffee, allerdings ohne Schaum.

Ja, ich bin ganz schön herausgefordert, sowohl von den technischen Skills, die fast alle hier schon mitbringen, als auch von den Vorgaben fürs wissenschaftliche Arbeiten.

Das letzte Mal, das ich eine Hochschule von innen gesehen habe, war vor dem Siegeszug des www, und man suchte nach Buchtiteln im Zettelkasten oder auf Mikrofiche (fragen Sie nicht, diese Technik ist mit Recht in Vergessenheit geraten.)

Aber ich bin gleichzeitig auch auf eine Weise geflasht, wie ich es lange nicht mehr erlebt habe. Als hätte jemand die Tür meiner kleinen Elfenbeinturm-Schreibstube aufgestoßen, durchgelüftet und gesagt:

Ey, ganz hübsch hier mit all deinen Büchern und dem vielen Text und den tollen Geschichten – aber du weißt schon, dass da draußen eine Party tobt? Willst du nicht mitspielen?

Und so lustig es ist, in der Eröffnungsrede als „junges Talent“ mit angesprochen zu werden: Ich fühle mich auch gerade sehr siebenundzwanzigjährig.

Dürfen die aufs Handy starren, wenn die Dozentin vorn die Aufgabe erklärt??

Was natürlich sehr subjektiv ist. Aber glücklicherweise bin ich von so vielen großartigen 27jährigen umgeben (manche sind auch eher 35), die bereit sind, einer alten Frau über die Straße zu helfen.

Die mir geduldig Techniken erklären und „Präsis“ zum Laufen bringen, während ich noch nach dem Overheadprojektor und den Folienstiften suche (just kidding).

Und anders herum denke ich: Hey, was soll’s, ich muss mich auch nicht verstecken – ich bin schnell mit inhaltlichen Konzepten und Ideen.

Weil ich merke, das, worum es geht – Storytelling – ist im Kern genau dasselbe, das ich seit Jahrzehnten mache, nur eben auf anderen Kanälen.

Mein Ziel: vom Transformationsopfer zur Transformationstäterin.

Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich habe noch eine Hausarbeit zu schreiben und muss dafür noch ein Word-Plugin installieren, eine Zitat-Software, Sie wissen schon.

Fühlt sich wahnsinnig erwachsen an, so was zu schreiben.

Gnihihi.

Ältere Semester – das Spätstudiumsblog, Teil 1

Mit über 50 starte ich demnächst eine neue Hochschulrunde. Ziel des berufsbegleitenden Studiums: Master Digitaler Journalismus. Ein Studium, das definitiv ganz anders wird als mein erstes in den Neunzigern: Mehr Website-Blog als Collegeblock, mehr After Work als Ersti-Party, mehr Ich-koch-noch-schnell-den-Kindern-was als Mensa. Was mich da erwartet? Mal sehen. Was euch, was Sie da erwartet? Ein monatliches Studientagebuch über ein neues Kapitel in meinem Leben. Hier kommt schon der Einstieg: Warum ich trotz zweier mauer Studien-Starts diesmal so richtig voller Vorfreude auf den dritten bin, was Stricknadeln damit zu tun haben und warum manche Happy Ends nur von Dauer sind, wenn man ihnen neues Futter gibt

Vor langer, langer Zeit, in einer weit entfernten Galaxis, begann ich ein Studium.
Und das gleich zwei Mal.
1989, Uni München. 1990, FH München.

Schön war keines meiner ersten Male.

Bald geht es wieder los. Zum dritten Mal im Leben.
Studienfach: Digitaler Journalismus.
Hochschule: Hamburg Media School.
Studienort (logisch!): Hamburg.

Dazwischen liegen mehr als drei Jahrzehnte. Liegen Erfolge und Misserfolge, Aufstiege und Sackgassen. Liegen Artikel, Bücher, Hörspiele, ein Blog. Und eine unermüdliche Liebe zu dem, was ich tun darf. Auch wenn sie nicht immer erwidert wurde.

Ich weiß noch nicht, wie mein dritter erster Tag als Studentin wird. Aber ich bin überzeugt: Er kann nur besser werden als die ersten beiden. Viel, viel besser.

Was mich zu diesem Schritt treibt, mit über 50, und was heute so anders ist als damals?

Dazu muss ich ein klein wenig ausholen.

***

Nach dem Abitur schrieb ich mich für Germanistik und Romanistik ein, mehr Verzweiflungstat als bewusste Entscheidung. Den Platz auf der Deutschen Journalistenschule, um den ich mich beworben hatte, hatte ich nicht bekommen. Obwohl ich mir solche Mühe gegeben hatte mit meiner Bewerbungsreportage, mich sogar hatte beraten lassen von einem Bekannten einer Bekannten, der dort angenommen worden war – ich schaffte es nicht einmal in die zweite Auswahlrunde.

Meine erste WG: München, Implerstraße, Herbst 1990

Seitdem rannte ich kopflos und ohne Lebensplan durch die Gegend, weil ich das Scheitern beim ersten Versuch für eine Art Gottesurteil hielt: Journalistin? Du? Das glaubst du ja wohl selbst nicht, dass das was wird!

Ich hatte noch die vage Hoffnung, dass es vielleicht auch ohne Journalistenschule klappen könnte. Dann, in den ersten Veranstaltungen des ersten Unisemesters, verlor ich die letzten Illusionen. Wir waren zu viele, da nützte auch keine gute Abinote. Im Einführungsseminar für Neue Deutsche Literatur saßen wir, allesamt Grenzboomer der letzten geburtenstarken Jahrgänge, in zwei konzentrischen Kreisen um den runden Tisch herum, überbelegt und mutlos, alle mit ähnlichen Berufswünsche (Medien! Verlage!) und der bangen Befürchtung, dass es für uns einfach zu eng werden würde mit dem Traumjob. 

Ein Informationsnachmittag unter dem Titel „Student und Arbeitsmarkt“ (selbstverständlich ungegendert) gab mir den Rest: Da hockten mehrere mittelalte Männer auf dem Podium und verständigten sich darüber, dass Geisteswissenschaften zwar brotlos seien, aber gerade die weiblichen Studierenden durchaus die Chance hätten, später als Assistentin der Geschäftsführung irgendwo in der freien Wirtschaft zu landen.

Jedenfalls für die paar Jahre, bis sie Kinder bekamen und dann ohnehin verloren sein würden für die Arbeitswelt. 

Das verleitete mich zu einer nicht minder kopflosen Trotzreaktion: Ich brach das Uni-Studium nach dem zweiten Semester ab und schrieb mich für BWL mit Schwerpunkt Touristik an der Fachhochschule ein. Immerhin eine Wachstumsbranche, in der ich die Chance hatte, mehr zu werden als eine überqualifizierte Schreibkraft für irgendeinen Günther oder Wolfgang (die Chefs hießen damals noch nicht Thomas oder Michael, das kam später).

Studium weitermachen? Studium abbrechen? Günthers Assistentin werden? Starnberger See 1990

Nächstes Jahr, nächste Einschreibung, nächste Ernüchterung. Ich erinnere mich an eine Art Willkommensveranstaltung für Erstsemester an der FH München, auf der sich der Dekan am Ende seiner belanglosen Begrüßungsrede dezidiert an die anwesenden Damen wandte: Wir sollten doch bitte bedenken, dass das laute Klappern von Nadeln in Lehrveranstaltungen störe, und deshalb das Stricken in den Vorlesungen sein lassen. 

Das war insofern besonders bizarr, als dass Stricken 1990 die uncoolste Tätigkeit der Welt war, ungefähr auf einem Level wie „Hängeschränke auswischen“, nicht mehr lässig-alternativ wie 1975 und noch lang kein Selfcare-Instrument wie 20 Jahre später. Aber es war ein Vorgeschmack auf eine Welt, die ich als gleich nochmal unangenehmer in Erinnerung habe als die Uni: extrem unpersönlich, noch überfüllter (weil das Audimax kurze Zeit später wegen Asbestfunden geschlossen wurde, waren wir für ein Jahr behelfsmäßig in den Räumen einer Berufsschule untergebracht, wo wir nicht selten zu hundertzwanzigst in einem Klassenzimmer saßen), mit einer enormen Fülle an Lernstoff bei gleichzeitig jeder Abwesenheit von Reflexion. 

Denn anders als ich es aus der Schule und erst recht aus den paar Univeranstaltungen gewohnt war, ging es hier nicht um Diskussionen, um steile Thesen, um Argumente, sondern einzig um Formeln, in die sich die Welt pressen ließ. Statistische Normalverteilungen und Zinssätze, Kosten- und Leistungsrechnung, Buchungssätze, Grundlagen von Unternehmens- und Prozessorganisation.

Reinfressen von Stoff, wiedergeben von Stoff, Repeat.

Die Prüfungen bestanden bis zum Vordiplom ausschließlich aus Multiple Choice, die richtigen Antwortmöglichkeiten waren in länglichen Kästchen mit einem harten Bleistiftstrich zu markieren, so waren die Klausuren maschinenlesbar und automatisch auswertbar. Am Ende spuckte ein Großrechner irgendeine Note zur Matrikelnummer aus, mit dem Nadeldrucker auf Endlospapier, kaum zu lesen auf den Aushängen in den Hochschulfluren hinter spiegelnden Glasscheiben.

Die männlichen Professoren machten zum größten Teil sexistische Witze. Aber, okay: Das hatten auch einige an der Uni gemacht.

Wahrscheinlich lag es auch nicht an denen, dass ich dort nicht glücklich war. Es lag an mir.

Ich wusste vom ersten Tag an, dass ich dort falsch war, verloren, auf dem Holzweg, zog aber durch bis zum Diplom, und freute mich über die wenigen Highlights. Ich erinnere mich an eine tolle Lehrbeauftragte, eine Freizeitforscherin; eine Handvoll wirklich angenehme Mitstudierende; ein Praktikum bei einem leicht durchgeknallten Typen, der Fernreisen nach Südamerika veranstaltete und eine Dachterrasse im Glockenbachviertel besaß. Aber hatte ich einen Traum, oder wenigstens eine Perspektive, ein Ziel, etwas, auf das ich mit Leidenschaft hinarbeitete? Fehlanzeige. Gleichzeitig wäre mir nicht eingefallen, erneut ein Studium abzubrechen – das konnte ja nicht ewig so weitergehen, und was hätten meine Eltern wohl dazu gesagt, die mich nach Kräften unterstützten?

Nicht, dass ich überhaupt keinen Spaß gehabt hätte von 1990 bis 1994.

Das vorläufige Happy End meiner ziellosen Suche kam dann buchstäblich zur rechten Zeit, in Form eines Aushangs in meinem letzten Semester: Eben jene Deutsche Journalistenschule, bei der ich Jahre zuvor vergeblich angeklopft hatte, schrieb eine Bewerbung aus. Kombinierte Ausbildung, Schule plus Volontariat bei einem großen Münchner Verlag, für Menschen mit abgeschlossenem Studium. Das stand bei mir ja kurz bevor. Das Bewerbungsprocedere kannte ich auch, es war dasselbe wie 1989.

Konnte es doch noch was werden mit dem, was ich für mich als unerreichbar abgeschrieben hatte? Sollte ich eine zweite Chance bekommen? Ich sollte. Diesmal, oh Wunder, ergatterte ich einen der begehrten Ausbildungsplätze. Eine späte Genugtuung, die ich selbst kaum glauben konnte.

Ich sehe mich noch im heißen August unter der Dachschräge der Schulungsräume in der Münchner Innenstadt schwitzen, nur zwei Wochen nach der Diplomfeier an der FH, mit dem seligen Gefühl, endlich angekommen zu sein. 

Ich war an dem Platz, an dem ich gehörte, bei den Menschen, zu denen ich gehörte, ich durfte endlich tun, was ich mir immer gewünscht hatte: recherchieren, Interviews führen, Texte schreiben. Das wog alles auf, auch die Tatsache, dass alle meine ehemaligen BWL-Mitstudierenden sich erstmal für eine längere Auszeit an irgendwelche schönen Plätzchen der Welt zurückgezogen hatten, um sich vom Prüfungs- und Diplomarbeitsstress zu erholen.

Wir schrieben das Jahr 1994. Die Digitalisierung schritt unaufhaltsam fort. Es gab jetzt sogar etwas, das hieß CD-ROM und konnte Filmchen abspielen.

Ein paar Monate später sah ich zum ersten Mal einen Text mit Hyperlinks. 

Der heiße Scheiß.

Ein Jahr später bekam ich meine erste Mailadresse. Ich wollte die gar nicht haben. Was sollte ich damit? Ich kannte ja sonst niemanden, der so etwas nutzte.

Nun ja: Das änderte sich bald.

Der Verlag, bei dem ich lernte, war digital ganz weit vorn. Bei der Präsentation zu Beginn unseres Volontariats hatten wir uns zwar über den CEO lustig gemacht, der in einem Imagefilm ständig mit leicht badischem Akzent vom „Information Super Highway“ sprach, untermalt von einer aufgeregten, blinkenden und sich bewegenden Grafik. Aber irgendwie war schon was dran an dem, was er sagte.

Dass es unsere Berufswelt in den darauf folgenden Jahren bis zu Unkenntlichkeit umkrempeln würde, mit allen Vor- und Nachteilen – das schien uns undenkbar.

Was uns denkbar schien: Mit einem wirklich tollen Job auch noch ziemlich gut verdienen. So wie alle, die wir in unseren Lehrredaktionen erlebten. Nicht nur die Chef:innen, auch die einfachen Redakteur:innen und alle Stufen dazwischen.

Ich glaube, Geld war für keinen von uns der wichtigste Antreiber. Aber wir hätten auch nichts dagegen gehabt.

***

Fast forward. Wir schreiben das Jahr 2023.

Den großen Münchner Verlag gibt es immer noch, aber ähnlich wie die meisten großen Medienhäuser macht er sein Hauptgeschäft im Digitalen. 

Für Journalist:innen, insbesondere für Freie, ist das Geschäft zunehmend härter geworden. Ob digital oder Print – die Honorare sind wie festgefroren auf einem Niveau von vor 15 Jahren oder mehr, die Liste der Zusatzaufgaben ist umgekehrt extrem gewachsen.

Der Magazinmarkt ist dünn geworden, zuletzt durch den Kahlschlag bei RTl/Gruner & Jahr.

Gesellschaftlich schlägt Medienschaffenden ein rauer Wind ins Gesicht – von teils gerechtfertigter Kritik bis zu grundlegenden Schmähungen und Misstrauen.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen, ganz persönlich.

Man kann sich fragen: Was soll ich da noch? Sollte ich nicht lieber dem Beispiel all derer folgen, die sich eine Exit-Strategie aus dem Journalismus ausgedacht haben und jetzt als Lehrerin, Cafébesitzer, Fachreferentin, Beerdigungsrednerin, Content-Marketing-Spezialist, Coachin, Startup-Gründern arbeiten?

Ja: das könnte ich. Irgend etwas würde mir schon einfallen. Andere schaffen das ja auch. Die Beispiele sind nicht ausgedacht, ich kenne diese Menschen und freue mich für sie, für ihren Mut zum neuen Kurs.

Aber das wäre irgendwie sehr 1991. Jedenfalls für mich.

Was ich tue, was ich liebe, habe ich mir hart erkämpft. Ich möchte immer noch mit dem Geld verdienen, das ich am besten kann: Geschichten suchen, Geschichten finden, Menschen eine Stimme geben, ungewöhnliche Zusammenhänge erkennen, mir die Welt erklären lassen und anderen die Welt erklären. Oder jedenfalls die paar Bereiche, in denen ich mich wirklich gut auskenne. Familie, Gesellschaft, Psychologie, vor allem die Schnittstellen dazwischen.

Natürlich kann ich das auch in anderer Form als in journalistischen Geschichten. Ich kann moderieren und Vorträge halten, ich kann Bücher schreiben. 

Aber da war ja noch was. Und das würde ich gern nutzen.

Die digitale Transformation hat wie in vielen anderen Bereichen auch sowohl viele alte Gewissheiten abgeräumt wie neue Räume aufgemacht. Mit neuen Gestaltungsmöglichkeiten, einer größeren Varianz von Erzählformen, der Möglichkeit, kanalübergreifend zu arbeiten. Und an diesem aufregenden Tanz habe ich bisher, wenn überhaupt, noch zu wenig teilgenommen. 

Das wird jetzt anders.

Denn ich will das lernen. Und zwar gründlich. Nicht mit einer Fortbildung hier und da, auch nicht mit YouTube-Tutorials. Sondern mit Brief und Siegel und Masterstudium. 

Das mit dem Studienplatz hat schon mal geklappt. Ein Anfang. Danke.

Mit diesem Blog möchte ich künftig ein wenig aus dieser neuen Welt berichten – und früher oder später auch zeigen, was ich gelernt habe. Bisher bin ich blutige Anfängerin und kann digital noch nicht sehr viel mehr, als Text und Bild zu kombinieren. So wie in diesem Beitrag.

Aber mein zweijähriges Studium beginnt ja auch erst. Zur Einführungsveranstaltung soll es einen Impulsvortrag einer Medienexpertin geben, danach ein Get-Together.

Die Menschen, mit denen ich bisher zu tun hatte, sind ausnahmslos freundlich, persönlich, zugewandt, geben den Studierenden das Gefühl, willkommen zu sein.

Das ist schon mal eine ganz andere Nummer als 1989. Und als 1990.

Ich freue mich auf meinen ersten Tag.

Relotius und ich

Die Affäre um gefälschte Reportagen beim „Spiegel“ treibt mich um. Ich bin wütend, weil ein solches Verhalten das ohnehin schwer angeknackste Vertrauen in klassische Medien weiter untergräbt, ich bin aber auch aus ganz persönlichen Gründen wütend. Um es im „Spiegel“-Pathos zu sagen: Ich fühle mich in meiner Berufsehre gekränkt, und das gilt auch für viele meiner KollegInnen. Heruntergezogen von einem, der mit hohem Einsatz ein schmutziges Spiel gespielt hat. Ich fürchte mich vor steigendem Misstrauen, vor einer weiteren Entfremdung zwischen Journalisten und Lesern. Was ich dagegentun kann? Genau dasselbe, das der „Spiegel“ tut, nur mit meinen eigenen Mitteln: Ich habe aufgeschrieben, wie ich arbeite. Wie ich Protagonisten suche, wie mühsam das sein kann und wie enorm beglückend. Auch wenn mein Maßstab, meine Ansprüche andere sind. Warum es mich ärgert, wenn man meinen Auftraggebern, Frauen- und Familienmagazinen, so oft Unredlichkeit vorwirft. Und wo ich den entthronten Kollegen sogar zähneknirschend verstehen kann.

1.) Der „Geile-Geschichte“-Reflex: Wo ich ähnlich ticke wie Claas Relotius

Jede Journalistin, jeder Journalist braucht ein Quäntchen Reporterglück. Auch ich hatte und habe in meinem Berufsleben immer wieder diese Momente, in denen ich denke: Das ist jetzt zu schön, zu perfekt oder schlicht zu passend, um wahr zu sein. Solche Momente gibt es immer und überall. Sehr nah: Als mir eine Mutter in der Kita-Garderobe von ihrer Hebamme erzählte, die Hunderte von Geburten begleitet hat und gerade mit 42 zum ersten Mal ein Baby erwartet. Sehr fern: Als ich in einem Klamottenladen in einem südindischen Dorf von einer Frau mit blonden Rastalocken und norddeutschem Slang begrüßt wurde, die es der Liebe wegen dort hin verschlagen hatte. Als ich im spanischen Cadaqués den alten Schreiner kennen lernte, der Salvador Dalí ein Bett gebaut hat. Oder im digitalen Raum: als ich für ein Themenheft „Sport“ einfach mal googelte,  ob ich für ein Porträt eine Sporttrainerin mit Behinderung finde und auf der Seite einer Zumba-Lehrerin mit Querschnittslähmung landete. Das sind Geschichten, die berühren, neugierig machen, die gelesen und geschrieben werden wollen.

Manchmal entdeckt man die Nadel im Heuhaufen nach langer Fahndung, und manchmal findet man etwas im Heu, das man gar nicht gesucht hat. So ähnlich höre ich es von vielen Kolleginnen, die ein ähnliches Themenfeld beackern, wir sind in der Regel kollegial und helfen uns häufig gegenseitig mit Kontakten und Tipps aus. Zugegeben: Das ist nicht die Liga „Ich finde den einzigen Abtreibungsarzt von Missouri/ den Jungen, der den Syrienkrieg ausgelöst hat/ den größten Hillbilly im Mittleren Westen.“ Aber die bescheidenen Beispiele aus meinem Berufsumfeld haben einen gewissen Charme: Sie sind nicht erfunden. Anders als eine ganze Reihe von besonders spektakulären Protagonisten in den Texten von Claas Relotius.

 Menschen interessieren sich für Menschen – dieser Grundsatz gilt immer und überall. Geschichten, Texte, Themen werden anschaulicher, wenn es jemanden gibt, der sie verkörpert. Manchmal ist die Biographie allein auch schon Thema genug, steht für etwas Größeres. Seit 25 Jahren arbeite ich als Journalistin, und ich habe es immer als einen besonders schönen, herausfordernden, aber manchmal auch mühseligen Teil meiner Arbeit gesehen, solche Menschen zu finden. Als ich in den Neunzigern anfing, lief das noch per Telefonkette – kennst du jemanden, der jemanden kennt, der…? – , später über Mails („gerne weiterleiten“), seit einigen Jahren hilft ein gut gepflegtes Social Media-Netzwerk bei der Kontaktanbahnung. Und noch immer gibt es die gute alte Reporter-Methode: rausgehen, mit Leuten ins Gespräch kommen, Vertrauen gewinnen. Manchmal nicht locker lassen. Manchmal auch loslassen.

Lange nicht jeder Mensch, der eine interessante Geschichte zu erzählen hat, möchte sie öffentlich machen, völlig berechtigt. Und es hat auch Themen gegeben, die mich an den Rand der Verzweiflung gebracht haben. Vor allem, wenn die Vorgabe der Redaktion ist, dass die Interviewpartner mit Namen genannt werden und für Fotos zur Verfügung stehen müssen. Oft war ich dabei verblüfft, wie viele Menschen davon ausgehen, dass gerade in Frauen- und Familienmagazinen ein Großteil dieser Geschichten „fake“ sei – „Die denkt ihr euch doch aus!“ Nein, tun wir nicht, jedenfalls weder ich noch die Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich zusammenarbeite, bei „Brigitte“ und „Barbara“, „Eltern“, „Myself“ und wie sie alle heißen.

Um mit einem weiteren Vorurteil aufzuräumen: Es gibt – jedenfalls in meinem Arbeitsumfeld – keine Gagen dafür, wenn sich jemand interviewen und/oder fotografieren lässt. Allenfalls eine kleine Aufwandsentschädigung, wenn Menschen beispielsweise von weiter weg extra für eine Fotoproduktion im Studio anreisen. Die monetäre Ausbeute ist jedenfalls mager und dürfte in den seltensten Fällen der Grund sein, mit einer Journalistin/einem Journalisten zu sprechen.

Ob es nicht doch auch in meinem Umfeld schwarze Schafe gibt, die erfinden, umschreiben, faken? Möglich. Wahrscheinlich. Auch wenn ich es nicht erlebt habe. Nochmal zu Claas Relotius: Ich kann schon nachvollziehen, wie man der Versuchung erliegen kann, sich einfach den perfekten Protagonisten zu stricken, wenn keiner hinschaut. Weil das betroffene Land so weit weg ist, weil dort ohnehin kaum einer den „Spiegel“ auf deutsch liest. Trotzdem erstaunlich, dass jemand in einer so klein gewordenen Welt glaubt, er käme damit auf die Dauer durch. Vielleicht ist das so, vielleicht hält man sich für unverwundbar, wenn man mit Anfang 30 als Shooting-Star der Reporterszene gehandelt wird. Ich weiß es nicht, ich war nie annähernd in der gleichen Situation.

2.) Der schmale Grat zwischen Distanz, Respekt und Mitgefühl

Von vielen schier unglaublichen Fälschungen, die dem Reporter bislang nachgewiesen worden sind, hat mich eine besonders unangenehm berührt: die von Fergus Falls. Eine Kleinstadt in den USA, in der sich Relotius für einige Zeit eingemietet hatte, um dort dem Zeitgeist der Trump-Ära nachzuspüren. Er hat dort tatsächlich mit Menschen gesprochen und sie auch namentlich zitiert – er hat dabei aber, so schreiben es die Bewohner von Fergus Falls in einer ausführlichen Stellungnahme, realen Personen schier unglaubliche Attribute angehängt, so diffamierend wie unwahr. Ein junger Mann, der „noch nie eine Frau hatte“ und„noch nie den Ozean gesehen hat“, wird in diesem sehr lesenswerten Beitrag gezeigt – mit seiner Freundin, am, haha: Strand.

Nun wäre es sicherlich blauäugig, jede dieser Gegendarstellungen ihrerseits kritiklos und ungeprüft einfach so hinzunehmen. Und natürlich setzen sich Leute zur Wehr, wenn sie sich ungerecht dargestellt sehen. Worauf ich hinaus will: Es ist immer wieder eine Herausforderung, Gesprächspartner nicht nur ernst zu nehmen, sondern die richtige Mischung zu finden aus „mein Gesprächspartner hat die Kontrolle, was von ihm veröffentlicht wird und was nicht“ und „ich habe die Deutungshoheit und bestimme die Dramaturgie eines Textes.“ Ja: Interviewpartner müssen damit leben, dass wir Journalisten auswählen, kuratieren, zusammenstellen und auch werten. Journalisten sind keine Pressesprecher und keine Ghostwriter. Wir dürfen aber beispielsweise nicht Zitate unzulässig zuspitzenoder gar aus dem Zusammenhang reißen, wie es uns gefällt. Dass wir nicht einfach erfinden und behaupten dürfen – nun, das wird nicht in der Journalistenschule gelehrt, schlicht, weil es so selbstverständlich ist.

 Gerade bei wenig medienerfahrenen Menschen empfinde ich es in meinem Berufsalltag auch als meine Aufgabe, gemeinsam auszuwählen. Notfalls auch mal einen Gesprächspartner vor sich selbst zu schützen, der mir private Dinge erzählt und vielleicht nicht die Konsequenzen überblickt, wenn das so in die Welt gelangt. Ich erlebe es häufig als ein gemeinsames Ringen um Wahrheit, wenn ich Protagonisten ihre Protokolle oder Zitate nochmal zuschicke und beide Seiten um Formulierungen kämpfen. Die deutsche Sprache? Google Translate ist mittlerweile immerhin weit genug, dass auch englischsprachige Gesprächspartner, die ich gelegentlich habe, meine deutschen Interviews bzw. Passagen aus Texten gegenlesen können.

Einen weiteren schmalen Grat möchte ich nur kurz miterwähnen: den zwischen Gesehenem, Erlebtem und Gehörtem. Mancher wird sich an eine Diskussion erinnern, die ebenfalls beim „Spiegel“ stattfand und in der es um eine Modelleisenbahn in Horst Seehofers Keller ging. Der Autor wusste vom Hörensagen, dass es sie gab, beschrieb sie aber, als sei er persönlich mit in den Keller gestiegen, um Seehofer beim Weichenstellen zuzusehen. Das kostete ihn einen Journalistenpreis. Schwieriges Thema. Ich erinnere mich an eine eigene Reportage über eine Extrem-Fallschirmspringerin, in der ich – natürlich – während des Sprungs aus 10.000 m Höhe nicht dabei war, mir aber im Nachhinein minutiös habe erzählen lassen, wie sie sich gefühlt hat, was sie gesehen, gerochen, gehört hat, und das dann realitätsnah aufgeschrieben habe. Ich habe dabei aber nicht bewusst klar gemacht: Achtung, das habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen. Ich war eher stolz darauf, wie plastisch die Textpassage trotzdem wurde. Sicherlich ein Punkt, bei dem ich nochmal mein eigenes Tun reflektieren sollte.

3.) Die Kontrollmechanismen: ein Netz mit (zu) weiten Maschen

Kontrollieren mich meine Auftraggeber, ob meine Interviewpartner real sind, ob die Fakten stimmen? Nicht direkt, es gibt auch in den meisten Häusern nicht mehr die minutiöse Dokumentation, die sich der „Spiegel“ noch leistet, meist gar keine mehr. Keine Redakteurin, kein Redakteur hätte in personell extrem eng besetzten Teams heute überhaupt die Muße, auch nur Stichproben zu machen à la: Lass mich auch mal mit dem telefonieren. Das ist in den meisten Fällen allerdings schon von daher nicht nötig, als dass die Protagonisten meiner Geschichten meistens (a) fotografiert werden – dann geht eine Mail mit ihren Kontaktdaten an die Fotoredaktion -, oder (b) aufgefordert werden, eigene Fotos zu schicken, und/oder (c) ihre Textpassagen nochmals von mir zur Abnahme bekommen. Weshalb es immer nochmal eine Korrekturschleife gibt, bei mir gottlob meistens mit einem Mail-Betreff wie „Mini-Änderungen xy“.

Generell stellt sich aber nach der Causa Relotius eine Grundsatzfrage: Müssen die Redaktionen wirklich misstrauischer sein gegenüber Festen wie Freien? Stichproben machen? Nicht mehr gutgläubig erwarten, dass ihnen verdiente Mitarbeiter keine haarsträubenden Lügengebäude auftischen, aus Ruhmsucht, aus der Versuchung, schnell mit wenig Aufwand ein wenig Kohle zu machen? Oder stimmt vielleicht im Gesamtsystem was nicht?

4.) Drinnen und draußen: wozu die ökonomischen Rahmenbedingungen uns treiben

Es gibt ein wunderbares Netz-Video meines geschätzten Kollegen Jakob Vicari von den Freischreibern, das vor einigen Jahren gedreht wurde, um auf die oft miserablen Arbeitsbedingungen freier Journalisten hinzuweisen. Darin fährt er auf einem klapperigen Herrenrad am Elbdeich entlang und sucht nach Al-Qaida.

Es ist irre lustig und zum Heulen. Denn: Ja, es gibt leider gute Gründe, warum die Situation so ist wie ist – den Verlagen geht es schlecht, die Printmedienkrise trifft alle, und wenn man das Pech hat, in einem sehr teuren Land auf Reportage geschickt zu werden, wird das magere Honorar oft fast von den Lebenshaltungskosten aufgefressen, ganz wörtlich. Denn Verpflegungsspesen gibt’s für Freie schon lang keine mehr, jedenfalls mehrheitlich.

Ich schreibe diese altbekannte Tatsache hier nochmal so ausführlich auf, denn wenn ich von den Arbeitsbedingungen der fest angestellten „Spiegel“-Kollegen lese, dann, ich gestehe: packt mich spontan der Sozialneid. Wochenlang vor Ort recherchieren dürfen und notfalls auch mal nach Hause kommen und sagen: sorry, war nix, gab keine Geschichte? Könnte man sich, so schreibt es jedenfalls Chefredakteur Ullrich Fichtner, auch mal leisten, ohne danach Ärger zu bekommen. Okay: Mal abgesehen vom Verlust von Ruhm und Ehre, und dass man sich dann möglicherweise eine Weile mit einem Schlappschwanz-Image herumschlägt. Aber immerhin: Es wäre kein Kündigungsgrund.

Bei uns da draußen, auf dem freien Markt, sieht das anders aus: Kein Text heißt kein Honorar (vielleicht auch keine Folgeaufträge), keine Protagonisten heißt kein Honorar (dito!), und wenn der Redaktion die vorgeschlagenen Protagonisten nicht gefallen, dann heißt es eben neu suchen, für, na? genau: kein zusätzliches Honorar.

Das ist schon in Ordnung, dazu sind wir Freiberufler, wir tragen unser Risiko selbst, wenn auch nicht alle von uns freiwillig (ich schon). Aber da kommt wieder der Moment, in dem sich die Systemfrage stellt, und zwar in mehrere Richtungen. Zum einen in Sachen Selbstverständnis: Müsste nicht neben dem Reporter-Ehrgeiz auch der Mut gefördert werden, eine Niederlage einzugestehen? Statt eine dünne Faktenlage so aufzublasen, dass doch noch was draus wird? Auf der anderen Seite: Sägen nicht viele durchaus seriöse Blätter an dem Ast auf dem sie sitzen, wenn sie Freie bei der Qualität genau auf denselben Mindeststandard drücken, auf dem die Bezahlung angekommen ist? Ja, ich finde auch: Viele Geschichten – inklusive manche meiner eigenen – könnte man besser machen, mit einer zusätzlichen Umdrehung Recherche, mit einer noch intensiveren Fallsuche, mit mehr Gegenchecks und Hintergrundgesprächen. Allein, es hängt, woran es so oft hängt: am Geld. Money, Macht und Eitelkeit – danach sollten wir fragen. Jede und jeder für sich, aber auch in den Redaktionen.